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Abenteuer im Elfenland

„Ist es noch weit bis Ragnar?“ fragte ich einen mir entgegen kommenden Reisenden, dessen armselige Kleidung so aussah, als handle es sich um einen Bauern. „Nein“ entgegnete der Mann, der ebenso wie ich stehenblieb, wie die Sitten der Höflichkeit es erforderten. „Vielleicht eine halbe Wegstunde, je nachdem wie schnell man halt geht.“ Das beruhigte mich, denn allmählich neigte sich die Sonne dem Horizont entgegen, was nichts anderes bedeutete als das Nahen der Dämmerung. Auf eine erneute Übernachtung im Freien hatte ich wenig Lust, sanken die Temperaturen doch bereits so weit herab, daß man mehr zitterte als schlief. Ich dankte dem Mann und setzte meinen Marsch fort. Zur Rechten des Wegs erstreckten sich Wiesen, auf denen ab und an mal ein Busch für etwas Abwechslung sorgte. Zur linken befanden sich vereinzelte Waldstücke. Das alles war mir relativ egal, denn von der Natur hatte ich in den vergangenen Tagen genug gesehen. Mich zog es in die Stadt, wo ich Gesinnungsgenossen finden wollte, die genauso begierig wie ich darauf waren, Abenteuer zu bestehen und Ruhm zu sammeln. Eine Fleischfliege setzte sich soeben auf meine Nase. Kurzerhand blies ich sie weg. Tiere zu töten war nicht meine Art. Ein jedes Geschöpf hat schließlich ein Recht darauf zu leben. Das war meine Philosophie. Ansonsten beschäftigte ich mich eher mit … nun gut, gelernt hatte ich nicht besonders viel. Nichts, um genau zu sein. Mein Vater stammte aus ärmlichen Verhältnissen, meine wohlhabendere Mutter starb zu meinem großen Bedauern bei meiner Geburt. Wenn es nach dem Willen meines Vaters gegangen wäre, hätte ich sein geerbtes Gasthaus übernommen, doch dazu fehlte mir das nötige Geschick. Nicht jeder ist zum Gastwirt geboren trotz dessen, was der Volksmund spricht: „Wer nichts wird, wird Wirt.“ Meine Visionen drehten sich immer um das Thema, ein Held zu werden. Doch ohne praktische Erfahrungen auf diesem Gebiet war das natürlich schwerlich möglich. Deshalb hatte ich unser Dorf zum Leidwesen meines Vaters verlassen, der mir zumindest genügend Geld mitgegeben hatte, damit ich mir ein Kurzschwert kaufen konnte. Für Rüstung blieb nicht viel Geld übrig, so daß ich mich mit einem Lederhelm und einem gebrauchten Lederwams begnügen musste. Aber ich fing ja erst an mit dem Abenteurerhandwerk. Als ich um eine Wegbiegung kam, erblickte ich in der Ferne eine Stadtmauer. Das musste Ragnar sein, die kleine Handelsstadt westlich meiner Heimat. Mit beschleunigtem Schritt angesichts des nahen Ziels brachte ich die restliche Distanz schneller als von dem Bauern angedeutet zurück. In regelmäßigen Abständen verstärkten kleine Türme die Mauer. Der Weg, auf dem ich ging, führte zielstrebig auf eins der offenstehenden Tore zu. Neugierig trat ich ein. Was würde mich hier alles erwarten? Welche zukunftsweisenden Bekanntschaften würde ich machen? Doch erst einmal musste ich eine Herberge finden, wo ich die Nacht verbringen konnte, denn auf der Straße zu schlafen erschien mir alles andere als erstrebenswert. Ein größerer Haufen Leute lief an mir vorbei, die geschäftigen Tätigkeiten nachzugehen schienen. Mit erhobener Hand stoppte ich einen. „Verzeiht mir, könnt Ihr mir sagen, wo ich hier eine gute, aber nicht zu teure Unterkunft finde?“ Der elegant gekleidete Mann blickte mich kurz an und meinte nur: „Klar, folgt einfach der Straße bis zur großen Eiche. Gleich links befindet sich das ‚Zum goldenen Ochsen’. Dort findet Ihr, was Ihr begehrt.“ Ich bedankte mich und folgte dem Rat. Das Gasthaus sah von außen edel aus, fast ein bisschen zu teuer für meine Preisklasse. Ein Krösus war ich schließlich nicht, obgleich ich über genügend Kreuzer für etliche Übernachtungen verfügte. „Grüß Gott“ wandte ich mich höflich an die Person hinter einem Empfangstresen. „Ich hätte gern ein Zimmer für … ich weiß noch nicht wie lange.“ Die Frau nickte mir freundlich zu. „Das macht 20 Kreuzer pro Nacht.“ Ich war damit einverstanden und bekam einen Zimmerschlüßel ausgehändigt. „Erster Stock, am Ende des Ganges“ erklärte mir die Frau die Lage meines Zimmers, das einfach zu finden war. Ich schloß auf, betrat ein nett eingerichtetes Schlafzimmer, legte mein Gepäck ab und mich selbst aufs Bett. Das lange Marschieren hatte mich müde gemacht. Ohne mich vorher auszuziehen, schlief ich ein.

 

*

 

Am nächsten Morgen wurde ich durch den Lärm auf der Straße wach. Das war ich gar nicht mehr gewohnt, denn in meinem Heimatdorf war es wesentlich ruhiger. Gezwungenermaßen stand ich auf, obwohl ich gern noch ein wenig liegen geblieben wäre. An der Rezeption wies mich die Frau darauf hin, daß ich sofort zahlen müsste, sofern ich mein Zimmer noch für eine weitere Nacht haben wollte. Ich zahlte notgedrungen, wodurch sich mein Barguthaben auf 117 Kreuzer verringerte. Egal, jetzt wollte ich erst einmal die Stadt erkunden. Bei der Helligkeit des Tages sah alles viel freundlicher aus als am Vorabend. Mir fiel jetzt erst auf, daß vor dem Gasthaus ein großer Platz war, dessen Mitte eine einzeln stehende Eiche dominierte, die wohl gut und gerne fünfhundert Jahre alt sein mochte. Zu Bäumen hatte ich schon seit jeher ein besonderes Verhältnis. Bäume waren gigantisch, sie reichten bis in den Himmel, sie trotzten Sturm und Gewitter, sie lebten länger als jeder Mensch, spendeten Schatten und verkörperten in jeder Hinsicht das, was ich als Landbewohner als wertvoll erachtete. Es freute mich, daß man das auch in der Stadt genauso sah, denn sonst hätte man diesen ehrfurchtsgebietenden Baum wohl schon längst gefällt. Auf der anderen Seite des Platzes befanden sich etliche Läden, unter anderem für Waffen und Lebensmittel. Neugierig betrat ich das Waffengeschäft, wo mir der Verkäufer seine besten Stücke vorführte. Rabenschnäbel, Elfenfänger, Wurfspeere, Zweihänder, Langbögen, diamantenbesetzte Dolche. Leider preislich alles oberhalb meiner Möglichkeiten. Daher verabschiedete ich mich um die Stadt zu erkunden. Bei einem Händler auf dem Marktplatz kaufte ich mir einen Apfel und eine Birne für einen halben Kreuzer. Vortrefflich im Geschmack. Dann wandte ich mich Richtung Hafen, wo ich mir die Schiffe ansah. Beeindruckend, die großen Segler mit mehreren Masten und bis zu vier Segeln pro Mast. Seemann wäre aber sicher nichts für mich, weil ich wohl sehr schnell seekrank werden würde bei dem Geschaukele. Dennoch beobachtete ich mit Interesse das Ein- und Ausladen von Gütern. Mit einem Matrosen unterhielt ich mich kurz und erfuhr, daß er zuletzt in Walfio gewesen war, der großen Küstenstadt im Süden. Von der hatte ich bislang nur gehört, aber ich nahm mir vor, dorthin selbst einmal zu reisen, wenn sich eine Möglichkeit ergab. Doch vorher musste ich unbedingt Gefährten finden. Allein Abenteuer zu bestreiten war zu gefährlich und ein wenig kommunikative Abwechslung konnte nicht schaden. Doch wo sonst konnte ich hier Gleichgesinnte finden, wenn nicht in einem Wirtshaus? Freilich war um diese frühe Zeit dort noch mit keinerlei Leuten zu rechnen, weshalb ich die Zeit bis zum Abend wohl oder übel totschlagen musste. Deshalb streifte ich ohne Ziel durch die Gassen, in denen hektisches Treiben herrschte. Kaufleute brachten ihre Waren auf den Markt, Bürger gingen ihrer Arbeit nach. Gelegentlich bemerkte ich an der Kleidung einen Reisenden, der in der Regel genauso planlos wie ich wirkte. Am Nordtor angekommen, wandte ich mich nach links, um noch den Westteil der Stadt zu durchschlendern. Vor einem kleinen Bücherladen blieb ich stehen. Spontan entschloß ich, mir die Werke genauer anzusehen. Der Laden bestand im Wesentlichen aus fünf langen, zueinander parallelen Bücherregalen, in denen auf mehreren Etagen Bücher nach allen möglichen Themen sortiert standen. Der Besitzer, ein älterer Herr mit einem edel wirkenden, weißen Bart, sprach mich wohlgesinnt an, ob er mir bei der Suche nach einem speziellen Buch behilflich sein könne. Ich bestätigte und gab Kund, daß ich irgendein Buch mit Kurzgeschichten suchen würde zwecks Aufheiterung meiner weiteren Wanderungen. „Da habe ich genau das passende für Euch“ blinzelte er mich an, eilte zu einem der Regale und kam mit einem dunkelblau eingebundenen Werk zurück. „Abenteuerliche Geschichten Midgards“ überreichte er es mir. „Bestens geeignet, um vor dem Schlafengehen eine kurze Geschichte zu lesen. Spannend geschrieben, mit Berücksichtigung lokaler Besonderheiten.“ Interessiert fiel mein Blick auf den Einband. Ein bunt gezeichneter Elf mit gezücktem Langbogen zielte in Richtung des Betrachters. In geschwungenen, schön verzierten Buchstaben stand der Titel des Werks darunter. „Wieviel soll es kosten?“ – „16 Kreuzer“. Aus meinem Geldbeutel, der an meinem Gürtel baumelte, entnahm ich die Summe und steckte das Buch ein. Mich verabschiedend setzte ich meine Tour fort. Da ich allmählich Hunger bekam, betrat ich ein Wirtshaus, wo ich mich an einen Ecktisch gegenüber der Eingangstür setzte, der noch frei war. Am Nebentisch aß ein Elf irgendein Fleischgericht. Es war nichts Besonderes, in diesen Breiten Elfen anzutreffen, denn die Heimat der Langohren befand sich nicht so weit entfernt. Ragnar gehörte zur Provinz Erodil, die im Westen direkt an das Königreich der Elfen und im Süden an jenes der Zwerge angrenzte. Einen ihrer Vertreter sah ich drei Tische weiter. Wie alle männlichen Erwachsenen mit wild wucherndem Vollbart, was es für mich schwer machte, sein Alter zu schätzen. Bei der Bedienung bestellte ich Met sowie den hierzulande überaus berühmten Schweinebraten. Unauffällig meine Nachbarn musternd, bemerkte ich gar nicht, daß der Met schon vor mir stand. Freudig setzte ich den verzierten Tonkrug an. Der flüßige, vergorene Honig rann meine Kehle hinunter als sei es Wasser. Doch besoffen würde ich davon nicht werden, weil der kurz danach eintreffende, mehr als üppige Schweinebraten den Alkohol wohl schnell aufsaugen würde. Gutes, reichliches Essen gemeinsam mit Alkohol genossen neutralisierte letzteren. Während dem schmackhaften Mahl überlegte ich, was der Elf sowie der Zwerg wohl hier taten. Wie Abenteurer sahen beide nicht aus, weshalb ich auch darauf verzichtete, sie anzusprechen. Wie gesagt, ich befand mich hier nicht in einer Saufkneipe, sondern in einem Lokal zum Essen. Hier würde ich kaum Leute finden können, die mit mir ziehen wollten, um gemeinsam Gefahren zu begegnen, Ruhm und Ehre zu sammeln. Doch heute Abend würde ich eine entsprechende Lokalität besuchen. Das Essen hatte mir vorzüglich gemundet, weshalb ich auch ein angemessenes Trinkgeld gab. Draußen angekommen setzte ich meine Erkundungsrunde fort. Eine Theatertruppe spielte das Stück „Der Eberreiter“ von Teodo Schdoam. Da in Bälde eine Vorstellung beginnen würde, zahlte ich die neun Kreuzer Eintritt und befand mich sogleich in den Rängen der anderen Zuschauer. Dann betraten die Darsteller die Bühne und es ging los. Im Mittelpunkt der Aufführung ein Zwerg namens Heiki, wohl gespielt von einem echten, der ein Eisenbergwerk leitete. Er beabsichtigte, neue, tiefer hinab führende Stollen unter den bereits existierenden ins Erdreich zu buddeln zwecks Ausbeutung von ihm vermuteter, reicher Lagerstätten. Die Arbeiter waren davon nicht eben begeistert, bedeutete das doch eine enorme Mehrarbeit. Manche bezweifelten, ob sich der Ertrag überhaupt lohnen würde, denn man konnte nicht mit Gewissheit sagen, ob die Eisenablagerungen so ergiebig waren wie erhofft. Dennoch bestand er darauf, die neuen Stollen zu graben, deren Abstützung viel Holz aus den umliegenden Wäldern erforderte. Nach langer Plackerei stieß man tatsächlich auf reiche Rohstofflager, doch dann ließ ein Erdbeben einen der oberen Stollen einstürzen, wobei der sich dort aufhaltende Heiki ums Leben kam. Seitdem sah man immer wieder mal seinen Geist auftauchen, was dann immer gleichbedeutend eine Warnung für die Bergleute war, daß wieder ein Erdbeben anstand. Das prächtig inszenierte Stück hatte nicht nur mir gefallen und so kannte der Applaus keine Grenzen. Gut unterhalten durch die kunstvolle Darbietung richtete ich meinen Blick gen Sonne, die ihren Tageszenit deutlich überschritten hatte. Etliche Stunden würde es schon noch hell bleiben, aber für größere Exkursionen blieb mir heute keine Zeit mehr. Daher streifte ich aufs Gerate wohl durch die Straßen, blieb mal hier, mal dort stehen und vertrödelte den restlichen Nachmittag mit Kleinigkeiten. Immerhin hatte ich bei meinen Streifzügen eine Kneipe gefunden, in die ich bei Einbruch der Dunkelheit eintrat. Sie hieß „Drachentöters Ruh’“ und wie ich auf den ersten Blick erkennen konnte, bestand die Hauptklientel aus Zwergen. Ein gutes Dutzend runder Tische standen ungeordnet im Hauptraum. „Wirt, noch ein Bier!“ brüllte ein Zwerg, als ich gerade an ihm vorüberging. Er schien schon ordentlich was getrunken zu haben, ebenso wie seine beiden Tischkameraden, aber ein Zwerg verträgt einiges. Da konnte unsereiner nicht mithalten. Ich gesellte mich zu einem Zwerg, der einzeln an einem Tisch saß. Eine gewaltige Streitaxt, die er auf den Rücken geschnallt hatte, bewog mich zu dieser Wahl. Der konnte sicher kämpfen und wenn er allein dasaß, bedeutete das nichts anderes als die pontentielle Möglichkeit einen Mitstreiter zu finden. „Ist es erlaubt Euch Gesellschaft zu leisten?“ fragte ich ihn. Er blickte mich kurz von der Seite an und winkte mit einem Brummen auf einen Stuhl. Sein dunkler Bart bedeckte fast sein gesamtes Gesicht, wodurch seine große Nase besonders zur Geltung kam. Wie fast alle Unterirdischen hatte er hellblaue Augen, die etwas kleiner waren als bei uns Menschen. Wieviele Jahre er auf dem Buckel hatte, vermochte ich nicht zu schätzen. Vielleicht etwas älter als ich, aber da Zwerge auch geringfügig länger leben, konnte man uns wohl als gleichaltrig bezeichnen.

Der Wirt hatte meinen durstigen Blick gesehen und brachte mir rasch mein bestelltes Dunkelbier. Der Zwerg hob seinen Krug, in dem sich Met befand und wir stießen an. Er wischte sich mit der Handfläche über den Mund, den man vor lauter Barthaaren kaum zu sehen vermochte. „Auf der Durchreise?“ erkundigte er sich, was ich bejahte. „Was verschlägt Euch in diese Gegend? Wie ein Händler seht Ihr mir nicht aus.“ – „Das ist richtig. Ich bin Abenteurer und auf der Suche nach Gefährten.“ Eine Weile beschäftigte der Bärtige sich mit seinem Krug, dann hielt er mir unvermittelt seine muskulöse Pratze hin: „Also ich bin Raðvið Schmiedefaust.“ Erfreut ergriff ich seine Hand, zuckte aber unwillkürlich zusammen, denn sein Griff war mehr als kraftvoll. Da ich allerdings nicht als Schwächling dastehen wollte, erwiderte ich den Händedruck. „Mein Name ist David Adebar“ stellte ich nun auch mich vor.

„Wie stellt Ihr Euch das denn vor, das mit den Abenteuern?“ – „Nun ja, also ich dachte ich muss zuerst einige Gefährten finden und danach ziehen wir gemeinsam drauf los und schauen, was wir alles erleben.“ – „Gibt es irgendwas, was Ihr besonders gut könnt? Also ich kann ganz gut mit der Axt umgehen und sie auch reparieren, aber das habt Ihr Euch angesichts meines Namens sicher schon gedacht.“ Ich überlegte rasch, was ich besonders gut konnte. „Um Eure Frage zu beantworten: ich bin eigentlich gelernter Schankknecht, aber das ist nichts für mich und daher hab ich Stunden im Schwertkampf bei einem Mann in unserem Dorf genommen. Also mit dem Kurzschwert kann ich schon ein bisschen umgehen.“ Grinsend haute Raðvið mit der Faust auf den Tisch. „Das ist ein Wort – Euren ersten Reisegefährten habt Ihr gefunden!“ Ich konnte mein Glück gar nicht richtig fassen. „Ihr wollt wirklich mit mir kommen? Das freut mich riesig!“ Seine Miene verzog sich und ich befürchtete schon, etwas falsches gesagt zu haben, doch ich sollte mich geirrt haben. „Dann müsst Ihr aber die nächste Runde ausgeben“ konkretisierte der Zwerg den Grund seiner gespielten Unzufriedenheit. Lachend winkte ich den Wirt heran und bald tranken wir den zweiten Krug zusammen. Wir einigten uns von nun an „du“ zueinander zu sagen und so kam es, daß ich nicht drum herum kam, noch einen dritten Krug mit meinem neugewonnenen Freund zu trinken. Zwerge sind als besonders trinkfest bekannt. Meiner einer hingegen war mit drei Krügen bereits bedient. Weiß der Henker, wieviele Raðvið schon getrunken hatte, ehe ich mich zu ihm hockte. Immerhin hatte er es so arrangiert, daß ich die letzten beiden Runden zahlte. Zwerge werden eben nicht umsonst als schlau und listig, aber auch geizig geschildert. Nur ungern trennen sie sich von einer hart verdienten Münze. Wie mir schien, trafen die Klischees ins Schwarze. Spontan fielen mir die Zeilen ein, die im heiligen Buch vom Ursprung der Zwerge berichten.

 

Zum Richtstuhl gingen

die Rater alle,

heilige Götter,

und hielten Rat,

wer der Zwerge Schar

schaffen sollte

aus Brimirs Blut

und Blains Knochen.

(Edda, Der Seherin Ausspruch)

 

Das Geschlecht der Zwerge wurde der Legende nach von den Göttern aus den Überresten des Riesen Brimir – auch Ymir genannt – gemacht, der seit Anbeginn der Zeit existiert hatte. Ihre Heimat wurde das unterirdische Swartalfhaim, wo sie Stollen anlegten, nach Erzen gruben, ihre Siedlungen aufbauten. Doch es gab auch einige, die anders waren, denen die Habgier fehlte und die auch ansonsten überhaupt nicht ihren Artgenossen entsprachen. Sie sonderten sich schon bald ab um über der Erde ihr eigenes Reich zu gründen, aus deren Nachfahren schließlich die Elfen wurden, was heutzutage von zahlreichen Personen beider Völker vehement geleugnet wird, doch die alten Überlieferungen trügen nicht.

Ausgestattet mit außergewöhnlichen handwerklichen Fähigkeiten fertigten die Zwerge eine Menge Artefakte für die Götter. Für Odin schmieden sie den Speer Gungnir, der nach dem Wurf zu seinem Besitzer zurückkehrt, das Halsband Brísingamen für Freyja, für Freyr das Schiff Skíðblaðnir, den Goldring Draupnir für Heimdall. Besonders erwähnenswert ist natürlich auch der gewaltige Hammer Mjöllnir, über den sich Thor freuen durfte. Sigurd bekommt das Schwert Gram von einem Zwerg namens Gripir. Bleibt ferner noch die Fessel Gleipnir, um Fenrir, den Wolf anzuketten. Kurzum: die Zwerge verdankten den Göttern zwar ihre Existenz, aber sie hatten dafür auch wertvolle Gegenleistungen erbracht.

Raðvið unterbrach meine Überlegungen mit dem Vorschlag, noch einen zu trinken, aber dankend lehnte ich ab. Ich wies darauf hin, daß ich morgen weiterzureisen gedachte, was schwerlich möglich war, wenn ich ewig meinen Rausch ausschlafen musste. Lachend hieb der Zwerg auf seine Schenkel, daß es nur so klatschte. Da er schon in einer anderen Herberge gleich in der Nachbarschaft untergekommen war und schon gezahlt hatte, trennten sich unsere Wege erst einmal. Allerdings hatten wir vereinbart, uns am nächsten Tag zur Mittagsstunde am Westtor zu treffen, denn wir wollten als erstes ins Reich der Elfen marschieren. Auf Grund des Alkoholgenusses etwas unsicher auf den Beinen torkelte ich mehr auf die Straße denn als ich ging. Wider Erwarten ohne große Orientierungsschwierigkeiten fand ich meine Unterkunft, wo ich mich sogleich auf mein Zimmer begab um meine verdiente Nachtruhe zu finden. Im Liegen fiel mir besonders auf, das sich alles um mich drehte, aber mit der Zeit wurde es besser. Schließlich schlummerte ich ein.

 

*

 

Nach einem deftigen Frühstück zahlte ich die ausstehenden Übernachtungskosten um mich allmählich zum Westtor zu begeben, wo ich einen einzelnen Zwerg stehen sah, so als warte er auf jemanden. Auf dem Kopf trug er einen runden Eisenhelm, ferner ein Kettenhemd, einen Rundschild auf dem Rücken, über dem ein Stoffsack hing, eine Axt baumelte an der Seite am Gürtel. Gepäck schien er ansonsten keines zu haben. „Guten Morgen!“ wünschte ich von der Seite an ihn herantretend. Raðvið drehte sich um, erkannte mich und erwiderte meinen Gruß. „Alles klar, dann kann es ja losgehen.“ Er schlug mit der flachen Hand auf meine Schulter. „Das wird ein Spaß werden!“ Wir passierten die beiden Torwachen und folgten dem Handelsweg, der an Feldern vorbei gen Westen führte. Die Sonne im Rücken strahlte eine angenehme Wärme aus, einige Feldspatzen tschilpten ihr einfaches Lied, in einer geselligen Gruppe am Wegrand herumhüpfend. Einer nahm ein Sandband in einer staubigen Kuhle.

Wir legten ein flottes Marschtempo hin, wodurch wir den Waldrand des Wolfsforstes schon bald erreichten. Hier streiften größere Wolfsrudel durchs Unterholz, die sich nicht nur von Rehen, Hirschen sowie anderen Waldtieren ernährten, sondern sehr zum Ärger der Hirten auch Jagd auf Schafe und Kühe machten, die auf den Weiden, welche unmittelbar an den Forst grenzten, grasten. Freilich muss man gerechterweise dazusagen, daß diese Gebiete früher entweder Brachland waren oder Ackerfläche. Irgendwann hatte dann der steigende Bedarf nach Fleisch dafür gesorgt, daß immer größer werdende Herden an Nutztieren in die Reichweite der Wölfe gelangten. Ein Schaf ist für einen Wolf eine leichte Beute, weil es seine angeborene Furcht vor ihm abgelegt hat. Die Hirten gaben den Wölfen die Schuld an der Situation, die sie selbst herbeigeführt hatten. Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, als die Kronen mächtiger Bäume über uns den Himmel verdunkelten. Imposante Eichen zogen an uns vorbei, knorrige Buchen, alte Birken, die auf den ersten Blick gar nicht wie solche wirkten, da sie ihre charakteristische weiße Rinde schon längst verloren hatten. „Wie viele Reisegefährten willst du eigentlich haben?“ fragte mich mein kleinwüchsiger Begleiter jäh. „Keine Ahnung. Vier oder fünf. Vier wäre natürlich besser, weil man dann zwei Gruppen je zwei Leute bilden kann.“ – „Weshalb denn nicht sechs? Dann wären es drei Gruppen.“ – „Da ist was dran“ bekannte ich. „Warten wir erst mal ab, wie viele Leute wir überhaupt finden.“ Am späten Nachmittag hatten wir den Forst endlich hinter uns gelassen ohne einem einzigen Wolf begegnet zu sein. Doch es gab sie. Davon zeugte nicht nur das entfernte Geheul, daß ich einmal bemerkte, sondern auch die Spuren, die mir als gutem Fährtenleser nicht entgangen waren. Raðvið hatte mir alte Zwergensagen erzählt, wodurch der lange Marsch angenehmer wurde. Es dauerte nicht lange nach dem Verlassen des Waldes bis wir in eine kleine Ortschaft kamen. Hier befanden wir uns schon im Grenzgebiet zum Elfenreich, was auch den höheren Prozentsatz elfischer Bürger erklärte. „Bleiben wir die Nacht über hier?“ wies Raðvið auf das Holzschild einer Herberge. Ich ahnte, daß ihn das Symbol eines Kruges an der Eingangstür dazu bewogen haben könnte, diesen Vorschlag zu machen. Angesichts des niedrigen Sonnenstandes, der eine baldige Nacht ankündigte, war ich aber einverstanden. Ein alter Mann mit kurzem Backenbart humpelte an mir vorbei. Was mochte seine Lebensgeschichte sein? Er sah wie ein Bauer aus, aber das konnte freilich täuschen. Mich überfiel spontan eine emotionale Regung und am liebsten hätte ich ihn gefragt, was er in seinem Leben erlebt hatte, wie das mit seinem Bein passiert war und ob er Lust hätte, mir all das bei einem Krug Met zu erzählen. Keine Ahnung, wieso ich auf einmal diesen Wunsch hatte. Vermutlich ein sentimentaler Anflug oder weil mich der Mann an meinen Opa erinnerte, er mich immer zum Fischen mitnahm, als ich noch ganz klein war. Schon war er vorbei und mein Begleiter, der schon etwas voraus war, sah sich nach mir um. „Wo bleibst du denn? Willst du Löcher in die Gegend starren?“ – „Ich komme schon!“ Wir betraten die Herberge, die gleichzeitig im Erdgeschoß auch ein Wirtshaus beinhaltete. Raðvið deutete auf einen freien Tisch. „Trinken wir einen für den Anfang.“ Ich schüttelte den Kopf.  „Zuerst sollten wir uns um unsere Schlafstelle kümmern, ehe wir ans Saufen denken.“ – „Ja, mach nur. Ich bestelle inzwischen Met …“ Sprach es und saß bereits, lauthals nach der Schankmaid rufend. Aufschnaufend begab ich mich zum Gastwirt, wo ich kundtat, daß wir eine Nacht bleiben wollten. „Schlafsaal für zwei Kreuzer pro Person, Doppelzimmer für jeweils fünf Kreuzer, Einzelzimmer für sieben Kreuzer.“ Aus Gründen der Sparsamkeit entschied ich mich für den Schlafsaal. Zwei Kreuzer waren praktisch geschenkt. Nachdem ich gezahlt hatte, begab ich mich zurück an den Tisch, wo mein Gefährte schon mit dem Trinken begonnen hatte. „Ich erhebe meinen Krug auf unsere Abenteuer!“ hielt er sein Metgefäß in die Höhe. Wir stießen an und ließen uns auch etwas zu essen kommen. Mit einiger Mühe konnte ich meinen neuen Freund davon überzeugen, daß wir heute kein großes Saufgelage machen sollten, denn morgen würden wir einen langen Marsch vor uns haben, der uns weit ins Elfenterritorium bringen würde. Er schien zwar etwas enttäuscht, meckerte aber zumindest nicht herum. Offenbar schien er akzeptiert zu haben, daß ich der Anführer unserer Gruppe war, sofern man bei zwei Personen schon von „Gruppe“ sprechen kann. So kam es, daß wir ziemlich frühzeitig am Abend den Schlafsaal betraten, wo wir zwei nebeneinanderstehende Betten okkupierten. Insgesamt mochten an die zwanzig Betten im Saal stehen, von denen knapp die Hälfte belegt war. Ohne Zweifel nicht ganz so luxuriös wie mein Einzelzimmer in Ragnar, aber man konnte eben nicht immer alles haben. Wir unterhielten uns noch kurz mit unseren Nachbarn, die nach Ragnar unterwegs waren, ehe wir uns schlafen legten. Der Zwerg hatte seine Axt jederzeit griffbereit auf die Kommode neben sich gelegt. Sind schon lustige Gesellen, diese Zwerge …

 

Von seinen Waffen weiche niemand

Einen Schritt im freien Feld:

Niemand weiß unterwegs, wie bald

Er seines Speers bedarf.

(Edda, Havamal – Des Hohen Lied)

 

Anderntags erwachte ich, als etliche der anderen Gäste aufstanden, was nicht ohne eine gewisse Geräuschkulisse abging. Missmutig drehte ich mich nochmal herum, doch Schlaf fand ich keinen mehr. Deshalb stand ich auf, wusch mich und bemerkte lächelnd, daß der Zwerg noch tief zu schlafen schien. Offensichtlich ein Spätaufsteher. Ich gab ihm einen Renner, was ihn aufgrunzen ließ. „Was ist los?“ sah er mich verschlafen an. „Wieso weckst du mich mitten in der Nacht?“ – „Es wird Zeit zum Aufbrechen“ erklärte ich ihm. „Was, jetzt schon?“ Oh weh, da hatte ich aber einen aus dem Tiefschlaf gerissen. Gähnend rappelte sich Raðvið langsam auf. Nach einer kurzen Katzenwäsche rieb er seine Augen und raffte sein Zeug zusammen. Dann stolperte er mir nach in den Eingangsbereich. Da es in Landgasthäusern wie diesen nicht üblich war, daß man ein Frühstück einnahm, begaben wir uns in den einzigen Lebensmittelladen des Dorfes, der mit dem ersten Morgengrauen öffnete. „Was wünschen die Herren?“ empfing uns der Inhaber, ein freundlich blickender Elf mit langen, goldenen Haaren. „Vielleicht eine Kleinigkeit für unterwegs? Da kann ich euch die Elfenschnitten ans Herz legen, das sind zart überbackene Käsebrote mit Gemüseeinlage.“ Raðvið verzog das Gesicht, offensichtlich wäre ihm eine Fleischration lieber gewesen. Dennoch kaufte ich vier Rationen ein, was wider Erwarten ohne Kommentar meines Gefährten blieb. Wir aßen während dem Wandern unsere erste Portion, die überraschend gut schmeckte. Dazu tranken wir – Wasser. Das kostete nichts und war überall auffindbar. Wir hatten es aus einem kleinen Bach, der ein Stück am Weg entlang geflossen war, ehe er sich durch ein Waldstück entfernte. Wir nutzten diese Chance um unsere ledernen Wasserflaschen zu füllen. Weiter ging es frohen Mutes und gegen Mittag passierten wir durch Zufall ein Wirtshaus mit dem blumigen Namen „Zum alten Spitzohr“. Normalerweise mochten Elfen es nicht, wenn man sie mit Bezugnahme auf ihre körperliche Besonderheit ansprach. Die Verwendung des Begriffs ließ folglich auf einen Elfen mit Humor schließen. In der gemütlich eingerichteten Kaschemme setzten wir uns an einen runden Ecktisch, auf dem zur Verzierung ein Blumengedeck stand. Neugierig schaute ich der Elfenbedienung zu, bei der nicht nur ihre spitzen Ohren meine Blicke auf sich zogen. „Was darf ich euch bringen?“ eilte sie zu unserem Tisch. „Schlachtplatte mit viel Käse und Met“ bestellte Raðvið. „Als Nachspeise die Zwergenrolle.“ Erwartungsvoll blickte die Elfin mich an. „Also ich hätte gern ein Dunkelbier und die Schweinshaxe.“ Während wir auf das Essen warteten, beobachtete ich die Personen an den anderen Tischen. Ein vermutlich verheiratetes, schäkerndes Elfenpaar erregte mein Interesse kaum, dafür aber ein Kaiserlicher, dessen Kleidung aussah, als sei er Söldner. Ich bat meinen Freund unauffällig hinüberzusehen. „Ja und?“ – „Glaubst du, der wäre eine Ergänzung für uns?“ Der Zwerg schüttelte bestimmt den Kopf. „Der gefällt mir nicht. Sieht wie jemand aus, der seine Dienste für Geld verkauft. Auf so einen können wir nicht zählen, wenn es hart auf hart kommt. Solche Spitzbuben bringen nur Ärger.“ Damit war für ihn das Thema beendet, denn er wandte sich wieder dem Met zu. Außer einer guten Mahlzeit brachte uns der Halt in dem Wirtshaus nichts ein. Gestärkt zogen wir wieder los und als wir durch das erste Walddorf der Elfen kamen, blieb ich beeindruckt stehen. Der Weg hatte uns durch ein Gehölz geführt und eben hier hatten die Elfen ein Dorf größtenteils auf den Bäumen errichtet. Kolossale Baumriesen trugen Baumhäuser unterschiedlicher Größen, die über kleine Treppen oder einfache Strickleitern mit dem Erdboden verbunden waren. Interessanterweise führten zu manchen Häusern gleich zwei Strickleitern hinauf. Nach einiger Zeit fand ich heraus, daß die linke immer zum Hochklettern und die rechte zum Herabklettern benutzt wurde. Obwohl die Bewohner mit Fremden vertraut schienen – immerhin passierten die Handelsstraße täglich tausende von Leuten – kam es mir so vor, als beobachteten sie mich unauffällig. Vielleicht bildete ich mir das aber auch nur ein. Schließlich kam ich mir hier als einziger Kaiserlicher unter lauter Elfen etwas komisch vor. Am Dorfrand übte ein Elf Bogenschießen. Dazu zielte er auf eine Scheibe, die in einiger Entfernung an einem Baum aufgehängt war. Wir stellten uns seitlich schräg hinter ihn um ihn nicht zu stören. Ruhig legte er einen Pfeil an, zielte und schoß. Er hatte die Scheibe in der Mitte getroffen. Ein zweiter Pfeil traf vielleicht einen Fingerbreit entfernt auf. Da bemerkte der Schütze uns. „Ah, Reisende. Interessiert ihr euch fürs Bogenschießen?“ – „Nun ja, wir kamen gerade des Wegs und haben Euch hier üben sehen. Wirklich überragend, Euer Können.“ Stolz hielt mir der Elf den Bogen hin. „Versucht es doch selbst einmal.“ Überrumpelt wollte ich zuerst dankend ablehnen, da ich noch nie eine Fernwaffe in der Hand gehabt hatte, aber das wollte ich in dieser Situation nicht zugeben. Ich legte den Pfeil, den mir der Elf gegeben hatte, auf die Sehne, spannte den Bogen und wusste nicht recht, wie ich damit zielen sollte. Die Scheibe war so klein, ich hatte keine Ahnung wie ich die treffen sollte. Den Atem anhaltend ließ ich den Pfeil los. Er zischte durch die Luft, näherte sich mit rascher Geschwindigkeit der Scheibe und … blieb einen Meter darüber im Stamm stecken. „Die Richtung hat schon mal gestimmt“ kommentierte der Elf mit dem Anflug eines Lächelns. „Ihr müsst den Bogen anders halten.“ Er zeigte mir, wie ich die Hand ansetzen musste und noch ein paar Tricks und bestand darauf, daß ich es noch einmal probierte. Letztlich schoß ich noch ein gutes Dutzend Pfeile ab und immerhin gelang es mir nun, auf Anhieb die Scheibe zu treffen. Obgleich sich die Treffer weitab vom Zentrum befanden, was meine Begeisterung dämpfte. Als Fernkämpfer war ich wohl kaum zu gebrauchen. „Vielen Dank für die Unterweisungen“ verabschiedeten wir uns. Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinander her, bis der Zwerg einen Gedanken aussprach. „Es könnte eventuell nützlich sein, wenn wir einen Bogenschützen in unsere Gruppe aufnehmen. Seien wir uns mal ehrlich: du verstehst nichts davon und ich als Zwerg habe sowieso nichts dafür übrig.“ Damit hatte er wohl recht. „Vielleicht finden wir heute abend jemand, der unseren Anforderungen entspricht. Lass uns in der nächstgrößeren Elfensiedlung die Nacht verbringen und dann schauen wir uns nach weiteren Gefährten um.“ Der Zwerg war einverstanden. An der nächsten Wegkreuzung folgten wir dem Schild, das nach Elfion zeigte, der großen Elfenhauptstadt in der Ebene, die im Norden durch den Bolkensee eingerahmt wurde. Just am Ufer dieses Sees lag die Stadt, von der ich gar wundersames gehört hatte. Es würde allerdings noch einige Tage dauern, bis wir dorthin kamen. Zeit genug also für uns um noch einige Kameraden zu finden. Ein entgegenkommender Elf in schöner Rüstung auf einem schwarzen Ross fragte mich, wo es zu einer Ortschaft ging, deren Namen ich noch nie gehört hatte. Entschuldigend zuckte ich die Schultern und wir setzten unseren Marsch fort. „Wie kommt der auf die Idee, daß wir uns als Ausländer hier auskennen?“ fragte ich mich, als der Elf außer Hörweite war. „Woher soll ich das denn wissen? Offenbar war er fremd hier und wir sahen so aus, als seien wir Fernhändler oder Gaukler, die hier öfter vorbeikommen. Um die Spitzohren zu verstehen, muss man selber einer sein …“ Es dauerte nicht mehr lange, bis wir erneut in ein Walddorf der Elfen gelangten. Mit dem Unterschied, daß dieses hier etwas größer war als das zuletzt von uns durchquerte. Es war inzwischen schon reichlich duster, doch aufgestellte Fackeln beleuchteten die Eingänge der Herberge, die gar nicht so leicht zu betreten war. Wir mussten uns über eine Strickleiter hinaufhangeln bis zu einer kleinen Plattform. Vor einer Holztür saß ein Elf hinter einem Tisch, der mit einer Feder auf ein Blatt Pergament schrieb. „Guten Abend, verehrte Reisende“ begrüßte er uns. „Für nur zehn Kreuzer garantiere ich euch einen erholsamen Schlaf, der morgen früh sanft mit Vogelgezwitscher enden wird.“ Ich gab ihm die verlangte Summe und erhielt eine Beschreibung der Lage unserer Kammer. Da die Baumhausherberge wegen des begrenzten Platzangebots, die die Bauweise in den Bäumen bot, nicht besonders groß war, fanden wir uns schnell zurecht. Wir legten unser Gepäck ab und steuerten die Kneipe an, auf die uns der Besitzer hingewiesen hatte. Dazu mussten wir die Strickleiter nicht extra wieder abwärtsklettern, da die Herberge über eine wacklige Hängebrücke mit den Nachbarbäumen der Siedlung verbunden war. Die Kneipe befand sich nur zwei Bäume weiter, wobei ich über ihren eigenwilligen Namen – „Eichenblick“ – grinsen musste. Rings herum wuchsen nur Eichen, welch abwechslungsreiche Aussicht! Dennoch kam selbst ich nicht umhin, an den Bäumen Gefallen zu finden. Massive Stämme, hartes Holz, schön symmetrisch geformte Blätter mit zahlreichen Rundungen, über den Waldboden huschende Eichhörnchen, die dort im Herbst die Früchte sammelten zwecks Einlagerung für lange Wintertage. Dafür musste man echt Bewunderung aufbringen. Drinnen herrschte eine ausgelassene Stimmung, wobei es zumeist Elfen waren, die sich hier versammelt hatten. Wir gesellten uns durch Zufall an einen Tisch, an dem bereits eine kleinere Elfengruppe saß. Anfangs warf man noch unschlüssige Blicke in unsere Richtung, zu ungewohnt schien es ihnen zu sein, daß ein Kaiserlicher mit einem Zwerg unterwegs war. Dann aber gewöhnten sie sich an uns und wir tranken gemeinsam um die Wette, wobei letzten Endes Raðvið am längsten durchhielt, denn die Elfen vertrugen noch weniger als ich. Im Verlauf des Gesprächs – vielleicht sollte ich besser Besäufnis sagen – erfuhren wir, daß unsere Saufgenossen Soldaten waren, die man auf Patrouille gesandt hatte. In einer ruhigen Minute winkte ich den Wirt herbei. „Könnt Ihr mir vielleicht sagen, ob Ihr heute jemand gesehen habt, der wie ein Abenteurer aussieht? Wir bräuchten nämlich etwas Verstärkung …“ Der Elfenwirt kratzte sich hinter seinem langen Ohr. „Seht Ihr den Tisch dort hinten in der Ecke? Da sitzt eine Elfin, die vielleicht Interesse hätte.“ Ich bedankte mich und erklärte meinem Gefährten mein Anliegen und daß ich gleich zurückkommen würde. Dann begab ich mich zu dem angedeuteten Tisch, an dem zwei Elfen saßen. Ein Elf redete auf eine Elfin ein, die mir den Rücken zuwandte. „Entschuldigung“ machte ich auf mich aufmerksam. „Darf ich mal kurz stören?“ Der Elf blickte mich grantig an. „Verzieh dich, siehst du nicht, daß wir uns gerade unterhalten?“ Als mich die Elfin anblickte, war mir klar, daß er mich als Nebenbuhler betrachtete, denn sie war durchaus eine Schönheit. Beinahe zierliche, spitze Ohren rahmten ein sanftes Gesicht ein, dunkelgrüne Haare leuchteten im schummrigen Licht der Kneipe, ihre dunkelblauen Augen musterten mich freundlich, ihre Nase war grazil, die entblößten Arme hatte sie scheinbar trotzig auf den Tisch gestemmt um mit den zart wirkenden Händen ihr Kinn zu stützen. Ihr Leib steckte in einem dunkelbraunen Lederwams, das mich spontan an einen Jäger denken ließ. Sie wandte sich zu ihrem Tischgenossen und sagte etwas, was mich in diesem Moment erstaunte, weil ich die Situation nicht richtig einstufen konnte. „Du hast keine Ansprüche auf mich – wir sind geschiedene Leute.“ Damit stand sie auf und sah mich erwartungsvoll an. „Also, womit kann ich dir helfen?“ – „Der Wirt sagte mir, daß du unter Umständen auf der Suche nach einer Reisegruppe bist und da dachte ich, ich frage einfach mal, weil wir noch Leute suchen würden.“ Sie berührte mich an der Schulter um mich mit sanfter Gewalt vom Tisch wegzuschieben. „Du hast richtig gehört. Lass uns doch da rüber an den freien Tisch gehen, da können wir uns in aller Ruhe unterhalten ohne belästigt zu werden.“ Der Blick, den sie dem Elfen zuwarf, der mich so unfreundlich angemacht hatte, schien vor Hass regelrecht zu leuchten. In welcher Beziehung mochten die beiden zueinanderstehen? Wir setzten uns an den Tisch, den die Elfin ausgesucht hatte und jetzt lächelte sie mich mit einem fast göttlichem Ausdruck an. „Wie viele seid Ihr denn schon?“ Verlegen blickte ich zur Seite. Zum einen, weil mich ihre mädchenhafte Aura schüchtern werden ließ, zum anderen weil die Antwort meiner Ansicht nach nicht gerade glorreich klang. „Also wir sind zu zweit, außer mir gibt es da noch einen Zwerg, der irgendwie da hinten sitzt.“ – „Verstehe“ nickte die Elfin mir zu. „Ihr fangt also erst an. Wie habt Ihr euch das ganze vorgestellt?“ – „Nun, wir suchen uns noch ein paar Gefährten bis wir ungefähr sechs Leute sind und dann schauen wir, was wir alles so erleben. Einfach der Nase lang und Abenteuer bestehen ohne festen Plan.“ Sie schwieg eine Weile, dann legte sie ihre Hände auf meine Schultern. „Sina Eichenhand“ stellte sie sich vor. Bei den Elfen war es Brauch, einem Fremden durch das Auflegen der Hände auf die Schultern die Freundschaft zu erklären. Diese Geste bewies symbolisch zum einen, daß man keine Waffe gegen den anderen führte und zum anderen, daß man dessen Schultern von nun an zu stützen gedachte. Etwas, was man nur für einen Freund zu tun bereit ist. Ich zögerte, denn ich wagte nicht sofort, die hübsche Elfin zu berühren, wie die Sitte es erforderte, wollte ich ihr Freundschaftsangebot annehmen. Dann überwand ich meine Scheu, legte meine Hände ebenfalls auf ihre Schultern, was sicherlich lustig aussah, denn sie hatte ihre immer noch auf mir liegen, und nannte meinen Namen: „David Adebar.“ Sina lächelte geheimnisvoll und löste sich wieder von mir, wodurch auch ich meine Hände zurücknahm. Elfenbräuche sind anders, sie verwirren den Geist. Vielleicht lag es auch nur einfach daran, daß ich noch nie eine Elfin kennengelernt geschweige mir eine ihre Freundschaft angeboten hätte. In Erodil war das auf dem Land, woher ich kam, eher schwierig Elfen anzutreffen. Dennoch wusste ich aus Erzählungen, daß Elfinnen grundsätzlich als äußerst verführerisch beschrieben wurden. Lichtelfen, die meistens nur als „Elfen“ bezeichnet werden, sollen schöner sein als die Sonne, sie erstrahlen in leuchtender Helligkeit. Ganz im Gegensatz zu ihren Verwandten, den Nacht- oder Dunkelelfen, manchmal auch Schwarzelfen genannt. Diese sind schwärzer als Pech, Vertreter der ewigen Nacht, die ihren dunklen Mantel auf alles wirft, mag es einst noch so schön gewesen sein. Ganz genau hatte mir niemand zu sagen vermocht, wie Licht- und Dunkelelfen zueinanderstanden, aber meines Erachtens gingen sie vor langer Zeit aus derselben Art hervor. Mit dem Unterschied, daß sich ihre Evolutionswege getrennt hatten und jede eine komplett unterschiedliche Entwicklung durchlaufen hatte. Herausgekommen waren die Dunkelelfen, die auf Grund ihrer nächtlichen Lebensweise eher eine bleichgraue Haut sowie dunkle Augen hatten wohingegen bei den Lichtelfen hellere Töne dominierten. „Wann soll es denn losgehen?“ riss mich Sina aus meinen Gedanken. „Morgen in der Früh. Ich habe keine Ahnung, wieviel Raðvið bisher getrunken hat, folglich habe ich keine Ahnung, wie lange er zu schlafen gedenkt. Pass auf, du kannst einfach bei uns vorbeikommen und nachschauen, ob wir schon fertig sind.“ Da ich annahm, daß Sina woanders nächtigte, beschrieb ich ihr unsere Herberge. „Da schlafe ich doch auch!“ überraschte sie mich prompt. „In welcher Kammer seid ihr denn?“ – „Die zweite von links, die mit dem Eichenblatt auf der Tür.“ Die Elfin lächelte sanft. „Dann sind wir Nachbarn. Ich bin nämlich nur eine Kammer weiter. Dann würde ich vorschlagen, ich klopfe einfach mal an, sobald ich wach bin.“ Damit einverstanden führte ich Sina zu dem Tisch, an dem nach wie vor Raðvið gemeinsam mit den anderen Elfen saß. „Darf ich dir Sina vorstellen“ wandte ich mich an den Zwerg, der in meiner Abwesenheit eine Tischrunde gegeben hatte. „Sie wird unsere Gruppe verstärken.“ Die beiden reichten sich den Arm und ich war mir sicher, daß die zwei miteinander auskommen würden. Sina setzte sich zwischen uns, denn wir wollten auf unsere Freundschaft anstoßen. „Die Krüge hoch“ rief Raðvið, der sich diese Gelegenheit nicht entgehen ließ. „Erzähl uns ein bisschen was über dich.“ Die Angesprochene setzte ihren Krug ab, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und begann: „Meine Eltern stammen ursprünglich aus einem Dorf in der Nähe von Elfion. Wegen meines Talentes im Bogenschießen ging ich eine Zeitlang zur Schutztruppe, wo ich regelmäßig ein Auskommen hatte. Aber mit der Zeit hat mich das ein bisschen gelangweilt, Patrouillendienste, Wachestehen, da bin ich dann auf den Gedanken gekommen, selbständig auf Abenteuersuche zu gehen.“ Sie schluckte gequält und sah mich an. „Der Elf, der an meinem Tisch war, als du kamst, der war einer der Kämpfer meiner Gruppe.“ Ich fühlte, daß sie etwas auf dem Herzen hatte, drang aber nicht in sie, weil ich es vorzog, wenn sie von sich aus erzählte. Doch zu diesem Punkt schwieg sie. Stattdessen berichtete sie von ihren Interessen und ihrer Weltsicht im Allgemeinen. Es dauerte länger, bis wir schließlich übereinkamen, die Unterhaltung anderntags fortzusetzen. Wir verabschiedeten uns von den anderen Elfen am Tisch und begaben uns zurück in unsere Herberge. Die Haupttür stand offen, wie es für Elfenhäuser charakteristisch war. Undenkbar in der Gegend, aus der ich kam. Vor der Tür zu unserer Kammer trennten wir uns von Sina. Raðvið legte sich aufs linke Bett, ich bezog das rechte. Bevor ich mich schlafen legte, holte ich das Buch hervor, daß ich mir in Ragnar gekauft hatte, um eine der Geschichten als Betthupferl zu lesen. Es handelte vom Schicksal eine Riesin. Angrboda, die „Unheilsbringerin“, zeugte mit dem verschlagenen Loki drei Kinder. Die Todesgöttin Hel, die Midgardschlange Jörmungand und Fenrir, den Wolf. Die Götter wussten diese bedrohliche Gefahr durch das Trio durchaus ernstzunehmen und begaben sich in die Halle der Reifriesin. Nachdem sie sie im Kampf überwältigt hatten, überlegte man, was man mit ihren gefährlichen Kindern machen sollte, denn gemeinsam waren sie eine zu große Bedrohung. Nach längerer Überlegung schickte man Hel in die Unterwelt, was ihr den Status der Göttin des Todes einbrachte, da zuvor niemand diese Rolle übernehmen wollte. Die Midgardschlange warf Odin selbst ins Meer und Fenrir wurde mit der magischen Fessel namens Gleipnir und Tyrs Hilfe unschädlich gemacht. Das ist die Geschichte von Angrboda.

 

*

 

Am kommenden Morgen erwachte ich nicht von allein, sondern durch den Geräuschpegel, den Raðvið beim Aufstehen erzeugte. Unwillig öffnete ich die Augen. Der Zwerg sah mich schmunzelnd an. „Wenn du den Alkohol nicht verträgst, solltest du nicht so viel davon trinken!“ Ein exzellenter Ratschlag. Dabei hatte ich gar nicht so viel getrunken, aber irgendwie hatte es mir doch einen tiefen Schlaf gebracht. Allmählich rappelte ich mich auf, ein Vorgang, der jäh beschleunigt wurde, als es an der Tür klopfte. Der Zwerg wollte öffnen, aber eine Geste von mir hielt ihn zurück. Draußen stand Sina, einen Langbogen sowie einen ledernen Pfeilköcher über der Schulter tragend. „Guten Morgen!“ begrüßte sie uns gutgelaunt. „Von mir aus können wir aufbrechen. Seid ihr soweit?“ – „Ja, im Prinzip schon. Wir sind quasi fast fertig.“ Wir packten unser Zeug, daß wir achtlos auf den Boden geworfen hatten und waren bereit für unsere erste gemeinsame Unternehmung. Wir folgten der Straße, die Richtung Elfion führte, machten einmal Rast in einem kleinen Dorf, wo wir uns mit Nahrungsmitteln eindeckten und diskutierten nebeneinandergehend über Elfenbräuche als auch Traditionen. Sina erzählte, daß Elfen im Vergleich mit Menschen oder Zwergen in der Regel recht alt werden konnten. Sie selbst war bereits 47 Jahre alt, doch für Elfen war das so wie für uns ein Alter von 18 Jahren. Formal volljährig, aber noch nicht ganz als erwachsen angesehen. Das mag sich sicherlich lustig anhören.

Soeben hatten wir einen kleinen Hügel erklommen, als wir Kampfgeräusche hörten. „Was ist das denn?“ wunderte ich mich. „Hört sich an wie ein Kampf“ meinte Sina. „Es kommt aus dieser Richtung.“ Sie wies auf einige hohe Büsche, die uns die Sicht auf das Geschehen verdeckten. „Das sehen wir uns aus der Nähe an. Folgt mir!“ Mein Kurzschwert zückend rannte ich auf die Geräusche zu, die anderen folgten mir so schnell sie konnten. Als ich um einen Busch herumlief, sah ich die Szenerie vor mir. Eine Frau in einer dunkelroten Kutte verteidigte sich mit einem Stab gegen eine Horde Goblins. Diese kleinen Wichte sind allein zu feig, weshalb sie stets in der Gruppe agieren. Mindestens die drei oder vierfache Überzahl genügt ihnen meistens, um einen Angriff zu wagen. Wegen ihrer geringen Körpergröße vertrauen sie in der Regel auf Stangenwaffen, um ihre Widersacher auf Distanz zu halten. Das war auch hier der Fall, denn wie ich schnell auffasste, waren fast alle mit Speeren, Spießen oder ähnlichem bewaffnet. Es stand nicht gut für die Frau, die mit ihrem Stab um sich schlagend von den Unholden umzingelt war. „Attacke!“ schrie ich wie ein Berserker, um die Goblins auf mich aufmerksam zu machen. Tatsächlich ließen einige von ihrem Opfer ab, um sich der neuen Bedrohung zuzuwenden. Mein Schwert wild hin- und herschwingen lassend bahnte ich mir einen Weg zur Eingeschlossenen. Mit einem schnellen Streich schlug ich einem Goblin die Lanze aus der Hand. Einen anderen drängte ich mit wilden Hieben zurück. Inzwischen trafen auch meine Gefährten ein und die Goblins suchten ihr Heil in der Flucht. Wie ich schon sagte: feige Gesellen. „Seid Ihr verletzt?“ sorgte sich Sina um die Frau. Diese klopfte sich den Staub von der Kutte. „Nein, Ihr seid gerade rechtzeitig eingetroffen. Habt vielen Dank – ich bin übrigens Rael Sternstaub, Magierin und Gelehrte.“ – „Raðvið Schmiedefaust, vom Zwergenstamm der Feuerhände.“ – „Sina Eichenhand, Bogenschützin.“ Zuletzt stellte ich mich vor. „David Adebar, Abenteurer.“ Rael schulterte ihren Stab und drückte jedem von uns die Hand. „Ohne euch hätten mich die vielleicht fertiggemacht.“ Erst jetzt fand ich die Zeit, sie mir etwas genauer anzusehen. Unter der Kapuze ihrer Kutte zeichneten sich lange, schwarze Haare ab, dunkelbraune Augen spiegelten eine Tiefe vor, die freilich nur eine Illusion waren. Dennoch schienen sie mir unergründlich. Ihr Gesicht wirkte nicht so auffällig attraktiv wie das von Sina. Sie war keineswegs unattraktiv, aber man sah das erst auf den zweiten Blick, weil sie sich keine Mühe gab, ihre körperlichen Vorzüge in den Vordergrund zu stellen. Von ihrer schlanken Statur sah man recht wenig wegen der langen Robe, die fast bis zu den Knöcheln reichte, doch ließen sich durchaus weibliche Rundungen vermuten, deren Gehalt nur unwesentlich hinter denen der Elfin nachstanden. Raels Hände waren äußerst zierlich, gerade so, als habe sie noch nie eine Waffe in der Hand gehabt. Sie war ja auch keine Kämpferin, was diesen Eindruck erklärte. Aus einer spontanen Regung heraus machte ich ihr ein Angebot: „Sag mal, Rael, hättest du Lust, uns zu begleiten? Wir ziehen momentan einfach so durch die Gegend, um Abenteuer zu erleben. Das wäre sicherlich auch für dich besser als wenn du versuchst, dich allein durchzuschlagen.“ Raels dunkle Augen musterten mich eindringlich. „Das ist ein nettes Angebot. Ich habe meine Fähigkeiten wohl etwas überschätzt … gut, ich bin dabei. Zwar bin ich – wie ihr gesehen habt – keine gute Kriegerin, aber ich beherrsche mehrere Sprachen, habe ein Diplom in Magie und kenne mich auch in alten Schriften aus.“ Raðvið, der bisher still gewesen war, räusperte sich. „Davon verstehe ich überhaupt nichts. Soll heißen, wir werden uns kaum in die Quere kommen. Was für eine Magie verwendest du denn? Feuerbälle werfen, Eisregen erzeugen oder so was?“ – „Ihr habt eine falsche Vorstellung von Magie. Ich weiß nicht, woher Ihr das habt … aus Erzählungen von Spielleuten?! Tatsächlich ist Magie eher die Kunst, die Geschehnisse der realen Welt zu beeinflußen oder hervorzusagen. Ich kann nicht zaubern – das gibt es nur in Märchen.“ Raðvið wirkte enttäuscht. „Aber ich habe gehört, daß Magier mit mentaler Kraft ihre Feinde töten können.“ – „Das ist maßlos übertrieben. Im Endeffekt entstehen solche Beschreibungen von Leuten, die keine Ahnung von der Materie hatten. Ohne Einsatz keine Wirkung.“ – „Ich verstehe nicht ganz …“ – „Gut, ich versuche es zu erklären: wenn ich mit Hilfe von Magie etwas erreichen möchte, muss ich mich zuerst vorbereiten. Aus dem Stegreif geht gar nichts. Und selbst mit Konzentration und Hilfsmitteln beeinfluße ich lediglich das, was möglich ist.“ Interessiert schaltete ich mich in das Gespräch ein. „Das heißt, du kannst uns jetzt nicht sofort nach Elfion teleportieren?“ Rael lächelte verständig. „Nein, das geht nicht. Ich kann auch keine Toten wiederauferwecken. Das können höchstens Totenbeschwörer, aber wenn ihr mich fragt, sind das auch nur Altweibergeschichten, um die Kinder zu erschrecken. Ich verfüge lediglich über das Wissen, wie man die Besonderheiten von Materie ausnutzt, die andere Leute nicht kennen. Das erscheint diesen dann wie ein Zauber, aber das ist es natürlich nicht. Das ist ein schwieriges Thema. Vielleicht werde ich es euch beizeiten genauer erklären. Aber dazu brauche ich einen Präzedenzfall, denn ohne Beispiel ist das recht kompliziert.“

„Hmm“ machte der Zwerg. „Sobald ich dich irgendetwas machen sehe, was ich nicht begreife, frage ich dich.“ – „So können wir es gern machen. Dann schlage ich vor, wir brechen auf. Nicht, daß die Goblins mit Verstärkung zurückkommen …“ Raðvið schnaubte durch die Nase und hob den Stiel seiner Axt. „Ach was, vor denen habe ich keine Angst. Denen werde ich mit dem Ding hier einen neuen Scheitel ziehen.“ Innerlich grinsend über unseren furchtlosen Gefährten gab ich das Zeichen zum Aufbruch. Wir beschlossen querfeldein zu ziehen, damit wir etwas von der Natur sahen. Außerdem erhoffte ich mir davon, eine kleine Abkürzung zum heutigen Etappenziel, der kleinen Stadt Feria, zu erreichen. Laut der Wandkarte, die ich mir in der Herberge von der Region angesehen hatte, schlängelte sich der Handelsweg durch die urwüchsige Hügellandschaft. Dabei ging viel Zeit drauf und ich wollte doch mal sehen, ob wir so nicht schneller am Ziel ankamen. Zuerst ging es recht gemütlich über mit niedrigen Büschen bestandene Wiesen bis ein Bach unseren Vormarsch stoppte. Mit Anlauf hüpften wir über eine schmale Stelle auf die andere Seite, ohne daß einer nass geworden wäre. Irgendwie ergab es sich so, daß die Frauen vorangingen und wir hinterher. Unwillkürlich ertappte ich mich dabei, wie ich Sinas Rückseite anstarrte. Ihre wogenden Hüften, ihre elegante Gangart, die geschmeidige Abfolge der Bewegungen – das zog mich in seinen Bann, wie ich mir selbst zugeben musste. Raðvið schien dafür nichts übrig zu haben, denn er schimpfte über ein aufdringliches Stechinsekt, daß ihn umflogen hatte und spuckte zur Seite hin aus. „Hast du schon mal versucht, zwei Äxte zugleich einzusetzen?“ fragte ich ihn, um mich abzulenken.

„Ja“ meinte er. „Aber das hat mir nicht so gefallen. Ich brauche meinen schwachen, linken Arm für den Schild. Damit lassen sich Hiebe abfangen, Stiche, selbst Pfeile. Mit einer Axt mehr kannst du auch nur zuschlagen. Da bringt der Schild einfach mehr Gewinn.“

„Es gibt halt Leute, die bevorzugen zwei Waffen oder gleich einen Zweihänder wegen der höheren Durchschlagskraft.“

„Natürlich, es gibt auch Idioten, die lehnen es ab eine Waffe anzufassen, weil sie niemandem wehtun wollen, aber wenn dann jemand kommt, der ihnen wehtun will – was dann?“

Damit spielte er auf die Existenz religiöser Eiferer in meiner Heimat an, die den Militärdienst verweigerten. Nicht nur für den Zwerg war das eine unverständliche Lebenseinstellung. Unsere beiden Gefährtinnen unterhielten sich jetzt ebenfalls, was ich wohlwollend zur Kenntnis nahm. Es war von Vorteil, wenn wir uns untereinander besser kennenlernten, denn dadurch konnten wir uns sicher sein, daß wir uns auf die anderen verlassen konnten, wenn es zum Kampf kam. Vorausgesetzt, wir verstanden uns gut. Bislang hatte ich aber nicht den Eindruck, als entstünde eine Feindschaft zwischen zwei von uns vieren. Irgendwie passten wir vom Charakter ganz gut zusammen. Sina und Rael blieben plötzlich wie angenagelt stehen. „Was ist denn los?“ rief Raðvið. Sina legte einen Finger auf ihre Lippen um ihm anzudeuten, still zu sein. Sachte kamen wir näher und sahen es mit eigenen Augen: keine fünfzig Schritt vor uns, im Schatten einiger Laubbäume stand ein Hirsch mit prächtigem Geweih. Er schien uns zwar bemerkt zu haben, zeigte aber keinerlei Anzeichen von Furcht. Offensichtlich hatte er instinktiv gewittert, daß wir keine Jäger waren. Dieser Umstand ermöglichte es uns, das edle Tier eingehend zu beobachten. Raðviðs Begeisterung hielt sich in Grenzen, doch sowohl die wortkarge Rael als auch meine Wenigkeit freuten uns über diese Gelegenheit. Noch nie hatte ich einen Hirsch auf so kurze Entfernung gesehen. In meiner Heimatprovinz wurde intensive Jagd auf Rehe und Hirsche betrieben, entsprechend scheu waren die Tiere geworden. Nach einer Weile zog der Hirsch unbeeindruckt von unserer Anwesenheit weiter und verschwand hinter einer Buschgruppe. „Faszinierend“ schwärmte Rael. „Das gibt es eben nur im Elfenland.“ – „Wir sind eben sehr naturverbunden“ erläuterte Sina. „Wir sind ein Teil von ihr, ohne sie könnten wir nicht bestehen. Es ist unsere Aufgabe, sie zu bewahren und Schäden fernzuhalten.“ Wehmütig blickte ich zu Boden. „Es wäre schön, wenn man bei mir daheim auch so denken würde. Aber wir Menschen sind einfach geistig nicht so reif.“ Sina ergriff meinen Arm. „Das stimmt doch gar nicht. Du hast die Wahrheit doch erkannt.“ – „Ja, aber das nützt halt nichts, wenn es dann die anderen sind, die ganze Wälder fällen, Seen leerfischen, durch übermäßige Jagd Arten an den Rand der Ausrottung bringen und ihren Müll überall hinwerfen.“ Tröstend redete sie auf mich ein und ich war mir nicht sicher, was den erwünschten Effekt schließlich herbeiführte – ihre Argumente, die Art und Weise, wie sie zu mir sprach oder aber die ungeteilte Aufmerksamkeit, die sie mir schenkte. Ich begriff mit einem mal, daß sie mir etwas bedeutete. Obwohl ich sie erst seit kürzester Zeit kannte, verband ich mit ihrer bloßen Existenz Gefühle der Freude. Das mussten wohl wirklich die Elfinnen zugeschriebenen Eigenschaften sein, die männliche Menschen verwirrten. Doch ich kam mir nicht so vor, als wäre ich verwirrt. Vielmehr schien ich erst jetzt bestimmte Zusammenhänge richtig zu erfassen. Auf der anderen Seite war ich ein bisschen zu schüchtern, um offen mit ihr über dieses Thema zu sprechen, denn ich wollte das Risiko vermeiden, daß sie etwas falsch auffasste. Wir setzten unsere Reise fort, durchquerten ein kleines Waldstück und kamen an einen Fluß, den wir unmöglich schwimmend überqueren konnten. Zu reissend schien die Strömung zu sein, ganz abgesehen davon, daß dann auch unser Proviant nass werden würde. Eingeweichtes Brot – brr, einfach nur ekelhaft! Daher beratschlagten wir uns, in welche Richtung wir gehen sollten. Dank Sina entschieden wir uns für die linke Seite, die uns auch tatsächlich bald zu einer Brücke führte. Den Zugang zur Brücke versperrte uns ein gewaltiger Riese. Riesen sind hochgewachsene Ungeheuer, die über eine außerordentliche Körperkraft verfügen. Ihre massive Statur in Kombination mit drei bis vier Metern Körpergröße machen sie zu gefährlichen Gegnern im Kampf. Sie sind häufig durch ihre Dummheit zu überlisten, aber es gibt auch sehr schlaue unter ihnen. Manche behaupten, schon Riesen mit mehreren Köpfen gesehen zu haben, aber wirklich ernstnehmen kann man dies nicht. Jedes Elfenkind weiß hierzulande, daß kein Tier mehrere Köpfe hat. Die Heimatregion der Riesen ist Utgard im Nordosten von Erodil, doch ist der Weg dorthin beschwerlich, da man ein Gebirge überwinden muss, auf dem fast das gesamte Jahr über Schnee liegt. Man findet aber auch andernorts Riesen wie eben diesen hier, der die Brücke bewachte. Etwas mulmig war mir schon zumute, als ich an der Spitze der anderen vor ihn hintrat. Es hatte auch Nachteile, der Anführer zu sein. Das hier war einer.

„Entschuldigung, Herr Riese. Könnten wir vielleicht mal schnell vorbei?“ Der Riese, an dessen Gürtel eine gewaltige Keule baumelte, lachte schallend auf, daß es mir in den Ohren wehtat. „Das ist ein guter Witz. So einfach kommt ihr an mir nicht vorbei. Es sei denn, ihr zahlt eine angemessene Brückenbenutzungsgebühr.“ – „Na komm schon, sei nett und lass uns vorbei. Wo ich dich doch so höflich gebeten habe.“ Der Riese packte seine Keule und zeigte mit ihr drohend in meine Richtung. „Entweder zahlt ihr zwei Kreuzer pro Person oder ihr könnt hinüberschwimmen.“ Mir riss der Geduldsfaden. „Jetzt hör mal zu, du zu groß geratene Kakerlake. Entweder du schiebst deinen fetten Arsch auf die Seite oder wir schmeißen dich ins Wasser. Hast du das endlich verstanden oder muss ich es dir noch einmal erklären?“ Einen Moment lang fürchtete ich schon, der Riese sei begriffstutzig, doch dann belehrte mich die Keule, die er über seinem Haupt schwang, eines besseren. Gerade noch konnte ich auf die Seite hüpfen, als er mit der Keule nach mir schlug. Im Fallen hatte ich mein Kurzschwert gezogen und ging in Kampfstellung. Die anderen verteilten sich, denn in einem „fairen“ Kampf hätte wohl keiner von uns eine Chance gehabt. Raðvið fuchtelte mit seiner Axt in der Luft herum, was den Riesen ablenkte. Sina spannte ihren Bogen und schoß. Der Pfeil traf den Riesen ins Bein, woraufhin er verärgert aufbrüllte. Sein Zorn wandte sich nun gegen Sina, doch Rael und ich konnte durch seinen Vorprescher seitlich an ihn herankommen. Rael hielt ihre offene Hand dem Riesen entging und blies. Eine Wolke stob dem Widersacher entgegen, der plötzlich aufschrie. Die Keule sauste bereits gen Rael, als ich einen Schwertstreich gegen den linken Arm des Titanen führte. Scheinbar orientierungslos hieb der Riese um sich. Allmählich mehrten sich die Wunden, die wir ihm zufügten. Es gelang mir noch einmal, einen Stich gegen seine Seite zu landen, ehe ein gefiederter Pfeil in seine Brust eindrang. Das schien ihn zwar nicht tödlich getroffen zu haben, aber er schwankte. Raðvið nutzte die Situation und schlug mit seiner Axt zu. Wie in Zeitlupe fiel der Riese um, sein Leben aushauchend. Er war an die falschen Leute geraten – uns raubte man nicht aus, das sollte er fürs nächste Leben gelernt haben. „Bewährungsprobe bestanden“ konstatierte Sina. „Auch wenn ich es gern vermieden hätte, ihn zu töten.“ – „Wieso das denn?“ polterte der Zwerg verständnislos. Sina blickte zu Boden. „Nun, weil ich es ablehne, zu töten, wenn es nicht unbedingt erforderlich ist. Das gebietet mir meine Religion. Dain liebt diejenigen nicht, an deren Händen Blut klebt.“

„Also Dwalin hat kein Problem damit, solange es Feinde der Zwerge trifft.“ Er sah Rael und mich an. „Was denkt ihr darüber?“ – „Mein Hauptgott Thor ist damit einverstanden“ lautete meine Antwort. Rael zierte sich ein wenig. „Ich wurde im Zeichen der Freyja geboren, der Göttin der Schönheit und der Liebe. Von ihr habe ich gelernt, daß es besser ist, Liebe in die Welt zu tragen als Hass.“

„Damit hast du im Grunde Recht, aber was nützt dir all deine Liebe, wenn dich jemand zu Brei dreschen will, wie dieser Typ hier?“ widersprach der Zwerg. Ich gesellte mich zu Sina, die ihre beiden Pfeile aus dem Leib des Riesen zog. Sie merkte wohl, daß mein Blick auf ihr ruhte, denn sie erhob sich und sah mich fragend an. „Wie ist das eigentlich bei den Elfen mit der Liebe?“ fragte ich, weil mir spontan nichts Besseres einfiel. „Wie soll das sein?“ – „Na ja, ich meine, wie läuft das so zwischen Elf und Elfin? Geht man ins Theater oder zu einer Dorffeier oder arrangieren die Eltern das so, daß sich zwei potentielle Partner treffen?“ – „Ach so, also meistens kommt man bei irgendwelchen gemeinschaftlichen Veranstaltungen ins Gespräch. Bei Bogenschießturnieren etwa oder beim Vollmondfest. Das hängt ganz davon ab, welche Interessen die Beteiligten haben. Wenn jemand in seiner Freizeit gern durch den Wald streift, dann wird er kaum jemandem begegnen, der lieber ins Gebirge geht. Genügt dir diese Antwort?“

„Ja“ sagte ich, obwohl mir die Ausführungen etwas zu oberflächlich waren. „Warst du schon mal richtig verliebt?“ Sie zögerte und blieb mir die Antwort schuldig, denn Rael und Raðvið stießen nach ihrer religiösen Diskussion wieder zu uns. „Können wir?“ fragte Rael. Ich nickte. Irgendwie ergab es sich, daß die beiden vorangingen, während Sina noch etwas herumtrödelte, als sie ihre Pfeile in den Köcher steckte. „Ja“ folgte ihre späte Antwort. „Aber ich war jung und noch zu unreif. Seitdem habe ich mir vorgenommen, mir Zeit zu lassen. Schließlich bin ich noch nicht mal fünfzig. Wir Elfen leben sehr lange, wie du sicher gehört hast.“

Davon hatte ich in der Tat gehört. Leider wurden Menschen bei weitem nicht so alt und zu einem Zeitpunkt, wo sie unter ihresgleichen noch als sehr junge Frau angesehen wurde, war ich bereits ein alter Greis. Diese Gewissheit ließ mich seufzen, doch so leise, daß die Elfin es nicht mitbekam. Wir überquerten die Brücke um unseren Marsch fortzusetzen. Laut Sina sollten wir am Abend eine Siedlung namens Uferfels erreichen, die an einem größeren Bach lag, der südwestlich unserer Position in den gerade überquerten Fluß strömte. Doch bis dahin würden wir noch einen längeren Marsch vor uns haben. Gelegentlich trafen wir Gegenverkehr, aber im Großen und Ganzen war nicht besonders viel los. Die Blumen der uns umgebenden Weiden- und Wiesenlandschaft strahlten in den buntesten Farben und lockten mit ihrem süßen Nektar zahlreiche Insekten an, die sie nebenbei bestäubten. Eine besonders dicke Hummel beflog gerade eine gelbe Blume am Wegrand, als ich vorbeikam. Interessiert blieb ich stehen. Geschäftig kroch das Insekt in den ersten Blütenkelch, summte, kroch wieder heraus, in die nächste Blüte hinein und so ging es fort. „Wie herrlich doch die Natur ist“ schwärmte ich, was aber nur Sina hörte, denn die anderen waren vorausgegangen. „Allein diese Wiese beinhaltet ganze Welten in sich, ohne daß es diejenigen bemerken, die hier achtlos vorübergehen.“ Sina schmunzelte und warf dem Zwerg und der Magierin einen kurzen Blick nach, gerade so als bezöge sie meine Aussage auf die zwei. „Du hast das Herz eines Elfen. Du liebst die Natur und erkennst Kleinigkeiten, die den meisten anderen verborgen bleiben. Vielleicht sehen wir im Verlauf unserer Reise Einhörner. Ich könnte mir vorstellen, daß sie dir gefielen.“

„Einhörner?“ rief ich begeistert. „Ich dachte die sind nur eine Legende? Eine Erfindung von Geschichtenerzählern?“ – „Nein, die gibt es wirklich. Vor einigen Jahren habe ich eins im Wald gesehen. Herrliche Geschöpfe. Aber sie lassen sich nicht so häufig sehen, weil sie etwas scheu sind. Wir Elfen respektieren das und darum zeigen sie sich uns auch ab und an.“ Eine kurze Pause entstand. „Wir sollten zu den anderen aufschließen. Die sind schon stehengeblieben und wundern sich vermutlich, wo wir so lange bleiben.“ Mit schnellen Schritten verringerten wir den Abstand rasch und setzten gemeinsam den Weg fort. Als uns ein Elf in matt schimmernder Rüstung entgegenkam, hielt ich ihn höflich auf. „Entschuldigt bitte, aber könnt Ihr mir sagen, wie weit es noch bis Uferfels ist?“ Der Elf blickte mich freundlich an und erwiderte: „Ja, dort habe ich heute übernachtet. Das ist schon noch ein gutes Stück … ich weiß nicht, ob es Euch möglich ist, vor Einbruch der Dunkelheit dort anzukommen. Aber wenn ihr es eilig habt, könntet ihr die Strecke abkürzen, indem ihr direkt durch den Wald geht. Ihr müsst wissen, daß die Handelsstraße nicht unbedingt den Zweck erfüllt, Reisende zu ihren jeweiligen Zielen zu führen, sondern wirtschaftliche Aspekte zugrunde liegen.“ – „Könnten wir auch woanders übernachten?“ fragte Sina. „Klar, es gibt nicht weit von hier eine Siedlung, zu der ich unterwegs bin, aber die liegt in der entgegen gesetzten Richtung. Ich weiß nicht, ob Euch das behagt. Ansonsten empfehle ich Euch wie gesagt die direkte Route durch den Wald. Ihr müsst Euch dazu genau in Nordwestrichtung halten. Sobald ihr einen Bach erreicht, folgt einfach seinem Verlauf und ihr erreicht automatisch Uferfels.“ – „Habt vielen Dank für Eure Hilfe“ erwiderte ich, ehe ich meine Gefährten um mich scharte. „Ihr habt es gehört – was sollen wir machen?“

„Umkehren bringt uns nicht weiter, also vorwärts!“ murmelte Rael. Auch der Zwerg schloß sich dieser Ansicht an. Lediglich Sina widersprach. „Wenn wir nicht schnell genug gehen, dann müssen wir im Wald übernachten. Dazu habe ich persönlich ehrlich gesagt keine große Lust. Hier gibt es Bären, Wölfe und andere Raubtiere.“ – „Ach was“ verharmloste ich. „Wir sind doch nicht hier, um gemütlich von Ort zu Ort zu reisen, sondern um Abenteuer zu erleben. Das Risiko gehe ich gern ein, im Wald übernachten zu müssen, wenn es uns die Chance offenbart, heute noch in Uferfels anzukommen. Von da aus bis zur Hauptstadt Elfion ist es dann nämlich nicht mehr all zu weit.“ Sinas Gegenstimme übergehend verkündete ich meinen Entschluß, die Abkürzung durchs Unterholz zu wählen. Anfangs ging es ganz gut voran, doch dann wurde der Bewuchs dichter. Ich sah mich gezwungen, mein Schwert zu ziehen, um damit eine Bresche zu schlagen. Das ermüdete meinen Arm ziemlich rasch, woraufhin ich das Schwert in die andere Hand nahm. Nach einiger Zeit wechselte ich mit Raðvið den Platz, der mit seiner Axt munter dreinschlug. Irgendwann berührte mich Sina am Arm. „Hörst du das?“ Ich verneinte, denn außer den Beilschlägen und gelegentlich unter unserem Schuhwerk brechenden Ästen vernahm ich nichts. Die Elfin gebot dem Zwerg sein Werk zu unterbrechen. Aufmerksam lauschten wir, doch diesmal hörte auch Sina nichts mehr. „Komisch, ich hätte schwören können … egal.“ Es dauerte noche ein Zeitlang, bis wir das dichte Gestrüpp endlich hinter uns gelassen hatten. Ich übernahm wieder die Führung, wurde aber erneut von Sina angehalten. „Da ist es wieder!“ Diesmal hörte aber auch ich etwas, wenngleich ich nicht genau bestimmen konnte, worum es sich dabei handelte. Elfenohren waren um einiges empfindlicher, weshalb mir Sina auch genauer sagen konnte, was sie gehört hatte: „Dunkle Stimmen und Gegrunze. Definitiv keine Elfen, auch keine Menschen.“

„Hmm“ machte Rael unsicher. „Was könnten es denn für Geschöpfe sein?“

„Wenn ich das nur wüsste … wir sollten uns vorsichtig näher heranpirschen. Eventuell sind sie uns feindlich gesinnt.“ – „Achtet darauf, wo ihr hintretet. Knackende Äste könnten uns jetzt verraten …“ riet ich den anderen, die Führung übernehmend. Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend bewegte ich mich in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. An einer gewaltigen Eiche vorbei, über ausladendes Wurzelwerk hinweg bis zu etlichen Büschen, die ich in geduckter Haltung durchschritt. Die Geräusche wurden lauter und in meiner Vorstellung versuchte ich mir die Gestalten vorzustellen, die solche Töne von sich gaben. Vorsichtig schlich ich weiter, hinter einem Baum verharrend, um auf die anderen zu warten. Als sie aufgeschlossen hatten, durchschritt ich eine kleine Mulde, in der herabgefallene Zweige lagen, was die Passage schwierig machte, denn bei jedem Schritt musste man aufpassen, nicht auf einen trockenen Ast zu steigen, was ein verräterisches Knacken erzeugt hätte. Jenseits der Bodenvertiefung huschte ich schattengleich eine kleine Erhebung aufwärts bis zu einer Buche, deren tief herabhängende Zweige mir genügend Sichtschutz boten. Direkt vor mir lag eine kleine Lichtung, auf der sich allerhand Gestalten tummelten. An zwei übermannshohen Pfählen standen zwei Menschen, die mir den Rücken zuwandten. Wie von meiner Position aus leicht ersichtlich war, hatte man ihre Hände hinter dem Pfahl zusammengebunden. Ein gutes Dutzend dunkler Gesellen hatte die beiden Gefangenen halbkreisförmig umzingelt. Wie sich unschwer erkennen ließ, handelte es sich um Trolle. Ihre häßlichen, ungestalten Körper schreckten mich ab, finstere Züge umspielten ihre Gesichter. Normalerweise waren Trolle nachtaktiv, da sie der Legende zufolge nur zu dieser Zeit über Zauberkräfte verfügten, weshalb sie den Tag fürchteten. Das schienen sie offensichtlich nicht zu wissen, denn sie gebärdeten sich mit einer Selbstsicherheit, die ihresgleichen suchte. Es wunderte mich, hier mitten im Wald auf Trolle zu stoßen, da ihr normaler Lebensraum gebirgige Regionen waren. Was hatte diese dunklen Gesellen dazu bewogen, eine Ausnahme zu machen? Es musste irgendwie mit den Gefangenen zu tun haben – dessen war ich mir sicher. „Ihr bleibt hier, ich schleiche mich auf die andere Seite“ flüsterte ich meinen Getreuen zu. „Sobald ich einen Schrei ausstoße, greifen wir gemeinsam an.“ Da niemand etwas entgegnete, umrundete ich im Schutz der Bäume die Lichtung bis ich auf der entgegengesetzten Seite angekommen war. Erst jetzt bemerkte ich meinen Fehler – die an die Pfähle gebundenen waren gar keine Menschen, wie ich zuerst gemeint hatte. Die am linken Pfahl war eine Elfin, der rechts davon offenbar ein Dunkelelf, denn seine Haut war um einiges fahler. Welch seltsames Duo. Normalerweise sind Elfen und Nachtelfen Todfeinde. Wie kam es, daß sie gemeinsam gefangengenommen worden waren? Einer der Trolle, der im Gegensatz zu den anderen eine metallene Rüstung trug, stand vor den beiden. Offensichtlich der Anführer. „Wenn ihr mir nicht die Wahrheit sagt, werde ich sie aus euch herauspressen“ vernahm ich seine unsympathisch klingende, grollende Stimme. „Wir werden dir nichts sagen“ erwiderte die Elfin und spuckte angewidert auf den Boden. Ich hatte keine Ahnung, worum es ging, erkannte aber die Notwendigkeit, rasch einzugreifen, denn der Trollanführer zückte ein Messer und näherte sich der Elfin. Mit gezogenem Schwert sprang ich aus meiner Deckung und brüllte wie ein Irrer. Die Trolle waren davon völlig überrascht, so sicher hatten sie sich hier gefühlt. Schon war ich an den Nächsten heran und stieß ihm mein Kurzschwert in den feisten Leib. Schon schwang ich die blutbesudelte Waffe gegen den zweiten, der ebenso verröchelte wie der erste. Ein Pfeil sauste durch die Luft und traf den Anführer in den Hals. Blut spritzte in einer Fontäne auf den Boden, der Körper fiel wie ein Sack Kartoffeln nieder. Raðviðs Axt sah ich aus den Augenwinkeln heraus wüten, einen der Trolle sah ich flüchten, doch jäh warf ich mein Schwert nach ihm und traf ihn in den Rücken. Zwar stand ich nun waffenlos da, doch um mich blickend erkannte ich, daß kein Gegner mehr da war, der mir gefährlich hätte werden können. Raðvið versetzte dem letzten einen Axthieb, nachdem Rael den vorletzten unschädlich gemacht hatte. Nachdem ich mir mein Kurzschwert zurückgeholt hatte, zerschnitt ich die Fesseln der Gefangenen der Trolle. „Vielen Dank“ drückte mir die Elfin die Hand. „Ich bin Ralija und das ist Lukku Neuntöter.“ Nacheinander stellte ich mich und meine Gefährten vor, ehe ich mir die Befreiten näher betrachtete. Ralija hatte dunkelblonde Haare, die ihr bis weit über die Schultern herabreichten und auch ihre spitzen Ohren verdeckten. An ihren hellblauen Augen erkannte man ihre elfischen Gene, denn so helle Augen haben Menschen niemals. Ihr schlanker Körper steckte in einer Plattenrüstung, die mit Elfenrunen verziert war. Zwar konnte ich die Symbole nicht lesen, doch ich ahnte, daß ihre Bedeutung dem Träger zusätzlichen Schutz bieten sollte. Lukkus Äußeres verriet seine Herkunft aus dem Land der Dunkelfen. Nachtschwarze Haare, schwarze Augen, die vor allem im Dunkeln ausgezeichnet sahen, graue Hautfarbe, die auf einen Außenstehenden irgendwie ungesund wirkte. Er trug ein Kettenhemd, das man allerdings nur erahnen konnte, denn darüber lag eine lange Robe mit Kapuze, die er nach seiner Befreiung über die kurzen Haare gezogen hatte. Auf mich machte er einen gefährlichen Eindruck, gerade so als sei er ein Attentäter.

„Wie seid ihr denn in diese brenzlige Lage gekommen?“ sprach Raðvið eine Frage aus, die uns allen auf der Zunge lag. „Nun“ begann Ralija. „Wir beide sind Abenteurer und waren nicht weit von hier auf der Suche nach einem Trollversteck, in dem sie ihre Schätze horten sollen. Wir gerieten allerdings aus Unachtsamkeit in eine Fallgrube und so konnten sie uns ohne Schwierigkeiten gefangennehmen.“ Sina sprach eine andere Frage aus, die auch mich bewegte: „Wie kommt es, daß eine Elfin und ein Dunkelelf gemeinsame Sache machen?“ Lukku, der bislang geschwiegen hatte, räusperte sich und seine sanfte Stimme nahm ihm viel von seinem dubios wirkenden Auftreten. „Wir sind Profis. Wir haben kein Problem damit, mit anderen Völkern zusammenzuarbeiten. Das ist eine Lebenseinstellung, die Toleranz erfordert. Ralija hier profitiert von meinen Stärken und ich von den ihren. So ist uns beiden geholfen.“

Neugierig betrachtete ich die Waffen, die sich die beiden wieder einsteckten. Eine kleine Armbrust samt Bolzen, etliche kurze Messer sowie ein langer Dolch bei Ralija, ein exotisch aussehendes gekrümmtes Kurzschwert, ein Morgenstern und mehrere Utensilien, die ich noch nie gesehen hatte, bei Lukku. Das mussten irgendwelche ausgefallenen Dunkelelfenwaffen sein, deren Benutzung nur die Kinder der Nacht beherrschten. Eine Gegenfrage Lukkus erstaunte mich. „Wie kommt es eigentlich, daß zwei Menschen, ein Zwerg und eine Elfin gemeinsam reisen?“ Die Frage war völlig beiläufig gestellt, doch ich fühlte, daß mehr dahinter steckte. Vermutlich lag es daran, daß ich Vorurteile gegen Dunkelfen hatte, aber ich hätte schwören können, daß er auf eine bestimmte Antwort geradezu lauerte. Da ich nicht sofort etwas erwidern wollte, eben aus dem unbestimmten Argwohn heraus, vielleicht zu viel preiszugeben, antwortete Raðvið. „Wir sind Abenteurer wie ihr und wollen gemeinsam etwas erleben.“ – „Dann könnten wir uns doch eigentlich zusammenschließen?“ stellte Ralija eine unschuldig klingende Frage. Wieder meldete sich mein Misstrauen. Es kam mir gerade so vor, als führten die beiden etwas im Schilde. Unsinn, ich musste mich irren. „Nun“ begann Rael. „Vielleicht sollten wir darüber intern beraten. Wartet hier kurz.“ Sie ging ein Stück abseits, gefolgt von Raðvið und Sina, die stehenblieb und sich zu mir umwandte. „Kommst du nicht mit?“ – „Doch, doch“ erwachte ich aus meinem Grübeln. „Was haltet ihr von denen?“ wollte Rael wissen, die zu meinem Erstaunen die Gesprächsinitiative übernommen hatte. Sonst war sie immer so zurückhaltend gewesen. Reihum gab jeder seine Meinung kund und im Prinzip wollten die drei den Vorschlag annehmen. Als man mich erwartungsvoll ansah, weil ich noch immer nichts dazu gesagt hatte, wusste ich nicht recht wie ich anfangen sollte. „Also, das ist so, ich kann es nicht genau sagen, aber irgendwie misstraue ich den beiden. Als ich mich auf die andere Seite der Lichtung geschlichen habe, wollte der Obertroll irgendwas bestimmtes wissen. Gerade so, als verhöre er die beiden. Wenn das stimmt, was sie sagen, hätten die Trolle aber keinen Grund gehabt, irgendwas aus denen herauszubringen, weil es klar wäre. Versteht ihr, wie ich meine?“ Raðvið wiegte seinen Kopf hin und her. „Du meinst … die haben uns nicht die volle Wahrheit gesagt?“ – „Davon gehe ich aus. Außerdem frage ich mich, wieso sich die uns so aus heiterem Himmel heraus anschließen wollen.“ – „Vielleicht aus Dankbarkeit ihren Rettern gegenüber?“ mutmaßte Rael. Ich konnte ehrlich keine stichhaltigen Argumente aufbringen, lediglich mein Instinkt warnte mich. Wir einigten uns schließlich, die beiden dennoch aufzunehmen. Gerade weil ich keine echten Gründe dagegen vorbringen konnte und die Möglichkeit bestand, daß ich mich irrte, schlicht und einfach, weil ich keine Dunkelelfen mochte. Wir kehrten zu den Wartenden zurück und es oblag mir, ihnen mitzuteilen, daß wir sie aufnehmen wollten. „Habt vielen Dank für Euer Vertrauen“ wandte sich Ralija an uns, die mir durchaus sympathisch war, wäre da nur nicht ihr undurchschaubarer, düsterer Begleiter, den ich nicht richtig einzuschätzen vermochte. Quer durch den Wald ging es weiter, ein paar mal blieb ich an einer Dornenranke hängen, da ich ja voranging, einmal stolperte ich über eine ausladende Baumwurzel – das Vorankommen war nicht besonders gemütlich. Zudem begann die Helligkeit schön langsam abzunehmen, was ich auf den zur Neige gehenden Tag zurückführte. Wir befanden uns noch immer mitten in diesem verflixten Waldgebiet. Dabei hätte es, meinen Berechnungen zufolge, schon längst einer größeren Ebene weichen müssen, die uns dann direkt nach Uferfels hätte bringen können. In einer kleinen Senke zwischen zwei Eichen blieb ich stehen. „Folgendes“ eröffnete ich meinen Gefährten. „Es sieht so aus, als würde uns die Nacht zuvorkommen, weshalb wir heute unseren Zielort wohl nicht mehr erreichen können. Daher schlage ich vor, wir errichten hier unser Lager.“ Rael sah nicht sehr begeistert aus. „Wir müssen hier im Wald schlafen? Na super. Ich hoffe nur, hier gibt es keine Schlangen – ich hasse diese Viecher!“ Den beiden Elfen und dem Dunkelelf schien die Aussicht nichts auszumachen, auf dem Waldboden schlafen zu müssen. Sie gehörten eben doch Völkern an, die um einiges naturverbundener sind. Raðvið warf seine kleine Decke als Unterlage auf den Boden und stapelte sein sonstiges Gepäck rechts davon auf, die Axt plazierte er auf der linken Seite, jederzeit griffbereit. Sina machte sich ein Stück neben ihm sein Lager, ich dazwischen, die restlichen folgten. Ehrlich gesagt konnte ich mir auch schönere Dinge vorstellen, als eine Nacht in einem dschungelartigen Wald zu verbringen. Noch dazu, wo ich nicht wusste, welche Gefahren uns hier erwarteten. Herumstreunende Trolle etwa, die Rache für ihre Artgenossen begehrten oder einfach zufällig vorbeikamen. Zudem fiel es mir schwer, auf dem trotz aller Vorbereitungen harten Boden einzuschlafen. Wie einen die Annehmlichkeiten der Zivilisation doch verweichlichten! Auf der anderen Seite hatte es auch seine Vorteile. Neben mir, nur eine Armlänge entfernt, lag Sina, deren Gesichtsumrisse ich zwar mittlerweile auf Grund der fortgeschrittenen Dunkelheit nur noch erahnen konnte, das ich aber doch sehr präzise vor meinem inneren Auge hatte. Ihre entspannten Züge, die langen Ohren, die Lider über den schönen Augen … ein merkwürdiges Brummen von der anderen Seite riss mich aus meinen Träumereien. Raðvið! Zornig gab ich ihm einen Renner mit der Faust, er erwachte nach Luft schnappend. „Was … ist denn los … in Dwalins Namen?“ – „Du schnarchst wie eine alte Wildsau“ ließ ich ihn nonchalant wissen. „Wie soll man denn da schlafen?“ – „Entschuldigung“ murmelte er vor sich hin und ich hatte den Verdacht, daß er kurz darauf bereits wieder eingeschlafen war. Bei mir dauerte es länger. Plötzlich war mir so, als habe ich einen Schatten huschen sehen. Tatsächlich, ich hatte mich nicht geirrt – Lukku, der Dunkelelf, war aufgestanden und näherte sich mir. Mein Instinkt warnte mich und meine Hand griff unter der Decke zu meinem Kurzschwert. Komischerweise schlich Lukku an mir vorbei und fiel auch nicht über die bereits schlafende Sina her, sondern entfernte sich zwischen etliche Büsche. Was mochte er da nur zu schaffen haben? Das gedämpfte Geräusch eines Wasserstrahls, der auf Blätter am Boden traf, ertönte. Dann ebbte es ab und erneut sah ich einen leisen Schatten vorbeihuschen. Innerlich musste ich grinsen, augenblicklich ließ ich den Griff der Waffe los. Der Dunkelelf hatte ein körperliches Bedürfnis verspürt und war deshalb so leise gewesen, um uns nicht zu wecken. Das durfte ich anderntags aber keinem weitersagen, wenn ich mich nicht blamieren wollte. Innerlich ruhiger geworden, fand ich schließlich den Schlaf der Gerechten.

 

*

 

Auf hub sich Hugin den Himmel zu suchen;

Unheil fürchteten die Asen, verweil er.

Thrains Ausspruch ist schwerer Traum,

Dunkler Traum ist Dains Ausspruch.

(Edda, Odins Rabenzauber)

 

In dieser Nacht träumte ich von meinem jähen Erwachen. Eine Klinge wies auf meine ungeschützte Kehle, ein dunkler Schatten kauerte neben mir, um mir mit grausigem Tonfall ins Ohr zu flüstern: „Dein Tod heißt Lukku Neuntöter! Grüß Thor von mir!“ Doch ich wurde Thor sei Dank wach, ehe die Gestalt in meinem Alptraum seine Drohung wahrmachen konnte. Wie erfreulich anders gestaltete sich doch die Realität – die erste Helligkeit des Tages warf bereits ihr fahles Licht durch das Geäst, der Tag schien bereits angebrochen zu sein. Flüchtig sah ich mich um. Alle fünf lagen noch schlafend auf ihrem Lager. Doch halt, Sina hatte auch schon die Augen offen. Anstatt abzuwarten, daß die restlichen von allein aufwachten, schlug ich kräftig mit der flachen Seite meines Kurzschwerts auf meine eiserne Armschiene. Der Krach reichte, um alle aufzuwecken. „Aufstehen“ rief ich vergnügt. „Das Frühstück gibt es unterwegs … auf die Beine, los!“ Lustigerweise machte Lukku den verschlafensten Eindruck. Lag wohl an der Tatsache, daß er als Nachtaktiver gezwungen war, tagsüber auf zu sein. Das schadete offensichtlich seinem Biorhythmus. Er blickte mich aus halb geschlossenen Augen an, mich kaum wahrnehmend. „Wie kann man nur tagaktiv sein? Das muss doch auf Dauer grauenhaft sein.“ Es dauerte nicht lange, bis wir unsere wenigen Habseligkeiten zusammengepackt hatten. Wir konnten uns Zeit lassen, denn Uferfels konnte nicht mehr weit weg sein. Freilich, wenn wir zu früh dort ankamen, eröffnete sich uns die Möglichkeit, nicht wie geplant dort zu nächtigen, sondern noch wesentlich weiter zu wandern. Aber immer eins nach dem anderen. Zuerst folgten wir der imaginären Linie, die uns aus dem Forst bringen sollte. Tatsächlich dauerte es gar nicht mal so lange, bis sich die Bäume vor uns lichteten und wir auf eine ausgedehnte Wiese traten. Es wimmelte von Sauerampfer, wildem Mohn, Kornblumen und einer Vielzahl an Pflanzenarten, die ich nicht benennen konnte. Immerhin war ich kein Botaniker, der sich in diesem Fachgebiet auskannte. Mein Blick schweifte über die vor uns liegende Ebene. Wenn mich nicht alles täuschte, musste sich unser Zieldorf gar nicht weit von hier befinden. Tatsächlich plätscherte schon bald ein kleiner Bach durch die Landschaft, dem wir nur noch zu folgen brauchten. Im Schutz eines kleinen Waldstücks schmiegte sich schließlich das Dorf an den Bachlauf. „Wir sind da“ verkündete Sina, mehr feststellend denn erklärend. Uferfels hatte seinen Namen wohl von einem felsartigen, großen Findling erhalten, der am Ufer des Bachs liegend hoch aufragte und trotz der umgebenden Bäume gut zu erkennen war. Als wir das Dorf betraten, wurden wir von einigen Elfen neugierig beäugt. Offenbar erregte die Zusammenstellung unserer Gruppe die Aufmerksamkeit der Bewohner. Das konnte ich verstehen, denn so bunt zusammengewürfelt wie unser Haufen war – das gab es wohl nicht so häufig zu sehen. Insbesondere Lukku evozierte das tief verwurzelte Misstrauen der Elfen, hatten sie doch in den vergangenen Dekaden schon zahlreiche Kriege gegen die Dunkelelfen geführt. Lag wohl daran, daß Tagelfen und Nachtelfen einfach nicht in Frieden miteinander leben konnten. Daher wurden wir etwas argwöhnisch beobachtet, als wir die kleine Siedlung durchschritten, auf der Suche nach einem Wirtshaus. Wir hatten übereinstimmend beschlossen, bei einer guten Mahlzeit zu überlegen, wie weit wir an diesem Tag kommen wollten. Zur Debatte standen mehrere Übernachtungsorte, die allesamt recht leicht zu erreichen waren. Dazu mussten wir nur einem der beiden Wege folgen, die sich hier in Uferfels kreuzten. Der eine führte nach Nordosten zum großen Gebirge, der andere über eine Vielzahl kleinerer Siedlungen nach Elfion. Dorthin wollten wir, demnach stellte sich die Frage nach dem Wahl des Wegs als einfach heraus. Der Wirt erschien mit freundlichem Gesichtsausdruck am Tisch, um den herum wir Platz genommen hatten und fragte nach unseren Wünschen. Ganz Geschäftsmann zeigte er keinerlei Abneigung oder Geringschätzung gegenüber unserer Runde oder einer bestimmten Person, was seine Intelligenz bewies. Immerhin waren wir allesamt seine Kunden, die er offenbar gut zu bewirten dachte. Für harte Kreuzer versteht sich. Da kann man sich keine persönlichen Vorlieben leisten, wenn man langfristig Gäste bewirten möchte. Wir bestellten abhängig vom persönlichen Geschmack und stießen schon kurz darauf an. „Auf spannende Abenteuer, anregende Kämpfe und vor allem – fette Beute!“ eröffnete Lukku. Raðvið folgte mit seinem „Ach, ich freu’ mich wie ein Kind, wenn Bier die Gurgel hinabrinnt!“ So ging es reihum und jeder ließ einen mehr oder weniger blöden Spruch erklingen. Während des Wartens auf das Essen diskutierten wir über den nächsten Zielort. „Also wenn ihr mich fragt, dann schlage ich vor, bis Theonshavn zu marschieren“ meinte Rael. „Von dort aus sind es nur noch zwei Tagesmärsche bis Elfion.“ – „Das ist aber ziemlich weit“ gab Ralija zu bedenken. „Wir könnten es aber ganz gut bis Jelrasten schaffen. Außerdem ist die dortige Herberge hervorragend. Saubere Betten, ruhige Umgebung, preiswert obendrein.“ – „Bleiben wir doch hier“ brummte Raðvið mit Bierschaum im Bart. Den Grund für seinen Vorschlag musste ich nicht extra erfragen. Offensichtlich mundete ihm das alkoholische Getränk, das es hier gab. Seitlich neben mir stand ein Elf in einer blauen Robe mit einem Amulett um den Hals, der in unsere Runde blickend räusperte. „Entschuldigung“ begann er und man merkte ihm an, daß es ihn eine gewisse Überwindung gekostet hatte, uns anzusprechen. „Ich sitze am Nebentisch und habe Euer Gespräch durch Zufall mitverfolgt. Gehe ich recht in der Annahme, daß Ihr Abenteuer sucht?“ Mir war nicht ganz klar, worauf der Fremde hinauswollte. Wie ein Krieger sah er wirklich nicht aus. Falls er sich uns anschließen wollte, war er hier am falschen Platz. „Das ist korrekt“ antwortete ich ihm dennoch, weil ich hören wollte, was noch kam.

„Es ist so, daß ich auch auf der Suche nach etwas bin. Darf ich mich vielleicht setzen?“ Gönnerhaft wies ich auf einen Stuhl, er nahm Platz. „Es handelt sich um ein Artefakt, das meiner Gilde vor einiger Zeit verloren ging. Jetzt sind mir Informationen zugespielt worden, die mir erlauben, seinen genauen Standort zu bestimmen.“ Uninteressiert blickte ich auf den Bodensatz meines Trinkbechers. „Dann geht doch einfach hin und holt das Ding zurück.“ Jetzt rückte der Fremde mit Details heraus. „Das ist nicht ganz so einfach, weil der Gegenstand geraubt wurde und er befindet sich heute in der Hand von Riesen.“ Daher wehte also der Wind. „Es soll Euer Schaden nicht sein, wenn Ihr die Rückholung übernehmen würdet …“ Der Zwerg sprach das aus, was wohl auch die anderen am meisten interessierte: „Um was für ein Objekt handelt es sich eigentlich?“ – „Es ist ein goldener Ring, mit kostbaren Edelsteinen besetzt. Er gehörte einst dem Gründer meiner Gilde und wurde immer auf das neue Oberhaupt übertragen. Leider riss diese ehrwürdige Tradition vor kurzem ab und … nun gut, wir sind bereit für die Erfüllung des Auftrags fünftausend Kreuzer zu zahlen.“ Eine stolze Summe, was ich aber für mich behielt. „Was denkt Ihr darüber?“ schaute ich in die Runde. Alle waren einverstanden. Kunststück, denn das war unser erstes gemeinsames Abenteuer, das sich uns bot. Wenn man von der Begegnung mit dem Riesen an der Brücke sowie der Befreiung der Trollgefangenen absah, aber da waren wir ja noch zu viert gewesen. „Einverstanden“ drückte ich die Hand des Elfen. „Wir kümmern uns darum. Erzählt uns mehr.“ – „Der Ring befindet sich in einer Höhle nicht weit von hier.“ Er legte eine zusammengefaltete Karte auf den Tisch. „Hier ist alles säuberlich eingezeichnet. Folgt den Anweisungen der Karte und Ihr werdet nicht fehlgehen können.“ – „Gut, das ist hilfreich. Wohin sollen wir den Ring bringen?“ – „Ich werde hier im Ort auf Euch warten. Kommt einfach in den Abendstunden in dieses Wirtshaus, denn da werde ich mit Sicherheit da sein. Viel Glück!“ Er erhob sich und verließ die Wirtschaft.

„Fünftausend Kreuzer“ schwärmte Sina. „Was wir uns da alles davon kaufen können!“ – „Einen elfischen Langbogen!“ schlug Ralija vor. „Obwohl mir meine Armbrust lieber ist, die kann man besser tragen und die Durchschlagskraft ist ebenfalls größer.“

Raðvið schien eifrig zu rechnen, denn ich merkte, wie er mit den Fingern abzählte. „Ein kleiner Teich voll Bier!“ begeisterte er sich. „Das muss ein herrlicher Tod sein, in Bier zu ertrinken …“ Mir war viel lieber, daß soeben das Essen aufgetragen wurde, denn ich hatte einen Bärenhunger. Es dauerte länger, bis wir alle unsere Mahlzeit eingenommen hatten, denn die Portionen waren üppig und die Atmosphäre ausgelassen. Am frühen Nachmittag zahlten wir und verließen das Wirtshaus. Wir folgten jetzt wider Erwarten doch dem Weg nach Norden, denn die Riesenhöhle befand sich laut Plan in dieser Richtung. Die Angaben auf der Karte waren erstklassig, so daß wir nicht unbesonnen herumirrten, sondern noch am selben Tag die besagte Höhle fanden. Alles schien ruhig, vor dem Eingang ragten etliche wild wuchernde Pappeln in den Himmel. Anzeichen für die Anwesenheit von Riesen gab es keine, aber das konnte täuschen. Als ich mich anschickte, als erster in die breite Öffnung hineinzutreten, hielt mich Rael am Ärmel fest. „Nach welchem Plan gehen wir eigentlich vor?“ Gutmütig drehte ich mich zu ihr herum. „Wir gehen rein, schnappen uns den Ring und kassieren die Kohle.“ Diese Antwort hatte sie natürlich nicht erwartet. „Aber … was machen wir, wenn wir auf Widerstand stoßen?“ Lukku brummt mit tiefer Stimme, ehe ich etwas erwidern konnte: „Wer sich uns in den Weg stellt, wird gnadenlos niedergemacht. Keine Gefangenen lautet die Parole! Was nicht niet- und nagelfest ist, wird geplündert, Riesenfrauen werden vergewaltigt, alles andere abgestochen.“ Sein dämonisches Gelächter erschallte und ich zischte ihn an, weil ich nicht wollte, daß der Überraschungsmoment verlorenging. Nach dem Entzünden einer Fackel tastete ich mich behutsam ins Innere der Grotte vor, die größer war als ich anfangs gedacht hatte. Bei einer Höhle denkt man normalerweise ja eher an einen unterirdischen Hohlraum, doch hier wand sich ein langer Gang schier endlos in den Untergrund, ohne daß ein Ende erkennbar war. Wir waren alle auf der Hut, rechneten jederzeit mit einem Angriff. Als ich an den Gangwänden den Widerschein von Fackellicht entdeckte, löschte ich unsere. Im Halbdunkel pirschten wir uns weiter vor, bis wir in eine Innenhöhle kamen, wo Stalagtiten wie Lanzen von der Decke ragten. Steingewordene Wassertropfen, Tränen der Erde. Drei Riesen dösten hier auf einem Lager aus Heu. Mit Handzeichen gab ich meinen Gefährten Anweisungen, die Riesen zu umstellen. Sina legte einen Pfeil auf ihren Bogen, den sie mit aller Kraft spannte, Rael machte ganz den Eindruck einer Magierin, denn sie hatte mit Hilfe irgendeines Pulvers eine hell leuchtende Kugel auf ihrer Handfläche ruhen. Ralijas Armbrust war geladen, Lukku hielt zwei seiner exotischen Stichwaffen in einer dramatischen Pose in Händen. Der Zwerg gab sich Mühe, besonders grimmig dreinzuschauen und hob seine Streitaxt. Mit der Waffe in der Hand trat auch ich vor die drei hin und brüllte so laut ich konnte. „Aufwachen, ihr faulen Säcke! Bewegt euren fetten Arsch!“ Sofort kam Leben in die Riesen. Einer blinzelte mich ungläubig an. „Was seid Ihr denn für welche?“ Ehe sie noch an Gegenwehr denken konnten, nahm ich eine bedrohliche Haltung ein. „Wir sind hier, um einen Ring seinem Besitzer zurückzugeben. Ihr habt ihn gestohlen und werdet ihn mir freiwillig geben. Falls es nicht so sein sollte, dann werden wir euch töten, eure Frauen vergewaltigen und euren Besitz plündern.“ Natürlich hatte ich das nicht vor, aber Lukkus Witz erschien mir passend für eine überzeugende Drohung. Tatsächlich schien die Wirkung aufzugehen. „Was für ein Ring?“ Der zweite Riese mischte sich ein. „Den Ring mit den Opalen wahrscheinlich …“ Zu meiner Verwunderung eilte der Riese zu einer Kiste, öffnete sie und holte einen kleinen Gegenstand heraus, den er mir zuwarf. Es war tatsächlich der beschriebene Ring. Daß wir den so leicht – ohne Kampf – erhalten würden, hätte ich vorher nicht im Traum erwartet. So konnte ich gute Miene machen und mein Schauspiel weiterführen. „Das ist sehr schlau von euch. So wird euch nichts geschehen. Wir haben den Ring und gehen wieder, als wäre nie etwas passiert. Abmarsch!“ Mit dem wertvollen Ring am Finger stolzierte ich nach draußen, gedeckt von meinen Freunden, obgleich das nicht notwendig gewesen wäre, denn die Riesen dachten gar nicht daran, uns aufhalten zu wollen. Guter Laune verließen wir die Höhle. Rael schien sichtlich erleichtert, denn man hatte ihr angesehen, daß es ihr nicht so sehr gefallen hatte. Neben Schlangen mochte sie nämlich auch keine Spinnen. Raðvið hingegen war regelrecht aufgeblüht, wieder mal „unter Tage“ sein zu können. „Dieser herrliche Geruch nach Fels und Erde“ atmete er mit geschlossenen Augen. „Ihr Überirdischen werdet das nie verstehen.“ Damit hatte er Recht. Wir beeilten uns, den Marsch zurück zur Siedlung zu schaffen, denn ich wollte nicht noch einmal eine Nacht im Wald verbringen. So angenehm war das nun auch wieder nicht. Beflügelt durch unseren Erfolg gegen die Riesen legten wir aber ein recht flottes Tempo hin, so daß wir beim Einsetzen der Dunkelheit Uferfels gerade erreichten. Zuerst begaben wir uns zur einzigen Herberge im Ort, wo ich für zwei Kammern bezahlte. „Auf in die Wirtschaft!“ rief Raðvið frohgemut. Ganz meine Meinung. Unseren Auftraggeber fand ich recht schnell und setzte mich zu ihm. „Wie gefällt Euch mein Ring?“ hielt ich ihm meine Hand hin, an dessen Ringfinger … aber das wird der verehrte Leser wohl selbst erraten. „Oh!“ machte der Elf überrascht. „Das … ist tatsächlich der Ring des Ephraim!“ Er holte einen Goldbeutel aus seiner Robe hervor und legte ihn auf den Tisch, während ich den Ring abzog, um ihn zu übergeben. Soviele Goldkreuzer hatte ich noch nie in der Hand gehabt. Fühlte sich gut an. „Ausgezeichnete Arbeit. Gestattet, daß ich sofort zu meinen Gildenbrüdern reise, um ihnen die guten Neuigkeiten zu verkünden.“ So schnell macht man Leute glücklich und auch wir freuten uns über unseren Lohn, den wir bei einem Krug Met feierten. Sina lockerte die Runde mit einer Rätselfrage auf. „Die Königin des Landes Quorgat wurde Opfer eines Attentates. Zur fraglichen Zeit hielten sich fünf Personen in ihrer Nähe auf. Dagomir beschuldigte Quarton die Tat ausgeführt zu haben, Quarton wiederum verdächtigte Asrael, der den Verdacht mit der Behauptung von sich wies, dass Quarton lüge. Galon schwor, mit dem Mord nichts zu tun zu haben. Zu guter letzt blieb noch Ramso übrig, der angab, nicht zu wissen, wer den Mord ausgeführt hatte. Wenn genau ein einziger von ihnen die Wahrheit gesagt hat, wer war dann der Täter?“ Scharf überlegte ich, doch mein vom Met gelöster Geist tat sich schwer, die Konzentration auf alle fünf Beteiligten zu richten. Ralija fand die Lösung. „Wenn Dagomir die Wahrheit sagt, dann ergibt sich ein Widerspruch, weil dann Asrael nicht lügen kann, ergo selbst der Täter wäre, also hätten zwei Leute die Wahrheit gesagt. Quarton als Täter scheidet aus, denn dann hätte auch Galon die Wahrheit gesprochen. Asrael kommt nicht in Frage, weil Quarton und Galon dann die Wahrheit gesagt hätten. Bleiben Galon und Ramso übrig. Falls Galon der Täter war, hätte keiner die Wahrheit gesagt, also muss es Ramso gewesen sein.“ Sina klatschte bewundernd in die Hände. „Richtig. Du hast das Rätsel gelöst.“ Als nächstes erzählte Rael etwas aus der Mythologie ihres Glaubens, der auch ich mich angehörig fühlte. „In meinem Glauben wird die Welt durch einen Baum zusammengehalten. Dieser Baum heißt Yggdrasil und ist eine Esche mit drei dicken Wurzeln. Unter einer liegt das Totenreich, wo die Göttin Hel regiert. Unter der zweiten liegt die Welt der Frostriesen und unter der dritten die Welt der Menschen. An der Spitze des Baumes sitzt ein Adler, der das Gute verkörpert. Ganz unten ist Nidhöggern, der Neiddrache, der bis in alle Ewigkeit sein Gift in die Wurzeln des Lebensbaumes spritzt, weil er neidisch ist auf die hohe Stellung des Aars. Ratatösk, das Eichhörnchen, läuft von der Spitze des Baumes hinab und wieder zurück, um Nachrichten zwischen den beiden auszutauschen. Letztlich ist es seine Aufgabe Zwietracht zu sähen und den ewigen Konflikt zwischen Gut und Böse am Leben zu erhalten.“ Sie ließ eine Pause. „Was haltet ihr von dem Modell der Dualität der Welt?“ Eine komplexe Frage. „Also ich bin anderer Ansicht“ meinte Lukku. „Im Endeffekt gibt es in der Realität weder rein schwarz noch rein weiß. Es gibt lediglich Grautöne.“ – „Hmm, das ist ein interessanter Ansatz“ gab Ralija zu. „Aber Tag und Nacht sind doch zwei elementare Gegensätze oder etwa nicht?“ – „Nicht unbedingt. Letztlich liegt diese Unterscheidung nur in uns begründet. Der Grad der Helligkeit diktiert, ob Tag oder Nacht ist. Aber auch in der Nacht kann Licht existent sein, etwa wenn Vollmond ist. Am Tag können Wolken die Sonne verdecken und es ist dunkler als üblich. Es gibt also kein wirkliches ‚hell’ oder ‚dunkel’. Das ist nur eine subjektive Einschätzung.“ – „Aber dennoch kann man sagen, daß etwas heller oder eben dunkler ist als eine andere Erscheinung.“ – „Natürlich, das will ich nicht verleugnen. Das heißt jedoch nur, daß es unterschiedliche Grautöne gibt, womit wir wieder bei meiner Kernaussage wären.“ Wir diskutierten noch eine Weile über dieses Thema, ehe Raðvið mit einer typischen Zwergenerzählung folgte. „Es waren einmal zwei Zwergenbrüder, die hießen Haugspori und Thorwal. Sie buddelten schon seit Monaten in einem Stollen, den sie selbst angelegt hatten, auf der Suche nach einer reichen Goldader. Obwohl sie von morgens bis abends schufteten, fanden sie nie etwas. Eines Tages sagte Haugspori zu seinem Bruder: ‚Vielleicht ist es uns nicht vergönnt, Gold zu finden, weil uns Dwalin zürnt.’ Thorwal lächelte nur. ‚Was hat unser oberster Gott damit zu tun? Haben wir etwas getan, was ihn beleidigt haben könnte?’ - ‚Nein, das nicht, aber wieso finden wir dann nichts?’ - ‚Vermutlich suchen wir an der falschen Stelle. Hier muss es Gold geben. Da bin ich mir sicher.’ – ‚Was machen wir dann falsch?’ Thorwal zuckte mit den Achseln. ‚Das weiß ich auch nicht. Wir müssen auf alle Fälle weitermachen, denn wenn wir jetzt aufgeben, dann war alles bisher geleistete umsonst.’ Haugspori wirkte deutlich demotiviert und er überlegte, ob er nicht seinem Hauptberuf – er war Waffenschmied – nachgehen sollte. Doch die Zuversicht seines Bruders überzeugte ihn schließlich. Tatsächlich fanden die beiden nur wenige Tage später eine reichhaltige Goldader.“ Sina erhob ihren Krug Met um mit mir anzustoßen. „Willst du nichts erzählen?“ – „Doch, doch“ erwiderte ich. „Lasst mich kurz überlegen. Also … es war einmal ein Wolf, gezeugt von der Riesin Angrboda und dem Gott Loki. Die anderen Götter erfuhren auf Grund eines Orakelspruchs, daß alle Kinder Lokis einmal schweres Unheil anrichten würden und kamen daraufhin überein, dem zu begegnen. Hel wurde in die Unterwelt geschickt, wo sie seitdem als Todesgöttin herrscht, die gräßliche Schlange Jörmungard wurde in den Ozean geworfen und Fenrir wurde dem Kriegsgott Tyr anvertraut, denn er war der einzige, dem der Wolf vertraute und von dem er sich auch füttern ließ. Mit der Zeit wurde der Hunger Fenrirs aber so groß, daß sich die Götter nicht mehr sicher vor ihm fühlten und beschloßen daraufhin, ihn anzuketten. Man versuchte es mit einer Eisenkette, doch diese zerbrach Fenrir ohne Mühe. Abermals versuchte man es mit einer noch stärkeren Kette, doch wiederum riss sich Fenrir los. Daraufhin beauftragte man einen Zwerg, der eine magische Fessel schmiedete. Doch Fenrirs Misstrauen war inzwischen erweckt mit der Folge, daß er sich die Kette nicht anlegen lassen wollte. Erst als Tyr – sein einziger Freund – ihm versicherte, daß man ihn lediglich schmücken wolle und er als Pfand für seine Ehrlichkeit seine rechte Hand in das zähnenbewehrte Maul des Wolfes legte, akzeptierte Fenrir. Als er jedoch bemerkte, daß man ihn hintergangen hatte, biss er zu und Tyrs Hand ab. Seitdem nennt man den Kriegsgott den Einhändigen. Da der wütende Fenrir zwar gebunden, aber nicht bezwungen war, klemmte man ein Schwert zwischen seine Kiefer, damit er nicht mehr zuschnappen kann. So verbringt er seine Tage bis ans Ende der Zeit, wenn er sich schließlich losreissen wird und Ragnarök, das Weltenende, ankündigt. Dann wird er sogar Allvater Odin verschlingen, aber durch dessen Sohn Vidar endgültig besiegt. Das ist das Schicksal des Fenriswolfs.“ Schweigen war die Folge. „Irgendwie bedrückend“ fand Sina. „Ihr Menschen habt eine ganz andere Auffassung der Welt als wir Elfen. Wie ist das eigentlich mit diesem ominösen Weltenende? Woher wisst ihr denn, was da genau passiert?“ – „Da gibt es alte Prophezeiungen von Weissagern“ erklärte ich. „Rael kennt sich da – glaub ich – besser aus als ich.“ Rael streckte Sina ihre linke Hand entgegen. „Siehst du diesen Ring? Da sind Symbole eingraviert, die wir Runen nennen. Sie haben magische Wirkung. In diesem Fall soll mir Schutz und Gesundheit gewährt werden.“ – „Was hat das mit den Weissagungen zu tun?“ wunderte sich Sina. „Nun, man kann Runen nicht nur als Schutzzeichen verwenden, sondern auch durch sie Antworten von den Göttern erfragen. Beispielsweise bezüglich dem, was passieren wird.“ Raðvið pfiff durch die Zähne. „Und das funktioniert? Können wir da mal einen Test machen?“ – „Natürlich“ akzeptierte Rael. „Stell einfach deine Frage und ich werde die Runen für dich befragen.“ Der Zwerg überlegte eine Weile, dann formulierte er munter drauf los. „Also, ich möchte wissen, wie unsere gemeinsame Unternehmung ausgeht. Werden wir erfolgreich sein, reich werden, alle überleben …“ Rael holte einen schwarzen Lederbeutel hervor, den sie Raðvið hinhielt. „Da drin befinden sich Holzrunen. Wähl zwei aus ohne sie anzuschauen und leg sie auf den Tisch.“ Raðvið fischte eines der Objekte heraus und legte es in die Tischmitte. Noch einmal langte er hinein um ein neues Holzstück neben das erste zu legen. Ich erkannte die Symbole gut. Das eine waren zwei sich kreuzende Striche, das andere zwei parallele Striche mit einem Schrägstrich als Verbindung dazwischen. „Gebo und Hagalaz“ klärte Rael die anderen auf. „Ein siebentes weiß ich, wenn hoch der Saal steht über den Leuten in Lohe, wie breit sie schon brenne, ich berge sie noch: den Zauber weiß ich zu zaubern. Ein achtzehntes weiß ich, das ich aber nicht singe vor Maid noch Mannesweibe als allein vor ihr, die mich umarmt, oder sei es, meiner Schwester. Besser ist was einer nur weiß; so frommt das Lied mir lange.“ – „Wie bitte?“ hakte Lukku nach, der nicht recht begriffen hatte, was Rael da zitierte. „Das sind magische Beschwörungsformeln“ verdeutlichte Rael den Sinn ihrer Worte. „Das erste Zeichen steht für Vereinigung und Partnerschaft, kann auch von einem Geschenk handeln, das man bekommt. Im Grunde genommen ein positives Zeichen. Das zweite hingegen ist etwas komplizierter zu lesen. Es kann unerwartete Zerstörung bedeuten, muss aber nicht zwingend negativ sein. Damit verbindet man auch den Wachstumsprozess nach der Auflösung des Alten. Wie gesagt, das ist jetzt etwas widersprüchlich. Wir werden wohl mit Verlusten aber auch mit Gewinnen rechnen können.“ Beeindruckt trank Raðvið seinen Met bis zum Grund leer. „Kann ich noch eine Frage stellen?! Wie gestalten sich die Nachteile ganz konkret, die wir in Kauf nehmen müssen?“ Rael warf die gezogenen Runen zurück in den Beutel. „Diesmal brauchst du nur eine zu ziehen.“ Ein Pfeil, der nach oben wies, die Rune Tiwaz, die dem Kriegsgott Tyr geweiht war. Rael starrte den Zwerg an. „Einer oder mehrere aus unserer Runde werden sich opfern müssen, damit den anderen der Sieg zuteil fällt.“ Sina wirkte unruhig. „Das steht alles da drin? Wen wird es denn erwischen?“ Rael lächelte milde. „Manche Dinge soll man nicht zu ergründen versuchen, denn Runen raunen Rat – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Was wir daraus lernen können, ist der Umstand, daß wir Acht geben sollten, das wir in keine unübersichtlichen Situationen kommen, aus denen es keine Rettungsmöglichkeit gibt. Vielleicht überleben wir alle, aber die Runen verweisen eben darauf, daß wir ohne Opfer – egal in welcher Art und Weise – keinen Erfolg haben werden.“ In gewisser Hinsicht war die Weissagung genau wie ich erwartet hatte: man wusste nicht genau, was man davon halten sollte. Da ich aber an dieselben Götter glaubte wie Rael, hatte ich kein großes Problem damit, micht ganz in die Hände meiner Götter zu geben. Sollten sie entscheiden, was geschah.

 

Viel weiß der Weise, sieht weit voraus

Der Welt Untergang, der Asen Fall.

Brüder befehden sich und fällen einander,

Geschwister sieht man die Sippe brechen.

Der Grund erdröhnt, üble Disen fliegen;

Der eine schont des andern nicht mehr.

Unerhörtes ereignet sich, großer Ehbruch.

Beilalter, Schwertalter, wo Schilde krachen,

Windzeit, Wolfszeit eh die Welt zerstürzt.

(Edda, Der Seherin Ausspruch)

 

Diese Zeilen im heiligen Buch gaben mir immer wieder zu denken, sahen sie doch das Ende der bestehenden Weltordnung voraus. Die Asen, die mächtigen Götter, würden ihre Vorrangstellung verlieren und Krieg würde unter einstigen Verbündeten herrschen. Das Weltenende, das zugleich der Beginn einer neuen, anderen Welt sein würde. Doch blieb ungewiss, ob man sich dort überhaupt noch zurechtfinden konnte. Die Vorstellung, Thors zuckende Blitze nicht mehr zu sehen und die enorme Kraftentfaltung seines Hammers Mjöllnir zu hören, das bereitete mir Kummer. Denn was käme stattdessen nach? Vermutlich nichts Gutes. Nein, ich wollte mir nicht vorstellen, wie eine Welt ohne Thor aussehen würde.

Thor, der Gott des Donners, der älteste Sohn von Göttervater Odin, ist der stärkste der Asen. Ihm ist es zu verdanken, daß die Riesen bislang weder Asgard noch Midgard in Bedrängnis bringen konnten, denn sein gewaltiger Hammer Mjöllnir (Zermalmer) ist in der Lage, mit einem Schlag jeden noch so zähen Riesen zu erlegen. Als Nachkomme der Erdgöttin, der Riesin Jörd, herrscht er über all das, was zwischen der Erde und dem Himmel liegt, also den Luftraum. So gebietet er über Stürme, Donner und Blitze. Immer dann, wenn ein Blitz am Himmel erstrahlt, schleudert er seinen Hammer gegen einen Feind. Negative Auswirkungen von Gewittern sind dabei nicht Thors Schuld, sondern gehen zulasten des unberechenbaren Loki. Thors Charakter ist aufbrausend, jähzornig und manchmal auch naiv. Bezeichnend sind die Namen seiner Söhne – Magni (Kraft) und Modi (Zorn), denn seine Tobsuchtsanfälle sind legendär. Sein Kraftgürtel Meginjardar verdoppelt seine Kräfte, was an und für sich nicht vonnöten wäre. Im Gegensatz zu Odin reitet er nie, sondern bevorzugt einen Wagen, der von zwei Böcken gezogen wird, die Tanngnjöstr (Zähneknirscher) und Tanngrisnir (Zähnefletscher) heißen. Sein Gemüt ist friedlich und so wird er vor allem von Bauern verehrt, denn er gilt als Förderer des Ackerbaus. Ihm ist es zu verdanken, daß die Bauern den Pflug als Werkzeug erhielten, mit dem sie die Erde auflockern können, was die Erntemengen steigert. Dem Thor heilig sind Bär, Eiche, Eichhörnchen, Rotkehlchen sowie Rotschwänzchen. Am Ende der Zeit wird er die Midgardschlange Jörmungand besiegen, doch dabei selbst tödlich verwundet. Doch seine Söhne werden einst das goldene Zeitalter begründen, sein edles Erbe fortführen.

 

*

 

Der weitere Abendverlauf gestaltete sich feucht-fröhlich, wodurch wir extrem spät ins Bett kamen. Rael, Sina und Ralija belegten die eine Kammer, wir Männer die andere. Angesichts unserer durch den Alkoholgenuß enthemmten Stimmung hielt ich andere Stubenaufteilungen für kontraproduktiv. Nach einer unruhigen Nacht erwachte ich mit einem Brummschädel, als habe mir ein Troll mit einer Hartholzkeule einen übergebraten. In der Raumecke stand ein hölzerner Waschzuber, an dem ich mir eiskaltes Wasser über das Gesicht laufen ließ, was eine mäßige Wirkung erzielte. Es erfrischte wenigstens einigermaßen und besänftigte meine Kopfschmerzen. Raðvið schien den Met besser vertragen zu haben, denn er war recht munter. Lukku hingegen machte nicht den Eindruck, als sei er Saufgelage gewohnt. Die frische Morgenluft tat gut, als wir uns mit den Frauen vereinigt und die Reise fortgesetzt hatten. Das Tagesziel war Jelrasten, ein Ort, den uns Ralija sehr genau beschrieb. „Der Ort ist in den Kronen eines Waldes auf einer kleinen Flußinsel angelegt. Zwei ausfahrbare Brücken verbinden die Insel mit den gegenüberliegenden Uferseiten. In der Nacht werden die beweglichen Brückenteile hochgezogen und man fühlt sich auf der Insel wie in einer anderen Welt. Zum Schwimmen ist die Strömung viel zu reißend und mit Booten ist das Übersetzen gefährlich wegen der vielen Felsen. Die einzige Unterkunft im Ort ist das am weitesten westlich gelegene Haus. Von den Zimmern sieht man direkt auf den Fluß hinab und hört das Rauschen des Wassers. Das hat eine sehr beruhigende Wirkung und verbessert die Schlafqualität. Da verschmerzt man auch den Umstand, daß es keine Kneipe oder ähnliches gibt, in der man sich den Aufenthalt versüßen könnte. Dafür gibt es einen hervorragenden Schmied, der Waffen aller Art in hoher Qualität anbietet.“ – „Darauf kann ich verzichten“ murmelte Raðvið vor sich hin, was lediglich ich hören konnte, da ich mich direkt neben ihm aufhielt. „Das ist doch klar, daß Elfenwaffen meiner in einer Zwergenschmiede gefertigten Axt unterlegen sind …“ Irgendwie erheiterte mich diese beharrliche Verteidigung zwergischer Schmiedekünste. Ralija hatte dessen unbemerkt weitererzählt. „… ein sehr gut sortiertes Lebensmittelgeschäft, wo wir uns mit Viktualien eindecken können.“ Die Elfin setzte ihre Ausführungen fort, aber ich hörte nur noch mit einem Ohr hin, weil meine Aufmerksamkeit von der imposanten Rückseite Sinas eingenommen war. Bei jedem Schritt wogten ihre abgerundeten Hüften, die fleischlichen Verlockungen wurden vom eng anliegenden Körperschutz noch verstärkt, denn er zeigte dem aufmerksamen Beobachter mehr als er verbarg. Mir war nicht ganz klar, woher diese Anziehungskraft stammte. Lag es an der exotischen Andersartigkeit der Elfin, die sie von Menschenfrauen unterschied? Aber dann hätte ich genauso gut auch Ralija anstarren können, aber ihr gegenüber war meine Einstellung neutral. Womöglich lag es auch an Sinas Ausstrahlung, die mich faszinierte. Mein Gehirn erahnte wohl die Erfüllung meiner wildesten Träume und sie war es, die daraus Wirklichkeit werden lassen konnte. „Sag ihr, daß du sie toll findest“ flüsterte mir Lukku ins Ohr. Verwundert blickte ich ihn an. Unbemerkt von mir war er an mich herangetreten und offenbarte mir seine erstaunliche Beobachtungsgabe. „Kennst du dich mit Elfinnen aus?“ wisperte ich ebenso leise zurück. „Mehr oder weniger“ bekannte Lukku mit undurchsichtiger Miene. „Zumindest mit Nachtelfinnen, aber die sind genauso wie Elfinnen des Tages. Sie mögen es, wenn man ihnen gegenüber völlig offen ist. Nur keine falsche Schüchternheit!“ – „Aber sie ist eine Elfin und ich bin ein Mensch!“ Der Dunkelelf betrachtete mich von unten bis oben. „Was du nicht sagst, das hätte ich jetzt nie gedacht. Das ist doch kein Nachteil. Glaubst du, sie hat schon mal einen menschlichen Verehrer gehabt!? Das ist eher unwahrscheinlich, das heißt du stellst für sie den Reiz des Exotischen dar. Es wird ihr zudem schmeicheln, wenn auch Angehörige anderer Rassen Interesse an ihr zeigen.“ Wir hatten uns jetzt ein wenig hinter die anderen zurückfallen lassen, wodurch wir jetzt ganz normal reden konnten. „Aber Elfen leben doch viel länger … wie verträgt sich das denn miteinander?“ – „Du wirst sie doch nach deinem Tod anderen Männern vergönnen, oder etwa nicht? Also: wo ist das Problem? Außerdem weißt du ja noch gar nicht, ob das mit euch beiden wirklich so lange halten würde. Vielleicht gefällt dir in ein paar Jahren eine andere besser.“ Seufzend blickte ich zu Boden. „Das kann ich mir jetzt ehrlich gesagt nicht vorstellen. Sina ist einfach etwas ganz Besonderes.“ – „Zugegeben, sie besitzt einen gewissen Charme …“ Oh ja, den hatte sie ohne Zweifel. Allein die Art, wie sie sprach, eine Mischung aus mädchenhaftem Zauber und der Verlockung von süßem Met. „Aber wie soll ich ihr denn sagen, daß …“ – „Das ist ganz einfach. Wenn du willst, helfe ich dir, indem ich dir zum richtigen Zeitpunkt einen Renner gebe. Du tust dann genau das, was ich dir jetzt sage.“

 

*

 

Jelrasten erreichten wir noch vor Einbruch der Dunkelheit. Das Dorf sah genauso aus, wie ich es mir dank Ralijas Beschreibung vorgestellt hatte. Ein beschaulicher, kleiner Ort, der vor allem durch seine exponierte Lage inmitten eines Flußes ein echtes Juwel darstellte. Ehrfurchtsvoll spazierten wir zuerst einmal unter den Bäumen entlang. Überall auf der Insel vernahm man das Rauschen des Flußes, der hier zwar keine Stromschnellen ausgebildet hatte, aber dennoch etwas bewegter dahinfloß und für eine gedämpfte Geräuschatmosphäre sorgte. Das musste herrlich beruhigend wirken, wenn man einschlief. Da es allmählich dämmerte, suchten wir die Herberge auf, die auf einer großen Buche thronte. Wir erhielten zwei hübsch eingerichtete, geräumige Kammern für einen Spottpreis von jeweils fünf Kreuzern. Die Zimmeraufteilung tätigten wir wie gehabt. Irgendwie fand ich das schade, auf der anderen Seite aber garantierte mir das einen baldigen Schlaf, denn allein der Gedanke, mit Sina ein Zimmer zu teilen versetzte mein Herz in Aufruhr. Müde nach dem langen Marsch begaben wir uns gleich nach unserer Ankunft zu Bett. Das sanfte Rauschen des nur wenige Meter von uns entfernt vorbeifließenden Wassers wirkte wie erwartet sehr beruhigend, beinahe meditativ. Das Einschlafen fiel mir recht leicht und als ich am nächsten Morgen erwachte, konnte ich bestätigen, exzellent geschlafen zu haben. Die anderen teilten meine Meinung. „Habe ich zu viel versprochen?“ zwinkerte mir Ralija zu. „Ein echter Geheimtipp für all diejenigen, die einmal in einem sauberen Bett durchschlafen wollen.“ – „Wir waren neulich in einer Absteige“ fügte Lukku erklärend hinzu. „Da konnten wir auch nur deshalb schlafen, weil sich die Kakerlaken auf die Wanzen gestürzt haben. Als wir das merkten, hatten wir allerdings auch keine Wahl mehr, denn im Freien schlafen wäre da ungemütlich gewesen, denn es goss wie aus Kübeln.“ Wir hatten unsere Reise über die westliche Brücke fortgesetzt und durchquerten einen größeren Wald, der mit sehr altem Baumbestand bewachsen war. Sina schlug vor, den Weg zu verlassen, um mehr von der ursprünglichen Natur des Waldes zu erleben. Alle bis auf Raðvið waren einverstanden. „Das ist nicht so lustig, wenn man alle paar Meter irgendwo hängenbleibt oder einen Ast ins Gesicht kriegt.“ – „Komm schon“ munterte Rael ihn auf. „Du hast doch nur ein gespaltenes Verhältnis zu Bäumen, weil sie so viel größer sind als du.“ Der Zwerg schnaubte wütend. „Also gut, ich bin einverstanden, aber nur, damit du einsiehst, daß deine Vermutung falsch ist. Als ob es nur auf die Körpergröße ankäme …“ Beleidigt begab er sich ans Ende um noch etwas zu schmollen. Ralija gesellte sich zu mir, Sina übernahm die Führung. „Wie ist das eigentlich bei den Menschen?“ fing Ralija ein unverfängliches Gespräch an. „Was schätzen die Männer da an den Frauen?“ – „Das kommt ganz darauf an. Manche bevorzugen häusliche, brave Frauen, andere mögen eher den Kriegertyp.“ Die Elfin schien auf irgend etwas spezielles hinaus zu wollen, aber mir war ehrlich gesagt unklar, worum es sich handelte. „Sina ist ein hübsches Mädchen“ stellte sie fest. „Zumindest meiner Meinung nach. Was denkst du darüber?“ – „Wenn ihre Augen mich anschauen, dann bleibt die Zeit stehen, wenn sie lächelt, dann bin ich glücklich, wenn sie mir ein freundliches Wort schenkt, dann hüpft mein Herz. Willst du noch mehr hören?“ Sie lächelte mich fröhlich an, denn sie schien sich bereits etwas Derartiges gedacht zu haben. Vermutlich hatte ihr auch Lukku einen Tipp gegeben. So ganz sicher war ich mir in der Angelegenheit nicht. „Wir Elfinnen sind den Menschen durchaus zugeneigt“ setzte Ralija ihre Ausführungen fort. „Ihr seid so … anders … und eure runden Ohren, das ist einfach süß!“ Spontan musste ich lachen. „Ihr findet unsere Ohren süß? Dabei seid ihr es doch, die lustige Ohren haben! Frag mal Raðvið, was der darüber denkt.“ – „Der hat doch auch keine spitzen Ohren, also brauche ich ihn gar nicht erst zu fragen. Jeder denkt nun mal, daß das, was er kennt, das Normale ist. Eigentlich schade, daß unsere Völker früher gegeneinander Krieg geführt haben.“ Das war noch vor meiner Geburt gewesen, als der damalige König Mintas IV. einen religiös motivierten Krieg gegen die Elfen begonnen hatte, der nach langem, sinnlosen Ringen von seinem Nachfolger mit einem Waffenstillstand beendet worden war, da keine Seite es vermocht hatte, die andere dauerhaft zurückzudrängen. Es hatte etliche Jahrzehnte gedauert, bis das Misstrauen der Völker zueinander gewichen war. Jetzt pflegte man freundschaftliche Kontakte, genoss die ausgedehnten Handelsbeziehungen, von denen vor allem die Menschen profitierten, denn sie erhielten seltene Erze, die in den eigenen Territorien nicht zur Verfügung standen. Dafür exportierten sie Getreide wie Weizen, Roggen, Hafer und Gerste, das in den von Wäldern dominierten Gebieten des Elfenreichs kaum angebaut wurde.

Ralija hielt mir ein längliches Blatt hin, das sie von einem Strauch am Wegesrand gepflückt hatte. „Iss das“ forderte sie mich auf. „Das ist Ferugo – wir Elfen nehmen es zu uns, wenn wir Liebeskummer haben. Es stärkt den Kreislauf und beschwingt die Sinne. Eine Nebenwirkung wäre, daß es einen enthemmt.“ – „So wie Alkohol?“ – „Ja, nur ohne dessen negative Wirkung.“ Sie sah mir zu, wie ich das Blatt kaute. Es schmeckte ein bisschen wie Pfefferminz. „Sobald die Sonne ihren Zenit überschritten haben wird, entfaltet sich die Wirkung zur Gänze. Nutze dann die Gelegenheit und sprich sie an.“ Ihre Hand ruhte für einen Moment auf meiner Schulter. „Du wirst sehen, es wird dir viel leichter fallen.“

„Danke“ stammelte ich. „Ich werde es versuchen.“ Rael war stehengeblieben und drehte sich zu uns um. „Na? Worüber unterhaltet ihr beide euch?“ – „Ach, nur so über die Pflanzen, die hier wachsen“ erwiderte Ralija, was in gewisser Hinsicht nicht mal gelogen war. Wie zur Bekräftigung des Wahrheitsgehalts begann sie Rael einige Kräuterarten unter den Bäumen anhand ihrer Besonderheiten zu erklären. „Aus diesen hier kann man einen feinen Tee machen, wenn man die Blätter lange genug trocknet. Falls man das nicht tut, muss man sich übergeben, denn die frischen Blätter enthalten einen Giftstoff.“ Da mich diese ganzen Details nicht besonders interessierten, leistete ich Raðvið am Ende unseres Zugs Gesellschaft. „Na, Raðvið? Alles klar bei dir?“ Er hob die Axt, die er in der Hand trug, hoch und zeigte auf die Schneide. „Schau dir das mal an! Die Schneide ist schon ganz stumpf, weil ich hier die ganze Zeit irgendwelche Äste weghauen muss, die mir den Weg versperren.“ Ein Lachen konnte ich nur schwerlich unterdrücken. „Aber der Wald ist doch sowieso nicht so dicht als daß das nötig wäre. Außerdem bist du doch der Klei… derjenige, der am wenigsten Platz von uns braucht.“ – „Hast du eine Ahnung. Ein imposanter Zwergenkrieger in schwerer Rüstung wie ich, der kann sich schwerlich so einfach durch die Äste hindurchzwängen, wie das ein Leichtgewicht wie du kann.“ Wie zur Bekräftigung hieb er einen armdicken Ast eines Laubbaumes durch, der es gewagt hatte, näher als eine Elle an seinen Körper heranzureichen. Kopfschüttelnd dachte ich mir meinen Teil, wagte aber nicht, einen Kommentar abzugeben. Sina war stehen geblieben und winkte uns mit der Hand. „Seid leise, da vorne ist eine Fee!“ Tatsächlich erblickte ich, nachdem wir zu den anderen aufgeschloßen hatten, unweit unserer Position eine filigrane Lichtgestalt unter einem Baum. Die eindeutig weibliche Figur schwebte dank ihrer großen, durchsichtigen Flügel über dem Boden, ihr grüner Rock und das ebenso gefärbte Wams gaben ihr ein naturverbundenes Aussehen. Ihr Gesicht schien äußerst zart, an Schönheit sogar denen der Elfen überlegen. „Das ist eine Baumfee“ klärte Sina uns auf. „Ihr Leben hängt auf Gedeih und Verderb mit dem Baum zusammen, den sie beseelt. Es ist ein großes Glück, daß sie sich uns zeigt, denn normalerweise sind Feen recht heimlich.“ Plötzlich ertönte eine leise, aber dennoch gut hörbare Stimme, die einen unschuldigen Klang hatte: „Tretet hervor, Freunde. Habt keine Angst vor mir!“ Wie selbstverständlich verließ Sina den Sichtschutz der Büsche, hinter denen wir gestanden hatten, ich folgte zögerlich. Unsicher trat ich neben Sina, die sich vor der Fee auf den Boden setzte, damit der Größenunterschied – die Fee reichte uns kaum bis zur Hüfte, obwohl sie ja ein Stück über der Erde in der Luft schwebte – geringer wurde. Ohne zu zögern hockte auch ich mich auf den Waldboden.

„Ich grüße dich, Fee“ sagte Sina. „Was ist der Grund, daß du uns die Ehre zuteil werden läßt, dich zu sehen?“ – „Die Sorge ist es, um den Wald, um die Bäume, die mich treibt.“

„Was ist los?“ – „Die Rundohren vom Fluß bringen Tod und Verderben in den Wald. Sie bedrohen meinen Hain.“ Ich verstand nur Zwergentunnel. Sina hingegen schien begriffen zu haben, worum es ging. „Holzfäller sind am Werk? Das berührt mich zutiefst. Wir werden versuchen, sie aufzuhalten.“ Die Fee, deren Gesicht aus der Nähe betrachtet noch feiner, noch hübscher wirkte, lächelte und bedankte sich artig. „Dains Segen liegt auf euch.“ Sprach es und verschwand. Verdutzt starrte ich auf die Stelle, wo sie gerade eben noch geschwebt war.

„Da soll mich doch Alswid treten, wenn das normal ist“ rief Raðvið hinter mir. Alswid, der Gott der Riesen, war der Sage nach ein gigantischer Riese mit einer alles zerschmetternden Keule. Ohne triftigen Grund hätte der Zwerg niemals den Hauptgott der Erzfeinde seines Volkes ins Spiel gebracht. Ein Beweis für sein grenzenloses Erstaunen über das schnelle Verschwinden der Fee. „Beruhigt euch“ meinte Sina. „Wir haben ein neues Abenteuer vor uns: die Holzfäller finden und sie daran hindern, weiter Bäume zu fällen, damit der Hain der Fee erhalten bleibt.“ Lukku schnaubte durch die Nase. „Wie stellst du dir das denn vor? Willst du sie höflich darum bitten, sich eine andere Arbeit zu suchen? Wir müssten sie wenn schon töten, denn eine andere Möglichkeit gäbe es nicht.“ – „Das sehe ich nicht so extrem wie du“ bekannte Sina. „Wenn es uns gelingt, sie davon zu überzeugen, daß ein Miteinander mit der Natur auch Vorteile für sie hat, dann werden sie selbst die nötigen Schlußfolgerungen ziehen. Sie dürfen hier in den Elfenwäldern keine Bäume fällen, denn wir Elfen achten sie als Geschöpfe Dains. Wir verwenden nur Totholz und tun auch ansonsten keinem Baum etwas zu leide. Wenn die unbedingt illegal Holz in unseren Wäldern schlagen wollen, dann ist es unser gutes Recht, sie davon abzuhalten. Mir als Elfin widerstrebt es, sie umzubringen, wenn es sich vermeiden läßt, denn auch sie sind Lebewesen. Zudem sind Menschen manchmal wie hilflose Kinder. Sie merken gar nicht, was sie der Natur antun. Wir sollten ihnen die Augen öffnen, damit sie lernen zu verstehen. Es ist die beste Methode, um ihre kranken Seelen zu erleuchten.“ Fasziniert von ihrer Ansprache klatschte ich Beifall, was mir einen wohlwollenden Blick von ihr einbrachte, der mir durch und durch ging. Im Anschluß machten wir uns sofort auf, die Holzfäller zu stoppen. Sina führte uns in die Richtung, in der sie die Fremden vermutete. Eine Zeitlang stapften wir durch den Wald, ohne daß irgendwas Verdächtiges zu erblicken war. Dann hörte ich es – entferntes Klopfen, das regelmäßig von neuem erklang. „Das sind sie“ war sich Ralija sicher. „Axtschläge. Sie fällen gerade wieder einen Baum!“ Wir beschleunigten unser Tempo und erreichten bald den ersten Baumstumpf, der noch ganz frisch war. Außer einigen dicken Ästen war der Baum verschwunden. Offenbar hatte man den Stamm bereits abtransportiert. Sina legte beide Hände auf die Schnittkanten, raunte ein paar Worte, die ich nicht verstehen konnte und im Umdrehen meinte ich, Tränen in ihren Augen gesehen zu haben. Das Schicksal der einst gewaltigen Buche schien ihr zu Herzen zu gehen. Ich litt mit ihr, zum einen weil ich selbst Bäume sehr verehrte, zum anderen, weil ich es nicht ertrug, Sina, die göttlich sanfte Elfin, traurig zu sehen. Lukku trat an mich heran. „Geh zu ihr und tröste sie“ hauchte er in mein Ohr. Ohne länger abzuwarten, näherte ich mich ihr von der Seite, um sie sanft an meine Brust zu drücken. „Das wird schon wieder – wir werden diese Kerle aufhalten und der Wald wird sich von selbst regenerieren.“ Sie legte den Kopf an meine Schulter und einen Moment überlegte ich, ob ich ihre Haare streicheln sollte, aber ich beließ es bei sanftem Zureden. Vermutlich waren meine Worte nicht besonders geistreich, aber es kam in solch einer Situation nicht auf den Inhalt an, sondern mehr auf die Tat. Tatsächlich lächelte Sina bald wieder und wischte mit dem Handrücken ihre Tränen weg. Beinahe hätte ich etwas persönliches gesagt, aber instinktiv ahnte ich, daß das jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür war, weshalb ich mich noch in Geduld übte. Später würde eine bessere Situation kommen – zudem würde bis dahin dieses Kaublatt, von dem ich bereits den Namen vergessen hatte, seine volle Wirkung entfalten. Zwei gute Gründe, die Zeit als Verbündeten zu betrachten. „Es geht jetzt schon besser“ versicherte mir die hübsche Elfin. „Wir können weiter.“ Die Axtschläge wurden jetzt immer lauter bis wir schließlich ihre Verursacher entdeckten. Vier Männer standen mit entblößtem Oberkörper, schwitzend, um einen bemitleidenswerten Baum herum, um nacheinander mit Äxten seitlich auf dessen beeindruckenden Stamm einzuschlagen. Als sie uns sahen, hielten sie in ihrer Arbeit inne.

„Was macht ihr hier?“ fragte Sina vorwurfsvoll mit gerunzelter Stirn. „Wisst ihr nicht, daß die Bäume auf Elfenterritorium heilig sind?“ Einer der Holzfäller, ein Muskelpaket, der zum Frühstück wohl zwei Zwerge verspeiste, hob drohend das Beil. „Was geht Euch das an? Verschwindet!“ Sinas Stirn zog sich kaum merklich zusammen. „Die Bäume sind Lebewesen wie ihr auch. Sie standen hier schon, als eure Großväter noch nicht mal geboren waren. Ich bitte Euch, den Fehler, den Ihr begangen habt, einzusehen und Euch mit der Natur auszusöhnen.“ Das Muskelpaket lachte und drehte sich zu seinen Kameraden um. „Habt ihr das gehört? Ich habe gar nicht gewusst, daß die Elfen Komiker haben!“ Als er sich wieder zu uns wandte, verstummte sein Lachen. „Eure Drecksbäume bringen uns gutes Geld ein. Wenn euch das nicht passt, dann versucht doch uns zu hindern. Ansonsten belästigt uns nicht länger, sonst …“ – „Was glaubt ihr, wer ihr seid?“ wurde Ralija wütend. „Ihr dürft hier keine Bäume anrühren. Wir haben es Euch im Guten gesagt, aber ihr wollt ja nicht hören.“ Der Holzfäller setzte die gewaltige Axt ab. „Was bist du denn für eine Hübsche? Das man so etwas unter euch dreckigen Spitzohren findet! Du kannst meinetwegen hierbleiben und uns etwas Gesellschaft leisten. Was meint ihr, Jungs? Eine Elfenhure hatte ich noch nie. *hahaha*“ Ehe ich recht begriff, was passierte, schnellte Lukku hervor, etwas blitzte kurz in der Sonne, Lukku sprang nach vorn und ebenso rasch wieder zurück. Der Wortführer der Menschen griff sich mit beiden Händen an den Hals, röchelte, verdrehte die Augen und fiel zu Boden. Die anderen packten ihre Äxte fester und wirkten verblüfft. „Ihr … verdammten Spitzohren! Das werdet Ihr büßen!“ Schon sprangen sie ungestüm heran, schwangen ihre Waffen gegen uns. Lukku tauchte katzenartig unter dem Hieb weg und stieß dem Angreifer eine exotische Stichwaffe in den Leib. Der zweite machte Bekanntschaft mit Raðviðs Axt – der letzte ließ die Waffe fallen und wandte sich um. Ralija hatte einen Bolzen aufgelegt, zielte, doch schon hatte sie ihr Ziel aus den Augen verloren, denn der Flüchtende hatte einen Baum zwischen sich und sie gebracht. Fluchend lief Ralija hinter ihm her. Als ich versuchte, sie zurückzuhalten, berührte mich Sina sachte am Arm. „Lass sie. Sie wurde schwer beleidigt und wird sich rächen. Wenn du sie nicht auch beleidigen willst, dann lass sie gewähren.“ – „Aber“ entfuhr es mir, denn schließlich war es Sina gewesen, die den Plan gehabt hatte, die Holzfäller nach Möglichkeit nicht zu töten. „Solche Dreckschweine haben den Tod verdient!“ Mit Erstaunen lernte ich die andere Seite Sinas kennen, die dunkle. Doch bekanntlich gibt es auch in der größten Helligkeit des Tages irgendwo Schatten. Man muss ihn nur suchen und man wird ihn finden. In diesem konkreten Fall machte mir das nicht einmal etwas aus, denn Sina behielt für mich nach wie vor ihre überirdische Aura. Ralija kam soeben zurück. „Erwischt“ tat sie uns kund. „Ein sauberer Schuß ins Herz auf ein bewegtes Ziel – das muss mir erst einmal jemand nachmachen.“ Sina zuckte mit den Achseln. „Was ist da schon dabei. Mit meinem Langbogen schaffe ich das ebenso. Mit der Armbrust nicht.“ – „Wir können ja mal einen Wettbewerb abhalten. Wer besser schießt, bekommt einen Preis.“ – „Ähm, Mädels“ mischte ich mich ein. „Mein Vorschlag wäre, wir einigen uns darauf, daß Sina die bessere Bogenschützin ist und Ralija besser mit der Armbrust ist, weil dann können wir weiter.“ Die beiden waren einverstanden und nachdem wir noch einmal den Feenhain aufgesucht hatten, um der Fee mitzuteilen, daß keine Gefahr mehr drohte, wanderten wir Richtung Nordwesten weiter. Ein Eichhörnchen huschte über den Waldboden, sauste einen Stamm hinauf und verschwand in seiner Behausung. Vermutlich hatte das possierliche Tierchen dort oben seinen Kobel. Irgendwo hämmerte ein Specht stakkatoartig gegen einen Baumstamm, eine Meise sang ihr eintöniges, aber dennoch liebreizendes Liedchen. Die dichten Kronen der Bäume verhinderten, daß die Sonne bis zum Boden gelangte. Dafür herrschte eine angenehme Kühle, die das Wandern gemütlich machte. Vorbei an Pilzen, die an feuchteren Stellen ihre Hüte zeigten, legten wir eine ordentliche Distanz zurück, bis ich es irgendwie so einrichten konnte, neben Sina gehend den anderen etwas voraus zu sein.

„Du bist eine ungewöhnliche Frau“ begann ich eine unverfängliche Konversation. Sie warf mir einen kurzen Seitenblick zu. „Wieso?“ Jetzt war ich in der Zwickmühle. „Nun ja“ überlegte ich. „Die Frauen bei uns Menschen sind ganz anders. Sie kämpfen nicht, sie kümmern sich nur um den Haushalt, ich weiß auch nicht, wie ich es erklären soll. Sie haben auch keine grünen Haare.“ – „Du findest meine Haarfarbe ungewöhnlich?“ – „Nicht direkt, bei uns hat halt keiner Haare dieser Farbe. Also, ich würde dich auch toll finden, wenn du blaue Haare hättest.“ Sina lächelte milde über meine Schmeicheleien. „Das ist bei uns Elfen eher selten. Blond, braun oder rot sind viel häufiger.“ Sie sah mich mit einem merkwürdigen Blick an, den ich nicht recht zu deuten wusste. „In welchem Jahr wurdest du eigentlich geboren?“ Die Frage irritierte mich. „279 nach der Trennung“ antwortete ich. Man muss wissen, daß sich im Königreich der Menschen die Zeitrechnung nach einem Ereignis richtete, das zur Spaltung zwischen dem Bündnis mit den Zwergen geführt hatte. Im Elfenkönigreich setzte man den Herrschaftsbeginn des ersten Königs des Gesamtreiches als Anfang fest.

„Du bist noch sehr jung“ stellte die Elfin nachdenklich fest. „Bei euch Menschen wäre ich bereits eine alte Frau.“ Sie seufzte. „Für uns Elfen vergeht die Zeit viel langsamer als für euch. Das hat Vorteile, aber natürlich auch Nachteile. Aber ich finde es dennoch schön, daß wir sechs Freunde geworden sind. Ein Zwerg, zwei Menschen, zwei Elfen und ein Dunkelelf – das nenne ich ungewöhnlich.“ Normalerweise hätte ich jetzt aus Schüchternheit geschwiegen, aber die Wirkung des gegessenen Blattes zeigte seine Wirkung. „Von den fünfen faszinierst du mich aber am meisten“ offenbarte ich ihr. „Ich habe einen Traum und wenn du auch an ihn glaubst, dann kann er in Erfüllung gehen.“ Sie blieb stehen und schaute mir direkt in die Augen. „Deine Haare haben die lebendige Farbe des Waldes, dein zarter Körper bewegt sich geschmeidig wie eine Gazelle, du bist zu allen freundlich und bist tiefen Gefühlen der Natur gegenüber fähig. Von deinen zärtlichen Händen gestreichelt zu werden, muss einem den Verstand rauben, ein Kuss deiner Lippen muss schmecken wie der Met in Walhalla. Das alles hat mich bewegt, deine Augen aber, die haben mich verzaubert.“

„Sag mal“ begann sie unschlüßig. „Schäkerst du gerade mit mir oder …?“ – „Allerdings. Wäre doch ein Jammer, wenn ich es nicht täte. Allein die Vorstellung, daß du in den Armen eines anderen liegst, während ich mich nach dir verzehre, macht mich krank. Seit Tagen schlafe ich unruhig, weil ich an dich denken muss.“ Mit einer Geste löste ich die Kette, die ich um den Hals trug um sie Sina in die Hand zu legen. „Ein Schutzamulett meines Hauptgottes“ erklärte ich. „Ich möchte es dir schenken, auf daß die Macht meines Gottes dir Schutz gebe.“

 

Offen bekenn ich, der beide wohl kenne,

Der Mann ist dem Weibe wandelbar;

Wir reden am schönsten, wenn wir am schlechtesten denken

So wird die Klügste geködert.

Schmeichelnd soll reden und Geschenke bieten

Wer des Mädchens Minne will,

Den Liebreiz loben der leuchtenden Jungfrau:

So fängt sie der Freier.

(Edda, Havamal – Des Hohen Lied)

 

Sie nahm die Kette dankend an, sagte ansonsten hingegen nichts zu dem, was ich ihr gesagt hatte. Ob das ein gutes Zeichen war oder ein schlechtes, vermochte ich nicht zu beurteilen. Ich war einfacher Abenteurer, kein studierter Elfenpsychologe. Ihre Augen hielten Blickkontakt zu mir, zogen mich weiter in ihren Bann, machten mich zu ihrem Gefangenen bis ans Ende aller Tage. Meine Finger berührten wie zufällig die ihren, sanft liebkoste ich sie beiläufig bis uns die Stimme Raels beide aus unserer eigenen Welt riss. „Was ist los? Habt ihr etwas entdeckt?“

„Nein, nein“ winkte Sina sofort unbeholfen ab. „Wir haben uns nur über … Philosophie unterhalten.“ Rael schien damit zufrieden, lediglich Ralija und Lukku ahnten, was geschehen war, denn beide grinsten mich unmerklich an. Es dauerte lange, bis wir den Wald endlich hinter uns gelassen hatten. Auf einer breiten Straße marschierten wir nun dahin, wobei wir nicht die einzigen waren, die diese bequeme Trasse nutzten. Eine von vier Pferden gezogene Kutsche kam uns entgegen. Wer mochte wohl darin sitzen? Sicher eine Prinzessin, doch nein, jetzt ging meine Phantasie mit mir durch. Eine derart wichtige Person wäre sicherlich besser bewacht als nur von einem Kutscher, denn in den Wäldern lagen Trolle auf der Lauer, Räuber, Banditen, sonstiges Geschmeiß, vielleicht gab es sogar Lindwürmer. „Gibt es hier eigentlich Lindwürmer?“ fragte ich die unweit von mir gehende Ralija. „Lindwürmer?“ entgegnete sie. „Die sind doch schon seit langem ausgestorben, oder etwa nicht?“ – „Woher soll ich das denn wissen. Deshalb frage ich dich doch.“ Ralija wandte sich zu Sina um, die irgendetwas antwortete, was ich nicht genau hören konnte. „Es soll noch ein paar geben“ gab mir Ralija Sinas Antwort wieder. „Aber sie weiß auch nicht genau, wo.“ Die Kutsche war inzwischen natürlich schon an uns vorbei und außer einer Staubwolke sah man von ihr nichts mehr. Hätte mich wirklich interessiert, wer darin gesessen hatte. Ohne mir weiter über das Gefährt Gedanken zu machen, setzte ich wie schon so oft einen Fuß vor den anderen. Ein schier endloser Trott, der jeweils nur kleine Entfernungen überbrücken konnte, aber in der Summe ordentlich was ergab. Viele kleine Schritte führen bekanntlich irgendwann ans Ziel. Am späten Nachmittag erreichten wir den Ort Wasin, den wir uns zum Etappenziel auserkoren hatten. Die Herberge war schnell gefunden, wo wir uns sogleich drei Doppelzimmer sicherten – andere Unterkunftsarten gab es hier nicht. Das hatte zwar preisliche Nachteile, dafür aber Komfortabilitätsvorteile. Der Elfenportier drückte mir drei mit Nummern versehene Schlüßel in die Hand. Lukku fischte mir den ersten aus der Hand, ohne daß ich etwas dazutun konnte. „Ich werde bei Rael schlafen“ erläuterte er mir seine Handlung. „Wir haben uns auf der Hinreise über religiöse Besonderheiten der Elfenkultur unterhalten und wollen vor dem Schlafengehen noch etwas darüber debattieren.“ Den zweiten Schlüßel nahm sich Ralija. „Raðvið und ich teilen uns das Zimmer, weil ich nämlich bezweifle, daß er schnarcht, wie du immer sagst. Das werden wir heute Nacht sehen …“ Sie zwinkerte mir jovial zu und ich glaubte weder ihr noch Lukku ein Wort von dem, was sie als Begründung für ihre Zimmerbelegungskombination gesagt hatten. Beide waren eingeweiht und hatten das mit Absicht so gedeichselt, daß ich mit Sina allein ein Zimmer bekam. Wir beide betraten folglich unser Zimmer und warfen erst einmal unsere Waffen als auch unser Gepäck auf den Boden. Das tat immer gut, wenn man einen Ort hatte, wo man sein Zeug sicher verwahren konnte. „Schön eingerichtet“ stellte ich fest. Sina nickte. „Ja. Das ist das Schöne an den Elfengasthäusern in den Dörfern. Man bekommt für wenig Geld viel geboten.“ Das Bett war erstaunlich weich, was meine Vorfreude auf die Nacht nur erhöhte. Sina setzte sich in den gepolsterten Stuhl, der am Fenster stand und blickte hinaus. „Hier kann man es aushalten“ meinte sie. „Schade, daß wir nur eine Nacht bleiben.“

Das fand ich auch schade. Vor allem, weil ich nicht wusste, ob wir in der nächsten Unterkunft wieder Doppelzimmer bekommen konnten. Es galt daher, den Augenblick zu genießen. Es klopfte an der Tür. „Herein!“ kommandierte ich. Die Holztür öffnete sich einen Spalt, Raels Kopf streckte sich herein. „Seid ihr soweit?“ – „Ja, ja“ bestätigte ich. Kurz darauf fanden wir draußen wieder zusammen, denn wir wollten wie immer den Abend im Wirtshaus verbringen. „Jetzt einen schönen Krug Met“ freute sich Raðvið. „Dann sind all die Strapazen schnell vergessen. Vor allem die Blasen an meinen Zehen.“ Die Kneipe machte einen urigen Eindruck. Die ovalen Tische waren für acht Leute gedacht, aber da genügend Platz war, konnten wir einen ganz belegen. Die Schankmaid, eine rundliche Elfin von kleiner Gestalt, brachte uns binnen Kürze die angeforderten Getränke.

„Prost!“ rief Rael vergnügt. Reihum stießen wir die Krüge aneinander, wie der Brauch es erforderte. Das Dunkelbier war kühl und von erlesener Qualität. Elfen verstehen es durchaus, ein schmackhaftes Bier zu brauen. Obgleich das von Menschen gefertigte Bier die Eigenheit hat, kräftiger zu sein, wohingegen Zwergenbier es auf den höchsten Alkoholprozentsatz bringt. Gerade recht also für die versoffenen, kleinen Tunnelkriecher. Nachdem wir ausgiebig Speis und Trank zu uns genommen hatten, vernahm ich die klagende Stimme eines Mannes vom Nachbartisch. „Was mache ich nur? Ach jemine!“ Der Elf machte einen jämmerlichen Eindruck auf mich. Ganz allein saß er an seinem Tisch, einen halbvollen Krug vor sich. Neugierig sprach ich ihn an. „Entschuldigt. Darf ich vielleicht fragen, was Euch fehlt?“

Der Elf blickte mich aus traurigen Augen an. „Meine Tochter …“ – „Was ist denn mit ihr? Ist sie mit einem Zwerg durchgebrannt?“ – „Viel schlimmer: sie wurde entführt!“ Ungläubig starrte ich ihn an. „Entführt? Wieso das denn?“ – „Um Lösegeld zu erpressen. Ihr müsst wissen, daß ich der hiesige Dorfvorsteher bin. Zwar bin ich keineswegs reich, aber durch das Erbe meines Vaters der wohlhabendste Mann im Ort. Mir gehören einige Häuser sowie die Mühle.“ – „Haben sich die Entführer schon in irgendeiner Form bei Euch gemeldet?“

„Allerdings“ bestätigte der Elf, ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus seiner Weste hervorholend. „Das hier hat jemand unter meiner Tür durchgeschoben. Heute Nachmittag habe ich es gefunden. Zu dem Zeitpunkt vermisste ich Talja bereits.“ – „Talja ist Eure Tochter, nehme ich an?“ – „Ja. Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll. Die Summe, die die Entführer verlangen, kann ich beim besten Willen nicht flüßigmachen. Wenn ich bis morgen mittag das Geld nicht aufbringen kann, dann werden diese Verbrecher ihr etwas antun.“ Kurz wandte ich mich um, denn ich wollte meine Gefährten über diese Angelegenheit informieren.

„Ein neues Abenteuer!“ freute sich Sina. „Verbrecherjagd im Elfenland“ kommentierte Lukku. Den Elf ließ ich wissen, daß wir unser möglichstes tun wollten, um seine Tochter heil zurückzubekommen. „Wie wollt ihr das denn anstellen?“ fragte er zögernd. „Morgen zur Mittagsstunde soll ich das Geld schon übergeben.“ – „An welchem Ort?“ – „Nicht weit von hier befindet sich eine Lichtung im Wald. Dort soll ich das Geld in einem hohlen Baum deponieren. Bis zum Abend versprach man mir, meine Tochter freizulassen.“ – „Darf ich mal den Erpresserbrief sehen?“ Bereitwillig drückte mir der Elf den Zettel in die Hand, den ich erst entfalten musste, um die in einer krakeligen Schrift verfasste Mitteilung lesen zu können.

 

Eure Tochter befindet sich in unserer Gewalt.

Bringt morgen zur Mittagszeit exakt die Summe

von 10.000 Kreuzern mit und legt das Geld in den

hohlen Baum im Süden. Falls Ihr es wagen solltet,

zu irgend jemanden von der Sache zu sprechen …

Wie gesagt: zur Zeit haben wir sie nur entkleidet.

Das muss aber nicht so bleiben, wenn Ihr meint,

Spielchen mit uns spielen zu können.

 

Ein zweites mal las ich das Schreiben, ehe ich es meinen Freunden weitergab, damit die es auch selbst durchlesen konnten. „Wir kümmern uns um die Sache“ versprach ich dem niedergeschlagenen Elfenvater. „Zwar kann ich nichts versprechen, aber wir werden unser Möglichstes tun, Eure Tochter unversehrt zurückzubekommen.“ Der Elf schien neuen Mut zu schöpfen. „Ich danke Euch vielmals! Eure Tapferkeit sollte von Barden besungen werden! Ihr wisst nicht, wie sehr mir meine Tochter ans Herz gewachsen ist, seitdem ihre Mutter …“ Ich begriff sofort, was er sagen wollte. Aufmunternd tätschelte ich seine Schulter. „Wir werden Eure Tochter befreien, so war ich hier sitze. Das schwöre ich Euch!“ Zusammen mit den anderen besprachen wir die ganze Angelegenheit. Rael schlug vor, die fünftausend Kreuzer, die wir als Belohnung für die Wiederbeschaffung des Relikts bekommen hatten, als Lösegeld am geforderten Ort zu hinterlegen. Dann müssten wir nur darauf achtgeben, wer sich das Geld holte und ihn verfolgen. „Die Entführer fordern aber die doppelte Summe“ gab Sina zu bedenken. „Was machen die wohl, wenn sie bemerken, daß man sie nur teilweise bezahlt hat?“ Lukku fuhr mit seinem Zeigefinger quer an der Kehle entlang. „Die werden bereits tot sein, sobald sie genügend Zeit finden, das Geld zu zählen.“ – „Nicht so voreilig“ bremste ihn Ralija. „Vielleicht wird Talja gar nicht dort festgehalten, wohin man das Geld bringen wird. Was machen wir denn dann, wenn wir alle dort sich aufhaltenden Verbrecher umbringen? Wir brauchen mindestens einen von ihnen lebendig, für den Fall der Fälle.“

„Das stimmt“ gab ich ihr Recht. „Wir müssen den Geldboten unauffällig verfolgen, soweit sind wir uns schon mal einig. Dann versuchen wir herauszubekommen, wo Talja ist. Gelingt uns das nicht, müssen wir eingreifen. Wir brauchen mindestens einen, der uns dann zu ihr führt, also setzt keine tödlichen Waffen ein, sondern gebraucht eure Fäuste, Füße oder dergleichen.“ Raðvið blickte verdrossen in die Runde. „Was machen wir eigentlich, wenn die Kleine schon tot ist?“ – „So dumm werden die nicht sein“ meinte ich. „Solange die das Geld nicht in ihrem Besitz haben, brauchen sie ja noch ein Druckmittel. Es wird erst dann gefährlich, wenn sie das Geld haben und es gezählt haben. Da müssen wir vor Ort sein.“

„Am besten übernehme ich die Verfolgung“ schlug Sina vor. „Als Kind des Waldes kann ich mich lautlos fortbewegen, ohne auf Äste zu treten oder sonst irgendwie aufzufallen. Ich würde sagen, Ralija oder Lukku verfolgen mich und der Rest wiederum folgt ihnen, weil wir dann in keinem Fall auffliegen.“ Ein Krug wurde mit einem Poltern auf die Tischplatte geschlagen. „Soll das heißen, daß ich ein Plattfuß bin?“ erregte sich Raðvið. „Auch wenn es nicht meiner Gepflogenheit als Zwerg entspricht, feige durch die Büsche zu schleichen wie ein Gnom, würde mich niemand hören, wenn ich es nicht wollte.“

„Das glaube ich dir, aber wir können Fernwaffen einsetzen und daher zur Not sofort eingreifen, falls es unumgänglich wäre. Beispielsweise, wenn der Geldbote das Geld irgendwo im Wald zählt und unseren Schwindel bemerken sollte.“ Sina hatte weise gesprochen und der Zwerg beruhigte sich wieder. „Gut, dann machen wir es so. Wir sollten relativ früh aufstehen, damit wir zeitig am Übergabeort sind zwecks Vorbereitung unseres Plans. Wir müssen ja die Gegend auskundschaften und uns irgendwo verstecken, bis das Geld abgeholt wird.“

„Darauf trinken wir!“ rief der Zwerg begeistert, doch ich bremste ihn. „Nein, Raðvið, heute haben wir genug zu uns genommen. Wir brauchen morgen alle einen klaren Kopf, da die Sache nicht leicht werden wird. Das habe ich im Gefühl. Aber ich verspreche dir, daß wir morgen abend soviel saufen werden, wie du verträgst. Einverstanden?“ – „Das ist ein Wort.“

Wir bezahlten unsere Rechnung beim Wirt, der uns mit freundlichen Worten verabschiedete und begaben uns zurück in die Herberge, wo wir paarweise in die Zimmer gingen. Angeheitert vom Alkohol alberte ich etwas herum, was Sina zum Lachen brachte. Das wirkte auf mich so herrlich erfrischend, daß ich nicht weiß, wie ich es beschreiben soll. Mich bis auf die Unterklamotten ausziehend legte ich mich auf mein Bett um Sina zuzusehen, wie sie ihr Gewand ablegte. Sie trug darunter ein merkwürdig aussehendes Kleidungsstück, das die interessantesten weiblichen Körperteile verhüllte, was meine Neugierde nur noch steigerte. Auch sie legte sich nun auf ihr Bett und schaute mich nun an. „Sina“ begann ich. – „Hmm?“

„Habe ich dir schon gesagt, daß du eine schöne Elfin bist?“ – „Nicht direkt, aber ich habe es so aufgefasst.“ Schweigen meinerseits folgte. „Was ist es nur, was mich so an dir fasziniert? Sag du es mir, denn ich vermag es kaum in Worte zu fassen.“ Sie erhob sich langsam, überbrückte die kurze Distanz zwischen unseren Betten und setzte sich seitlich an den Rand meines Bettes. Zärtlich streichelte sie mit der Hand meine Brust, ihre feingliedrigen Finger liebkosten mein Gesicht und als ich ihre Hand küsste, schloß sie die Augen. „Wir beide gehören zusammen“ hauchte ich ihr zu. „Wenn du willst, werde ich dein Diener sein und zugleich dein Herr. Mein Körper wird dir gehören und deiner wird der meinige sein. Mein Leben gehört dir und wenn du mich tötest, dann ist es der schönste Tod, den ich mir vorstellen kann. Verlang von mir, was du willst – ich werde dich nicht enttäuschen.“ Ich streckte als einladende Geste meinen Arm aus, um sie zu berühren und tatsächlich legte sie sich neben mich. Ihr weiches Haar duftete nach Lavendel, ihr schlanker Körper schmiegte sich an meinen, sanfte Lippen küssten meinen Hals, ihre Finger spielten mit meinen Haaren. Ach, was konnte noch Schöneres passieren? „Calidor“ tuschelte sie in mein Ohr. „Süßer, kleider Calidor …“

 

*

 

Anderntags erwachte ich nur unwillig, denn wir hatten die halbe Nacht mit Herumschmusen verbracht. Sina knabberte an meinem Ohrläppchen, was mich langsam aber sicher wach machte. „Mmm“ brummte ich, mühsam die Augenlider aufschlagend. „Guten Morgen“ empfingen mich die schönsten blauen Augen der Welt. „Hast du gut geschlafen?“

„Zu kurz“ grummelte ich vor mich hin. Sina nahm meinen Kopf zwischen ihre Hände und küsste mich. „Es ist Zeit zum Aufstehen. Die anderen sind schon fertig.“ – „Woher weißt du das?“ wunderte ich mich, denn sie hatte sich ebensowenig komplett angezogen als wie ich.

„Rael hat vorhin geklopft und gefragt, was wir solange treiben.“ Mühsam rappelte ich mich auf, was länger dauerte als üblich. Draußen auf dem Gang wurden wir von Lukku begrüßt. „Na? Wie war es denn heute Nacht?“ Er grinste schelmisch. Sina zuckte ungeniert mit den Schultern. „Wie soll es gewesen sein? Wir haben geschlafen …“ Jetzt musste ich grinsen über soviel Unverfrorenheit, denn Sinas Reaktion zeigte mir, daß sie nicht wusste, was Lukku wusste und ihm daher etwas vorspielen wollte. „Er ist im Bilde“ raunte ich der Elfin zu, die mich daraufhin komisch ansah. „Das war nicht schwer zu erkennen“ klärte sie der Dunkelelf auf. „Mir als Meister der Tarnung entgeht so etwas nicht. Aber ich vergönne euch den Spaß, solange es sich nicht auf die Moral der Gruppe auswirkt.“ Sina schüttelte den Kopf. „Nein, das wird es garantiert nicht.“ Wir stapften nach draußen, wo die anderen bereitstanden.

„Hat aber lange gedauert“ schimpfte Raðvið ärgerlich. „Beinahe wäre ich ins Wirtshaus gegangen zwecks Frühschoppen, aber leider haben die noch nicht auf.“ – „Wir sind ja schon da. Von uns aus kann es losgehen.“ Wie am Vorabend geplant wanderten wir los zu der Waldlichtung, die sich nicht besonders weit weg vom Ort befand. Sina sicherte die linke Flanke, Ralija die rechte, Lukku deckte uns nach hinten. Am Ziel angekommen kundschafteten die beiden Elfen spiralförmig die Umgebung aus. Diese Vorsichtsmaßnahme ergriffen wir, weil wir nicht mit Sicherheit ausschließen konnten, daß sich einer der Entführer bereits in der Nähe der Übergabestelle versteckt hielt, um seinerseits die Gegend zu beobachten. Doch den kaum zu täuschenden Instinkten der Elfen kam kein Geschöpf vor die Augen. Es schien sich also tatsächlich noch keiner hier aufzuhalten. Um so besser, denn dann konnten wir ungehindert ans Werk schreiten. Den hohlen Baum hatten wir schnell gefunden. Mit Wehmut deponierte ich den gefüllten Lederbeutel mit den goldenen Kreuzerstücken darin. Rael, Raðvið und ich versteckten uns zwischen einigen eng stehenden Büschen auf der anderen Seite der Lichtung, etwa hundert Meter vom hohlen Baum entfernt. Der Zwerg ging mir schnell auf die Nerven, weil er über stachlige Ranken klagte, die neben ihm wuchsen. Damit sagte er mir nichts Unbekanntes, denn auch ich hatte diese pieksenden, ekelhaften Dinger schon am eigenen Leib gespürt. Da hieß es die Zähne zusammenbeißen, denn zumindest boten uns die Büsche soviel Sichtschutz, daß nicht einmal Sina uns hier ausgemacht hätte, wenn sie nicht wüsste, daß wir hier steckten. Sina, Ralija und Lukku bildeten zueinander ein gleichschenkliges Dreieck um die Lichtung herum, damit wir in jedem Fall flexibel waren, ganz gleich in welche Richtung der Geldbote verschwinden würde. Wir hatten nämlich in der Zwischenzeit umdisponiert – den ersten Verfolger würde derjenige Elf abgeben, der am nächsten zum Verbrecher war, wenn sich dieser absetzte. Doch zuerst stand uns langes Warten bevor. Ein paar Vögel sangen, ein Reh zeigte sich kurz am Waldrand, verschwand aber gleich wieder. Vielleicht hatte es unsere Witterung aufgenommen, vielleicht riet ihm sein Instinkt auch nur, die offene Fläche nicht zu betreten. „Ich geh’ schnell mal pissen“ murmelte Raðvið und schickte sich an, aus unserer Deckung herauszukrabbeln. Ich hielt ihn am Arm fest. „Bist du verrückt? Du bleibst hier! Die Sonne steht bald an ihrem höchsten Punkt.“ – „Aber ich muss wirklich dringend“ empörte sich der Zwerg. „Pinkel halt einfach rechts neben dich“ schlug Rael vor. „Ich schaue auch woanders hin.“ Raðvið zögerte. „Das traue ich mich nicht, weil ich mich da vor dir schämen müsste.“ Spontan musste ich grinsen. Der größte Kämpfer unserer Gruppe schämte sich. Na prima. „Pst!“ raunte ich den beiden zu, denn ich sah soeben einen Mann aus dem Wald treten. Obwohl er recht weit weg war, erkannte ich an der Art, wie er sich bewegte und an der Kleidung, daß es sich um einen Mann handeln musste. Ein Mensch. Langsam schlenderte er auf den hohlen Baum zu, sich ab und an umsehend. Immer näher kam er dem Baum, dann bückte er sich, holte etwas aus dem Stamm und lief zurück in den Wald. Da keiner der Elfen das vereinbarte Signal gegeben hatte – den Ruf einer Eule – wussten wir, daß außer dem einen ansonsten niemand gesichtet worden war. Deshalb verließen wir unsere Tarnung, um die Verfolgung aufzunehmen. Raðvið fluchte wie ein Rohrspatz, weil er sich einen Dorn in den Daumen gestochen hatte. Außer einigen vernachlässigbaren Schrammen war ich meinerseits glimpflich davongekommen.

Da Sina dem sich Absetzenden am nächsten war, übernahm sie wie vereinbart die Rolle des Direktverfolgers. Einen großzügigen Sicherheitsabstand einlegend pirschte sie sich im Schutz von Büschen voran. Gelegentlich drehte sich der Mann vor ihr um, doch schien er sich bald in Sicherheit zu wiegen, denn er legte seine anfängliche Scheu ab und spazierte ohne sich Sorgen zu machen drauflos. Sina hatte kein Problem ihm zu folgen. Ralija wiederum verfolgte Sina und wir folgten ihr. Eine genial ausgetüftelte Strategie. Nach einer längeren Wanderung deutete uns Ralija mit der Hand, daß wir warten sollten. Nach einer Weile gab sie uns ein Zeichen, bis zu ihr aufzuschließen. Leise pirschten wir uns vorwärts.

„Was gibt es denn?“ fragte ich die wartende Elfin.

„Sina ist dem Mann bis zu einer kleinen Hütte gefolgt. Sie hat ihn hineingehen sehen und versucht gerade festzustellen, ob Talja drinnen gefangengehalten wird. Solange sollen wir hier auf ihre Rückkehr warten.“ Es dauerte länger bis sich ein Busch teilte und Sina vor uns stand. „Also ich habe drei Männer in der Hütte festgestellt. Das Mädchen konnte ich zwar nicht entdecken, aber es wäre möglich, daß sie im fensterlosen Nebenraum eingesperrt ist. Dort gibt es auch einen verrammelten Hinterausgang.“

„Sehr gut“ lobte ich. „Dann schnappen wir uns diese staubigen Brüder. Ralija, Lukku, ihr nehmt links von der Eingangstür Aufstellung, Rael und ich rechts davon. Wir sind das Sturmkommando, das heißt wir dringen in die Hütte ein, kämpfen den Widerstand nieder und schauen, ob das Elfenmädchen drin ist.“ – „Was soll ich dann machen?“ fiel mir der Zwerg ins Wort. „Soll ich vielleicht in der Zwischenzeit mit meiner Axt Holzscheite spalten? Oder Däumchendrehen?“

„Du bekommst eine Sonderaufgabe. Du postierst dich am Hinterausgang und verhinderst, daß irgend jemand da heraus kommt. Egal, wer auch immer da seine Rübe herausstreckt – zack!

Sina, du darfst den oder die Gefangenen bewachen. Doch vergesst nicht – wir brauchen mindestens einen von ihnen lebend. Gut, los geht’s!“

Die Holzhütte sah nicht gerade robust aus, vielmehr handelte es sich um eine heruntergekommene Holzfällerbehausung. Die Vordertür befand sich relativ weit rechts an der Längsseite. Ein Fenster gab es auch, daber das war weiter entfernt, so daß auf der linken Seite der Tür locker zwei Leute aufrecht stehen konnten, ohne von innen bemerkt zu werden. Nachdem wir unsere Positionen bezogen hatten, griff ich nach der Türklinke. Beinahe lautlos öffnete ich die Tür und stürmte ins Innere, die anderen folgten mir dichtauf. Zwei Männer saßen auf Stühlen an einem kleinen Tisch, der mit Münzen bedeckt war. Ungläubig starrten sie uns an, griffen aber in Windeseile zu ihren Waffen. Dem ersten hämmerte ich den Knauf meines Schwerts an den Schädel, was ihn ins Land der Träume schickte. Der zweite parierte Lukkus Stich und wollte seinerseits zustechen – doch er geriet dabei an Raels Stab, der ihn zurückwarf. Ehe er erneut reagieren konnte, sprang Lukku seitlich an ihn heran und schlitzte ihm den Hals mit seiner Klingenwaffe auf. Der dritte Gegner kam gerade aus dem Nachbarraum, seinen Speer zögernd uns entgegenstreckend. „Leg die Waffe nieder“ herrschte ich ihn an, doch er reagierte nicht. Die Stille im Raum war drückend, bis von der Hintertür ein Krachen erfolgte. Offenbar hatte Raðvið die Kampfgeräusche vernommen und wollte uns zu Hilfe kommen. Tatsächlich lenkte das Geräusch den Gegner ab, was mir die Möglichkeit gab, einen waagrechten Streich anzusetzen, der seinen Speer wegschlug. Zwar hielt er die Waffe nach wie vor in Händen, aber ich hatte die gefährliche Spitze unterlaufen, was mir erlaubte, bis auf Körperkontakt an ihn heranzukommen. Ich entriss ihm den Speer und schlug ihn nieder. Ächzend rappelte er sich auf und begriff endlich, daß sein Spiel zu Ende war. Ein kurzer Blick in den Nebenraum zeigte mir, daß Talja nicht in der Hütte war. Dafür streckte Raðvið seinen Kopf durch das enorme Loch in der Tür, das seine Axt gerissen hatte. „Alles klar bei euch?“ Grinsend zeigte ich ihm meinen nach oben zeigenden Daumen. Wir brachten unsere beiden Gefangenen nach draußen, wo wir uns intensiver mit ihnen befassten. Der eine war von meinem Schlag noch bewußtlos, wohingegen der zweite nur aus der Nase blutete.

„Wo ist das Mädchen?“ fragte ich in einem äußerst freundlichem Tonfall.

„Welches Mädchen? Ich weiß nicht, wovon du sprichst …“

„Lass mich mal mit dem Typen reden“ mischte sich der Zwerg ein. „Meine Axt wird ihn schon zum Sprechen bringen. Darauf verwette ich mein Kettenhemd.“

„Das Mädchen, das ihr entführt habt und für die ihr Lösegeld kassiert habt“ half ich unserem Gefangenen auf die Sprünge. „Wenn du nichts sagst, dann müssen wir das als fehlende Kooperation auffassen, was mich veranlassen würde, etwas härtere Methoden zu wählen.“

Lukku trat vor den Mann, beugte sich zu ihm herab und sagte mit tiefer, dämonischer Stimme, die sogar mir einen Schauer über den Buckel hinunterjagte: „Weißt du, was wir Dunkelelfen alles mit unseren Gefangenen machen? Du wirst es bald herausfinden …“ Mit irrem Blick wandte sich der Ganove an mich. „Aber … das könnt Ihr doch nicht zulassen!“ Ungehemmt lachte ich. „Wieso denn nicht? Wenn es zum Ziel führt. Sehe ich aus wie ein Priester? Ich bin Söldner und kenne keinerlei Skrupel.“

Wir hatten gewonnen, denn der Mann redete wie ein Wasserfall. Sein Komplize, der momentan nicht bei Bewußtsein war, hatte das Geld abgeholt. Sie waren gerade dabei gewesen, das Geld zu zählen, das sie im Anschluß in den Stützpunkt bringen wollten, wo der Boß der Bande wartete. Dem Mädchen gehe es gut, versicherte er immer wieder. Bereitwillig erklärte er uns den Weg zu dem Haus, wo wir sowohl den Oberbösewicht als auch Talja finden würden.

„Sehr gut“ kommentierte ich die Ausführungen. „Ihr beide werdet uns aber begleiten. Nur für den Fall, daß wir weitere Fragen an euch haben sollten.“

Lukku deutete auf die beiden. „Sollen wir sie fesseln, damit sie nicht auf dumme Gedanken kommen?“ Ralija kam mir mit einer Erwiderung zuvor. „Das wird nicht nötig sein. Falls jemand einen Fluchtversuch unternimmt, dann schieße ich ihm einen Bolzen in den Rücken.“ Demonstrativ hob sie ihre Armbrust in die Höhe. Dieses Argument überzeugte.

Nachdem wir den bewußtlosen Gauner mit einem Eimer Wasser aufgeweckt hatten, setzten wir uns in Marsch. Die Wanderung durch den Tann hätte unter anderen Umständen amüsant sein können, doch wir waren nicht zu unserem Vergnügen hier. Dennoch zwinkerte ich Sina zu, die mir ein bezauberndes Lächeln schenkte. Der Marsch dauerte länger als ich erwartet hatte, was mich veranlasste, Ralija und Lukku als Vorhut vorauszuschicken, damit wir nicht in einen Hinterhalt gerieten. Doch meine Sorge war unbekümmert, denn Lukku tauchte schon bald vor uns auf und berichtete von der Sichtung eines Steinhauses. „Das ist es“ bestätigte der gesprächigere der beiden Gefangenen. Rael und Ralija ließen wir zurück als Bewachung für die beiden, der Rest folgte mir. Das aus klobigen Steinquadern errichtete Haus war um einiges größer als die Holzhütte. Vermutlich war es mal ein Försterhaus oder dergleichen gewesen. Spielte im Endeffekt keine Rolle. Wir verteilten uns vor dem Haupteingang, während Sina die Rückseite im Auge behielt. Zu meinem Bedauern war die Tür abgeschlossen. Ich gab Raðvið einen Wink, der freudestrahlend mit seiner Axt auf die Tür eindrosch, daß das Holz nur so wegsplitterte. Freilich machten wir auf diese gewalttätige Art auf uns aufmerksam, aber es dauerte nur kurz, bis die Tür unter den brutalen Axthieben aufsprang, wir sofort hinein. Ein bärtiger Mann stürmte uns mit einem Schwert entgegen. Gerade noch konnte ich unter seinem Hieb wegtauchen, der meinen Scheitel wohl mehr als nur rasiert hätte. Abermals schlug er auf mich ein, diesmal schaffte ich es, mit dem Kurzschwert zu parieren. Raðviðs Axt bereinigte schließlich die Situation, obwohl man das kaum „bereinigen“ nennen kann, wenn einem der gesamte Oberkörper mit Blut besudelt wird. Zumindest war es nicht meines. Jederzeit bereit, angegriffen zu werden, schauten wir die Zimmer durch. Schließlich kamen wir zu einem, an dessen Tür ein Schlüßel steckte. Ich schloß auf, trat ein und sah in einer Ecke auf einem großen Heuhaufen ein Elfenmädchen liegen. An Händen und Füßen gefesselt, mit einem Stoffetzen geknebelt. „Keine Angst, Talja, wir sind Freunde“ beruhigte ich das Mädchen. Mit meinem kleinen Dolch, den ich bisher noch nie zum Kampf eingesetzt hatte, weil er dazu einfach nicht geeignet war, durchschnitt ich die Stricke und entfernte den Knebel. Die junge Elfin umarmte mich trotz meines martialischen Aussehens, was ich als Zeichen ihrer Erleichterung deutete. „Keine Sorge, meine Kleine. Von nun an wird dir niemand mehr etwas zuleide tun. Wir bringen dich gleich zu deinem Vater.“ Ich brachte sie nach draußen, wo sich sogleich Ralija ihrer annahm. „Wie siehst du denn aus?“ empfing mich Sina.

„Ich habe mein erstes Praktikum in einer Metzgerei hinter mir“ witzelte ich. „Gefällt mir aber nicht, weil die Arbeitsbedingungen einfach zu dreckig sind.“ Sie lachte und wischte mir mit einem Stück Stoff das Blut aus dem Gesicht. Unsere Gefangenen in die Mitte nehmend kehrten wir zum Dorf zurück, wo wir im Nu von einer aufgeregten Elfenmenge empfangen wurden. Wie die Sieger einer Schlacht stolzierten wir an den Häusern vorbei, direkt auf das Wohnhaus des Bürgermeisters zu. Der kam uns schon entgegen, umarmte seine Tochter und drückte sie fest an sich. „Meine kleine Talja! Du bist gesund zurück!“ Er ließ sie schließlich los und drückte jedem von uns nach Menschenbrauch die Hand. „Das werde ich Euch nie vergessen. Hier, nehmt diesen Beutel mit einer bescheidenen Belohnung für Eure Mühen!“

Das Dorf jubelte uns zu, während man die beiden Gefangenen abführte. Man würde ihnen in den nächsten Tagen den Prozess machen, nach Elfenrecht. Das konnte so ziemlich alles heißen, was das Strafmaß anbetraf. Bei den Elfen war es nämlich üblich, daß der Geschädigte beziehungsweise das Opfer ein gehöriges Wörtchen mitzureden hatte. Im schlimmsten Fall drohte den Entführern jahrelange Arbeit in den Eisenbergwerken der Nordprovinz. Im besten Fall würde man sie lediglich zu einigen Monaten Gemeinschaftsarbeit verdonnern. Die Todesstrafe hatten sie hingegen nicht zu fürchten, denn angesichts der Tatsache, daß niemand ernsthaft zu Schaden gekommen war – mit Ausnahme der Komplizen der Verbrecher –, konnte eine derart hohe Strafe nicht ausgesprochen werden. Die Elfen hatten ein feines Gespür für Gerechtigkeit, ganz im Gegensatz zu den Zwergen, die selbst bei scheinbar geringen Vergehen häufig Todesstrafen verhängten. Aber vermutlich lag das an ihrer besonderen Mentalität. Ein Volk, das ständig unter Tage lebt, hat andere Maßstäbe, wenn es darum geht zu entscheiden, ob eine Person zur Strafe getötet werden muß. Natürlich wirkt sich hier das Tun eines Einzelnen im Extremfall stärker aus, was man zweifelsohne beachten muß, sofern man Kritik übt. Die tief in den Berg hineingetriebenen Stollen, die die Wohnhöhlen straßenartig miteinander verbanden, liefen schnell mit Wasser voll, falls die Schleusenwärter ihre Arbeit vernachlässigten. Hier die Todesstrafe zu verhängen, mag einleuchten. Das weitere Gerichtsverfahren ging uns natürlich nichts an, weshalb wir uns auch verabschiedeten. Weiter gen Westen zogen wir, dorthin, wohin auch die Sonne unterwegs zu sein schien, doch war dies selbstverfreilich nur eine optische Täuschung, die von zahlreichen Dichtern desöfteren verklärt wurde. Wir trotteten eine gut ausgebaute Straße entlang, auf der erstaunlich wenig Verkehr herrschte. Um so besser kamen wir voran. Die Nacht verbrachten wir in einem Dorf, dessen Namen wiederzugeben nichts einbrächte, denn dort gab es absolut nichts Erwähnenswertes. Es geschah auch nichts, was irgendwie von Belang wäre. Am Tag darauf marschierten wir in dem Wissen los, daß wir am Abend schon in der Elfenhauptstadt sein konnten – vorausgesetzt wir legten ein gutes Marschtempo hin. Die Zeit verging wie im Flug, denn Lukku erzählte uns hochgradig mysteriöse Dunkelelfensagen, die nicht nur ich niemals zuvor gehört hatte. In einer Sage wurde von der Erschaffung der Welt berichtet. Am Anfang existierte nur ein großes Nichts, es gab weder Himmel noch Erde. Weder Licht noch Dunkelheit existierte. Doch das Nichts war nicht völlig leer, sondern es gab etwas, das zwar existierte, jedoch zugleich nicht existierte. Ein Zustand, der einem seienden Nichts entsprach. Daraus entstand die Welt durch einen Funken der heiligen Flamme, die den Beginn von allem markierte. Materie, die bislang frei im Raum schwebte, klumpte zusammen und bildete die Welt. Doch sie war Äonen lang unbelebt bis plötzlich durch den Willen der Naturkräfte Lebewesen aus sich selbst entstanden. Diese entwickelten sich eigenständig und brachten viele verschiedene Arten hervor, die sich wiederum weiter herausbildeten. So entstanden die Elfen, die Zwerge, die Dunkelelfen, die Riesen, die Trolle und alle anderen Geschöpfe.

„Das klingt vernünftig“ meinte Rael. „Auch mein Glauben spricht im Grunde genommen von äquivalenten Vorgängen. Nur, bei uns gibt es Götter, die alles geschaffen oder zumindest mit beeinflußt haben. Das ist bei euch ja nicht so!?“ – „Nein. Es gibt keine Götter, denn diese sind nur Einbildung der niederen Intelligenzen.“ Sowohl Sina als auch Raðvið äußerten vehementen Einspruch, doch Lukku bestand auf seiner Ansicht. Ehrlich gesagt zweifelte ich auch manchmal, ob Thor wirklich existierte. Denn ich hatte die Erfahrung gemacht, daß es ihm völlig egal zu sein schien, ob ich ihm zu Ehren opferte oder nicht. Was nützt einem ein Gott, der mehr oder weniger apathisch bleibt? Auf der anderen Seite – woher sollten die Blitze und der Donner sonst kommen, wenn nicht von seinem Hammer Mjöllnir?

Als es allmählich zu dämmern begann, wurde ich schön langsam unruhig. Keine Ortschaft weit und breit, wir hatten die legendäre Elfenhauptstadt noch immer nicht erreicht und ausgerechnet jetzt kam uns natürlich auch kein Reisender entgegen, den wir hätten fragen können. Sina war als einzige von uns schon einmal dort gewesen, doch gab sie zu, daß das erstens schon längere Zeit in der Vergangenheit sowie zweitens im Herbst gewesen war, wo die Bäume gänzlich ihres Laubes befreit die Landschaft stark veränderten. Sie vermutete aber, daß die Richtung stimmte. Dagegen konnte ich nichts sagen, denn ich wusste im Moment noch weniger, wo wir uns überhaupt aufhielten. Die inzwischen nur noch spärlich waldbewachsene Straße machte soeben einen Knick und offenbarte uns in der Ferne den Ausblick auf die größte Stadt, die ich jemals gesehen hatte. Eine imposante Stadtmauer zeugte von Wehrhaftigkeit, in regelmäßigen Abständen eingelassene Türme unterstrichen diesen Eindruck. Die Straße schlängelte sich durch etliche Wiesen direkt auf eins der Tore zu, dahinter ragten einige noch höhere Gebäude auf, von denen eines einen spitz zulaufenden Turm besaß. „Das ist der Palast“ rief Sina fröhlich. „Dort lebt König Ulpion mit seiner Frau Gisa.“ Je näher wir kamen, desto eindrucksvoller wurden die Ausmaße der Siedlung. Vom Bolkensee sahen wir im Moment gar nichts, denn der lag auf der entgegengesetzten Seite. Wir näherten uns – was man am Sonnenstand leicht herausfindet – von Süden, der See wiederum befand sich auf der Nordseite. Die Stadtbefestigungen machten aus der Nähe einen noch stabileren Eindruck. Locker acht Meter hoch vermochte die Anlage auch stärksten Belagerungen zu trotzen. Über dem Tor entdeckte ich Pechnasen, durch das man siedenden Teer auf etwaige Sturmböcke herabschütten konnte. Überdachte Wehrgänge machten die Mauern gegen Pfeilbeschuß nahezu unverwundbar. Hinzu kam ein Wassergraben, der wohl durch den See gefüllt wurde, was die Annäherung von schwerem Belagerungsgerät unmöglich machte. Als wir auf das Tor zusteuerten, versperrten uns zwei Elfenwachen mit langen Speeren den Weg. „Wer seid Ihr und was wollt Ihr?“ Beide beäugten uns kritisch, was mich etwas verunsicherte. Offenbar sah man Fremde hier doch nicht so gerne, wie es immer hieß.

„Wir sind Reisende und wollen in der Stadt übernachten“ schilderte ich unser Begehr. „Freilich möchten wir uns auch die Stadt selbst anschauen, von der man so großartiges hört. Wenn man schon da ist, geht das ja in einem. Falls es möglich ist, würden wir eventuell versuchen, Arbeit zu finden zwecks Aufbesserung unserer Finanzen.“

„Was für eine Art Arbeit?“ – „Nun, wir verstehen uns aufs Kämpfen und könnten derartige Dienste anbieten. Vielleicht gibt es auch eine Kampfarena in der Stadt oder dergleichen, wo man das Waffenhandwerk demonstrieren kann?“

„Ja, die gibt es tatsächlich. Aber ich kann euch nicht versprechen, ob ihr dort aufgenommen werdet. Die nehmen dort nicht jeden, sondern nur die besten Kämpfer.“

„Mit denen nehme ich es noch immer auf.“ Raðvið war das gewesen, der jetzt eingehender von den gut zwei Köpfen größeren Torwachen gemustert wurde. „Ihr könnt passieren, die Tore sind übrigens zwischen der zweiten Abendstunde und der fünften Morgenstunde geschloßen.“

Wir durchschritten das breite Tor und waren nun in Elfion, der legendären Hauptstadt der Elfen, angelangt.

 

*

 

Die Nacht hatten wir in einer Herberge namens „Zum lustigen Elfen“ verbracht. Stolze Zimmerpreise waren das hier, dafür daß wir in einer kleinen Kammer zu zweit übereinander in primitiven Stockbetten schlafen mussten – wohl bemerkt zu sechst auf einer Stube! Die Doppelbetten standen in Hufeisenform zur Tür, was in dem kleinen Raum nicht mehr eben viel Platz übrigließ. Das Loch, nennen wir es ruhig so, kostete pro Person mehr als wir bislang immer für alle zusammen gezahlt hatten. Unverschämtheit! Ralija erklärte mir, dies läge an den hohen Flächenpreisen, welche für die Gebäude gezahlt werden müssten. Das hebe dann das allgemeine Preisniveau, auch wenn bereits im nächsten Ort eine Übernachtung nur einen Bruchteil kostete. Merkwürdig, das hatte schon seinen Grund, wieso ich das Leben in kleinen Dörfern bevorzugte. Noch dazu war ich die zahllosen Leute nicht gewöhnt, die hier in den Gassen geschäftig herumliefen. Manchmal wunderte ich mich, daß sie sich nicht gegenseitig auf die Füße stiegen. Wir begaben uns nach einem kurzen Streifzug durch die Nachbarschaft auf unser spartanisches Zimmer, wo wir wider Erwarten aber doch ganz gut schliefen. Vermutlich lag das daran, weil Sina, die unter mir lag, mit ihrer Hand nach oben getastet hatte, bis ich sie ergriff. So ihrer physischen Nähe gewiss schlief ich schnell ein.

Am folgenden Tag wurden wir durch Geräusche von draußen wach. In der Stadt herrscht ein ganz anderer Geräuschpegel als auf dem Land. Auch die Klänge selber waren grundverschieden. Hatten wir bisher in erster Linie natürliche Töne wie die Rufe von Hähnen oder das Rauschen des Windes in den Baumkronen gehört, waren wir hier nur von künstlichem Krach umgeben. Jeder Einwohner schien ungeheuer wichtige Sachen zu erledigen zu haben, die allesamt nicht gerade leise abgingen. „Könnt ihr noch schlafen?“ stellte Rael eine rhetorische Frage. „Weil wenn nicht, würde ich vorschlagen, wir stehen jetzt auf.“ Dagegen hatte niemand etwas einzuwenden. Einmal draußen angekommen gewann ich der Hauptstadt auch wieder positive Aspekte ab – denn es gab wirklich Erstaunliches zu entdecken. In den zahlreichen Läden entlang der Hauptstraße gab es eine unerschöpfliche Auswahl der unterschiedlichsten Güter. Gewänder in Hunderten von Ausführungen in verschiedensten Farben, sogar getrennt nach Geschlechtern. In einem Waffengeschäft gab es neben den unvermeidlichen Kollektionen an Schwertern, Schilden und Rüstungen auch ein größeres Sortiment an Streitkolben, Streithämmern, Morgensternen, Wurfspeeren als auch Wurfmessern. Armbrüste sowie Bögen fanden wir im Laden nebenan, der sich ganz auf den Fernkampf spezialisiert hatte. Hier kamen Ralija und Sina auf ihre Kosten. Nach längerer Warenschau steuerten wir den zentralen Tempel an, der mich sehr beeindruckte. Ein hoher, nach oben hin spitzzulaufender rundlicher Turm aus Marmorgestein wies in den Himmel, was seine Zugehörigkeit zum obersten Elfengott Dain symbolisierte, der als Vater aller Elfengötter im Himmel herrschte. Sina gefolgt von Ralija brachte an einem der Altäre Dankopfer dar, während wir uns einige der Wandfresken näher anschauten. Auf einer der kunstvoll angefertigten Abbildungen kämpfte ein Elf gegen einen Drachen. „Das ist der Held Elfeus, der den bösen Drachen Amero besiegt“ erklärte Sina, die soeben an mich herangetreten war. „Der hatte nämlich zuvor die Tochter des Elfenkönigs geraubt.“ – „Was bedeutet denn diese Darstellung?“ wies ich auf ein Bild, auf dem drei Elfen einen hünenhaften Gegner mit Pfeilen spickten. „Das ist der Krieg gegen die Riesen“ erläuterte die Elfin. „Der fand vor dreihundert Jahren statt, als noch König Relasy herrschte. Er fiel in der Entscheidungsschlacht und wurde durch seinen Sieg unsterblich im Herzen meines Volkes.“

„Entschuldigt, die Herrschaften“ sprach mich ein Elf in adretter Kleidung an. „Hat sich Euch Dains Reich schon offenbart?“ – „Wie bitte?“ wunderte ich mich, weil ich keine Ahnung hatte, wovon der Typ laberte. Der Elf war sogleich bereit, deutlicher zu sprechen: „Ich spreche von der jenseitigen Welt, Bruder. Dort, wo alle um Dains Tafel sitzen, sein Brot essen, seinen Wein trinken und den heiligen Chören lauschen.“ Andächtig blickte er mit einem frommen Seufzer nach oben als läge dort der Quell seiner Seeligkeit.

„Was ist denn das für einer?“ raunte ich Sina zu, die nur grinste und meinte, das seien Leute, die sich selbst „Zeugen Dains“ nannten. Die wären ultra-überzeugte Anhänger von Dain mit der Berufung, andere von ihrer Weltanschauung zu überzeugen. „Entschuldige, Bruder“ patschte ich dem Elf auf die Schulter, „aber ich glaube, ich muss meinen Schwestern und Brüdern folgen, denn die wollen weiter.“ Zurück bei den anderen grinste mir Ralija zu. „Die sind manchmal echt lästig, aber völlig harmlos. Normalerweise gehen sie von Haus zu Haus, aber gelegentlich wird man auch auf offener Straße angesprochen.“

„Komische Sitten“ kommentierte Lukku. „Das ginge bei uns gar nicht, denn egal wer auch immer falsche, ketzerische Lehren verbreitet, der wird da zum Tode verurteilt, damit die öffentliche Ordnung gewahrt bleibt.“ – „Wir sind eben nicht so brutal wie ihr.“

Diese kurze Episode war schnell vergessen, als wir ein rundes Bauwerk erreichten, das mehrere Etagen übereinander bot, die von gewaltigen Säulenreihen gestützt wurden. „Das ist die Arena“ ließ uns Sina wissen. „Dort finden jeden Tag ab der vierten Nachmittagsstunde Kämpfe statt. Duelle, Gruppenkämpfe, Kämpfe gegen Tiere, alles, was das Herz begehrt, in den unterschiedlichsten Bewaffnungen, Kriegerinnen inklusive, Getränke gratis. Außerdem kann man Wetten auf einzelne Kämpfe abschließen, kurz: es wird einem ordentlich was für sein Eintrittsgeld geboten.“ Raðvið pfiff durch die Zähne. „Alle Achtung, das nenne ich Kultur. Hätte ich den Spitzohren gar nicht zugetraut, daß sie soviel Interesse an Kampfveranstaltungen haben. Ich für meinen Teil hätte gern Lust, mal selber teilzunehmen.“

Auch Lukku gab kund, daß er kein Problem damit habe. Als dritter Mann unserer Gruppe musste ich natürlich auch – unwillig – meine Bereitschaft erklären. Wie stünde ich sonst vor Sina da? Kurz darauf standen wir im Ausbildungsbereich der Arena, wo uns ein Elf im Kettenhemd zurechtwies: „Was habt Ihr hier verloren? Der Zuschauerraum ist auf der anderen Seite.“ – „Wir sind nicht zum Zuschauen hier“ erläuterte Lukku, „sondern um mitzukämpfen. Man sagte uns, man solle sich hier melden.“ Die Miene des Elfen hellte sich auf. „Ah, Ihr sucht sicher Meister Egbald. Er leitet hier das Training für alle Kämpfer, auch die Anmeldungen für die Turniere unterliegen seinem Aufgabenbereich. Den findet Ihr drüben bei den Kampfplätzen.“ Dankend trotteten wir weiter, bis wir vor dem genannten Ausbilder standen, der uns interessiert musterte. „So, Ihr wollt also in der Arena kämpfen? Gut, aber ich will erst sehen, was ihr so alles drauf habt. Wir nehmen hier nicht jeden. Gorax!“ Ein Hüne in silbern schimmernder Plattenrüstung erhob sich, der für einen Elfen außerordentliche Muskeln zu haben schien, soweit man das erkennen konnte. „Zeig dem vorlauten Zwerg mal den Ausgang.“

Der Elfe ging in Stellung, seinen Streithammer mit beiden Händen erhoben. Raðvið schlug mit der Axt zu, doch der Hüne blockte ihn ab. Daraufhin schlug er seinerseits zu, doch der Zwerg tauchte geschickt unter dem Hieb weg. Erneut schlug der Elf zu, wieder daneben. Raðvið nutzte die Möglichkeit, einen Schlag anzubringen, der den Hünen aber lediglich ins Straucheln brachte. Den massiven Hammer über den Kopf hebend, setzte er zu einem neuen Schlag an, doch der quirlige Zwerg schlüpfte durch dessen Beine hindurch, sprang an ihm hoch, um ihm seine Axt vor den ungeschützten Hals zu halten.

„Sehr eindrucksvoll“ lobte Meister Egbald. „Wie lautet Euer Name?“

„Raðvið Schmiedefaust aus Silberheim in der Provinz Erzbergen des Zwergenimperiums. Meine Vorfahren stammten zum Teil aus Finsterwalden, zum anderen aus Irishain. Vielleicht kennt Ihr meinen Großvater mütterlicherseits namens Berwald, der war nämlich einst Festungskommandant in …“ – „Danke, das reicht schon. Alles klar, Raðvið, ich werde Euch in die Teilnahmeliste eintragen. Ihr werdet morgen zur dritten Stunde antreten gegen Theron, den Riesen. Gut, wer will als nächster?“ Lukku zückte seine Waffe, die ich nicht benennen konnte, weil ich nicht wusste, wie das Ding hieß. Es hatte eine ungewöhnliche Form, besaß zwei gebogene Klingen, die der Dunkelelf über einen in der Mitte angeordneten Griff herumschwang. Er hatte es mit einem Menschen zu tun, der einen Morgenstern einsetzte. Lukku verließ sich ganz auf seine Schnelligkeit, der er es auch verdankte, nicht von der stacheligen Kugel getroffen zu werden. Dafür gelang es ihm nach kurzem Zweikampf, dem Gegner seine Waffe zu entreißen. Waffenlos stand dieser nun da und Meister Egbald erklärte den Kampf für entschieden. „Gut, gut“ lobte er. „Technisch eine sehenswerte Meisterleistung. Wie heißt Ihr?“ – „Lukku Neuntöter.“ Dunkelelfen waren dafür bekannt, nur so wenige Angaben wie möglich zu machen. Zwerge hingegen pflegten gern ihre komplette Familiensaga zu erzählen. Daher rührte wohl auch folgender berühmt-berüchtigter Zwergenwitz: „Begegnen sich zwei Zwerge, sagt der eine: ,Ich grüße dich, ich bin Modsognir Hammerkopf aus dem Eichenhain in der Nähe von Eichenheim in der Provinz Goldingen, älterer Bruder von Dalix, Sohn des Rogosch und der Alija, Enkel von Thoralf, Ingrimm, Idunja und Freyjaslob.’ Erwidert der zweite: ‚Das freut mich, man nennt mich Wergal Eisenfaust.’ Meint der andere: ‚Das ist aber ein kurzer Name.’ Erklärt ihm der zweite: ‚Ich kenne meine Vorfahren nicht, weil man mich nach meiner Geburt ausgesetzt hat …’“

Egbald schrieb wie zuvor etwas auf eine Liste, vermutlich um Lukku zu vermerken. „Euer Kampf wird morgen zur vierten Stunde stattfinden. Bereitet Euch darauf vor, gegen einen Zwerg zu kämpfen. Dann zu guter letzt zu Euch, Mensch.“ Er winkte einen Diener herbei um ihn loszuschicken. „Das dauert nicht lange.“ Tatsächlich kam kurz darauf jemand zu uns. Mein Gegner oder besser gesagt – meine Gegnerin – war eine Elfin, deren Leib von einem eng ansitzenden Kettenhemd geschützt wurde. Lange Beinschienen verhüllten ihre schlanken Glieder. In beiden Händen trug sie Schwerter, was mich etwas verwunderte, denn dies war wahrlich ungewöhnlich. Ihr Anblick war durchaus in der Lage, mein Blut in Wallung zu bringen, was mich überraschte, nahm ich doch bis zu diesem Zeitpunkt an, daß mein Herz nur für Sina schlüge. Ihre feuerroten Haare verschwanden zum Großteil unter einem Eisenhelm, ließen aber das Gesicht frei. Sie hatte für eine Arenakämpferin zu feine Züge, ihre Augen schauten mich keck an. Sie war schön, sehr schön. „Bist du bereit?“ erkundigte sie sich, woraufhin ich nur kurz nickte. Sogleich schlug sie mit rechts zu, was ich mit dem Schild parierte, den ich mir von Raðvið geliehen hatte. Erneut schlug sie zu, was ich wie zuvor abwehrte, doch dann setzte sie zu einem Schlag mit der anderen Hand an, was mich in arge Bedrängnis brachte. Meine Chance sehend sprang ich nach vorn um ihre Deckung zu unterlaufen. Ich weiß nicht, wie sie es machte, aber mit einem Schwert wehrte sie meinen Schlag zur Seite ab, mit dem anderen hebelte sie mir die Waffe aus der Hand. Einen Moment blickte ich blöd drein, dann durchzuckte mich der Gedanke, verloren zu haben, als sie mich charmant anlächelte, während die Schneiden ihrer Schwerter von beiden Seiten an meinem Hals lagen. Sie hatte mir eine Falle gestellt und ich war prompt darauf hereingefallen! Sie steckte ihre Waffen ein und warf mir mein Kurzschwert zu, ehe sie sich umwandte.

„Verloren“ kommentierte Egbald. „Du kannst noch einen zweiten Kampf absolvieren, wenn du möchtest. Verlierst du abermals, bist du draußen.“

„Ich versuche es“ meinte ich. Wieder war mir das Glück nicht hold, denn ich verlor abermals. Meister Egbald fand tröstende Worte für mich, jeder sei nicht zum Kämpfer geboren et cetera. War mir im Endeffekt auch egal. Nach dem Verlassen des Trainingsbereichs klopfte mir Lukku auf die Schulter. „Gegen die Elfin hätte ich auch nicht gewonnen, weil deren ausgeprägte Reize hätten sogar mich als Dunkelelf abgelenkt. Aber wie du gegen den schwächlichen Zwerg hast verlieren können ist mir schleierhaft.“

Als nächstes schlenderten wir zum Hafen, wo etliche dicke Pötte vor Anker lagen, deren Ladung gerade gelöscht wurde. Elfion war der wichtigste Umschlagplatz für Waren aus dem Norden. Wo immer möglich setzte man im Fernverkehr Schiffe ein, da die Transportkosten zur See minimal waren. Neugierig gafften wir die Matrosen an, die sich ganze Pakete voller Ladung über die Schulter geschwungen hatten, um sie an Land zu bringen. Schwerere Güter wurden mit einem Kran auf das Pier gehievt. Es roch überall nach Fisch, was an den vielen Fischhändlern liegen musste, die hier ihren Fang aufgebarrt hatten. Rael verzog angewidert das Gesicht. „Ich mag keinen Fisch.“ Das konnte ich nicht nachfühlen, denn außer dem sehr intensiven Geruch war Fisch doch recht schmackhaft. „Seht mal, da“ wies Sina auf einen Gaukler, der auf einem Platz seine Faxen trieb. Mit großen, hölzernen Figuren jonglierend hoppste er wie ein Feldhase über den Platz und erzählte Witze. Gelegentlich sprach er vorübergehende Passanten an, sie in seine Schwänke einbindend doch niemals auf eine unanständige Art. Sehr unterhaltsam, der Kerl.

Da wir wegen den am nächsten Tag angesetzten Arenakämpfen die Stadt nicht all zu weit verlassen konnten, stromerten wir einfach in den Wäldern im Westen Elfions herum. Sina zeigte uns Pilze, die man essen konnte, aber auch solche, die man besser seinem liebsten Feind zum Fraß vorsetzen sollte. Als wir ein Reh nicht weit von uns durchs Unterholz schlüpfen sahen, lud Ralija ihre Armbrust. „Den schnapp ich mir. So ein kleiner Wildbraten ist doch wesentlich schmackhafter als der teure Fisch in der Stadt.“ Das Reh verfolgend verschwand sie im Dickicht, wir warteten um das Wild nicht zu verscheuchen. Nach kurzer Zeit kehrte Ralija lachend zurück. „Treffer! Könnte mir vielleicht einer der starken Herren beim Tragen der Beute behilflich sein? Oder wollt ihr lieber im Unterholz speisen?“ Wollten wir natürlich nicht, folglich folgten ihr Lukku und ich. Zu zweit hievten wir uns das Tier auf die Schultern um es zu einer freien Fläche zwischen etlichen Bäumen zu tragen. Hier waren dann wieder die Frauen gefragt, denn jetzt ging es darum, das Reh auszunehmen und zu braten. Raðvið und ich sammelten aus der Umgebung Steine zusammen, die wir kreisförmig anordneten. In der Mitte schichten wir Äste auf, ehe wir ein Feuer entzündeten, über das wir große Fleischstücke hängten. Dann ließen wir es uns schmecken. Dazu gab es Brot und diverse Kräuter, die Sina gesammelt hatte. Der Wildgeschmack dominierte freilich alles, aber wenn man ausreichend hungrig ist, dann freut man sich trotzdem, zumal das Fleisch äußerst zart war. Nach kurzer Zeit war die Gegend um uns herum mit abgenagten Knochen übersät. Obwohl wir zu sechst waren, konnten wir das viele Fleisch unmöglich aufessen. Daher packte Sina den Rest in gleich große Proviantrationen zusammen, die jeder selbst tragen sollte. Dann mussten wir uns eh sputen, zurück in die Stadt zu kommen, da die Helligkeit des Tages bereits spürbar abnahm. Im Halbdunkel erreichten wir das Westtor, wo wir von der uns unbekannten Torwache nicht behelligt wurden, da wir die Plakette herzeigten, die wir bei unserer Anreise erhalten hatten. „Wo übernachten wir heute?“ fragte Ralija. „Wieder in der gleichen Absteige wie gestern?“ – „Wir können ja zur Abwechslung woanders hingehen“ schlug Sina vor. „Aber mehr Qualität zum gleichen Preis werden wir hier schwerlich finden. Dazu ist das Preisniveau einfach zu hoch.“ Die Elfin brummte Unverständliches. Schließlich kehrten wir in einer anderen Herberge in der Nähe des Westtors ein, die auch einen Schankraum enthielt, was nicht nur unseren trinkfreudigen Zwerg beschwingte. Bei einem Krug Met endete unser zweiter Tag in Elfion.

 

*

 

Raðvið trat als erster in die Arena. Er streckte seine Axt in die Höhe und johlte vor Vergnügen. Da konnte wohl einer den Beginn des Schlachtspektakels kaum noch erwarten. Die Zuschauer, unter denen sich auch Sina, Ralija, Rael sowie meine Wenigkeit befanden, spendeten ihm lauthals Beifall. Soeben trat Raðviðs Gegner in das Rund der Arena. Ein Riese, wie man ihn selten zuvor erblickt hatte. Zwar steckte sein Leib nur in einer leichten Ledertunika, aber sein Offensivpotential in Form einer stachelbewehrten Keule war furchteinflößend. Ein Treffer des massiven Schlägers würde wohl mehr Schaden anrichten als nur ein zerbeultes Rüstungsteil. Mit wildem Brüllen präsentierte sich der Riese dem frenetisch jubelnden Publikum. Sein wild wachsender Bart machte aus ihm ganz den Barbaren, den alle in ihm sehen wollten. Einmal drehte er sich schwerfällig um die eigene Achse, damit ihn auch ja alle Zuschauer sehen konnten, dann begann der Kampf. Sich seiner Stärke bewußt ging Theron, so hieß der Riese nämlich, zum Angriff über. Mit ungezielten Schwingern scheuchte er Raðvið vor sich her, dessen geringe Körpergröße ihm das Ausweichen leichter machte. Flink wie ein Wiesel hüpfte er um seinen Gegner herum, der allmählich die Geduld verlor. Kaum noch auf seine Deckung achtend schlug er nun mit der Keule auf den Boden, dorthin wo er den Zwerg wähnte. Doch stets war er zu langsam. Schließlich gelang es Raðvið durch die gespreizten Beine des Riesen hindurchzutauchen. Er schlug ihm mit dem stumpfen Axtstiel dorthin, wo es auch für Riesen besonders schmerzhaft ist. Schreiend ging der Titan in die Knie, mit verzerrtem Gesicht seine Weichteile haltend. Das Publikum jubelte, vor Begeisterung den Namen des heldenhaften Zwergs rufend. Doch noch war der Kampf nicht zu Ende. Der Riese kam langsam wieder auf die Beine, sich mit zorniger Miene nach seinem Widersacher umsehend. Bereits der nächste Keulenschwinger lädierte dessen Schild, obgleich die Funktionstüchtikeit dadurch unwesentlich litt. Bei einem weiteren Schlag beugte sich Theron zu weit nach vorn, was Raðvið nutzen konnte, um ihm seinen eingedellten Schild gegen die Nase zu knallen. Taumelnd wankte der Riese nach hinten, sich schüttelnd. Schon war sein Gegner erneut heran. Er trat ihm in die Kniekehlen, schmetterte ihm den Axtstiel ins Kreuz und noch im Fallen bekam Theron den Schild über den Schädel, der ihn am Boden langstreckte. Raðvið triumphierte, denn er hatte gewonnen, der Riese blieb noch eine Weile ohne Bewußtsein und wurde erst wieder wach, als ihm einige Arenabedienstete mit einem Eimer Wasser wiederbelebten. Während sich Raðvið in der Kabine erholte, fanden andere Duelle statt. Ein Elf mit Speer unterlag einem Troll mit Streithammer, ein Mensch mit Schwert und Schild siegte gegen einen Elfen mit Hellebarde. Lukkus Kampf zu schildern brächte wenig ein, denn er machte nicht viel Federlesen mit dem Menschen in Plattenrüstung, der viel zu langsam für die flinken Bewegungen des Dunkelelfen war. Die zweite Runde des Turniers begann – 16 Kämpfer befanden sich noch im Rennen. Raðvið siegte nach einem spannenden Kampf gegen einen Landsmann, Lukku widerum hatte mit einer Elfin keine Probleme. In der dritten Runde stach besonders eine Elfin hervor, die mit einer Stangenwaffe brillierte. Leider schied Raðvið aus, da er das Pech hatte, ausgerechnet gegen Lukku antreten zu müssen, der dem Zwerg aus gutem Grund keine Chance ließ, seine kräftigen Axthiebe an den Mann zu bringen, sondern ihn mit seiner Wendigkeit überraschte.

Nur noch drei Krieger blieben außer Lukku übrig. Ein Riese, ein Elf und die Elfin, die mir in Runde 2 so aufgefallen war. Lukku besiegte mit viel Glück den Riesen, die Elfin ihren Artgenossen. Das bedeutete, Lukku hatte es ins Finale geschafft. Spannung lag in der Luft. Wer würde wohl triumphieren? Ehe diese Frage gelöst wurde, erhielten beide eine längere Pause zugewilligt. Posaunen ertönten, es war soweit: der Turniersieger würde in Bälde feststehen, der neben einer goldenen Axt auch ein größeres Preisgeld bekommen würde. Das könnte unsere Reisekasse gehörig aufstocken. Doch diese Gegnerin bewies bereits beim ersten Aufeinandertreffen der Waffen, wieso sie so weit gekommen war. Mit eleganten Bewegungen wich sie Lukkus Hieben aus, um seine Vorstöße für eigene Gegenangriffe zu nutzen. Die Lanze mit Spitzen an beiden Enden wirbelte sie wie einen Kampfstab durch die Luft, so daß man kaum die beiden Enden erkennen konnte. Lukku schien das Schwierigkeiten zu bereiten, ein Übriges tat die unangenehme Reichweite der langen Waffe. Hartes Eichenholz traf auf Stahl – und hielt. Lukku befreite sich aus der verhängnisvollen Situation. Zwar war er darauf angewiesen, die Kampfdistanz zu verringen, aber auf kürzeste Distanz hatte er nur Nachteile gegen die flinke Elfin, die sich bisher aus jedem Umklammerungsversuch befreit hatte. Stattdessen hatte sie Lukku auf den Boden geworfen oder anderweitig in die Bredouille gebracht. Zwar konnte sich Lukku stets durch Rollen oder Sprünge aus dem Gefahrenbereich herauswinden und damit eine womögliche Niederlage verhindern, doch bedeutete eine Abwehr der Niederlage lediglich einen zeitlichen Aufschub. Tatsächlich verlor Lukku wenig später, als er nach einem angetäuschten Seitwärtssprung versuchte, den Speer seiner Gegnerin zu unterlaufen um sie zu Boden zu drücken. Die Elfin ahnte wohl diese Taktik und donnerte Lukku den Schaft ihrer Waffe gegen die Stirn. Der Dunkelelf wankte, ein seitlicher Schlag gegen sein Bein ließ ihn einknicken und die hinter ihn tretende Elfin, die seinen Hals umgriff, ließ keine Zweifel aufkommen, wer den Kampf für sich entschieden hatte.

Trotz der finalen Niederlage stand Lukku hoch in der Gunst der Zuschauer, die seine fleißigen Bemühungen zu schätzen wussten. Als wir ihn später draußen vor der Arena wiedertrafen, klopfte ihm Ralija anerkennend auf die Schulter. „Gute Kämpfe hast du uns da gezeigt.“ Raðvið brummte, daß er an seiner Stelle die Elfin locker besiegt hätte. Hätte, wäre, täte – das waren rein hypothetische Vermutungen. Meines Erachtens wäre er genauso unterlegen gewesen, womit ich aber ebenso wenig Probleme hatte. Am Ende warb man sonst noch einen unserer Gruppe als Gladiator ab. Doch Lukku hatte uns bereits vorher versichert, daß er nicht plante, sein verbleibendes Leben in der Arena zu verbringen. Ihm behagte das freie Leben des Abenteurers wesentlich besser. Da das Turnier bis in den späten Nachmittag hinein gedauert hatte, stöberten wir bloß noch ein wenig in der östlichen Stadthälfte herum, wo wir bislang noch nicht gewesen waren. Hier gab es eine Reihe von Fabriken, wo diverse Güter hergestellt wurden. Darunter das im ganzen Reich beliebte Elfioner, eine spezielle Biersorte mit eigenwilligem Nachgeschmack. Wir genehmigten uns eine Runde in einer Schankkneipe, was Raðvið zu der Aussage verleitete, daß ihm der „gute alte Met“ immer noch am besten schmecke. Dem konnte ich nichts hinzufügen.

Nichtsahnend tranken wir den Honigwein, als plötzlich ein kleinwüchsiger Elf mit dicker Wampe an unseren Tisch herantrat. „Ich habe Euren Kampf in der Arena gesehen“ richtete er seine Worte direkt an Lukku, der die Brauen runzelte. „Für mich wart Ihr der eindeutige Gewinner des Turniers.“ – „Das freut mich zu hören.“ Der Dicke schien noch etwas auf dem Herzen zu haben. „Dürfte ich mich vielleicht zu Euch und Euren werten Freunden setzen?“ Wir gestatteten es ihm. „Es ist so, ich bin Kaufmann und handle mit sehr teuren Stoffen. Einer meiner Konkurrenten will mich aus dem Geschäft drängen und ich habe eine wichtige Warenlieferung nach Ulrag zu versenden.“ Erwartungsvoll schaute er in unsere Runde, doch niemand unterbrach ihn, so daß er sich gezwungen sah, weiterzusprechen. „Mir liegt an der Lieferung sehr viel, denn die Stoffe sind von edelster Qualität und müssen unbedingt rechtzeitig zum Dains-Tempel transportiert werden, damit die Kleider für die jährliche Prozession fertig werden. Bei Eurer Geschicklichkeit in der Kampfkunst wäre die Ladung sicher wie in Dains Schoß.[1] Kann ich mit Euch als Eskorte rechnen?“

„Wie weit ist es denn bis Ulrag?“ fragte ich.

„Zu Pferd kann man es in einem Tag schaffen, mit dem Wagen sind es drei. Ich würde Euch selbstverfreilich nach Tagen bezahlen plus einer Prämie, wenn die Ladung sicher ankommt.“

„Das hört sich interessant an“ bewertete Rael. „Welche Risiken birgt die Geschichte denn?“

„Nun gut, also, das ist so ...“ stotterte der Kaufmann. „Wie ich bereits erwähnte, befinde ich mich im inoffiziellen Handelskrieg mit einem anderen Stoffabrikanten. Durch einen mir ergebenen Informanten konnte ich in Erfahrung bringen, daß geplant ist, die Lieferung abzufangen. Dadurch würde ich den Auftrag des Daintempels verlieren, den ich schon seit über zehn Jahren innehabe, ganz abgesehen vom enormen Warenwert der Stoffe. Finanziell wäre das ein äußerst unangenehmer Rückschlag für mich.“

„Ich verstehe“ nickte ich. „Wann soll die Lieferung denn abgehen?“

„So bald wie möglich. Die Stoffe liegen in meinem Lagerhaus bereit und sind jederzeit verladbar.“ – „Gut, dann schlage ich vor, wir nehmen uns der Sache gleich morgen an.“

„Sofern wir uns mit der Bezahlung einig werden“ schaltete sich Raðvið ein, der offenbar befürchtete, einen ehrenamtlichen Dienst tun zu müssen. „Für lau rühre ich nämlich keinen Finger.“

Jetzt kam Leben in den Elfenhändler. „Oh, Ihr werdet zufrieden sein, das verspreche ich Euch. Pro angefangenem Tag zahle ich jedem von Euch zweihundert Kreuzer und als Bonus eine Kollektivzahlung von 5000. Na? Was sagt Ihr dazu?“

„Sehr großzügig“ rechnete Sina nach. „Ich frage mich, wie groß dann wohl der Wert der Ladung sein muss, wenn Ihr soviel zu zahlen bereit seid für einen einfachen Transport.“

„Zwei Wägen mit jeweils vier mal drei Ballen, pro Ballen zwei mal zwei Lagen je zehn Stück – da läppert sich was zusammen bei einem Marktpreis von knapp hundertachtzig Kreuzern.“

„Leck mich am Arsch!“ konnte sich Lukku nicht beherrschen. Bei den Dunkelelfen hieß das soviel wie „Das vermag ich kaum zu glauben“, was man aber nur an der anderen Betonung von der identischen Beleidigung unterscheiden konnte. Rael schien diesen feinen Unterschied nicht zu kennen, denn sie blickte etwas verwundert drein. Wir wurden mit dem Kaufmann handelseinig und ließen uns noch den Weg zu seinem Lagerhaus beschreiben. Mir kam in den Sinn, daß wir bei unserer Nachmittagstour unter Garantie daran vorbeigekommen waren, aber eine bildliche Vorstellung des Gebäudes vermochte ich mir nicht mehr zu machen. Jedenfalls würden wir hinfinden, nur darauf kam es jetzt an.

 

*

 

Zeitig standen wir auf, denn ich gedachte nicht durch Zeitvertrödeln den versprochenen Tageslohn in die Höhe zu treiben. Unlautere Gemüter hätten das wohl in Betracht gezogen, aber mir widerstrebte derartiges. Eine Frage der Ehre, denn der Kaufmann hatte uns sein Vertrauen gezeigt und einen großzügigen Lohn versprochen, was ich nicht ausnutzen wollte. Am Lagerhaus angekommen, das wir rasch gefunden hatten, hieß uns der Kaufmann persönlich willkommen. Die geschlossenen Wägen wurden sogleich beladen und schon ging die Reise los. Jeder Wagen wurde von zwei Pferden gezogen, die jung und kräftig waren.

Raðvið, Sina und ich setzten uns auf den ersten, Ralija, Rael und Lukku übernahmen den anderen. Es kostete mich mehr Nerven als erwartet, das Gespann durch die engen Gassen zu manövrieren, bis wir die Stadt endlich hinter uns zurückgelassen hatten. Ab hier ging alles einfacher. Die Straße war breit genug um problemlos zwei Fuhrwerke aneinander vorbeizulassen. Dafür mussten wir jetzt auch besser aufpassen, da ich die Warnung unseres Auftraggebers ernstnahm, der es als sicher erachtete, daß wir überfallen werden würden. Die Abfahrt zweier so sperriger Wägen konnte man schwerlich vertuschen. Falls also irgendwo ein Spion auf der Lauer gelegen hatte, war es ihm auch gelungen, uns zu beobachten. Selbst mit einem mittelmäßigen Gaul konnte er uns ungesehen überholen um Vorkehrungen zu treffen – sofern nicht schon ein Empfangskomitee irgendwo entlang der Straße in Bereitschaft lag. Die anderen mahnte ich daher nachdrücklich, die Wegesränder zu observieren.

In der Mitte auf dem Kutschbock sitzend nahm ich die Zügel des Gefährts in die Hand, links neben mir saß Raðvið, zu meiner Rechten Sina, die ihren Kopf an meine Schulter legte. So schnell das behäbige Fahrzeug es zuließ preschten wir dahin, ich beauftragte Raðvið, sich gelegentlich nach dem anderen Wagen umzusehen, nur um sicherzustellen, daß sie unser Tempo halten konnten und nicht etwa den Anschluß verloren. Sina schien noch ziemlich müde zu sein, denn sie nickte mehrmals an meiner Schulter ein. Vermutlich ermüdete sie die ungewohnte Reiseart, denn Elfen gehen meistens zu Fuß oder fahren per Schiff. Zwar gibt es beim Militär eine spezielle Reiterdivision, aber der Mehrzahl der Spitzohren ist es auf einem hohen Pferderücken eher unangenehm. Sie bevorzugen den Kontakt mit dem Erdboden, lieben es, durch das Unterholz zu kriechen, mit geschmeidigen Bewegungen durch die Wälder zu schleichen. Das ist ihre wahre Bestimmung.

Beim Fahren durch ein Schlagloch fiel Raðvið beinahe vom Wagen, was ihn zum Fluchen über die Straßenqualität der Elfen brachte. Dabei gehörten diese zu den besten Midgards. Vielleicht liegt darin die alte Rivalität zwischen Zwergen und Elfen begraben, denn erstere verwinden es normalerweise nicht, daß letztere, die sie meist als arrogant und überheblich empfinden, in etlichen Gebieten bessere Arbeit leisten als sie selbst. Als Unbeteiligter konnte ich darüber nur grinsen, ernstnehmen vermochte ich es nicht. Mir waren beide Kulturen ehrlich ans Herz gewachsen und es freute mich, daß die betreffenden Herrscher ebenso voneinander dachten, denn es herrschte schon seit langer Zeit Frieden zwischen den Reichen.

Was ich anfangs gar nicht bemerkt hatte, stellte sich am Nachmittag – als wir eine Pause machten, um die Pferde zu tränken – um so gravierender dar: das lange Sitzen auf dem Holzbock war nicht gerade angenehm für den Hintern. Auch Sina klagte über die Misshandlung ihrer Rundungen. Wir vertraten uns daher etwas die Beine, während die Pferde Wasser soffen. Bevor es weiterging, legte ich eine Decke unter, zur Schonung meiner Kehrseite. Raðvið murmelte etwas von Verweichlichung, änderte aber kurz darauf von allein das Thema. Er faselte etwas von einem Zwergenhelden, der anno dazumal vor viertausend Jahren große Abenteuer vollbracht hatte. Mein Interesse hielt sich in Grenzen, denn ich musste mich auf die Straße konzentrieren. Dafür plauderte Sina angeregt mit. Da die beiden reichlich abgelenkt waren, hielt ich ein Auge offen, damit wir nicht in einen Hinterhalt gerieten. Doch den ganzen Tag über passierte gar nichts. Gegen Abend steuerte ich den Wagen auf eine Wiese neben der Straße. „Was wird das jetzt?“ wunderte sich Sina.

„Wir schlagen hier unser Lager auf“ klärte ich sie über meine Absicht auf. „Wir können es uns nicht erlauben, die Nacht in einer Herberge zu verbringen, da wir auf die Fracht achtgeben müssen. Der Platz hier scheint mir geeignet zu sein, also bleiben wir da.“

Rael, Ralija und Lukku hinter uns hatten vermutlich geahnt, was ich vorhatte, denn sie folgten uns auf die Wiese und stellten sich direkt daneben, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt, gerade hier zu übernachten. „Sollen wir zwei Lagerfeuer machen?“ wollte Lukku wissen. „Auf jeder Seite der Wägen?“

„Das wäre eine Idee“ pflichtete ihm Rael bei. „Dadurch sind die Stoffe in der Mitte und es kann sich dann praktisch niemand im Schutz der Dunkelheit heranschleichen, ohne daß wir es bemerken.“ Genau so machten wir es dann auch. Wir einigten uns auf die Wacheinteilung, für die wir pro Feuer eine Wache einteilten. Jeder konnte vier Stunden schlafen, dann folgte die Ablösung. Da ich beim Losen der ersten Schicht zugeteilt worden war, konnte ich wenigstens am Stück durchschlafen. Besonderes hatte ich während meiner Wache nicht bemerkt. Irgendwo in der Ferne heulte eine Eule ihr unheimliches „huhu“, einmal jaulte ein Fuchs ganz in der Nähe, aber das war auch schon alles Berichtenswerte. Als mich Lukku am Morgen aufweckte, gähnte ich ungeniert. Nur mühsam rappelte ich mich auf, doch meine Stimmung verbesserte sich schlagartig, als ich Sina sah, die ihre durch die Kälte der Nacht steif gewordenen Glieder warmrubbelte. „War es dir zu kühl heute Nacht?“

„Schon ein bisschen“ gab sie zu. „Wenn man am Feuer liegt, wird halt nur eine Seite warm. Besonders gut schlafen konnte ich auch nicht, weil ich ständig damit rechnete, daß wir überfallen werden.“ Sie streckte sich, wobei sich ihre Oberweite deutlich vom Lederwams abhob, was ausgesprochen ästethisch wirkte. Das sagte ich ihr natürlich nicht, denn sonst dachte sie womöglich falsch von mir. Stattdessen zwinkerte ich ihr vielsagend zu, was sie mit einem Lächeln erwiderte. Die anderen waren mittlerweile ebenfalls von ihrem Nachtlager aufgestanden. Unser mageres Frühstück bestand in über einem der wieder entfachten Lagerfeuer gebratenen Fleischstücken vom Vortag.

Es war noch kaum richtig hell, als wir die Fahrt fortsetzten. Die Pferde waren nach der langen Ruhephase in guter Verfassung, was sich in der Geschwindigkeit bemerkbar machte. Wir kamen relativ gut voran, sofern man von einer längeren Strecke absieht, die durch akute Eisschäden aus dem vergangenen Winter holprig war. Verdächtige Personen begegneten wir keinen, sofern man von einigen Bettlern absieht, die sich am Wegesrand zusammengerottet hatten. Zuerst witterte ich eine Falle, doch als ich prompt anhielt und meinen Gefährten das Kommando zum Ausschwärmen mit gezogenen Waffen gab, blickten die armen Kerle ziemlich verwundert drein. Einer fragte uns, welches Einhorn uns über die Leber gelaufen sei.[2] Nachdem ich mich vergewissern konnte, daß die Bettler unter ihren zerlöcherten Mänteln weder Waffen trugen noch sonst den Eindruck machten, uns überfallen zu wollen, kehrten wir unverrichteter Dinge zu den Wägen zurück. „Das war ja ein schöner Reinfall“ grummelte Raðvið. „Die werden sich sonst was über uns denken. Wir haben uns blamiert wie Schulkinder, die den Namen der Hauptstadt nicht kennen.“ – „Besser Vorsicht als Nachsicht“ äußerte sich Sina philosophisch.

Gegen Mittag kehrten wir in einem Gasthaus ein, das wir am Wegesrand entdeckt hatten. Dabei musste Lukku auf die kulinarische Stärkung verzichten, denn mir hätte das Essen sicherlich wenig geschmeckt ohne einen Wächter bei der Ware. Wer war dafür besser geeignet als der düster wirkende Dunkelelf? Rein optisch überlegte es sich da doch jeder Gelegenheitsdieb anders, der vorüberkam. Mit vollem Wanst schwangen wir uns erneut auf den Bock. Unserem armen Kameraden brachten wir freilich etwas mit, das dieser während der Fahrt verspeisen konnte. Der restliche Tagesverlauf gestaltete sich als äußerst langweilig. Die Straße schlängelte sich schier endlos durch hügeliges, von kleineren Waldstücken bedecktes Gelände, ab und an durchquerten wir kleinere Dörfer, in denen es kaum mehr als ein paar Dutzend Gebäude gab. Zwischenfälle gab es keine, was mich langsam wirklich zermürbte, denn ich rechnete allmählich wirklich mit einem ersten ernsthaften Versuch der Gegenseite, uns aufzuhalten. Doch so sehr ich mich auch bemühte, die Augen offenzuhalten und den anderen Aufmerksamkeit einschärfte, es geschah an diesem Tage nichts. Erneut schlugen wir unser Lager neben der Straße auf, teilten die Wachen ein, wohingegen die Übrigen sich am Feuer ihr Lager bereiteten. Diesmal hatte mir das Los die zweite Wache zugeteilt, Sina die letzte. Dadurch kamen wir in den Genuß, die erste Schicht nebeneinanderliegend verbringen zu können. Wir nutzten dies, um eng aneinandergeschmiegt zu kuscheln. Ihre Lippen küssten meine Hand, ich liebkoste ihren Nacken, dabei auch die herrlichen Ohren nicht aussparend. An Schlaf vermochte ich so zwar nicht zu denken, aber man musste manchmal Prioritäten setzen. Ihre Haut duftete nach Schweiß, da wir wieder keine Möglichkeit zu einem Bad gefunden hatten. Doch der intensive Geruch erregte mich. Tief sog ich den Duft in meine Nase ein. „Du machst mich ganz wild“ flüsterte ich in ihr Ohr.

Sina knabberte an meinem Ohrläppchen, entzog sich aber meiner fordender werdenden Umklammerung. „Wir sollten an unsere Aufgabe denken und jetzt versuchen einzuschlafen. Wenn einer von uns später auf Wache unaufmerksam wäre, könnte das gravierende Folgen haben.“ Damit hatte sie natürlich Recht und in dem Moment bewunderte ich ihre Kaltblütigkeit. Wir entfernten uns körperlich etwas voneinander, damit wir uns ganz der Nachtruhe hingeben konnten. Als mich irgend jemand aus einem schönen, wie in Watte getauchten Traum in die brutale Wirklickeit riss, war ich zuerst einmal reichlich enttäuscht. Halbdunkel umgab mich, die Kühle der Nacht ging mir bis auf die Haut, das feixende Gesicht Raels sorgte bei mir auch nicht gerade für positive Gefühle. Während sich Rael langstreckte, übernahm ich meine Wache, die mit vielem Gähnen zu Ende ging, ohne daß sich etwas ereignet hatte. „Ablösung“ rüttelte ich Sina an der Schulter, die leichter auf die Füße kam als ich vorher. Kunststück.

 

Der Wagen rollte in immergleichem Trott, holperte über die wenigen Unebenheiten, was Raðvið inzwischen nicht mehr kommentierte. Er schien sich daran gewöhnt zu haben. Dafür war Sina um so gesprächiger. Sie entfachte immer wieder interessante Diskussionen, die uns von den eintönigen Passagen der Fahrt ablenkten. Freilich hatte unsere Vorsicht trotzdem keinen Deut nachgelassen. Schließlich signalisierte mir mein Gefahreninstinkt, das etwas nicht stimmte, als ich beim Durchfahren eines kleinen Waldes einen Baumstamm quer über die Straße liegend entdeckte. Sofort brachte ich die Pferde zum Stehen. „Hinterhalt!“ brüllte ich aus Leibeskräften, während Raðvið und Sina bereits seitlich vom Wagen sprangen. Etwas surrte in dem Moment heran, als ich mich nach rechts fallen ließ. Mit einer Seitwärtsrolle fing ich den Schwung ab, Sina kauerte neben mir am Boden. Ein Pfeil schlug knapp neben meinem Kopf ins Holz des Wagens. Sofort warf ich mich in Deckung, eine kleine Bodensenke neben der Fahrbahn. Sina war hinter den Wagen gesprungen um von dort aus den ersten Pfeil in das Gebüsch abzufeuern, aus dem wir mutmaßlich beschossen worden waren. Ralija eilte ihr zu Hilfe, Lukku tauchte links im Dickicht unter, Rael tastete sich an mich heran. Nachdem der Feuerüberfall fehlgeschlagen war, versuchte es der Feind mit einem Handgemenge. Aus den Büschen brachen etliche Nahkämpfer heraus. Einer mit Axt schlug mit brachialer Kraft auf mich ein. Mit großer Mühe parierte ich mit dem Kurzschwert, was mich in die Defensive zwang. Aus den Augenwinkeln heraus gewahrte ich, wie Raðvið seinen Gegner besiegt hatte sowie Sina einen Pfeil ins Ziel brachte. Soeben stolperte ich über eine ausladende Wurzel, wobei ich mich nur mit der linken Hand abstützen konnte, denn die rechte hielt ja das Schwert. Auf dem Rücken liegend erwartete ich das Ende – mein Gegner setzte bereits an, mir den Schädel zu spalten. Doch noch hatte ich das Schwert in der Hand, jetzt oder nie – mangels Alternativen warf ich die Waffe auf meinen Widersacher. Normalerweise würde kein Kämpfer freiwillig seine einzige Waffe werfen, doch in dieser Situation war das die einzig logische Handlung. Röchelnd wankte der Axtmann zur Seite, mein Schwert hatte ihn genau in die Brust getroffen. Schnaufend erhob ich mich, meine linke Hand untersuchend, die durch den Sturz leicht in Mitleidenschaft geraten war. „Bist du in Ordnung?“ erkundigte sich Sina besorgt. „Es geht schon. Hat einer von den Burschen wenigstens überlebt?“

Natürlich hatten wir kein solches Glück, denn dann hätten wir eine Möglichkeit gehabt, herauszufinden, wer der Auftraggeber der ganzen Aktion war.

Der übrige Tag verlief Thor sei Dank ohne weitere Zwischenfälle. Trotzdem war ich sehr erleichtert, als endlich die Stadtmauern von Ulrag vor uns auftauchten, die zwar bei weitem niedriger waren als diejenigen von Elfion, dasselbe traf für die Zahl der Türme zu, doch das Gefühl der Sicherheit, das uns umgab, erschien mir dennoch unvergleichlich. Das Areal des Tempels zu Ehren Dains war schnell gefunden, wo Rael mit ihrem Stab an das massive Eichenportal hämmerte. Es dauerte nicht lange bis ein Elf gewandet in eine grüne Robe aufmachte. „Was wünscht Ihr?“ fragte er mit einem arroganten Naserümpfen, als seien wir lästige Bittsteller.

„Wir kommen im Auftrag des Kaufmanns Elron aus Elfion. Wir haben die Stoffe für die Prozession mitgebracht.“ – „Oh! Welch freudiges Ereignis! Kommt herein und ruht Euch aus, meine Brüder laden derweil die Fracht aus.“ Wir erholten uns bei einem Krug Wein, langten kräftig zu, als man uns Fleisch- und Brotzeitplatten reichte. Ein Nachtquartier bot man uns ebenfalls an, das wir dankend annahmen mit dem Hinweis, daß wir anderntags früh aufzubrechen gedachten, um die Rückreise anzutreten. Gewichtsmäßig natürlich um einiges leichter, auch wenn Textilien an und für sich nicht besonders schwer sind, aber kleine Trolle machen auch Mist.[3] Die Nacht in den kleinen Tempeldienerzellen verlief durchaus angenehm. Weich, warm, komfortabel, allerdings etwas stickig im Vergleich zu unseren Freilufterfahrungen der letzten Nächte. Dafür reduzierte sich das Risiko, überfallen zu werden auf ein absolutes Minimum. Aber primär lag es wohl an Sinas Nähe, die mir diese Nacht versüßte, denn sie teilte das Lager mit mir.

 

*

 

Die Rückreise gestaltete sich ohne Verzögerungen. Wir konnten jetzt auch in öffentlichen Herbergen übernachten, denn die zu bewachende Fracht gab es nun ja nicht mehr. Die Wägen und die Pferde würde wohl keiner stehlen, zumal sie in der zur Herberge dazugehörenden Stallanlage sicher untergebracht waren. Eines Abends geschah aber doch etwas Ungewöhnliches. Sina und ich kehrten gerade in unsere Schlafkammer zurück, als ich auf dem Bett jemanden sitzen sah. Sofort zog ich mein Schwert, um es auf den Eindringling zu richten. „Wer bist du denn?“ entfuhr es mir. Der Mann blieb unbeeindruckt sitzen, drehte den Kopf herum, was mir aber nicht half mehr von ihm zu sehen, denn er hatte seine Kapuze bis tief ins Gesicht gezogen. Mein Instinkt sagte mir, daß er nicht gekommen war, um uns zu töten. Er machte dennoch einen düsteren Eindruck auf mich, was sich noch verstärkte, als er langsam zu sprechen begann. „Keine Sorge, Euch droht keine Gefahr von mir. Ganz im Gegenteil. Ich habe Euch unter Umständen ein Angebot zu machen, daß Euch interessieren könnte.“ Eine Pause entstand und mir war so, als lächle der Fremde. Sicher konnte ich nicht sein, da ein Schatten auf seinen Zügen lag. „Ihr macht mir ganz den Eindruck, als wäret Ihr darauf aus, schnelles Geld zu verdienen. Liege ich da richtig?“ Mein Atem ging schneller, als ich zu einer passenden Antwort ansetzte. „Nun, das kommt darauf, womit man es sich verdienen kann. Gegen Gold hat schließlich niemand etwas einzuwenden, oder?“ Erneut hatte ich den Eindruck, als lächle der andere. „Es gibt jemanden, dem die Beseitigung einer unliebsamen Person viel Gold wert wäre. Ihr würdet dafür sage und schreibe 10.000 Kreuzer erhalten.“

Sina pfiff durch die Zähne. „Das ist eine gute Bezahlung für einen – Mord.“

Der Vermummte hob die Hand. „Mord ist ein hartes Wort. Jeder muss irgendwann sterben. Kommt es da darauf an, ob er etwas früher oder später den Löffel abgibt? Zehntausend Kreuzer sind eine stolze Summe – dafür lassen sich alle etwaig vorliegenden, moralischen Skrupel vergessen …“ Aus reiner Neugierde hakte ich nach in Bezug auf die Frage, um wen es sich denn handelte. Die Antwort ernüchterte mich – sie war so abstrakt gehalten, daß die Beschreibung auf jeden zweiten Einwohner Elfions gepasst hätte. Entschieden lehnte ich es ab, etwas damit zu tun zu bekommen. „Zu schade“ stand der Fremde auf. „Dabei war ich mir sicher, daß Ihr Interesse hättet. Immerhin war einer von euch mal Mitglied unserer Organisation.“ Irritiert schaute ich kurz zu Sina. „Ich verstehe nicht ganz. Was deutet Ihr da an?“ Geheimnisvoll lächelnd wandte sich der Fremde zum Gehen. „Ach, nichts. Nun denn, dann muss ich Euch jetzt wohl alleinlassen.“ Er schritt an mir vorbei und schloß die Tür hinter sich. Erst jetzt steckte ich mein Kurzschwert wieder ein. „Das war heftig“ meinte Sina, die erleichtert aufatmete. „Weißt du, wer das war?“ – „Keine Ahnung.“ – „Ein Abgesandter der Attentäterbruderschaft. Die arbeiten im gesamten Elfenreich im Untergrund, erledigen Mordaufträge und kassieren dafür enorme Geldsummen.“ Sie verriegelte die Tür, ehe sie sich zum Bett begab. Die Worte des Mannes gingen mir nochmal durch den Kopf. Einer von uns sei bereits Mitglied seiner Bruderschaft gewesen … was hatte das zu bedeuten?

 

Nach drei Tagen erreichten wir Elfion, wo uns unser Auftraggeber herzlich willkommen hieß. Er zahlte den versprochenen Lohn aus seiner Geschäftskasse, denn die Zahlungsanweisung für den Haupttempel zu Elfion, den uns der Abt des Ulrager Tempels mitgegeben hatte, war noch nicht eingelöst worden. In blumigen Worten lobte der Kaufmann unsere Entschloßenheit, die Fuhre gegen die Strauchdiebe zu verteidigen. Dann verfinsterte sich seine Miene. „Der erfolglose Versuch meines Konkurrenten, meine Seidenlieferung abzufangen, scheint ihn dazu bewogen zu haben, noch drastischere Mittel zu ergreifen. Er soll angeblich einen Attentäter angeheuert haben, mit dem Auftrag, mich zu töten.“ Nachdenklich kratzte ich mich am Kinn. „Deshalb hat man wohl sogar versucht uns anzuwerben. Die scheinen aber schnell einen Ersatz gefunden zu haben.“

„Hättet Ihr nicht Lust, für mich als Leibwachen zu arbeiten? Zumindest solange die Bedrohung für mein Leben akut ist.“ Er rieb sich mit dem Zeigefinger die Nase. „Wenn es Euch gar gelänge, den oder die Attentäter gefangenzunehmen, dann hätten wir die Möglichkeit, meinen Konkurrenten des Auftragsmordes zu überführen und ich wäre alle meine Sorgen mit einem Schlag los. Dafür würde ich Euch natürlich fürstlich entlohnen.“ Raðviðs Augen leuchteten, denn Zwerge können bekanntlich nicht genügend Gold besitzen, das es zu horten gilt. Frühe Kapitalisten sozusagen. Oder extreme Sammler. Wir beratschlagten uns kurz, denn eigentlich hatten wir vorgehabt, weiter durch die Gegend zu ziehen. Schließlich kamen wir überein zu tun, worum man uns ersucht hatte. Als ich dem Kaufmann unseren Entschluß übermittelte, fiel ihm ein Stein vom Herzen. „Jetzt kann mir nichts mehr passieren, denn ich bin mir sicher, daß Ihr den Attentäter unschädlich machen werdet, ehe er auch nur in meine Nähe kommt.“ – „Seid Euch da mal nicht zu sicher“ bremste ich ihn. „Wir tun unser Möglichstes, aber wenn es sich um einen Profi handelt, dann wird er rasch herausbekommen, daß Ihr von mehreren Leibwächtern geschützt werdet und entsprechende Vorkehrungen treffen.“

„Das mag sein“ gab Elron zu. „Aber unter Eurem Schutz fühle ich mich dennoch viel sicherer. Eine so vielseitige Abenteurergruppe ist imstande unterschiedlichste Bedrohungen frühzeitig zu erkennen.“ Diese fromme Hoffnung in Thors Ohr.

Am ersten Tag ereignete sich rein gar nichs. Wir begleiteten den Kaufmann durch seinen Kontor, besuchten mit ihm einige Handelspartner am Hafen und eskortierten ihn sicher zu seinem Wohnhaus, das wir rund um die Uhr bewachten. Uns allen war instinktiv klar, daß am ehesten im Schutz der Nacht mit einer gezielten Aktion zu rechnen war. Tagsüber hatten wir zwar niemanden bemerkt, der uns verfolgt hätte, aber ein Einzelner vermag im Gewurl der Menge problemlos unterzutauchen. Da einige von uns auch mal schlafen mussten, blieben nur jeweils zwei wach, was meines Erachtens aber völlig ausreichte. Von außen in den Schlafraum unseres Herrn einzudringen vermochte niemand, da dieser sich im ersten Stock des Hauses befand. Zudem waren die Fenster aus dickem, bruchsicherem Glas, das vermutlich ein Vermögen gekostet hatte. Einer saß immer in einer Nische des Ganges vor dem Schlafraum, der andere patrouillierte durchs Haus, um regelmäßig alle Schwachstellen zu kontrollieren. Die Haustür, die Fenster im Parterre und den Innenhof. Unwahrscheinlich, daß ein Fassadenkletterer hier eindringen konnte, aber natürlich keinesfalls auszuschließen.

Mit einem Seil mit Wurfanker konnte es einem Unerschrockenen freilich gelingen, bis aufs Dach zu klettern. Von dort aus in den Hof zu gelangen war keine große Sache mehr. Vielleicht sollten wir diese Option tatsächlich einkalkulieren. Während der ersten Wachschicht saß Lukku vor der Schlafkammer, wohingegen Rael den Patrouillendienst übernahm. Zum wiederholten mal kontrollierte sie alle Fenster, passierte soeben den langen Gang, vorbei am Eingangsportal um durch den Innenhof zurück zum Anfangspunkt zu gelangen. Da vernahm sie plötzlich ein Rascheln. Es kam von halblinks, wo eine große Buche aufragte. Vorsichtig umrundete sie den dicken Baumstamm, doch da war nichts. Ein Grinsen huschte über Raels Gesicht. Vermutlich hüpfte eine kleine Maus durchs Gras, die die Geräusche verursacht und sich jetzt durch ihr Nahen aufgeschreckt wieder versteckt hatte. Sie wollte sich umdrehen, als von hinten etwas Hartes gegen ihren Kopf prallte. Mit einem Ächzen sackte sie zu Boden, wo sie bewußtlos liegenblieb. Eine schwarze Gestalt beugte sich zu ihr herab, fühlte den Puls an ihrem Hals und stand wieder auf. Ungesehen schlich er über den dunklen Hof, wo sich seine Konturen aufzulösen schienen. Stille lag über dem Anwesen, so als sei nichts geschehen. Rael lag noch immer am Boden, sie lebte, aber so schnell würde sie nicht wieder zu sich kommen. Von diesem Schicksal wusste Lukku natürlich nichts. Er räkelte sich auf einem stoffbezogenen Holzstuhl in der kleinen Wandnische auf dem Gang vor dem Gemach unseres Herrn. Schön langsam sollte Rael wieder mal hier vorbeikommen, durchfuhr es ihn. Er beschloß noch eine Weile zu warten, doch mit jedem Atemzug vergrößerte sich die Gewissheit, daß etwas passiert sein musste. Die Sinne des Dunkelelfen konzentrierten sich auf die scheinbare Ruhe der Umgebung. Lautlos stand er auf, huschte auf die Kammer zu, in der wir anderen schliefen. Er öffnete die Tür, warf einen Blick zurück, um zu verhindern, daß die Tür, die er bewachen sollte, unbeobachtet blieb. Schnell sprang er neben mich, rüttelte mich am Arm und flüsterte etwas in mein Ohr, was nur allmählich in mein Bewußtsein drang, da ich unsanft aus einem Traum gerissen wurde. „Rael ist nicht zurückgekommen, du weißt was das bedeutet – weck die anderen auf!“

Schon begab er sich zurück in die Nische, während ich mich mühsam aufraffte. „Sina, wach auf. Komm schon.“ Als sie die Augen aufschlug, hätte ich sie am liebsten geküsst, da sie so einen herrlich mädchenhaften Gesichtsausdruck hatte. Eine Mischung aus Erstaunen ob des Erwachens, Freude wegen meiner Anwesenheit und Verschlafenheit wegen des kurzen Schlafs. Es dauerte nicht lange, bis wir alle auf den Beinen waren. Eigentlich wollte ich der ersten Eingebung folgen – nämlich offensiv vorzustoßen um herauszufinden, was aus Rael geworden war. Doch Ralija hielt mich sehr zum Mißfallen Raðviðs zurück. „Es wäre besser, wenn wir hier auf vertrautem Terrain abwarten würden. Der Eindringling will etwas von uns – nicht umgekehrt. Er wird daher von selbst zu uns kommen. Wir müssen nur geduldig bleiben und er läuft uns direkt in die Arme.“ – „Axt“ korrigierte Raðvið, der den Plan nicht nur verstanden hatte, sondern ihn jetzt auch besser fand als dem Impuls nachzugeben, selbständig auf Erkundung zu gehen. So verteilten wir uns gleichmäßig im Gang, Sina und ich auf der linken Seite im Schutz einiger Marmorstatuen, Ralija und Raðvið auf der anderen Seite in einem Nebenraum, dessen Tür angelehnt blieb. Lukku blieb in seiner Nische, wo er für jeden auf dem Gang unsichtbar blieb, der nicht direkt vor ihm stand. Uns allen war klar, daß die nicht abgeschlossene Runde Raels nur gleichbedeutend mit dem Eindringen eines Attentäters sein konnte, der sie ausgeschaltet hatte, ohne daß sie uns vorher noch hätte warnen können. Es galt auf der Hut zu sein. Bange Momente verstrichen, in denen der Gang unbewegt vor mir lag. Doch dann vermeinte ich den Ansatz eines Geräusches vernommen zu haben. Sina warf mir einen Seitenblick zu, um sich zu vergewissern, ob auch ich etwas gehört hatte. Mein Nicken bezeugte ihr, daß sie sich das nicht etwa eingebildet hatte: dort näherte sich tatsächlich jemand. Diese Person pirschte sich äußerst vorsichtig voran, was nahezu ohne Geräuschentwicklung vor sich ging zulasten der Geschwindigkeit. Dann sah ich den Schatten, der um die Mauer lugte. Der Fremde konnte schwerlich mehr als den leeren Gang vor sich sehen. Es war viel zu finster, als daß Sina und ich im Schatten der Statuengruppen zu erkennen gewesen wären. Dennoch zögerte die Gestalt, wobei mir der Grund hierfür gleich verständlich war: eine zweite Gestalt schloß zur ersten auf und gemeinsam steuerten sie in unsere Richtung. Jetzt konnten wir nicht länger warten, ohne unsere Entdeckung zu riskieren. Wir mussten handeln, wollten wir das Überraschungsmoment ausnutzen.

Sina koordinierte sich mit mir mittels erhobener Finger, die den Rhythmus vorgaben. Drei Finger, zwei, einer, auf geht’s! Wir sprangen aus unserer Deckung hervor und forderten die beiden Attentäter auf, die Waffen niederzulegen. Doch jene dachten gar nicht daran trotz der Tatsache, daß auf der anderen Gangseite nun auch Ralija sowie Raðvið auftauchten. Eine Klinge zuckte uns entgegen, doch Sina wehrte sie ohne Schwierigkeiten ab. Der andere Gegner hielt sich im Hintergrund, doch dann war mir klar, aus welchem Grund. Außer einem kurzen Sirren vernahm ich in diesem Augenblick nichts, doch der Schmerz in meiner Schulter rief mir um so lauter zu: Armbrust! Immerhin nur ein Treffer in die linke Seite, wodurch ich am Führen des Schwertes nicht gehindert wurde. Gemeinsam gelang es, den vorderen Feind zurückzudrängen. Der andere hatte mit Raðviðs Axt genug zu tun, die immer wieder auf ihn herabfuhr. Trotz harter Gegenwehr schafften wir es mit vereinten Kräften einen Attentäter zu töten und den anderen zu entwaffnen. Lukku schließlich fiel die Ehre zu, ihn bewußtlos geschlagen zu haben. Jetzt konnten wir uns um unsere Verletzungen kümmern. „Du blutest ja!“ rief Sina bestürzt. „Ach, nicht der Rede wert. Das ist nur eine Fleischwunde“ spielte ich die Verwundung herab. „Die aber trotzdem versorgt werden muss.“ Sina gab mir zärtlich einen Kuss und noch während ich ihre zarten Lippen schmeckte, zog sie mit einem schnellen Ruck den Bolzen heraus. Kurz tat es weh, doch ich war mir sicher, daß der Schmerz so minimal wie möglich gewesen war. Sorgfältig wusch die Elfin die Wunde aus, was etwas brannte, ehe sie einige Kräuter darauflegte, die die Heilung beschleunigen würden. Fertig verbunden fühlte ich mich gleich besser. Ralija blutete aus einer Schnittwunde am Bein, die sie bereits mit etwas Stoff verarztet hatte. Lukku hatte zu meinem Erstaunen auch etwas abbekommen – ein Stich in den Unterleib, der aber dank des Körperschutzes nicht sehr tief eingedrungen war. Dennoch musste die blutende Wunde behandelt werden um einer Infektion vorzubeugen. „Wo ist Rael?“ schüttelte Raðvið unseren wieder zu sich gekommenen Gefangenen, der ohne Kapuze nur noch halb so gefährlich wirkte. „Was habt Ihr Schweine mit ihr angestellt?“ Der Attentäter schwieg sich aus. „Sind da draußen noch mehr von eurer Sorte?“ bohrte Raðvið weiter, nachdem er sich etwas beruhigt hatte.

„Es war nicht abzusehen, daß zwei von uns nicht ausreichen würden, um euch Witzfiguren zu überlisten“ fand er seine Sprache wieder. „Aber was wir nicht ausführen, werden andere an unserer Stelle tun, so lauten die Gesetze der Attentäterbruderschaft.“ Recht viel mehr war vorerst nicht aus ihm herauszubringen, daher schickte ich Ralija in Begleitung von Sina los, um nach Rael zu suchen. Hatte man sie getötet? Lebte sie noch? Wir würden es wohl bald erfahren. Wir sperrten den Attentäter in einen leerstehenden Nebenraum, bewacht von Raðvið, der ankündigte, jeden Fluchtversuch mit seiner Axt zu vereiteln. Mit Lukku überlegte ich, wie wir vorgehen mussten, um den Auftraggeber des Mordanschlags zu überführen. „Wir könnten unseren speziellen Freund ein wenig bearbeiten, dann wird er uns schon sagen, was wir wissen wollen“ schlug Lukku vor, was ich aber sogleich von mir wies. „Wir brauchen Beweise gegen den Auftraggeber, keine Informationen. Er muss uns also schon freiwillig helfen, da ansonsten der Erfolg nicht gewährleistet ist.“ Das sah der Dunkelf ein, was aber die Frage nicht löste, was wir tun konnten. Während wir noch grübelten, kehrten die Elfinnen zurück – mit Rael im Schlepptau, die etwas benommen wirkte, aber scheinbar nicht ernsthaft verletzt war. „Mein Kopf!“ hielt sie sich jammernd die Schläfen. „Ich bin niedergeschlagen worden. Was ist passiert?“ – „Wir haben zwei Attentäter überwältigt, ehe sie etwas anstellen konnten.“ – „Odin sei Dank“ rief Rael erleichtert. Sina bestand darauf, daß sie sich etwas hinlegte, nur um sicherzugehen, daß ihr Kopf sich entspannen konnte. „Mir ist ein Einfall gekommen“ meldete sich Ralija zu Wort. „Wir tun so, als sei Elron tatsächlich ermordet worden. Dann verfolgen wir seinen Konkurrenten und schauen, was er treibt. Wetten, er leitet die Zahlungsmodalitäten ein? Dann haben wir ihn!“ – „Klingt gut“ fand Sina. „Dann müssen wir aber sicherstellen, daß der Attentäter nicht fliehen kann, sonst fliegt die List auf.“

„Das versteht sich von selbst. Wir können ihn auch nicht der Garde übergeben, weil das zu riskant wäre, daß doch etwas durchsickert. Zwei von uns müssen ihn bewachen, Elron muss sich bis auf weiteres versteckt halten. Die anderen können diesen Jureg ausspähen.“

Dabei handelte es sich um den Hauptkonkurrenten unseres Seidenhändlers. Der ungestüme Raðvið erschien mir als Wächter prädestiniert, meine Wenigkeit würde ihm Gesellschaft leisten, da Sina darauf bestand, daß ich meine Schulterwunde etwas schonte. Ihr zuliebe akzeptierte ich, obwohl sie mich nicht sonderlich behinderte. Lukku und Sina sollten eine Gruppe bilden, die den Auftrag erhielt, Jureg nicht aus den Augen zu lassen. Rael und Ralija sollten überprüfen, mit wem Jureg Kontakt hatte und ob sich unter ihnen ein Kontaktmann der Attentäter befinden konnte. Zuerst verlief die Observation für beide Gruppen langweilig, da sich nichts Außergewöhnliches ereignete. Jureg begab sich früh morgens von seinem Privathaus am Ende der Stadt zu seinem Handelskontor, wo er etliche Geschäftspartner traf, die aber allesamt unverdächtigen Tätigkeiten nachgingen. Rael sowie Ralija konnten zumindest nichts herausfinden. Aber das verstand sich eigentlich von selbst, daß ein halbseidener Kaufmann auch völlig neutrale Geschäftsbeziehungen pflegte. Am zweiten Tag nach dem bekannt geworden war, daß Elron ermordet worden war, wurden sowohl der Zwerg als auch ich ungeduldig. „Wäre es möglich, daß die Tat doch von jemand anderem in Auftrag gegeben wurde?“ – „Das kann eigentlich gar nicht sein, denn was für ein Motiv hätte derjenige denn?“ Raðvið zuckte mit den Schultern. „Woher soll ich das denn wissen? Bin ich ein dahergelaufener, armseliger, heruntergekommener Möchtegern-Zwergenwahrsager? Vielleicht hat unser feiner Herr Kaufmann mehr Dreck am Stecken, als er uns verrät oder aber die Zahlung ist schon erfolgt, ohne daß die Spitzohren …“

„Raðvið!“ ermahnte ich ihn. „Dieses Wort soll man doch nicht sagen.“

„Wieso denn nicht? Da wo ich herkommen, gebraucht man das schon immer. Jetzt schau mich nicht so an. Das hat eine völlig neutrale Bedeutung. Wenn ich einen Elfen beleidigen will, dann sage ich garantiert nicht ‚Spitzohr’, sondern langohriger Grasfresser, abgetakelter Waldschrat oder dreckige Ohrenmaus.“ – „Das ist sehr konsequent“ resignierte ich. „Sag meinetwegen so, wie du willst. Das ist mir jetzt ehrlich gesagt gleichgültig.“ – „Na also, dann verstehen wir uns doch prächtig. Mir ist sowieso nicht klar, wieso du so einen Wirbel machst. Worte sind lediglich Schall und Rauch.“ Ich seufzte. „Aber wenn du mal mit Elfen Probleme bekommst, weil du sie so titulierst, dann werde ich mich heraushalten.“

„Auf die Hilfe eines Menschenschwächlings kann ich eh verzichten.“ Weshalb mussten Zwerge immer so eigensinnig sein? Obwohl ich gerade diese Charaktereigenschaft an ihm mochte, wobei ich mir selber den Grund nicht erklären konnte. Vielleicht lag das am Umstand, daß der Zwerg körperlich nicht den Eindruck machte, es mit mir aufnehmen zu können, was aber von den tatsächlichen Gegebenheiten als Irrtum entlarvt werden würde.

Während wir solch belangloses Zeug diskutierten, geschahen anderswo weitreichendere Dinge.

 

*

 

Lukku hielt sich dicht an die Mauer eines Lagerhauses gedrückt, wo er mit dem dunklen Schatten des Gebäudes verschmolz. Behutsam pirschte er sich voran, den Mann, den er verfolgte, nicht aus den Augen lassend. Dieser näherte sich der Vorderfront eines abseits stehenden Lagerhauses, in dem er schließlich verschwand. Lukku vergewisserte sich, daß die Luft rein war, ehe er näherkam. Über ein fahrlässigerweise nicht abgeschlossenes Fenster an der Rückseite drang er in die Halle ein, in der allerhand Gerümpel lagerte. Vorbei an einigen übermannshohen Regalen tappte er einem fernen Lichtschein entgegen, der durch den lose angeordneten Plunder durchschimmerte. Die an die Dunkelheit gewohnten Augen des Nachtelfs tasteten die schemenhaften Gestalten ab, die dort im Schein einer Fackel eine Unterredung führten. „… zu meiner vollen Zufriedenheit ausgeführt. Hier habt Ihr einen Beutel mit Gold als Lohn für Eure Bemühungen.“ Das war die Stimme von Jureg gewesen. Der andere, eine vermummte Person, blickte in den Lederbeutel hinein, schüttelte dann den Kopf. „Das reicht nicht. Zwei meiner Männer wurden von den Leibwächtern des Opfers getötet. Habt Ihr vergessen, was wir ausgemacht haben?“ – „Natürlich nicht.“ Ein zweiter Beutel wechselte seinen Besitzer. „Gut, dann wären wir soweit quitt.“

„Solltet Ihr beizeiten wieder einen Auftrag haben, so wisst Ihr, an wen Ihr Euch wenden müsst …“ schloß der Vermummte die Unterredung. Die beiden Personen gingen auseinander, Lukku folgte demjenigen, dessen Identität er nicht hatte erkennen können. Der marschierte schnurstracks in eine Seitengasse vom Lagerhaus weg, drehte sich nicht um, verhielt sich auch ansonsten unauffällig. Dann bog er nach links in eine Straße ein, auf der zu dieser späten Uhrzeit niemand mehr unterwegs war. Höchstens einige Besoffene, die nach Hause torkelten, aber die bekämen sowieso nichts mit. Vorbei ging es an einer Kneipe, die schon zu hatte, also war auch hier mit keinen Betrunkenen mehr zu rechnen, über einen Platz bis zu einem Wohnhaus, in dem der Unbekannte verschwand. Lukku prägte sich das Haus genau ein, ehe er zurück ins Haus von Elron eilte. „Die Bezahlung ist erfolgt“ berichtete er sachlich, als er zu uns ins Zimmer trat. „Hast du ihn dir gleich geschnappt?“ – „Nein, das erschien mir nicht ratsam, weil der Gesandte der Attentäterbruderschaft mit Sicherheit zurückerwartet wird. Falls ich ihn ausgeschaltet hätte, würde das den Gegner aufschrecken. So können wir einen Schlag gegen ihre Organisation vorbereiten.“ – „Ach was“ ärgerte sich der Zwerg. „Das wäre sonst genauso gut gegangen.“

 

Die Beweise gegen Jureg reichten für eine Verurteilung vor dem Elfengerichtshof. Der Richter sah es als erwiesen an, daß der Angeklagte aus Neid den Auftrag gegeben hatte, seinen Konkurrenten zu ermorden. Die Urteilsverkündung fiel kurz aus: die Strafe für versuchten Auftragsmord war lebenslange Verbannung aus dem Königreich und zehnjährige Zwangsarbeit in den Eisenbergwerken. Damit endete die Verhandlung, die dieses Abenteuer für uns beendete. Elron beglückwünschte uns für die Verurteilung, an der wir einen maßgeblichen Anteil hatten. Unseren letzten Abend in Elfion verbrachten wir bei einem Besäufnis im Haus des Elron. Der Met floß in Strömen, was besonders von Raðvið mit entsprechenden Kommentaren bedacht wurde. „Ein Hoch auf unseren ehrenwerten Gastgeber!“ leitete er immer neue Runden ein, die vor allem die Frauen unter uns bald nicht mehr so leicht wegsteckten. Rael trug lallend einen Witz vor, den niemand richtig verstand, aber den dennoch alle lustig fanden, ehe sie sich unter dem Tisch langstreckte. Auch Sina wurde bald schon schläfrig, was man daran merkte, daß sie nicht mehr wirklich ansprechbar war. Irgendwann pennte auch ich weg.

 

*

 

Am kommenden Tag fiel es mir unendlich schwer überhaupt die Augen aufzuschlagen. Der Alkohol bettete meinen Kopf wie in Watte. Meinen Schädel lediglich zu heben schien mir beinahe unmöglich. Erst im Laufe des Vormittags gelang mir dieses Kunststück. Es dauerte lange, bis wir allesamt so fit waren, als daß wir aufbrechen konnten. Gemächlichen Schrittes trotteten wir vorwärts. Selbst dem Zwerg steckte der vergangene feucht-fröhliche Abend noch in den Knochen. Wortkarg stapfte er hinter mir her, nur ab und zu einen Unmutsbrummer von sich gebend. Einzig Ralija brach durch das Erzählen von mythischen Geschichten das Schweigen, obgleich sich meine Konzentrationsfähigkeit unter ferner liefen befand. Die früh einsetzende Abenddämmerung nötigte uns schon bald dazu, eine Unterkunft zu beziehen. Tat der Schlaf gut! Eines schwor ich mir nach diesem vom Kater geprägten Tag: nie mehr exzessives Saufen mit Raðvið! Doch meistens halten solche Schwüre leider nicht ewig, was einen immer wieder dazu verleitet, sie zu brechen. Jetzt war ich aber vorerst nach einer erholsamen Nacht wieder frohen Mutes und auch die anderen hatten wieder ihre alte Verfassung wiedergefunden. Vor allem die Elfen wollten erneut die Nähe zur Natur suchen, weshalb wir querfeldein loswanderten. Mit einem ausreichenden Vorrat an Proviant hatten wir uns bereits eingedeckt, so daß wir für ein, zwei Tage autark waren. Als wir auf einen kleinen Bach trafen, folgten wir seinem Verlauf, der uns durch einige Wälder bis zu einem Waldsee brachte, wo wir unser Nachtlager aufschlugen. Eine Weile saßen wir ums Lagerfeuer, erzählten uns Geschichten und ließen uns die belegten Brote schmecken. Dann legten sich alle nieder bis auf Sina und mich. Wir nutzten die Helligkeit des Vollmondes, um ein Stück am See entlang zu spazieren, bis wir an eine Stelle kamen, die uns beiden zusagte. Das Licht des Mondes spiegelte sich auf dem Wasser, über uns rauschten die Zweige der Weiden, die direkt am Ufer standen. Eine Eule gab ihre charakteristischen Schreie von sich. Sina saß neben mir auf einem umgefallenen Baumstamm. Am Himmel zogen Wolken vorüber, über denen ein Lichtstrahl hervorzuquellen schien, dessen Ursprung wohl nicht von dieser Welt stammte. Scheinbar waagrecht strahlte das Licht über den Himmel, bis die vorüberziehenden Wolken langsam, aber stetig die Sicht auf den Vollmond preisgaben, der uns nun mit seinem magischen Licht einhüllte. Eine ganze Weile genoßen wir gemeinsam diesen Anblick, bis neue Wolken nahten, die sich langsam aber beständig vor den Mond schoben. Helligkeit und Dunkelheit wetteiferten miteinander um die Vormacht, wobei keiner den anderen ganz verdrängen konnte. „Genau so stelle ich mir den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse vor“ meinte Sina mit bewegter Stimme. „Die Wolken hüllen das Licht des Mondes ein, aber sie sind niemals in der Lage, seine Helligkeit ganz zu ersticken. Der Mond hingegen kann die Wolken nicht vollständig auflösen. Sie brauchen einander, denn sonst würden beide nicht existieren. Faszinierend.“ Soeben verdeckten größere Wolken den Mond total, doch an den Rändern erkannte man, daß dahinter irgendwo ein helles Objekt sein musste.

Es war schön, den Augenblick zu genießen, Sinas Körper zu spüren, der sich sanft an den meinen lehnte. „Gehen wir schlafen?“ unterbrach ich irgendwann das angenehme Schweigen. Sina nickte und wir kehrten zum schwach prasselnden Lagerfeuer zurück. So wenig Geräusche wie möglich verursachend legten wir uns nieder, da die anderen bereits schliefen. Einmal noch sahen wir uns an, dann deckte die Nacht ihren Schleier über uns.

 

*

 

Der Morgen dämmerte, eine Amsel sang ganz in der Nähe ihr kunstfertiges Lied. Der perlende Gesang eines Rotkehlchens mischte sich darunter, wurde von einer Kohlmeise abgelöst. Raðvið stand als erster auf und spielte den Weckdienst. „Alle aufstehen! Wollt Ihr Faulpelze ewig schlafen?“ – „Plärr nicht so herum“ herrschte ich ihn an. „Ich bin schon länger wach als du.“ Ein Grinsen huschte über das Gesicht des Zwergs, was man wegen des struppigen Bartes aber nur erkennen konnte, wenn man ihn gut kannte. „Ach, und was macht der gnädige Herr so lange unter der Decke? Kuscheln mit der hübschen Nachbarin?“ Ich boxte ihm kameradschaftlich vor die Brust. „Du hast mein Geheimnis entdeckt – kann ich dich mit drei Krügen Met zum Stillschweigen bringen?“ – „Ja, das könnte mich überzeugen.“

Kurz darauf hatten wir unser Lager abgebrochen, standen gestiefelt bereit und setzten unseren Marsch fort. Sina warf mir einen sentimentalen Blick zu, als wolle sie sagen, daß sie sich noch lange an den gestrigen Abend würde erinnern können. Mir ging es ähnlich. Die laue Vollmondnacht am Ufer des Sees hatte viel Harmonie zwischen uns erzeugt.

Lukku gab die Geschichte von Doktok zum Besten, einem Dunkelelf, der vor vielen Jahrhunderten Fürst der Südprovinz Atanas war. Er stellte ein Heer auf, daß vor allem durch seine Kavallerie hervorstach. Damit drang er ins damalige Reich der Trolle ein, das sich im Osten seines Herrschaftsbereichs anschloß. Nach einigen unentschiedenen Gefechten im kleinen Rahmen stellte sich schließlich der Trollkönig zur finalen Schlacht. Doktoks Reiterei umfasste die Flanken der Trollarmee, drückte sie ein und nahm das Gros in die Zange. Zahlreiche Trolle verloren ihr Leben, der Rest verstreute sich, ihr König geriet in Kriegsgefangenschaft. Seit dieser Zeit haben die Trolle keinen größeren Staat mehr gegründet, sondern leben in kleineren Horden. Soweit die Erzählung Lukkus.

In der Nähe eines kleinen Elfendorfes sprach uns eine Elfin auf offener Straße an, ob wir ihr nicht helfen könnten. „Man erzählt sich viel von Euren Abenteuern, daher wage ich es, Euch anzusprechen. Wie Ihr den Kaufmann Elron in Elfion gerettet habt, wird bereits als große Heldentat gefeiert und auf eine Ebene gestellt mit der Tat Alwins, des Drachentöters.“ Geschmeichelt drückte ich ihre Hand, die sie mir entgegenstreckte. „Hättet Ihr die Güte, mir bei einer Angelegenheit behilflich zu sein, die mich sehr bedrückt?“ – „Kommt, wir gehen ins Wirtshaus. Dort besprechen wir alles.“ Das genannte Wirtshaus befand sich nur hundert Meter weiter auf ebenem Grund, um den Stamm einer gewaltigen Buche gebaut. Treffenderweise hieß das Lokal „Buchenstamm“. Es herrschte nicht all zu viel Betrieb, wodurch wir uns einen Rundtisch etwas abseits aussuchen konnten. „Die werten Gäste wünschen?“ dackelte der Wirt zugleich herbei, wie es Tradition in jeder guten Elfenwirtschaft ist. Lediglich in den Städten verkommt dieser Brauch leider immer mehr. Doch hier auf dem Land war die Welt noch in Ordnung. Reihum bestellten wir also Getränke und Speisen, denn wir schoben nach dem langen Marsch allesamt ordentlich Kohldampf. „Also, worum geht es?“ forderte Sina die Elfin zu sprechen auf. „Dazu muß ich weiter ausholen. Alles begann damit, daß mein lieber Ehemann seine Arbeit verlor. Er war Schreiner, müsst Ihr wissen, aber seitdem viele billige Fertigmöbel aus dem Ausland importiert werden, kauft kaum noch jemand die teuren, aber qualitativ weitaus hochwertigeren nach Maß getischlerten Möbel. Anfangs musste mein Mann – sein Name ist übrigens Gotar – seinen Gesellen freistellen, dann lohnte es sich gar nicht mehr und er war gezwungen, seine Werkstatt zu schließen. Wochenlang suchte er nach einem Ausweg, kam aber meistens nur betrunken nach Hause, wenn er wieder mal erfolglos gewesen war. Doch auf einmal brachte er unerwartet Geld nach Hause und sagte, er habe es sich als Wachmann einer riskanten Fuhre verdient. Das ging mehrmals so, doch obwohl er viel Geld mitbrachte, spürte ich, daß etwas nicht stimmte. Als ich ihn darauf ansprach, stritt er jedoch vehement ab. Vor einer Woche sah ich ihn zum letzten mal, er war nervös, was er zu verbergen suchte. Seitdem hörte ich nichts mehr von ihm.“ Die Elfin endete abrupt. „Wir sollen ihn also suchen“ war Ralija sofort klar. Die Dame nickte. Raðvið schlug seinen leergetrunkenen Krug auf den Tisch. „Wir werden herausfinden, was ihm zugestoßen ist. Es ist durchaus möglich, daß ihm nichts Schlimmes passiert ist, sondern daß er entführt wurde oder dergleichen.“ Ehrlich gesagt glaubte ich das nicht, aber es gab zumindest die Möglichkeit, daß wir ihn lebend fanden. All zu große Hoffnungen machte ich mir aber nicht, denn wie schnell werden fromme Hoffnungen von der grausigen Wirklichkeit überschattet. Stattdessen versprach ich, daß wir alles in unserer Macht stehende tun würden, um sein Schicksal herauszufinden und sollte es schmerzhafter Natur sein, so würden wir den Verantwortlichen bestrafen, wie das Gesetz es befahl. Dankbar drückte die Elfin jedem von uns die Hand und versprach uns eine größere Geldsumme als Belohnung. Ich wollte sie eigentlich zurückweisen, aber Raðvið fiel mir ins Wort und dankte für diese Großzügigkeit. Anschließend sah er mich mit einem Blick an, in dem mitschwang, was er wohl dachte: ein freiwilliges Geschenk soll man nicht ablehnen – so waren die Zwerge nun einmal. Aber auch Sina erklärte mir später, als wir allein waren, daß man derartige Gaben von Elfen nicht ablehnen durfte, wenn man den Geber nicht beleidigen wollte. Merkwürdige Sitten im Land der Elfen, oder etwa nicht?

Die Suche nach Gotar begann mit stinklangweiligen Befragungen der Nachbarn. Wer hatte ihn wann zuletzt gesehen, an welchem Ort, in wessen Begleitung et cetera. Ein Hirte hatte ihn am Tag seines Verschwindens gesehen, aber er hatte nicht weiter auf ihn geachtet. Keiner wusste, wohin er gegangen war. „Wenn wir nicht wissen, wo er ist, sollten wir herausfinden, wo er nicht ist“ überlegte Lukku. „Die Frage ist, ob uns das weiterhilft.“

„Nur bis zu einem gewissen Grad“ vermutete Rael. „Er ist nirgendwo dort, wo er sonst war. Zudem ist er auch nicht da, wo die anderen Dorfbewohner zu sein pflegen. Damit scheidet schon mal ein größeres Areal aus.“ Ralija kaute auf einem Zahnstocher herum. „Wir sollten mal nach Spuren in den Wäldern suchen. Ich bin fast sicher, daß wir dort etwas finden werden, was uns weiterbringt.“ Dieser Ansicht schloß ich mich an. So kam es, daß wir ausschwärmten, um die umliegenden Waldränder abzusuchen. Spuren fanden wir allerhand. Rehe, Füchse, ein Hase, eine Wildschweinrotte, das Gewöll einer Eule, Abdrücke eines Esels – nur menschliche Hinterlassenschaften hatten Seltenheitswert. Schließlich zeigte Sina auf den Zweig einer niedrigen Fichte. Sie pflückte ein kleines Fellbüschel aus den Nadeln. „Ein Wolf.“ – „Das ist hier nichts Ungewöhnliches. Die streifen hier überall durchs Dickicht.“

„Glaubst du, er ist von einem Wolf angefallen worden?“ stellte Raðvið eine rhetorische Frage, denn Wölfe wagen sich im Allgemeinen nicht an einen Menschen heran.

„Nein, natürlich nicht, aber das Haarbüschel eines Wolfes in dieser Höhe läßt den Schluß zu, daß es vom Leittier stammt, das hier eine Duftmarkierung gesetzt hat. Wo ein Alphatier markiert, ist das Rudel nicht weit und wenn wir dessen Marschbewegung finden, können wir herausfinden, ob sie vor etwas oder besser jemand ausgewichen sind.“ In Schützenkette suchten wir in gegenseitigem Blickkontakt bleibend das Gelände ab. Ralija fand die Fährte des Rudels, der wir etliche Kilometer folgten, bis wir eine Stelle erreichten, wo die Pfotenabdrücke wild durcheinander verliefen. Sina kniete sich nieder um mit den Fingern am Boden zu lesen. „Hmm“ wurde sie nicht ganz schlau. „Es scheint, als haben die Wölfe hier ein Reh gerissen. Sie scheinen dabei gestört worden zu sein, denn es führen Schleifspuren da rüber zu den Büschen.“

Tatsächlich fanden wir im Dickicht Reste von Knochen, Hautfetzen und Fellbüscheln. Betrachtete man die Spuren als Ganzes, musste von links eine Bedrohung gekommen sein, die die Wölfe dazu veranlaßt hatte, ihre Beute zu verstecken. Wir fanden auch vielsagende Stiefelabdrücke in der entgegengesetzten Richtung, die uns tiefer in den Wald hineinführten. An einer kleinen Lichtung stießen drei, vier weitere Spuren dazu, die sicht im Weiteren vereinigten. Auf härterem Untergrund verloren wir sie zwar, fanden sie aber kurz darauf wieder. Eine Spur fehlte, dafür schienen zwei andere tiefer zu sein als zuvor. Auch die Abstände der Schrittfolgen zueinander nahm ab. „Was bedeutet das?“ wunderte sich der Zwerg, der vom Fährtenlesen keine Ahnung hatte. Sina half ihm bereitwillig: „Einer wurde offenbar von den anderen getragen. Aus welchem Grund, das entzieht sich noch unserer Kenntnis. Gehen wir weiter.“ Aufmerksamer als zuvor schlenderten wir voran, die Augen auf den Boden gerichtet, jede Unebenheit genau registrierend. Rael stieß jäh einen leisen Schrei aus. „Seht mal hier.“ Sie zeigte auf eine Stelle, doch das war gar nicht nötig, da wir es bereits rochen. In einer kleinen Bodensenke lag ein kaum verscharrtes Gerippe, um das vereinzelt Kleidungsfetzen verstreut waren. Den gut erhaltenen Schädel konnte man unschwer als elfisch identifizieren. Tiere mussten das Skelett abgenagt haben, Geschöpfe, denen die Knochen nicht geschmeckt hatten, denn es fehlte keiner, soweit ich als Laie das bestimmen konnte. Rael wandte sich ab. „Bin ich froh, daß wir nicht eine Woche eher hierhergekommen sind.“ Sie verzog das Gesicht, was ich durchaus nachfühlen konnte. Auch Sina hatte einen unbestimmbaren Ausdruck um den Mund. Lukku blieb völlig unbeeindruckt. Interessiert beugte er sich über die Trümmer, erklärte mit Kennerblick, der Tod sei vor sechs oder sieben Tagen eingetreten und vermutete, es handle sich dabei um den Gesuchten.

„Die haben ihn einfach umgebracht“ stellte Rael mit einem Schaudern fest. „Aber aus welchem Grund?“ – „Das werden wir herausfinden“ versprach Ralija. „Irgendwie ist alles jetzt nur noch mysteriöser. Gotar geht in den Wald, aller Wahrscheinlichkeit nach um sich dort mit irgendwelchen Leuten zu treffen, sie marschieren gemeinsam eine Strecke, dann bringen sie ihn um und tragen ihn zu einer einsamen Stelle.“ – „So sicher wäre ich mir da nicht“ gab Lukku zu bedenken. „Er muß nicht freiwillig mitgegangen sein. Vielleicht zwangen sie ihn dazu und als er sich widersetzte, töteten sie ihn.“ – „Möglich“ meinte ich. „Genau werden wir das erst feststellen können, wenn wir die Typen finden. Dann fragen wir sie höflich nach ihren Handlungsmotiven.“ Nach einer kurzen Unterredung kamen wir überein, eine systematische Suche zu beginnen. Die Spuren waren bereits eine Woche alt, was es erschwerte, ihrem weiteren Verlauf nachzugehen. Wir konnten immerhin bis zu einer Straße den Weg der Mörder verfolgen. Dort mussten wir passen. Allerdings hatten wir einen Anhaltspunkt, in welche Richtung die drei unterwegs waren: Norden. Wir marschierten weiter, kamen durch ein kleines Dorf, wo wir umsonst Erkundigungen anstellten. Niemand konnte uns weiterhelfen. Etliche Kilometer weiter erfuhren wir in einem Gasthaus mehr. Die drei waren exakt vor sieben Tagen hier abgestiegen. Der Wirt konnte uns sogar eine oberflächliche Beschreibung der Personen geben, die wir interessiert aufnahmen. Laut dem Wirt hatte der ältere Elf eine Narbe an der Wange, der jüngere fiel besonders durch seine krumme Hakennase auf. Die dritte im Bunde war eine Elfin mit dunkelblauen Haaren, was schon recht selten war. Zudem beschrieb sie der Wirt als außerordentlich hübsch. Ein solches Dreigespann sollte sich eigentlich nicht verstecken können. Es sei denn, sie trennten sich, was unsere Chancen denkbar verschlechtern würde. Doch ich war zuversichtlich, denn Ganoven gesellen sich gern zu ihresgleichen.

„Die finden wir“ ereiferte sich Raðvið. „Wäre doch gelacht.“ – „Nicht, wenn sie bereits über alle Berge sind“ warf ich ein. „Wenn wir nur wüssten, in welcher Beziehung sie zu Gotar gestanden sind.“ – „Das werden wir wohl so bald nicht aufklären können.“

„Die Vermutung liegt nahe, daß sie ihn schon vorher kannten. Gator brachte ja seit einiger Zeit überproportional viel Geld mit, das irgendwoher stammen muß. Wahrscheinlich ist dessen Quelle mit den drei Leuten identisch, die wir suchen.“

„Du meinst, daß er die beklaut hat?“

„Kaum. Vielmehr denke ich, daß sie zu viert irgendwas gemacht und dann geteilt haben. Krumme Geschäfte, betrügerisches Glücksspiel, Überfälle oder dergleichen.“ Da wir keine Zeit zu verlieren hatten, brachen wir sofort wieder auf, um Richtung Ajaton zu reisen, der nächstgrößeren Stadt im Nordwesten. Zwielichtiges Gesindel wird durch größere Ansammlungen von Häusern magnetisch angezogen, weil sie sich dort am besten unter den Anständigen verstecken können. Daher hätte ich darauf gewettet, daß sie ihr Weg dorthin geführt hatte. Wie es der Zufall wollte, wurden wir gleich in der ersten Kneipe fündig, die wir betraten. Der Schankknecht fragte lediglich kurz nach, ehe er nach rechts ins Nebenzimmer wies. „Die sind dort drüben.“ Lukku lächelte vielsagend, bevor er unauffällig etliche Tische passierte. Jetzt sah auch ich die drei an einem Ecktisch sitzen. Jäh hielt ich Lukku an der Schulter zurück, weil ich nicht wollte, daß er vorschnell agierte. Verwundert drehte er sich verständlicherweise um. „Was ist denn? Worauf willst du noch warten?“ – „Der Falke beobachtet zuerst sein Opfer, ehe er sich daraufstürzt. Außerdem könnten sie sich zur Wehr setzen und damit Unbeteiligte gefährden.“ – „Ist doch egal.“ – „Eben nicht“ schnaufte ich. „Wenn die einen Trunkenbold als lebendiges Schild mißbrauchen, sind wir für alle Anwesenden die Verbrecher, wenn dem etwas passiert.“ – „Unser Anführer hat Skrupel“ zog sich der Dunkelelf an den Ausschank zurück, was mich aber nicht beleidigte. Skrupellos zu sein entsprach eben nicht meinem Charakter. Dazu war ich einfach zu empfindsam. Sina deutete auf einen Tisch, von dem aus wir gut beobachten konnten. Wir tranken nur soviel, wie eben nötig war, um nicht weiter aufzufallen. Unsere speziellen Freunde schienen sich angeregt zu unterhalten. Die Frau, die wirklich eine atemberaubend erotische Aura hatte, was man zugeben musste, stand irgendwann auf um zu einem Tisch zu schlendern, an dem ein einzelner Elf, der traurig aussah, vor seinem Krug saß. Als sich die schöne Elfin ihm zuwandte, heiterte sich seine Miene auf. Ein angeregtes Gespräch folgte, in dessen Verlauf sie ihn mehrmals wie beifällig am Arm oder an der Schulter berührte. Dann schien sie ihn zu etwas aufzufordern und nach anfänglichem Zögern stand er auf und folgte der Dame an den Tisch, an dem ihre Spießgesellen saßen. „Was soll das jetzt bedeuten?“ wunderte ich mich. „Das ist doch offensichtlich“ fand Sina. „Die versuchen den irgendwie abzuziehen. Vermutlich haben die das schon öfter gemacht. Die Elfin spricht die Opfer an, wiegt sie mit Charme in Sicherheit, dann stellt sie ihre Freunde vor und wenn man gemeinsam noch irgendwohin geht, dann raubt man ihn aus.“ – „Das könnte zutreffen“ bestätigte Ralija feinfühlig. „Wir könnten ja versuchen, sie auf frischer Tat zu überführen.“

Später am Abend verließen die drei Verdächtigen mit ihrer neuen Bekanntschaft die Kneipe. Doch wenn sie dachten, allein, so hatten sie sich geschnitten, denn wir hatten uns an ihre Fersen geheftet. Die vier bemerkten nicht einmal, daß hinter ihnen sechs Schatten huschten, so sicher fühlten sie sich. In einer schlecht beleuchteten Seitengasse geschah es schließlich: der Angetrunkene wurde niedergeschlagen und noch im Niedersinken durchsuchte man ihn, um seine Habseligkeiten an sich zu raffen. Dann wollten sie die Gasse entlangstürmen, doch dort ragte plötzlich eine Gestalt auf, die durch ihre bloße Präsenz Gefahr signalisiert: Lukku. Das Trio hielt an, überrascht vom Auftauchen des Fremden. „Wer bist du denn?“ rief einer verärgert. „Aus dem Weg oder es setzt was!“ Nun traten auch wir in die Gasse, im Rücken der Verbrecher auftauchend. „Ergebt euch!“ herrschte ich sie an. „Ihr habt keine Chance.“ Sie glaubten jedoch, daß sie eine hatten, was sich dahingehend manifestierte, daß sie den Rückzug nach vorn antraten. An Lukku kamen sie freilich nicht so leicht vorbei. Er packte den vordersten Elf am Genick, setzte seine Mehrklingenwaffe an dessen Hals, Blut spritzte und schon vergurgelte der bemitleidenswerte Verbrecher. „Schluß mit lustig“ zischte Lukku den verbliebenen zu, die mit gezückten Stichwaffen zurückwichen.

„Wieso habt ihr Gotar getötet?“ trat ich vor sie hin. Der männliche Elf schien die Wörter zwar verstanden zu haben, aber nicht zu begreifen, was ich von ihm wollte. Die Elfin, die auf kurze Distanz noch hübscher wirkte, fand die Sprachfähigkeit schneller wieder. „Ihr wisst davon? Wer seid Ihr? Wie Vollstrecker des Elfenhofs seht Ihr nämlich nicht aus.“ Vollstrecker hießen im Elfenreich die vom Gerichtshof eingesetzten Strafverfolger, die Verbrecher jagten. „Sagen wir mal, wie sind in privatem Auftrag unterwegs“ lächelte ich. „Wir haben auch eine längere Anreise nicht gescheut. Das ist eine spezielle Dienstleistung für besondere Kunden.“ Eine Pause entstand, in der die Stille scharf wie ein Messer schnitt. „Was wollt Ihr von uns?“ – „Rache!“ brüllte Raðvið und hob einen Schritt nach vorn tretend seine Axt. Die beiden Elfen zuckten zusammen, klammerten sich enger an ihre Waffen und schienen durchaus eingeschüchtert zu sein. Einen Moment überlegte ich, ob wir sie einfach niedermachen sollten. Doch ich wollte unbedingt noch eine Antwort auf meine Frage erhalten – das Motiv für den Mord. Der Elf verlor ohne unser Zutun die Nerven und stach auf Raðvið ein, verfehlte ihn jedoch um eine Ellenlänge. Der Zwerg fackelte nicht lange, indem er seine Axt schwang, was seinen Gegner niederstreckte. Gleichzeitig war auch die Elfin zum Angriff übergegangen, auch wenn ihre Aussichten nicht gerade rosig waren. Was sind schon zwei bessere Straßenräuber gegen sechs Recken, die schon Riesen, Trolle, Goblins sowie Attentäter besiegt hatten? Sina wehrte den ungestümen Streich ihrer Artgenossin ab, deren Waffe zu Boden fiel. Erschreckt wich sie einen Schritt zurück, sich ihrer Wehrlosigkeit bewußt. Langsam sackte sie auf die Knie herab, die Hände erhebend. „Bitte, Herr, verschont mein Leben.“ Drohend richtete ich die Spitze meines Kurzschwertes gegen ihre Brust. „So beantworte meine Frage: weshalb habt ihr Gotar getötet?“ Die Elfin blickte mich aus ihren schönen Augen an. „Er war ein Kumpan von uns, doch dann bekam er moralische Skrupel und wollte uns verpfeifen. Wir konnten das natürlich nicht zulassen …“ Mit einer sanften Geste steckte ich meine Waffe ein. „Steh auf“ verlangte ich von der Elfin. „Heute ist dein Glückstag. Eigentlich wollten wir alle Mörder ihrer gerechten Strafe zuführen, die bei Mord natürlich nur durch den Tod gesühnt werden kann, aber ich glaube, daß du deine Mittäterschaft aufrichtig bereust. Daher übergeben wir dich der zuständigen Amtsgewalt.“ Dankbar sah mich die Elfin an. Sie hatte wohl erwartet, wir würden ihr den Rest geben. Wenig später übergaben wir sie der örtlichen Kommandantur der Stadtgarnison, deren Befehlshaber unsere Hingabe mit blumigen Worten lobte. Er sprach von „außerordentlichen Verdiensten für die Sicherheit der Stadt“, die es den braven Bürgern ermöglichten, „des abends wieder auf die Straßen zu gehen, ohne befürchten zu müssen, von gewissenlosen Räubern überfallen zu werden.“ Die geschwollene Art, wie er sprach, erinnerte mich an den einen oder anderen Bürgermeister in meiner Heimat, der zwar große Worte spuckte, dabei aber eigentlich gar nichts aussagte. Eine Kunst, die man an der Akademie der Wissenschaften „Rhetorik“ nannte, doch für mich war das kaum mehr als Betrügerei auf hohem verbalen Niveau. Sei es drum. Nun, da wir unsere Gefangene sicher verwahrt wussten, beschloßen wir jedenfalls, zu Bett zu gehen.

 

*

 

„Jemand muß Gotars Ehefrau verständigen, daß wir die Mörder ihres Mannes gestellt haben“ sprach Rael einen Gedanken aus, der mich ebenfalls beschäftigt hatte. Dazu mussten wir allerdings eine gehörige Strecke des Weges wieder zurück, was mir widerstrebte, da ich Richtung Nordwesten weiterwollte. „Einer von uns muß ihr Bescheid geben“ fiel mir eine Lösung des Problems ein. „Wir anderen können derweil weiterreisen.“ – „Das wäre eine Möglichkeit“ akzeptierte Lukku. „Da ich von uns allen der schnellste bin, würde ich vorschlagen, daß ich den Abstecher übernehme. Bleibt noch die Frage, wo wir uns dann wiedertreffen wollen.“ Sina räusperte sich. „Jenseits der Hügelkette im Norden liegt eine Stadt namens Valia. Dort treffen wir uns in vier Tagen in der dem Marktplatz nächsten Herberge.“ – „Alles klar. Das wird sich finden lassen. Nun denn, dann breche ich sogleich auf. Passt auf euch auf – immerhin müsst ihr jetzt auf euren besten Kämpfer verzichten …“ Damit wandte er sich ab und verschwand schon bald zwischen einigen Bäumen. Er hatte sich nicht umgedreht, genau wie ich vermutet hatte. Ein Dunkelelf schert sich wenig um die Vergangenheit, er blickt immer nach vorn auf die nächste Aufgabe.

Schweigend trabten wir los. Raðvið brummte vor sich hin wie ein Bär. „Als ob ich es nicht mit ihm aufnehmen würde. Sag mal, findest du, daß das Spitz… der Nachtelf besser kämpft als ich?“

„Nein, natürlich nicht“ wies ich diese Behauptung mit gespielter Entrüstung weit von mir. „Wir brauchen dich unbedingt hier in der Gruppe, weil du absolut unersetzbar bist. Was sollen wir vier denn machen, wenn wir einem Troll gegenüberstehen? Darum habe ich auch Lukku losgeschickt.“ – „Ehrlich?“ hakte der Zwerg nach. „Das stimmt mich froh, wenn man hier wenigstens meinen Kampfwert zu würdigen weiß.“ Er murmelte noch anderes Zeug vor sich hin, das mir aber beim rechten Ohr hinein, zum linken wieder hinausging. Zwerge waren manchmal wirklich kompliziert, denn sie verhielten sich dann trotzig wie kleine Kinder, oder eben beleidigt. Sina warf mir ein verständiges Lächeln zu, da ihr der Grund für Raðviðs Monolog nicht verborgen geblieben war, der sie genauso belustigte wie mich. Doch ich hatte bereits auf „Durchzug“ geschaltet, wodurch ich mich dann nicht einmal durch ein Grinsen verriet, sondern ich nickte den Ausführungen meines Nebenmannes nur gelegentlich zu oder machte „mhm“. Mehr musste man nicht tun, denn das besondere Kennzeichen eines Monologes war nunmal, daß lediglich einer spricht. Irgendwann hatte er sich schließlich ausgelabert und war daher wieder normal ansprechbar. Den anderen hatte ich meinen Plan bereits am Vorabend mitgeteilt, die waldbewachsene Hügelkette, die sich über zwanzig Kilometer nordwärts entlangstreckte, etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Von dort erzählte man sich allerhand schaurige Geschichten. Drachen sollten dort in finsteren Höhlen hausen, ihren wertvollen Hort bewachend. Man munkelte vom Königreich der Feen, das alle zwanzig Jahre auf der größten Erhebung erscheinen sollte. Zwar glaubte ich nicht mal ein Zehntel der manchmal haarsträubenden Geschichten, die zum Großteil wirklich Ammenmärchen waren, mit der man seine Großmutter erschrecken konnte, aber falls auch nur eine einzige wahr sein sollte, würden wir in jedem Fall ein gutes Abenteuer erleben. Heiteren Mutes zogen wir los, wobei das schöne Wetter sicherlich keinen unwesentlichen Anteil daran hatte. Wer öfter durch Wälder wandert weiß, wie unangenehm es ist, dies bei regnerischem Wetter zu tun. Der Boden ist dann durchweicht, große Tropfen perlen durch die Kronen der Bäume auf den eigenen Kopf, die feuchte Luft sorgt für mehr Kälte als eigentlich tatsächlich vorliegt, man wäre gern irgendwo im Trockenen. Nein, das ist wirklich nicht so lustig. Um so angenehmer ist es indes bei Sonnenschein. Wenn man andernorts ins Schwitzen kommt, bleibt es im Schatten des Tanns immer angenehm kühl. Man fühlt sich geborgen von den hölzernen Riesen, Sichtschutz hat man sowieso … an mir war ein Elf verlorengegangen, denn so für die Natur zu schwärmen ist für Menschlinge äußerst ungewöhnlich. Lag wohl an meinen Vorfahren mütterlicherseits, denn die kamen angeblich aus der Provinz Tschorka, die direkt an das Elfenreich angrenzte.

Wie fast stets vor großen Abenteuern tat sich anfangs gar nichts. Kein Monstrum stürzte aus den Büschen hervor um uns zu verschlingen, keine Trolle versperrten uns den Weiterweg, niemand bedrohte uns oder versuchte anderweitig uns zu schaden. Man konnte beinahe Langeweile bekommen. Rael kickte mit dem Fuß kleine Steine von der Straße, Ralija bohrte in der Nase – besonders heldenhaft benahmen wir uns wirklich nicht. Sina bildete eine rühmliche Ausnahme, da sie aufmerksam den Waldrand im Auge behielt, um etwaig auftauchende Gefahren sofort zu entdecken. Die Straße machte gerade eine Kurve nach links, also von den Hügeln weg, auf die sie bislang noch gezielt hatte. „Was ist jetzt?“ reagierte Rael auf das Zögern Sinas. „Wir müssen querfeldein weiter“ erklärte diese. „Die nächsten zwanzig Kilometer gibt es keinen Weg mehr.“ Raðvið schimpfte darüber „wieder aus dem Wald nicht mehr herauszukommen.“ Ralija zog ihn auf: „Sei doch froh mal woanders als in deinen muffigen Höhlen herumzustiefeln.“ – „Sag mal, wie sprichst du überhaupt über meine Heimat? Wir haben das modernste Belüftungssystem im ganzen Zwergenreich. Da weht ein frischer Wind durch die Stollen, da kommst du selbst im Hochsommer nicht ins Schwitzen, wenn du an der Esse stehst.“ Ralija zog es vor zu schweigen, denn jetzt noch gegen den aufgebrachten Zwerg zu diskutieren, war ein Ding der Unmöglichkeit. „Wenn wir so weit in den Süden gelangen sollten, kannst du uns alles zeigen“ schlug ich schlichtend vor. Raðvið schlug mit der Faust auf meine Schulter. „Mensch, das ist eine Idee! Das machen wir!“

Neben mir zeigte auch Ralija Interesse daran, Raðviðs Heimat kennenzulernen. Vermutlich waren zwei Drittel der Dinge, die ich über das Zwergenland gehört hatte, weit übertrieben, aber dennoch konnte ich mir gut vorstellen, daß es eine faszinierende Aura besaß. „Sag mal, Raðvið, wie ist das eigentlich bei euch mit den Frauen? Also ich meine, sind die auch so klein?“ – „So klein wie ich? Warum sollten die größer sein?“ – „Und haben die auch so viele Haare?“ – „Einen Bart haben sie keinen, wenn du das meinst. Unter den Achseln sogar lediglich einen feinen Flaum. Auch andernorts gibt es keineswegs besonders viele Haare. Das ist nicht so wie bei den Menschen …“

„Woher weißt du denn das, wie das bei den Menschenfrauen ist?“ fragte Sina mit unschuldigem Ausdruck. Der Zwerg blinzelte dreimal so schnell wie normal. „Woher ich das weiß? Also, das ist so … ich bin viel herumgekommen im Königreich der Menschen und einmal habe ich durch reinen Zufall gesehen, als ich gerade dabei war, meine Wasserflasche aufzufüllen, daß etliche Frauen badeten. Ganz nackt. Und da sah ich das halt.“

Rael lächelte verschmitzt. „Unser Kleiner ist also ein Spanner, das hätte ich nicht gedacht.“

„Nein, das stimmt nicht“ stritt Raðvið vehement ab. „Ich wusste ja nicht einmal, daß außer mir jemand am Fluß ist. Wie hätte ich denn ahnen können, daß die Menschen sich in schmutzigen Flüßen waschen?“ Jetzt musste auch ich lachen, weil er Raels Witz ernstgenommen hatte, woraufhin Raðvið noch verdutzter dreinblickte. „Lacht ihr jetzt alle über mich oder wie?“

„Nein, Raðvið, es ist nur ziemlich lustig, wie du dich gerechtfertigt hast. Dabei hat Rael nur Spaß gemacht.“ Der Zwerg brummelte etwas vor sich hin, was nicht einmal ich verstehen konnte. Aber vermutlich war das auch besser so. Beleidigt war er jedenfalls nicht, denn schon kurz danach schnüffelte er mit der Nase im Wind. „Trolle“ meinte er. „Streifen hier irgendwo herum. Den Gestank erkenne ich auf zweihundert Meter Entfernung. Stinkt wie die Sau!“

„Ich rieche gar nichts“ entgegnete Rael.

„Das liegt daran, daß ihr Menschen keine ordentlichen Nasen habt. Sie sind zwar groß genug, taugen zum Riechen aber kaum.“ spottete der Zwerg, der in etwa die Wahrheit traf.

„Er hat Recht“ half ihm Ralija. „Da scheinen sich tatsächlich Trolle herumzutreiben. Lasst uns vorsichtig sein.“ – „Wieso? Habt ihr etwa Angst vor diesen Stinkern? Die können es mit einem echten Zwerg ohnehin nicht aufnehmen. Der erste, den wir sehen, gehört mir ganz allein, damit das klar ist!“ An Selbstvertrauen mangelte es dem Kleinsten unserer Runde sicherlich nicht. Schon zückte er seine Axt, auch wenn vom Gegner noch nichts zu sehen war. Die konnten mehrere Kilometer weit entfernt sein, denn immerhin konnte es sein, daß die intensiven Ausdünstungen von bestimmten Ausscheidungen herrührten, die keineswegs bedeuteten, daß sich ihre Verursacher immer noch vor Ort aufhielten.

Wir formierten uns in einem lockeren Halbkreis, in dem wir zügig vorwärtsschritten. Alle hatten wir nun zu unseren Waffen gegriffen und sei es auch nur deshalb, weil Raðvið uns dazu angespornt beziehungsweise uns andere auch eine gewisse Unruhe ergriffen hatte. Irgendwo über uns in den Bäumen keckerte eine Elster. Wer den Rufen der intelligenten Vögel vertraut erkennt nahende Gefahren schneller, sagt man. Sina warf mir einen aufmunternden Blick zu. Sie hatte offenbar bemerkt, daß ich nervös geworden war, rechnete ich doch buchstäblich jeden Moment damit, einem Troll zu begegnen. Halblinks, zur Rechten von Sina pirschte ich mich voran, bis mich etwas zusammenzucken ließ – ein merkwürdiges Schnaufen direkt aus dem Busch vor mir! Sogleich wich ich mehrere Schritte zurück, hielt das Schwert abwehrend vor mich. Zu meinem Erstaunen musste ich erkennen, daß es sich lediglich um einen Igel handelte, der sich hier im Unterholz auf Wurmjagd befand. Ralija grinste an einen Baumstamm gelehnt über meine Unerfahrenheit. „Na ja, also ich wusste natürlich, daß das nur ein Stachelsäuger ist. Ich wollte es nur etwas spannend machen.“ versuchte ich mich herauszureden, was freilich nicht klappte. Peinlich, das musste natürlich wieder ausgerechnet mir passieren. Wenigstens hielt es Sina für entbehrlich, das Geschehene zu kommentieren. Mit keiner Regung zeigte sie jedoch, was sie darüber dachte. Stattdessen legte sie ihren Zeigefinger auf die Lippen und deutete anschließend auf einen Baum unweit unserer Position. Zuerst sah ich gar nichts, doch dann registrierten meine Pupillen Bewegungen auf einem lichten Waldweg unweit unserer Position.

Ein gutes Dutzend der grauen Unholde hatte sich dort zusammengerottet. Auf ihren Köpfen trugen einige martialisch anmutende Helme mit Hörnern, Figuren von Drachen oder noch scheußligerem Getier. Kettenhemd, Plattenpanzerung oder Lederwams sahen wir häufig. Entgegen ihrer Gewohnheit waren die meisten der Trolle nicht mit Keulen bewaffnet, sondern individuell verschieden. Dieser Umstand machte mich unschlüßig, schien es sich doch um etwas Außergewöhnliches zu handeln. Normalerweise galten Trolle eher als plumpe, keulenschwingende Untiere mit wenig Gehirnschmalz. Ferner pflegten sie in der Regel nur nachts aktiv zu sein. „Was haben die denn vor?“ flüsterte Ralija auf eine große Kiste weisend, die die Trolle mit sich schleppten. Auf ihr befanden sich seltsame Schriftzeichen, über die ich auf diese Entfernung jedoch lediglich sagen konnte, daß sie fremdartig aussahen. Handelte es sich dabei etwa um eine Art Trollschrift? Neben mir runzelte Sina die Stirn, die offensichtlich ähnliche Gedanken in sich trug. Je länger wir beobachteten, desto besser erkannte man, wie geordnet die Trolle zu Werk schritten. Einer schien eine Art Anführer zu sein, denn er bellte in einer mir völlig unverständlichen Sprache Kommandos, die von den anderen scheinbar willig befolgt wurden.

Aufmerksam observierte ich jede Bewegung der monströsen Wesen, die alles andere als dumm auf mich wirkten. Sie gingen zielstrebig zu Werke, was sich auch daran zeigte, daß jedem Beteiligten klar zu sein schien, wohin die Kisten zu transportieren waren. Als die Kolonne das Weite gesucht hatte, wagten wir uns vorsichtig aus unserer Deckung. Sollten wir sie verfolgen? Zu gern hätte ich gewußt, was sich in den Kisten befand. Doch da kamen wir wohl kaum so ohne weiteres heran. Dazu müssten wir schon die gesamte Eskorte beseitigen, was mir als eine schwer erfüllbare Aufgabe erschien. Sina hielt mich am Arm zurück. „Sie zu verfolgen bringt uns nichts ein. Lass uns lieber nachschauen, von woher sie gekommen sind.“ Wir suchten daher in entgegengesetzter Richtung nach Spuren, die uns die Herkunft der Trolle verraten konnten. Einige Kilometer legten wir zurück, problemlos den nicht zu übersehenden tiefen Fußstapfen folgend. Die Ungeheuer hatten sich wenig Mühe gegeben, ihren Zug zu verbergen. Entweder fühlten sie sich völlig sicher oder aber stark genug um Begegnungen jedweder Art nicht fürchten zu müssen. Der Wald wurde stufenweise dichter, es häuften sich abgebrochene Zweige. Die Umgebung wurde außerdem auch felsiger. „He, da ist der Eingang zu einer Höhle!“ rief Ralija. Sie zeigte mit der Hand auf eine Stelle, die mir persönlich gar nicht aufgefallen war. Wie sich jedoch unschwer erkennen ließ, war die Höhle ursprünglich zugewachsen gewesen. Herumliegende Äste, plattgetrampeltes Laub, kleine Zweige – all das deutete darauf hin, daß sich die Trolle hier erst einen Weg hatten bahnen müssen, ehe die Höhle betretbar war. Neugierig betrat ich den leicht muffigen Hohlraum. Der höhlenkundige Raðvið hatte eine Fackel entzündet und strebte an mir vorbei nach vorn, um die Führung zu übernehmen, womit ich kein Problem hatte. „Müssen wir da unbedingt rein?“ fragte Rael mit spürbarer Abneigung. „Hier gibt es sicher Spinnen und ich hasse diese langbeinigen, behaarten Viecher! Einfach ekelhaft, brr.“ Sie verzog das Gesicht, ließ sich dann aber doch überreden, mit uns zu kommen. Unser Zwerg schien jetzt nicht mehr zu bremsen zu sein. Seine Nase witterte Abenteuer, was verständlich war. Er wies auf diverse übermannsgroße Statuen von riesenartigen Untieren, die in grob in den Fels gehauenen Nischen standen. Die Gestalten sahen im flackernden Fackellicht gefährlicher aus als sie es wohl tatsächlich waren. Dennoch passierte ich die Stelle mit einem gewissen Respekt, da in meiner wilden Phantasie bereits Leben in die Steinkolosse kam, die nach nichts anderem trachteten, als mich mit ihrer Masse zu zermalmen. Freilich war das Unsinn, dennoch war ich froh, die im schummrigen Licht so bedrohlich wirkenden Kunstwerke hinter mir zu lassen. Ein hoher Gang öffnete sich vor uns, von dessen Decke Stalagtiten herabhingen. Diese kamen mir wie ein Damoklesschwert über unseren Köpfen vor. „Lasst uns vorsichtig sein“ schärfte uns Sina ein. „Diese Schriftzeichen an den Wänden verheißen nichts Gutes.“

„Was bedeuten sie denn?“ erkundigte sich Rael.

„Jeder Eindringling wird eines grausamen Todes sterben, sein Leib wird zu Hackfleisch verarbeitet und den Trollen zum Fraß vorgeworfen.“ – „Von wem stammen denn diese Zeichen?“ machte sich Raðvið bemerkbar. „Dunkelelfen.“

„So weit im Norden?“ wunderte sich Rael. „Normalerweise dürften die sich hier doch gar nicht halten können.“ Sina zog die Augenbrauen hoch. „Offiziell herrscht kein Kriegszustand zwischen Tag- und Nachtelfen, so gesehen könnte sich hier also durchaus eine Gemeinschaft eingenistet haben.“

Die Höhle schien zu einem Teil natürlich entstanden zu sein, doch man merkte, daß bestimmte Teile künstlicher Natur waren. Jemand schien hier nachgeholfen zu haben, passende Bedingungen für einen längeren Aufenthalt oder was auch immer zu schaffen.

„Schaut euch das mal an“ meinte Raðvið, der stehengeblieben war. Vor ihm lagen ein halbes Dutzend Dunkelelfen in ihrem Blut. Waffen aller Art lagen wild verstreut am Boden. Wie es aussah, hatte hier ein Kampf stattgefunden, bei dem die Nachtelfen unterlagen.

Noch im Tode hatten die meisten ihre attraktiven Gesichtszüge bewahrt, was der Szenerie eine gewisse Dramatik verlieh. Gerade so, als handle es sich um ein Theaterstück, das gerade den letzten Akt inszenierte. Behutsam wagte ich mich an eine der Leichen heran. „Die sind erst seit kurzem tot“ stellte ich nach kurzer Diagnose fest. „Ich vermute mal, unsere Freunde mit den Kisten sind dafür verantwortlich.“ – „Das denke ich auch“ schloß sich Ralija dieser Meinung an. „Dann dürfte uns hier unten im Prinzip keine Gefahr mehr drohen.“

Raðvið setzte die Erkundungstour fort, die uns steinerne Treppen hinabführte bis in einen kleineren Innenbereich, in dem allerhand Gerümpel herumlag, das hier achtlos hingeworfen worden war. Löchrige Decken, Behälter mit Brot, Früchte, einige beschädigte Schwerter, denen die Griffe fehlten, verstreute Holzteile. Etwas Besonderes fanden wir nicht. Zwei Seitengänge zweigten ab, die beide durch an den Wänden befestigten Fackeln beleuchtet wurden, was Sina sofort auffiel. „Die Fackeln sind halb heruntergebrannt – das heißt, sie müssen mindestens seit heute früh brennen. Die können also nur die Dunkelelfen angezündet haben, tja, dann bekamen sie unerwarteten Besuch.“ Wir gelangten in eine größere Höhle, von der aus man in mehrere kleinere Kammern gelangte, die wohl in den Stein geschlagen worden waren. Darin fanden wir jeweils zwei spartanische Nachtlager im Nachtelfenstil – also mit getrocknetem Moos als Unterlage sowie einer Wolldecke zum Zudecken – sowie etliche schnell zusammengezimmerte Möbelstücke, in denen persönliche Habseligkeiten lagen. „Die scheinen sich hier beinahe häuslich eingerichtet zu haben“ kommentierte Rael das Gesehene. „Bisher haben wir vierzehn Nachtlager gezählt, aber in der Vorhalle lagen nur sechs tote Krieger“ erinnerte Sina die anderen. „Wo sind die anderen geblieben?“ – „Vielleicht finden wir die noch“ mutmaßte Raðvið. „Oder sie waren zum Zeitpunkt des Überfalls gar nicht hier.“

„Dann können sie aber noch nicht zurückgekehrt sein“ klärte uns Ralija auf. „Dunkelelfen würden niemals ihre toten Artgenossen einfach liegenlassen, so wie wir es gesehen haben.“

„Müssen wir jetzt auf der Hut sein, eventuell von hinten angegriffen zu werden?“ stellte ich die Frage, die indirekt im Raum stand. „Durchaus“ gab Sina eine kurze Antwort. „Mehr als acht können es dann aber wohl nicht sein – es sei denn sie haben sich draußen vermehrt.“

„Mit denen werden wir locker fertig“ tat uns Raðvið kund, der wieder mal vor Selbstvertrauen nur so strotzte. So sicher war ich mir da nicht. Auch Ralija schien Bedenken zu hegen, denn sie biss sich auf die Unterlippe, gerade so, als könne dies ihre Zweifel, die ihr auf der Zunge lagen, zerstreuen. Trotzdem dackelten wir alle brav hinter dem Zwerg her, der nun weiter den Gang entlangging. Er führte in eine Tropfsteinhöhle, an deren äußerstem Ende eine steinerne Mauer eine künstliche Begrenzung bildete. Darauf prangten große Schriftzeichen, die mich sofort an diejenigen erinnerten, die auf den Kisten gewesen waren, die die Trolle weggeschleppt hatten. „Kannst du das entziffern?“ wandte ich mich an Sina, die nur den Kopf schüttelte. „Diese Symbole habe ich nie zuvor gesehen. Ich habe absolut keine Ahnung, von wem sie stammen. Vielleicht eine Geheimschrift.“ – „Dazu sind die Trolle doch viel zu blöd“ spuckte Raðvið geringschätzend auf den Boden. „Die vermaledeiten Spitzohren wiederum würden sich niemals herablassen, so primitive Zeichen zu verwenden.“ Damit traf er den Nagel wohl auf den Kopf, denn so fremdartig die Symbole auch aussahen, sie waren allesamt von einer gewissen Schlichtheit, die so gar nicht zum reich verzierten, vielfach verschnörkelten Alphabet der Nachtelfen passen wollte. „Merkwürdig“ fand Rael. „Diese Steine hier sind völlig ohne Mörtel aneinandergefügt. Dabei gelingt es mir nicht einmal, mein Messer in die Ritzen zu bekommen – so genau sind die Steine zugehauen.“

„Das passt nicht für Trolle“ kratzte sich Sina am Kopf. „Ich stehe ehrlich gesagt vor einem Rätsel. Wer immer diese Mauer auch gebaut hat, es muss sich um eine fremdartige Kultur handeln. Wenn ich es nicht besser wissen würde, dann hätte ich die Vermutung, es sind irgendwelche abtrünnigen Zwerge.“ Erregt räusperte sich Raðvið. „Das ist vollkommen ausgeschlossen. Während der gesamten Geschichte meiner Ahnen ist nie davon die Rede, daß ein Zwergenstamm gegen den König rebelliert hätte. Außerdem ist die Mauerbauweise untypisch für uns. Die Steine sind viel zu groß und die Mauer ist auch nicht leicht nach innen geneigt wie bei uns, sondern gerade.“ – „Es ist jetzt auch egal, von wem die Mauer stammt“ unterbrach ich die in meinen Augen sinnlose Diskussion. „Schauen wir, was dahinter so los ist oder lassen wir es bleiben?“ – „Hast du vielleicht eine Spitzhacke dabei?“

„Brauchen wir nicht“ grinste ich. „Dort hinten ist eine Öffnung.“ – „Das hättest du aber auch gleich sagen können.“ Der besagte Eingang schien von den Baumeistern gewollt zu sein, denn beim Durchgehen konnte ich weder Anzeichen finden, daß hier mal eine Tür den Zugang versperrt hatte, noch andere Vorrichtungen wie etwa ein Gitter oder Halterungen für eine getarnte Tür. Auf der anderen Seite empfing uns zu meinem Erstaunen keine Höhle, sondern ein langer Gang, der eine ganze Weile tiefer in den Berg hineinführte. Dann machte er einen Knick nach links, um in eine große, aber relativ niedrige Kammer zu führen, in deren Mitte ein steinerner Quader stand. Vier Statuen standen um ihn herum, die ich als künstlerisch gekonnte Darstellungen von Drachen identifizierte, die ihre Köpfe zum Steinquader gerichtet hatten.

„Das ist eine Grabkammer“ war sich Rael sicher. „Verhältnismäßig aufwendig angesichts des langen Transportweges nach draußen. Es steht hier auch nur ein einziger Sarkophag, was belegt, daß die hier beigesetzte Person extrem wichtig gewesen sein muß.“

„Woher weißt du das alles?“ blieb Raðvið skeptisch. „Der Steinquader hier könnte doch auch ein Altar sein. Demnach wäre das hier ein Heiligtum für den Drachengott.“

„Zweifellos kommt dem Drachen eine wichtige Rolle zu, denn sie beschützen den Verstorbenen über den Tod hinaus, da sie direkt auf den Sarkophag …“ – „Altar!“ wurde sie von unserem Zwerg unterbrochen. „Komm her und sieh dir diese Einkerbungen an“ verlangte Rael. „Der obere Teil ist eine Steinplatte, die den Hohlraum darunter abdeckt. Das wirst du als Angehöriger eines Handwerker- und Steinmetzvolkes sicher erkennen.“ Jetzt musste er nach genauer Inspektion zugeben, daß es sich doch um keinen Altar handelte. Der Versuch, die Platte gemeinsam hochzuheben, scheiterte kläglich. Mit den bloßen Fingern hatten wir sogar zu fünft zu wenig Angriffsfläche und Klingen, die wir als Hebel hätten nutzen können, ließen sich nicht tief genug zwischen die Steine rammen. „Schade. Ich hätte zu gern erfahren, was drin ist.“ Man sah Rael ihre Enttäuschung an. „Wahrscheinlich wären eh nur ein paar zerfallene Knochen drin gewesen“ tröstete Ralija. Grinsend trat ich neben Sina, die grübelnd vor einer Wand stand, an der eine Vielzahl von Zeichen eingraviert waren. Mir sagte das alles rein gar nichts, aber wie mir schien, unternahm Sina den ernsthaften Versuch einer Dechiffrierung. „Diese Symbole sehen so eigentümlich aus“ murmelte sie mehr vor sich hin als zu mir gewandt. „Keinerlei Ausschmückungen oder Verzierungen wie bei uns Elfen, nichts von der sachlichen Nüchternheit der Zwergenschrift, auch nicht aneinandergeschmiegt schlicht wie bei den Menschen.“ – „Du meinst, es ist wirklich eine eigenständige Kultur?“ beteiligte ich mich an ihren Gedanken. „Hm?“ schien sie mich erst jetzt wahrzunehmen, dabei hatte ich die ganze Zeit dicht neben ihr gestanden. „Nun ja, alles deutet darauf hin. Eine ausgestorbene Art, von der wir nichts wissen, die einen Drachenkult betrieb und Höhlengräber für ihre Anführer errichtete. Das fasziniert mich.“ Mit einem Seitenblick gewahrte ich Raðvið einige Silberamulette einstecken, die er weiß Odin wo gefunden hatte.

„Da stehen noch ein paar von den Kisten“ lenkte er uns wild gestikulierend ab. Unser Kleiner hatte in einer Ecke drei der Kisten entdeckt, die die Trolle getragen hatten. Aus der Nähe betrachtet wirkten sie noch mysteriöser. Ovale Kreise prangten auf den Seitenflächen, rötliche Inschriften schienen wie Feuer zu leuchten. Das sah aus, als glimme im Inneren ein Vulkan.

„Seid still, da kommt jemand!“ zischte Sina. „Schnell, versteckt euch. Vielleicht können wir dann einen Kampf noch vermeiden.“ – „Verstecken ist was für Hasenfüße. Ein Nachkomme in direkter Linie von Ordasch, dem Steinbeißer, Urgroßenkel von Maladar, dem Berserker, hat es gar nicht nötig …“ – „Raðvið!“ brachte ich ihn zum Schweigen. „Stell das Murmeln ein und schwing deinen Hintern in Deckung. Wir wissen nicht, mit wem wir es zu tun bekommen, also wäre es dumm, die Konfrontation zu suchen, noch dazu wo wir mit dem Rücken zur Wand stehen, was gleichbedeutend damit ist, daß uns der Gegner hier festnageln kann.“ Er fügte sich erstaunlich schnell und zwängte sich in dieselbe Nische hinter einer Wandstatue wie ich. Die anderen hatten ähnliche Schlupfwinkel gefunden. Es stand ja genügend Zeug herum, hinter dem man Zuflucht nehmen konnte. Raðvið neben mir klirrte mit seiner Axt herum, was mich veranlaßte, ihm ein „scht“ zuzuraunen. Dann hörten wir nur noch die näherkommenden Geräusche von Stiefeln auf Stein. Immer lauter wurden sie, zusätzlich intensiviert durch das Echo. Ein Dutzend Trolle traten nacheinander in die Grabkammer. Ihr intensiver Geruch blieb selbst mir nicht verborgen. Raðvið rümpfte die Nase und fechelte sich mit der Hand symbolisch frische Luft zu. Mir hingegen ging der Arsch auf Grundeis. Hoffentlich rochen die nicht genauso gut wie ich, denn sonst mussten sie uns zwangsläufig bemerken. Wenn man uns entdeckte, standen unsere Aussichten schlecht. Nervös beobachtete ich die Trolle die Kisten aufheben, um sie fortzuschaffen. Mein Nebenmann knirrschte mit den Zähnen. Es schien ihm gar nicht zu schmecken, daß seine vermeintlich sichere Beute entschwand. Das konnte ich durchaus nachvollziehen. Die Unholde verzogen sich ebenso schnell wie sie gekommen waren. Erleichtert darüber, heute keine Freifahrt in Odins Halle gewonnen zu haben, atmete ich auf. Langsam krochen wir aus unseren Verstecken hervor.

„Da haben wir gerade noch mal Glück gehabt“ stellte Rael fest. Auch Sina schien froh zu sein, daß es zu keinem Kampf gekommen war. Raðvið vertrat natürlich nach wie vor die These, daß wir „den stinkenden Pennern richtig in den Arsch getreten hätten.“ Sicherheitshalber warteten wir ein ganze Weile, ehe wir uns zurückschlichen.Unsere Vorsicht war umsonst, da die Trolle abgezogen waren. Sie hatten offenbar nicht alle Kisten auf einmal tragen können und waren aus diesem Grund zurückgekommen, um den Rest zu holen. Schleunigst machten wir uns aus dem Staub, ehe noch die vielleicht auswärts auf der Jagd befindlichen restlichen Dunkelelfen zurückkehrten und uns für die Diebe hielten.

„Was treiben wir jetzt?“ fragte Sina.

„Mich würde es interessieren, was in den Kisten ist“ bekannte der Zwerg. „Ich wette, unermeßliche Reichtümer, mit denen diese verlausten Stinker eh nichts anzufangen wissen.“

„Wir könnten doch mal schauen, wo sie die Beute hingebracht haben“ machte Ralija einen Vorschlag. „All zu weit kann das kaum entfernt sein. Falls sich eine Gelegenheit ergibt, langen wir zu.“ – „Versuchen können wir es“ meinte ich. „Späher, Kundschafter und kampfwillige Zwerge nach vorn!“ So zogen wir los, den tiefen Spuren der kistenbeladenen Trolle hinterher, um sie zu beklauen, sofern dies möglich werden sollte. Unterwegs ereignete sich nichts Weltbewegendes.

Ein Eichelhäher in der Nähe keckerte, was einem aufmerksamen Beobachter unser Nahen verraten hätte. Doch die Trolle scherten sich nicht um das Gekrächze von Federvieh. Unbeeindruckt stierten die beiden Wächter vor sich hin, die wir vor dem Eingang zu einer Befestigung entdeckten. Eine Pallisade im Vorfeld eines Hügels ließ vermuten, daß der Unterschlupf unterirdisch angelegt war. Genau dorthin führten die Spuren. Aus sicherer Entfernung beobachteten wir das Treiben der beiden Wachen, die gelangweilt einige Schritte hin- beziehungsweise hertrotteten. An denen mussten wir irgendwie vorbeikommen. Sina zeigte auf den baumbestandenen Abhang. „Wir können uns da hinaufschleichen. So umgehen wir die Wächter.“ – „Einverstanden.“ Im Schutz der Vegetation umkreisten wir den offiziellen Zugang um von der Rückseite her mittels eines Seiles, das wir an einem Baumstamm festgemacht hatten, ins Innere zu gelangen. Nacheinander hangelten wir uns einer nach dem anderen nach unten ab. Lukku hatte irgendeine zweite Leine mit einem speziellen Knoten so angebracht, daß er von unten aus die Festmachung des Seils oben lösen konnte. Auf diese Art blieb das Abstiegsseil nicht einfach hängen, was unser Eindringen tarnte. Die gähnende Leere eines in den Hügel gegrabenen Stollen empfing uns. Wir wagten es, die Höhle des Löwen zu betreten, auch wenn mir dabei etwas mulmig zumute war. Raðvið war der Erste, der den Sprung in die Finsternis riskierte.

„Mir nach. Meine Nase wird uns direkt zu den Schätzen führen“ flüsterte uns Raðvið zu. „Ich kann sie förmlich schon riechen!“ Zwar glaubte ich nicht so recht daran, aber seine schöne Illusion wollte ich aufrechterhalten. Sina und Ralija folgten dicht hinter ihm, Rael bildete mit mir zusammen die Nachhut. Dicke Spinnweben wehten in ihr Gesicht, die sie mit einer hastigen Bewegung wegwischte. Das klebrige Netz blieb an ihren Fingern kleben, was sie ihre Hand an der Robe abstreifen ließ. Zu unserem Glück war die dazugehörige Spinne, die sicherlich kein kleines Kaliber gewesen war, umgezogen. Andernfalls hätte uns wohl Raels Entsetzensschrei verraten können, da Raðvið uns in diesem Moment zurückwinkte. Vor uns teilte sich der Stollen nach links sowie rechts. Von der linken Seite nahten drei Trolle, die nach rechts weitergingen, ohne uns zu entdecken. Wir hatten uns eng an die Wand gedrückt, was uns für jeden im Seitengang praktisch unsichtbar machte, kam er nicht direkt an uns vorbei. Wir warteten noch eine Weile, bevor wir den linken Tunnel wählten.

Mit lautlosen Bewegungen tasteten wir uns im dürftigen Fackellicht voran, stets darauf gefaßt, unangenehmen Begegnungen auszuweichen. Abermals erreichten wir eine Gabelung, wo wir ohne Nachzudenken unserem selbsternannten Führer hinterherstiefelten. Noch einmal verzweigte sich der Stollen und schön langsam befürchtete ich, daß wir aus eigener Kraft nicht mehr zurückfinden würden. Vor uns machte der Gang einen Knick um neunzig Grad nach rechts. Vom angrenzenden kurzen Gangstück aus gingen drei Türen aus massivem Holz weg. „Das muss ihre Schatzkammer sein!“ erklärte Raðvið entschloßen. „Hinein ins Vergnügen.“ Schon hatte er die erste Tür geöffnet, doch zu seiner Enttäuschung befanden sich darin nur gestapelte Kisten mit Getreide, von den Regalen hingen lange Würste und auf dem Boden standen Fäßer mit einer für unsere Mägen ungenießbaren Flüssigkeit. Die gegenüberliegende Tür führte uns in einen Raum, in dessen Mitte sich eine Art Suhle befand. In einem bis Kniehöhe ummauerten Areal wabberte eine zähe Flüssigkeit, die wie Schlamm aussah. „Was ist das denn?“ wunderte sich Ralija. „Ist das etwa die Art der Trolle zu baden?“ – „Da bin ich mir sicher“ bestätigte Rael. „Die wälzen sich im Dreck. Deshalb stinken diese Viecher auch so.“ Blieb noch die dritte Tür übrig, hinter der uns ein weiterer Gang erwartete.

Neugierig steckte Raðvið seine Nase in die Kammer. „Gold!“ schrie er außer sich vor Freude. „Seht euch das mal an!“ Schon hatte er sich in die Schatzhaufen hineingeworfen, warf dicke Goldmünzen in die Höhe und beäugte Edelsteine, welche in den buntesten Farben leuchteten. „Steckt euch soviel ein, wie ihr tragen könnt! Worauf wartet ihr noch?“ spornte er uns an. Smaragde, Rubine, Saphire und andere Kostbarkeiten wanderten in unsere Taschen. Gierig rafften wir zusammen, was uns wertvoll genug erschien, warfen nachträglich Stücke weg, wenn wir ein noch großartigeres fanden. Wir verschwitzten leider allesamt darauf zu achten, was um uns herum geschah. Ein kapitaler Fehler.

„Ähm, Leute“ versuchte ich die anderen auf mich aufmerksam zu machen. „Es gibt da ein klitzekleines Problem, nämlich diese Freunde hier drüben.“

Es mochten gut zwei Dutzend Trolle sein, die uns den Rückweg blockierten. Abwartend richteten sie ihre Waffen auf uns, die wir noch nicht einmal alle in Kampfposition waren. Raðvið warf eine überreich verzierte Goldkrone zur Seite, um seine Axt zu ziehen. Perlenketten hingen um seinen Hals, edelste Ringe zierten seine Finger, aus seinem Gepäcksack quollen weitere Unikate. Wir sahen alle irgendwie lustig aus, über und über mit Goldartefakten behangen, doch die Situation war es wahrlich nicht. Eng standen wir nebeneinander und beratschlagten kurz unser Vorgehen. „Auf sie mit Gebrüll!“ gab der Zwerg seinen üblichen Senf dazu. „Verhandeln wir lieber“ versuchte es Rael auf diplomatischem Weg, doch keiner von uns glaubte daran, daß man mit Trollen verhandeln könnte. „Wir müssen uns durchkämpfen“ erkannte ich die einzige Lösung. „Bleibt eng zusammen und deckt euch gegenseitig. Dann haben wir eine kleine Chance.“ Eine äußerst geringe, aber das fügte ich bewußt nicht mehr hinzu. Mit einem lauten Schrei stürzte ich mich auf den ersten Troll, der meinen Schlag sauber parierte und auch meinen zweiten Hieb abblockte. Schließlich erwischte ich ihn mit einem Stich, was ihn kampfunfähig machte. Der zweite stach in meine Richtung, doch daneben. Rael wurde links von mir niedergestreckt, wodurch sich ein Loch in unserer Reihe ergab, das ich schleunigst stopfen musste. Aus den Augenwinkeln heraus erkannte ich nicht, ob unsere Magierin noch am Leben war. Verbissen kämpfte ich weiter, in der Absicht zu retten, was noch zu retten war. Sina zu meiner Rechten taumelte nach einem Treffer zurück, fing sich aber wieder. Langsam wurde es brenzlig. Der Feind drohte mehr und mehr die Oberhand zu gewinnen. Von den Abwehrbewegungen meines Gegners ließ ich mich dazu verleiten, einen Sprung nach vorn zu machen. Zwar verwundete ich ihn, doch merkte ich im selben Augenblick, daß ich damit einem anderen eine Treffermöglichkeit gegeben hatte. Prompt knallte etwas seitlich an meinen Kopf, das mich von den Beinen holte. Zu Boden sinkend schwanden mir die Sinne, während das Kampfgetöse um mich herum immer leiser wurde, bis es schließlich ganz verstummte.

 

*

 

Grenzenlose Schwerelosigkeit umgab mich, ein dunkler Ozean erstreckte sich soweit das Auge reichte. Die Nacht dauerte schier endlos, ich fühlte mich geborgen wie ein Bär in seiner Höhle während des Winterschlafs. Doch dieser Zustand währte nicht ewig, denn riesige Steine fielen vom Himmel ins Meer, erste Wellen bildeten sich, die sich immer mehr auftürmten. Vorbei war es mit der Ruhe. Es brandete laut obgleich nirgendwo Land in Sicht war, Brecher fegten über die Meeresoberfläche hinweg, alles schwankte. Erst allmählich begriff ich, daß ich mich keineswegs auf hoher See befand, sondern in einem schlecht beleuchteten Raum. Das erkannte man daran, daß dort, wo oben sein musste, keine Sterne zu sehen waren, sowie an der Tatsache, daß ich unter mir kalten Stein fühlte. Es kostete mich viel Überwindung, die Augen etwas zu öffnen, doch außer einer Steinmauer direkt vor meiner Nase konnte ich nichts erkennen. Die Empfindungen über meinen Körper kamen langsam zurück, doch wirklich bewegen konnte ich mich nicht. Die Gewissheit, daß ich an Händen und Füßen gefesselt war, drängte sich in mein Bewußtsein. Mit großer mentaler Kraftanstrengung drehte ich mich herum, wobei mir irgendwas am Hals die Luft abschnürte. Es dauerte ein bisschen, ehe ich bemerkte, daß man mich mit einem dicken Seil irgendwo an der Wand festgebunden hatte. Dadurch war meine Bewegungsfreiheit weitgehend eingeschränkt. Wenn bloß das vermaledeite Kopfweh nicht wäre! Mittlerweile war mir natürlich eingefallen, daß man mich niedergeschlagen hatte. Ich konnte wohl froh sein, überhaupt noch am Leben zu sein, auch wenn ich derzeit ein Gefangener der Unholde zu sein schien. Was wohl mit den anderen war?

„Sina?“ versuchte ich zu schreien, aber mehr als ein Gekrächze brachte ich nicht heraus. Doch man schien mich gehört zu haben, denn von irgendwo her aus dem Dunkel kam eine Antwort. „Bist du auch schon aufgewacht?“ Erleichtert atmetete ich auf. „Bin ich froh, daß es dir gut geht.“ – „Bis auf ein paar kleine Schrammen bin ich unverletzt geblieben. Was ist mit dir?“

„Bei mir ist alles in Ordnung, aber was ist mit den anderen?“ fragte ich besorgt.

„Denen geht es gut. Wir haben uns aber Sorgen um dich gemacht.“ Reihum vernahm ich auch die Stimmen der anderen, die irgendwo stecken mussten, aber ich sah nicht weiter als bis zu einem eisernen Gitter, das meine Zelle oder was auch immer es war, von einem angrenzenden Gang trennte. Näher an das Gitter heran konnte ich wie gesagt durch den Strick um meinen Hals nicht, es sei denn ich beabsichtigte, mich selbst zu erdrosseln. Eine Weile mühte ich mich damit ab, ihn mit den Zähnen durchzunagen, aber erstens schmeckte er scheußlich, zweitens brächte mich das der Freiheit keinen Schritt näher. Waffen, Werkzeuge oder dergleichen, mit denen ich das Gitter hätte aufbrechen können, hatte man mir natürlich abgenommen. So blöd waren nicht einmal Trolle.

„Hat jemand eine gute Idee, wie wir hier herauskommen können?“ wagte ich eine Frage.

„Mir sind die Hände gebunden“ scherzte Raðvið. „Wenn mir jemand ein Messer gibt, dann wäre mir sehr geholfen.“ So sehr ich mich auch selbst bemühte, die Stricke gaben nicht wirklich nach. Mehrmals legte ich Pausen ein, um mich zu erholen und es erneut zu versuchen, aber letztlich gab ich es auf, da ich mir nur die Haut an den Handgelenken aufscheuerte.

„Habt ihr eine Ahnung, wieso die uns nicht sofort getötet haben?“ vernahm ich Ralijas ängstliche Stimme. „Na, weil uns die in ihren größten Kochtopf schmeißen wollen“ vermutete unser Zwerg. „Dann werden wir dem Obermotz zum Abendessen serviert.“

„Könnte sein“ meinte Sina. „Wenn ich mir das vorstelle: gefüllter Zwerg in Metsoße mit Elfenhäppchen …“ – „Vielleicht bevorzugen die auch Menschenbraten am Spieß“ setzte Raðvið noch einen drauf. Das musste der vielbeschworene Galgenhumor sein.

„Es war eine schöne Zeit mit euch“ resignierte ich. „Daß unser Abenteuer so ausgeht, konnte ich nicht ahnen. Sina, ich möchte dir noch sagen, daß …“

„Du musst nichts sagen“ half sie mir. „Ich spüre es auch so.“

„Mir kommen gleich die Tränen“ brummte Raðvið mißmutig. „Wir werden bald in die Küche abtransportiert um dort aufgespießt oder geröstet zu werden und die beiden Turteltäubchen raspeln Süßholz.“

„Lass sie doch“ beschwichtigte Rael. „Es ist doch schön, wenn es endlich heraus ist. Die beiden mögen sich, ist doch in Ordnung.“

„In den zwergischen Heldenepen sagen Helden am Schluß aber ganz andere Sachen, bevor sie sterben. Beispielsweise ‚Heute ist ein guter Tag zum Sterben.’ oder ‚Welch tapferer Krieger stirbt mit mir!’, zuweilen auch Dinge wie ‚Weiche, Leben, aus meinem kleinen Körper’ oder ‚Leben oder nicht Leben, das ist hier die Frage’.“

„Die Realität ist halt kein Zwergenepos, wo sich die Helden im letzten Augenblick selbst retten.“ Schweigen war die Folge. Bedrückendes, hoffnungsloses Schweigen. Irgendwo von rechts kommend quietschte eine Tür, dumpfe Schritte näherten sich meiner Zelle. Im selben Moment sah ich schon vier Trolle den Gang entlangkommen, die das Gittertor aufschloßen und vor mich hintraten. Einer löste den Strick von der Wand, der andere hob mich über die Schulter um mich wie einen Sack Mehl hinaus zu tragen, ohne daß ich dagegen etwas unternehmen konnte. „Haltet durch!“ rief ich den anderen zu, was mir einen Knuff des hinter mir gehenden Trolls in den Rücken einbrachte. Was er sagte, verstand ich nicht, aber es hörte sich unfreundlich an. Vermutlich sollte ich meine Schnauze halten. Der Troll trug mich mehrere Gänge entlang, bis wir eine relativ hohe Höhle erreichten, wo er mich ablud. Die Höhle mochte gut dreißig Schritt lang und wohl ebenso breit sein. Etliche Feuerstellen an den Wänden tauchten die Umgebung in ein heimliches Halbdunkel. Das Zentrum bildete ein kreisrunder Stein von etwa drei Metern Durchmessern auf einer erhöhten Plattform. Von meiner liegenden Position aus konnte ich schwerlich sehen, worum es sich dabei handelte. Kochtöpfe sah ich zumindest keine. Wie eine Küche sah es hier auch nicht aus. Sonderbar. Schon packte mich wieder einer der Wächter um mich in die Mitte auf den runden Stein zu hieven, dessen Oberfläche seltsam verfärbt war. Dann dämmerte es mir, worum es sich bei der eingetrockneten Flüssigkeit handelte: Blut. Offenbar eine Art Schlachtbank. In diesem Moment trat ein anderer Troll an den Stein heran, der eine gruslige Maske trug. Er hob seine Pranken in die Luft, schaute an die Decke und murmelte irgendwelche Formeln. Wie ein Koch sah der wahrlich nicht aus. Vielmehr wie ein Schamane, was bedeuten würde … ja, die wollten mich gar nicht essen, sondern ihrem Gott opfern! Unruhig warf ich mich zur Seite, doch auf Grund der Fesseln blieb der Effekt gering. Schon nahm der vermeintliche Schamane eine zweihändige Streitaxt und hob sie hoch über mich. Zwar war ich echt kein Feigling, doch in diesem Augenblick schloß ich dennoch lieber die Augen. Gar nicht heldenhaft wartete ich auf das Ende, auf eine herabsausende Schneide, die meinen Körper zerteilte. Doch stattdessen hörte ich nur ein unterdrücktes Röcheln, während gleichzeitig eine Flüssigkeit auf mich spritzte. Unwillkürlich öffnete ich die Augen wieder. Der Troll über mir kippte soeben zur Seite, mehr bekam ich auf Anhieb nicht mit. Rings um mich herum kam Leben in die anwesenden Trolle. Es mochten zwei oder drei sein, das vermochte ich nicht genau abzuschätzen. Gedämpfte Kampfgeräusche drangen an meine Ohren, die plötzlich abrupt anhielten. Eine dunkle Gestalt beugte sich über mich.

„Da bin ich ja gerade noch zur rechten Zeit gekommen.“ Lukku brachte so etwas wie ein Grinsen zustande, ehe er mir mit seinem Dolch die Fesseln durchtrennte.

„Lukku!“ rief ich freudig. „Du kannst mir glauben, daß ich noch nie so froh war, einen Dunkelelf zu sehen! Sag mal, wie kommst du eigentlich hierher?“ – „Das klären wir später. Wo sind die anderen?“ Ich massierte meine durch die lange unnatürliche Haltung tauben Glieder. „Ich bin mir nicht ganz sicher. Einen Gang entlang, einmal rechts, einmal links. Das ist alles, woran ich mich erinnere.“ Lukkus guten Sinnen hatten wir es zu verdanken, daß wir den Zellentrakt bald fanden. Im Vorraum saßen zwei Trolle auf Kisten und vertrieben sich mit einer Art Würfelspiel die Zeit. Lukku deutete mir an, ihm das Ganze zu überlassen. Lautlos pirschte er sich an die Wachen heran und dann ging alles so schnell, daß nicht mal ich genau sah, was geschah, obwohl ich alles gesehen hatte. Lukku tauchte jäh hinter dem ersten Troll auf, hatte ihm mit einem schnellen Hieb die Kehle durchgeschnitten und ehe der zweite richtig begriff, was passierte, traf ihn dasselbe Schicksal. „Wir können weiter“ war Lukkus einziger Kommentar. Die anderen hatten wir schnell befreit, was sogar Raðvið dazu brachte, lobende Worte zu äußern. „Das hat du altes Spitzohr wirklich gut hingekriegt. Das hätte kein Zwerg besser machen können.“ Jeder, der ihn kannte, wusste, daß es kein besseres Lob gab. „Schnappt euch eure Waffen – die liegen im Vorraum“ gab der Dunkelelf kund.

Nachdem wir unsere Habseligkeiten, die man uns abgenommen hatte, wieder an uns genommen hatten, fühlten wir uns sogleich besser. Ohne Panzer, völlig waffenlos stand man halt doch recht nackt da. Raðvið wollte sofort nochmal in die Schatzkammer zurück, doch Lukku widersprach. „Die Patrouille, die regelmäßig den Hauptgang entlangkommt, wird in Kürze abgelöst. Was meint ihr wohl passiert, wenn die herausfinden, daß die bisherige Patrouille weg ist?“ – „Wie ‚weg’?“ hakte Raðvið nach.

„Krk“ machte Lukku, indem er mit seinem Daumen waagrecht vor seinem Hals eine Bewegung andeutete. „Ach so“ verstand der Zwerg. „Das ist jammerschade. Ich hätte zu gern etwas eingesteckt … als kleines Andenken.“

„Sei froh, wenn du mit heiler Haut hier herauskommst“ schalt ihn Ralija. „Beinahe hätten die Schaschlick aus uns gemacht. Mir reicht es fürs erste.“

„Mir auch“ schloß sich Rael an. „Vorhin in der Zelle ist eine Spinne über mein Gesicht gelaufen. Das war der blanke Horror.“

Lukku führte unsere Schar an, denn er kannte den Weg nach draußen. Die dunklen Gänge lagen völlig ruhig vor uns. Selbst im Hauptgang, der unmittelbaren Verbindung mit der Außenwelt regte sich niemand. „Die Wachen liegen da in den Nischen“ wies Lukku auf eine Stelle, die schlecht einsehbar war, denn der Schatten machte dort jede Kontur unkenntlich. Es tat gut, endlich wieder frische Luft einzuatmen. Zu meiner Verwunderung war es draußen dunkel. Drinnen hatte ich das Zeitgefühl verloren und war daher jetzt durch den Umstand der Nacht etwas erstaunt. Obwohl es eigentlich klar war, daß Lukku den Schutz der Nacht für seine Zwecke ausgenutzt hatte. Hätte ich an seiner Stelle wohl auch so gemacht. Da uns weder Torwachen noch sonst irgend jemand den Ausgang verwehren konnte, machten wir uns vom Acker, denn wir wollten nicht doch noch im letzten Moment von einer alarmierten Horde Trolle geschnappt werden, die unsere Flucht bemerkten. Wir stolperten mit Ausnahme des Dunkelelfen mehr durch den Wald als daß wir marschierten, denn unsere Augen waren nicht so gut für die Nacht ausgeprägt wie die seinen. Dennoch kamen wir geschwind voran, was auch daran liegen mochte, daß der Untergrund hier kaum holprig war. Nachdem wir etliche Stunden marschiert waren, erreichten wir ein Elfendorf, in dem um diese Nachtzeit natürlich nichts mehr los war. Die einzige Herberge hatte freilich schon zu, weshalb wir uns in einen Heustadel eines nahe gelegenen Bauernhofs verkrochen, wo wir die restliche Nacht leidlich gemütlich verbrachten. In den frühen Morgenstunden fing es zu regnen an, was uns aber wenig scherte, weil wir ja jetzt ein Dach über dem Kopf hatten. Das Prasseln wirkte zudem beruhigend und verhalf mir zu einem tiefen Schlaf. Anderntags wurde ich etwas jäh geweckt, als ein Elfenbauer uns regelrecht aus dem Schlaf riss. „Was habt ihr hier verloren? Schert euch weg aus meinem Stadel, ihr elendes Gesindel! Nirgendwo bleibt man verschont vor diesen Landstreichern …“

Sina versuchte beruhigend auf den Landmann einzuwirken, was ihr trotz all ihres Charmes nur ansatzweise gelang, so aufgebracht war der Agrarjunker. Wir steckten die wenigen Habseligkeiten, die uns geblieben waren, ein und zogen mäßig ausgeschlafen los. Die Stimmung war mittelprächtig, vor allem weil Raðvið wegen der Schätze, die uns entgangen waren, zum Jammern anfing. Besonders heldenhaft war unser letztes Abenteuer wahrlich nicht verlaufen, auch wenn wir mehr als glimpflich davongekommen waren. Immerhin wären wir beinahe über die Klinge gesprungen, hätte Lukku nicht zur rechten Zeit eingegriffen. Soviel Glück hat man nur selten, im Zweifelsfall nie. Vermutlich standen wir unter Odins Schutz – obwohl … vier aus unserer Truppe verehrten andere Götter, also musste das nicht zwangsläufig der Verdienst eines einzelnen Gottes sein.

Da noch niemand von unserem kleinen Mißgeschick gehört hatte, empfing man uns in dem nächsten Dorf, das wir passierten, nach wie vor wohlwollend, da offensichtlich Geschichten unserer Heldentaten bis hierher gedrungen waren. Man lud uns zum Essen ein, bedachte uns mit Proviant und ein Elf bat sogar um die Signierung seines Bogens. Ferner erzählte man uns, daß man unsere Anwesenheit wohl auch im Nachbardorf schätzen würde, da dort eine Räuberbande ihr Unwesen trieb. Wir verabschiedeten uns und waren uns alle einig bezüglich unseres Ziels: das angesprochene Dorf. Der Marsch war weder beschwerlich noch besonders weit. Guten Mutes erreichten wir es und begaben uns sofort zum Bürgermeister. Der schilderte uns in knappen Worten, daß vor einigen Wochen eine Horde Krieger aufgetaucht war, die ankündigte, daß man mit Problemen rechnen müsste, würde man nicht eine Schutztruppe anheuern. Zu einem Vorzugspreis versteht sich. Der Bürgermeister lehnte derartige „Hilfe“ ab, was dann zu einer Häufung von Vorkommnissen geführt hatte. Weizen auf den Feldern war stellenweise ausgerissen, auf der Weide grasende Schafe verschwanden spurlos, eine Brücke über einen Bach ganz in der Nähe wurde schwer beschädigt und ein Bauernhof am Dorfrand fing Feuer. Alles Anzeichen für Sondermaßnahmen zur Erhöhung der Zahlungsmoral. Noch immer wollten sich die Bewohner des Dorfes nicht erpressen lassen, was man in einer Bürgerversammlung auch einstimmig so beschloß. Einige Tage blieb es ruhig, dann verschlimmerten sich die Zustände. Ein Elfenmädchen war von maskierten Unholden vergewaltigt worden, die Verunsicherung nahm zu. Daraufhin hatte man eingeschüchtert eingewilligt, der Tributzahlung nachzugeben.

Am folgenden Tag wollten die Räuber wiederkommen um abzukassieren, doch jetzt waren ja wir da und konnten die Zahlungsmodalitäten klären. Der Bürgermeister dankte uns mit blumigen Worten und ließ es sich nicht nehmen, uns in seinem geräumigen Haus einzuquartieren. Anderntags holte man uns, als kurz vor Mittag zwei zwielichtige Typen ins Dorf kamen. Beide sahen verwegen aus, gerade so, als schreckten sie vor keiner Messerstecherei zurück. Raðvið wollte unbedingt allein mit ihnen verhandeln, wogegen nichts einzuwenden war. Der Kleine würde das schon schaffen, dessen war ich mir sicher. Eine Weile sprachen sie miteinander, dann zückte der Zwerg seine Axt und schlug mit dem stumpfen Stiel einen der Banditen zu Boden, ohne diesen ernsthaft zu verletzen. Der andere griff nach seinem Dolch, doch beförderte ihn ein Schlag mit der Faust ebenso schnell in den Staub. Mit drohend über dem Kopf erhobener Axt machte Raðvið den beiden Beine, ehe er triumphierend zu uns stolzierte. „Denen habe ich es aber gegeben!“ – „Was haben die denn gesagt?“ fragte Sina.

„Die wollten wissen, ob ich der Knilch sei, der ihnen die 300 Kreuzer zahlt. Daraufhin habe ich erwidert, daß dem nicht so sei, sondern daß ich ihnen den Stiel meiner Axt in den Arsch stecken würde, falls sie nicht sofort verschwänden. Nun, dann musste ich eben ein wenig nachhelfen. Das hat die überzeugt.“ Schmunzelnd polierte er mit einem Stück Stoff die Schneide der Waffe. „Die werden wiederkommen“ prophezeite Rael. „Sollen sie doch“ meinte ich. „Raðviðs Axt freut sich schon auf eine zweite Begegnung.“ Bei aller demonstrierter Selbstsicherheit war mir klar, daß die Ganoven sich wohl bald erneut melden würden. Wir mussten folglich auf alles gefaßt sein, oder halt – die beste Verteidigung ist bekanntlich der Angriff. Weshalb abwarten bis die Gegner etwas unternahmen, wenn wir sofort die Initiative ergreifen konnten? Ich winkte Lukku zu mir heran. „Folge den beiden unauffällig bis zu ihrem Schlupfwinkel. Komm dann sofort zurück.“ Der Dunkelelf nickte und nahm umgehend die Verfolgung auf. „Was hast du vor?“ erkundigte sich Ralija, die meinen Schachzug nicht recht verstand. „Wir kommen dem Gegner zuvor, indem wir ihn ausräuchern. Die werden erst merken, was läuft, wenn wir sie besuchen kommen, doch da wird es bereits zu spät sein.“ – „Der Plan gefällt mir“ lobte der Zwerg. „Bevor sich diese Schweinebande vorbereiten kann, um uns einen reinzuwürgen, hauen wir ihnen die Hucke voll. Die Idee könnte glatt von mir stammen.“

 

*

 

Die beiden Banditen zu verfolgen, die nach der Abreibung wie geprügelte Hunde das Weite gesucht hatten, fiel Lukku recht leicht. Sie gaben sich weder Mühe, besonders leise zu sein, noch ihre Spuren zu verwischen. Knackende Äste und Abdrücke im feuchten Waldboden hätten sogar einem Schüler verraten, wohin die beiden unterwegs waren. Trotzdem oder gerade darum blieb Lukku aufmerksam, da er durchaus in Betracht zog, in einen Hinterhalt gelockt zu werden, obgleich er kaum damit rechnete, bemerkt worden zu sein. Seine Vorsicht sollte sich als unbegründet erweisen, als er etwas später das Ziel seiner Observation erreichte – eine kleine Lichtung mitten im Wald, auf der etliche karge Holzhütten standen. Die Unterkünfte der Räuber.

Ein schlechter Kundschafter hätte jetzt schon kehrtgemacht, doch Lukku war erfahren genug, eine volle Umrundung des Lagers anzutreten. Dabei gelangen ihm etliche Beobachtungen, die uns noch nützen konnten. Auf der anderen Seite der beiden Hütten gab es eine längliche Mulde, über die man sich bis dicht an die hintere heranschleichen konnte. Dort lag auch ein größerer Heuhaufen, der als Nahrung für ein halbes Dutzend Pferde diente, die am jenseitigen Waldrand in einer Koppel standen. Den könnte man anzünden, um für ein wenig Abwechslung zu sorgen … befriedigt über das, was er herausgefunden hatte, zog sich Lukku zurück. Im Laufschritt huschte er durch den Wald, das Dorf wesentlich schneller erreichend.

 

*

 

Ohne daß ich ihn gehört hätte, stand Lukku plötzlich vor mir. Nach seinem präzisen Bericht unterrichtete ich die anderen von meinem Plan. Wir bildeten zwei Kampfgruppen: Rael, Raðvið und Ralija sollten von der rechten Seite her kommen, die Mulde entlang, um den Heuhaufen abzufackeln, ehe sie sich sofort wieder hinter das außen stehende Haus zurückzögen. Sobald der Gegner das Feuer bemerkte und es zu löschen begann, würden Sina, Lukku und ich frontal von vorn attackieren. Die anderen würden uns dann zu Hilfe kommen, indem sie dem Feind in den Rücken fielen.

Der Plan ging auf, zwar konnten wir von unserer Position den Heuhaufen nicht sehen, weil er von der Hütte verdeckt wurde, aber als Rauch aufstieg, wussten wir, daß es der zweiten Gruppe gelungen war, ihre Ströraktion durchzuführen. Ein herumstehender Räuber bemerkte das Feuer als erster und schlug Alarm. Schon kamen ein Dutzend Leute aus den Hütten, koordinierten sich und liefen mit Holzeimern zu einer Wasserstelle. Zwar trugen alle irgendeine Waffe am Gürtel, aber der Moment der Entscheidung war dennoch gekommen. „Vorwärts!“ erhob ich mich um mich als erster auf die Gegner zu stürzen, wie es sich für einen Anführer geziemte. Schon war ich an den ersten heran, der mich ungläubig anstarrte, doch noch ehe ich zuschlagen konnte, ragte ein Pfeil aus seinem Hals. „Mit Grüßen von den Elfen“ hörte ich Sina im Hintergrund rufen. Dem zweitnächsten hatte ich gerade das Kurzschwert in den Leib gerannt, der dadurch keine Gefahr mehr darstellte. Der Überraschungseffekt war damit aber ausgereizt – die Räuber formierten sich. Gleich zwei standen mir jetzt gegenüber, die mir arg zusetzten. Der eine stach mit dem Langdolch nach mir, was mich zum Wegtauchen nötigte. Der andere schlug mit einer Stachelkeule auf mich ein. Plötzlich verharrte er, röchelte und klappte seitlich weg. Raðvið kam zum Vorschein, lachend und seine blutige Axt herzeigend. „Zwei gegen einen ist doch unfair.“ brummte er. Mit dem zweiten Räuber wurde ich selber fertig. Endlich hatte ich eine Atempause, um mich umzusehen. Lukku schlitzte gerade einen der beiden letzten Feinde auf, der verbleibende Räuber suchte sein Heil in der Flucht. Beinahe hätte er es auch geschafft, den Waldrand zu erreichen, doch ein Bolzen von Ralijas Armbrust war geringfügig schneller. „Das war’s dann wohl mit den Schutzgelderpressungen“ stellte Lukku treffend fest. „Die werden so schnell keine armen Bauerndörfer mehr erpressen.“ Nach dem provisorischen Leichenfleddern kehrten wir zurück zum Elfendorf, wo uns eine größere Elfenmenge bereits erwartete. „Die Räuber haben neue Bekanntschaften geschloßen“ verkündete ich laut. „Mit uns. Sie werden euch nie mehr belästigen!“ Ein tosender Jubel erhob sich, in dem sich vor allem Raðvið sonnte, der mit einigen Übertreibungen davon berichtete, wie er mich gerettet hatte, was seinem Selbstbewußtsein wahrlich gut bekommen war. Wir wurden festlich bewirtet und hätten uns beinahe breitschlagen lassen, noch eine Nacht zu bleiben, aber es drängte uns zum Aufbruch. Echte Helden verweilen selten längere Zeit an einem Ort.

 

*

 

Wochen vergingen, in denen wir kreuz und quer durchs Reich der Elfen zogen, allerhand Abenteuer erlebten und noch etliche gute Taten vollbrachten. Es hätte ewig so weitergehen können, doch dann brach ein Krieg aus. Wir hörten die Neuigkeit durch Zufall in einem Dorf, durch das wir kamen. In der Kneipe speisend vernahmen wir ein Gespräch vom Nachbartisch, das mich neugierig machte. „Den Rundohren ist nicht zu trauen, das habe ich ja schon immer gesagt. Wenigstens auf die Zwerge können wir uns verlassen.“ Wir kamen mit den beiden Elfen ins Gespräch und trotz der gemischten Zusammensetzung unserer Gruppe akzeptierte man uns. Elfen lassen sich in der Hinsicht weniger von der äußeren Gestalt als vielmehr vom Verhalten lenken. Wir erfuhren, daß das Königreich der Menschen sich mit den Dunkelelfen verbündet und den Elfen den Krieg erklärt hatte. Daraufhin hatten sich die Zwerge auf die Seite der Elfen geschlagen.

Recht viel mehr Brauchbares konnten wir nicht in Erfahrung bringen. Zu viele ungenaue Gerüchte waren im Umlauf, deren Wahrheitsgehalt kaum zuverlässig zu überprüfen war. Jedenfalls versprach die Zukunft viel Abwechslung zu bieten, auch wenn das unsere Reise etwas erschwerte. Immerhin mussten wir mit dem Argwohn der Bevölkerung rechnen, der sich nicht nur gegen Lukku, sondern auch gegen Rael und mich richten würde. Zwar hatte uns bislang noch niemand scheel angesehen, aber wir befanden uns seit Ausbruch des Kriegs auch auf dem Lande, wo die Leute sowieso etwas anders drauf sind als in den größeren Siedlungen. In der nächsten Stadt würde es sich schon zeigen, wie man uns behandeln würde. Gerade die geistig weniger von der Natur beschenkten Gemüter konnten nur schwer differenzieren zwischen einem feindlichen Dunkelelf jenseits der Stadtmauer und einem freundlichen innerhalb. Dieses Schubladendenken war in meiner Heimat so, bei den Zwergen und im Land der Elfen ganz ähnlich. Irgendwie traurig, daß überall dasselbe Denken dominierte. Dabei könnten wir gemeinsam zu so viel mehr Erkenntnissen gelangen, doch das schien irgendwie nicht möglich zu sein. Das musste man wohl akzeptieren, daß man die Welt nicht von heute auf morgen ändern konnte. Seufzend trank ich einen Schluck Bier aus meinem Krug. Der Alkohol tat gut, dessen Wirkung sich langsam in meinem Kopf bemerkbar machte. So viel Absurdität gab es in der Welt, daß sie einem unverständlich blieb. Kurz blickte ich zu Sina, die mir gegenüber saß. Sie erzählte gerade ein Erlebnis von früher und lachte dabei. Tiefe Gefühle ergriffen mich, die Leidenschaft für die Elfin drängte in mein Bewußtsein. Sie war so jäh in mein Leben getreten, daß ich es noch immer nicht recht begreifen mochte. Alles kam mir so unwirklich vor. Wie in einem Traum und wenn ich aufwachte, dann würde mir schmerzhaft bewußt werden, daß alles nur eine Illusion gewesen war. Sina, meine Gefühle für sie und meine unstillbare Sehnsucht, die nur durch ihre Anwesenheit gelindert werden konnte. Erneut trank ich Bier, als wollte ich mit Alkohol meine trüben Gedanken vertreiben. Doch das war mir eigentlich klar, daß das nichts nützte. Flüchtig schaute ich in die Runde meiner Gefährten. Niemand schien zu ahnen, was mich beschäftigte. Keiner merkte, daß ich mich in einer sehr melancholischen Stimmung befand. Man sieht es einem Mann eben nicht an, was er fühlt. Wieso fand ich ausgerechnet Sina so außergewöhnlich? Ich wusste es nicht. Ihre ganze Art kam mir dermaßen liebenswürdig vor, daß ich ihr einfach keinen Wunsch abschlagen konnte. Aber war das schon alles oder gab es da noch mehr? Nun, sie war auch bildhübsch, aber diese Beschreibung traf auf ziemlich viele Elfinnen zu, denen ich aber nicht so verbunden war. Früher hatte ich immer gedacht, ich würde auf Schwarzhaarige stehen. Elfinnen war ich zwar hin und wieder begegnet, aber nie war mir eine so viel wert gewesen wie im aktuellen Fall. Eine Ausnahme von der Regel? Das Bier machte mir allmählich zu schaffen, es linderte meinen Weltschmerz, würgte die Fragen ab, auf die es keine Antworten gab. Ohne Sina schien das Dasein auf alle Fälle keinen Wert mehr zu besitzen. Ich habe keine Ahnung, was du mit mir machst, Sina, teure Sina. Jetzt sah sie mir direkt in die Augen, da sie meinen Blick bemerkt hatte, der auf ihr ruhte, doch begriff sie, woran ich soeben noch gedacht hatte? „Was sagst du dazu?“ fragte sie mich und ich hatte natürlich keine Ahnung, von welchem Thema sie gerade gesprochen hatte. „Ich liebe dich“ flüsterte ich ihr zu.

Sie blickte mich mit einem herrlichen Erstaunen in den Augen an, da sie offenbar mit einer anderen Aussage meinerseits gerechnet hatte, lächelte dann aber und drückte meine Hand. Irgendwie vermochte ich noch immer nicht recht zu begreifen, daß wir zueinandergehören sollten, wo wir doch so verschieden waren. Es schien mir unglaublich, aber doch täuschten mich meine Sinne nicht. Merkwürdig, heute abend war ich in einer seltsamen Stimmungsverfassung, die mir bislang fremd gewesen war. Lag vielleicht am hiesigen Bier oder an der allgemeinen Situation, in der wir uns befanden. Zwischen allen Königreichen, allein auf uns gestellt, ein zusammengewürfelter Haufen von Abenteurern, die Freunde geworden waren. Meine Nachdenklichkeit wurde unterbrochen, als Lukku mir seinen Krug vor die Nase hielt, was mich zum Anstoßen nötigte. Dann fragte mich Rael nach meiner Meinung bezüglich unseres nächsten Reiseziels. „Also ich weiß nicht so recht“ bekannte ich unschlüssig. „Wir könnten vorerst hier im Elfenreich bleiben wie bisher. Ist doch ganz schön hier.“ Raðvið brummte sehnsüchtig. „Ich würde liebend gern wieder mal zu Hause vorbeischauen …“

„Das kann ich verstehen“ meinte ich seufzend. „Ich war auch schon lange nicht mehr zu Hause. Heimweh kann ein sehr starkes Gefühl sein.“

 

Szenenwechsel – der folgende Tag. Wir befanden uns auf dem Weg zu einer Stadt, in der wir bislang noch nicht gewesen waren. Wir waren noch nicht sehr weit gelangt, als uns ein Reiter überholte, seinen Hengst abbremste und herabsprang. Er trug ein Wams des königlichen Hofs, ein langes Schwert baumelte an seiner Seite. „Verzeiht, wenn ich Euch direkt anspreche“ begann er seine Rede. „Der König schickt mich Euch diese Botschaft zu überbringen.“ Er zückte eine mit Wachs versiegelte Schrift. „Der Inhalt ist mir unbekannt, aber ich soll so lange warten, bis Ihr mir eine Antwort mitteilt.“ Ich öffnete das Schreiben, das in der alten kunstvoll verschnörkelten Elfenschrift verfasst war, die ich natürlich nicht lesen konnte. Sina half mir, indem sie im Kreis der Gefährten vorlas.

„Freunde des Elfenreichs, mir ist zu Ohren gekommen, daß Ihr einiges an Ruhm erlangt habt. Die Kunde Eurer tapferen Taten eilt Euch voraus und hat uns bewogen, Euch einen Auftrag anzubieten. Wenn Ihr ihn annehmt, gebt dem Boten die Antwort ‚Feuersplitter’, denn genauso soll Euer Wirken sein – ein entzündeter Holzsplitter kann einen ganzen Wald verbrennen. Solltet Ihr mein Gesuch ablehnen, so lautet die Antwort ‚Eiszapfen’ – gefrorenes Wasser kann nicht fließen und wird auf ewig bewegungslos erstarrt bleiben. Höret nun, was Ihr für uns tun könnt: überwindet das große Gebirge im Süden und sucht den Kontakt mit den Zwergen. Lasst Euch zu König Wergal bringen und übermittelt ihm die im Folgenden gezeichneten Schriftzeichen, die eine verschlüßelte Botschaft enthalten. Gezeichnet, König Aldaelf.“

„Feuersplitter“ gaben wir nach kurzer Absprache dem Boten mit auf den Weg. „Eure weise Antwort ist vernommen und wird in Bälde zugestellt. Gehabt Euch wohl, edle Recken!“ Er verneigte sich und schwang sich auf sein Pferd, schnell davon galoppierend.

„Worauf warten wir noch?“ fragte Raðvið. „Auf, marsch, marsch, gen Süden!“ Leichter gesagt als getan, denn die Straße, auf der wir uns befanden, verlief von West nach Ost. Deshalb folgten wir ihr eine Weile nach Westen, umgingen dadurch den Sumpf und konnten nun ohne nasse Füße gen Süden wandern. Anfangs ging es gut voran. Wir durchwanderten eine strauchlose Heide, auf der wir manchmal Hasen herumhoppeln sahen.

Wir kamen bald schon in einen kleinen Wald, wo wir ein Einhorn sahen. Majestätisch wirkte es, mit seinem langen, spitzen Horn auf der Stirn, nach dem so viele Wilderer trachteten. Viele bezahlten ihre Habgier mit dem Leben, denn diese stolzen  Tiere wussten sich effektiv zur Wehr zu setzen. Alle friedlichen Geschöpfe hatten freilich nichts vor ihnen zu befürchten, ernährten sie sich doch rein vegetarisch. Das edle Tier zeigte uns die Breitseite und schaute in unsere Richtung, schien aber zu ahnen, daß von uns keine Gefahr drohte, denn es setzte seinen Trott unbeeindruckt weiter. Kurze Zeit gestattete es uns noch seinen Anblick, dann war es zwischen einigen Bäumen verschwunden. Sina seufzte mit einem verklärten Ausdruck im Gesicht. Weiter ging es, ohne daß uns abermals eine derartige Begegnung widerfuhr. An einem kleinen Weiher machten wir eine längere Pause, ließen am Ufer sitzend die Füße ins kühle Wasser baumeln, während Rael versuchte, einen Fisch zu fangen, doch das mißlang zu ihrem Leidwesen, was Ralija hingegen völlig kalt ließ, denn sie mochte keinen Fisch.

Verständlich, wo einem allein schon die Gräten einiges an Mühsal bereiteten. Wenn dann der Geschmack ebenfalls unzureichend für die Bedürfnisse des Gaumens war, dann hatte man wenig Gründe, für die glitschigen Schuppentiere zu schwärmen. Ich war da weniger heikel und hätte einen Fisch durchaus gegessen gemäß der schlauen Devise: der Hunger treibt  es rein. Mangels Fangerfolg kauten wir auf Trockenfleisch herum, einige Brotkanten dazu bildeten eine zumindest magenfüllende Mahlzeit. Nach dem kurzen Aufenthalt setzten wir unseren Weg, den wir uns erst einmal selbst bahnen mussten, da ja weder Straße noch Trampelpfad existierte, fort.

Mit dem Schwert schlugen wir uns eine schmale Gasse in ein ziemlich großes Brombeerengestrüpp, das überall vor uns wucherte. Die Beeren waren noch nicht reif, so daß wir nur die negativen Auswirkungen zu spüren bekamen – die Dornen. Die meisten blieben zwar im Leder stecken, doch einige fanden einen Spalt und bohrten sich in meinen Arm, was höchst unangenehm war. Irgendwann erreichten wir das Ende des Rankengestrüpps, das uns lange genug geplagt hatte. Wir kamen allmählich in eine Hügellandschaft, die Raðvið das Nahen seiner Heimat anzeigte. Immer öfter kam es vor, daß er stehenblieb um aus tiefstem Herzen zu seufzen. „Ich kann die Luft meines Heimatstollens schon förmlich riechen“ schwärmte er. „Das wird euch gefallen.“ Rael schüttelte sich. „Mir läuft schon ein Schauer den Rücken herunter“ flüsterte sie Ralija zu, was auch ich hören konnte. „Dunkle, stickige Tunnel mit vielen dicken Spinnen oder sonstigem Getier.“

„Keine Angst“ beruhigte Ralija. „Zwerge sind reinlich. Da sollte kein Ungeziefer zu finden sein. Außerdem ist ihr Spinnenbraten eine Delikatesse.“ Rael verzog den Mund – sie hatte den Witz ernst genommen, was der Elfin ein Grinsen aufs Gesicht zauberte. Normalerweise scherzten Elfen kaum, aber vermutlich handelte es sich dabei um ein Vorurteil. Sowohl Sina als auch Ralija besaßen durchaus Humor und auch wenn ihre Witze weder so derb wie die von Zwergen waren, noch so ironisch wie die von einigen Menschen, wussten sie durchaus nette zu erzählen. Lukku bildete freilich eine Ausnahme, aber der sprach sowieso recht wenig. Musste an seinem düsteren Gesellschaftshintergrund liegen.

Soeben passierten wir ein kleines Waldstück, das aus einer größeren Anzahl Pappeln bestand, die hoch in den Himmel ragten. Die merkwürdige, kerzenförmige Wuchsform, die kaum Tendenzen zu einer seitlichen Verbreiterung zeigte, hatte ihnen in den Elfenmythen die Rolle eingebracht, hoch hinaus zu wollen. Mehrere Sagen rankten sich um Helden, die im Zeichen der Pappel zur Welt gekommen waren und entsprechende Abenteuer zu bestehen hatten. Baumzeichen spielten bei den Elfen eine große Rolle, ähnlich wie die Sternzeichen bei den Menschen. Zwanzig Baumarten teilten sich einen Jahreszyklus und wurden durch die Tierzeichen ergänzt, die sich auf die Geburtsstunde bezogen. Sina beispielsweise war eine Fuchs-Eiche. Denen sagte man nach, besonders schlau zu sein und ein beständiges Wesen zu haben, was meines Erachtens durchaus zutraf. Ralija wiederum war eine Eichhörnchen-Birke. Besondere Kennzeichen: flink, wissbegierig, geschickt und von einer unstillbaren Neugierde, die sie vermutlich mit Lukku zusammen auf Abenteuerreise gebracht hatte. Wenn man bei mir nach den elfischen Traditionen vorgehen würde, wäre ich eine Baummarder-Tanne. So ganz verstand ich zwar nicht, weshalb ich angeblich zum Jähzorn neigen sollte, aber womöglich galten die Einteilungen bloß für Elfen. Unser Zwerg konnte über „solchen Aberglauben“ nur die Nase rümpfen. Es gab eben Zeitgenossen, denen derartige Dinge suspekt waren.

Je weiter wir vorwärtsdrangen, desto seltener wurden Laubbäume. Dafür nahm die Anzahl der Nadelgehölzer zu, denen es hier im Einflußbereich der nahen Gebirgsketten besser gefiel. Die Hügeln gingen übergangslos ins Gebirge über, was sich auch an der Tierwelt zeigte.

„Schnell in Deckung!“ rief uns Ralija zu. „Dunkelelfen!“ Schleunigst bemühten wir uns hinter einigen Felsen, die mit Büschen bestanden waren, zu verschwinden. Niedergekauert wagte ich einen Blick durch die Zweige. Hintereinander marschierte ein gutes Dutzend, leicht bewaffneter Dunkelelfen. Offenbar eine Patrouille oder ein Spähtrupp, denn recht viel mehr konnten die paar Hanseln wohl kaum ausrichten. Doch wieso trieben sich hier so tief im Zwergengebiet – immerhin befanden wir uns bereits fast noch auf Elfenland – Nachtelfen herum? Raðvið schien das auch zu mißfallen, denn er knurrte dicht neben mir, böse Flüche in seinen struppigen Bart murmelnd, die wiederzugeben mir der Anstand verbietet. Der Trupp bemerkte uns nicht, was wohl mit Sicherheit einen Kampf zur Folge gehabt hätte, worauf ich angesichts unserer zahlenmäßigen Unterlegenheit gern verzichten konnte.

„Wie kann das sein, daß deine Landsmänner die so frei rumlaufen lassen?“ wunderte sich Sina, an den neben ihr stehenden Zwerg gerichtet.

„Das frage ich mich ehrlich gesagt auch. Da muss etwas gehörig falsch gelaufen sein. Wir sollten uns vom Acker machen.“ Wir marschierten weiter gen Süden, stiegen nun mehr und mehr in felsigem Gelände herum, was mich etwas außer Atem brachte, denn Bergsteigen war weniger mein Fall. Am Himmel über uns nahm die Zahl der Wolken beständig zu. Es schien sich ein Unwetter zu nähern, was auch Raðvið nicht verborgen blieb, der darauf drängte, einen sicheren Unterschlupf für die Nacht zu finden. Seinem Instinkt für Felsgestein hatten wir es zu verdanken, daß er uns direkt zu einer natürlichen Höhle führte, deren Eingang zwar mehr nach einem Spalt aussah, denn mehr als zwei Personen konnten schwerlich nebeneinanderstehen, aber das Innere schien geräumiger zu sein, obgleich es nur ein größerer Hohlraum war. Der Untergrund war uneben, was uns veranlaßte, draußen nach herabgefallenem Laub, Moos sowie Sand zu suchen, das wir auf den Boden warfen, um wenigstens eine gerade Fläche zu haben. Dort breiteten wir unsere Decken aus fürs Nachtlager. Vor dem Höhleneingang stehend bemerkte ich den stärker werdenden Wind, der die Wipfeln der Bäume bewegte und durch mein Haar fuhr. Einige Strähnen wurden mir ins Gesicht geblasen, die ich mit der Hand seitlich nach hinten kämmte. Da schien sich in der Tat etwas zusammenzubrauen. Für mich als Talbewohner eine ungewöhnliche Erfahrung, daß in den Bergen Unwetter so schnell aufkommen. Immer dunkler wurde es auf Grund der Wolken, was uns veranlaßte, in die Höhle zu gehen, wo es zwar noch finsterer war, aber wenigstens waren wir dort vor Wind und Regen geschützt. Tatsächlich fing es kurz darauf zu donnern an. Sina und ich lagen dem Eingang am nächsten, wodurch wir am meisten von den draußen herrschenden Zuständen mitbekamen. Blitze zuckten irgendwo am Horizont, von denen wir aber noch nichts sehen konnten, da eine tiefe Wolkendecke die direkte Sicht verdeckte. In unregelmäßigen Abständen von wenigen Herzschlägen wurde der Himmel erneut erleuchtet, eine fühlbare Spannung lag in der Luft, wodurch sich meine Nackenhaare sträubten. Auf meinen Ohren lastete ein Druckgefühl, ähnlich merkt man es auch beim Tauchen. Mit Thors Macht spaßt man nicht. Respekt und Ehrfurcht waren meiner Ansicht nach angebracht. Ich kuschelte mich enger an Sina, die über meine körperliche Nähe ebenso froh war wie ich über ihre. Grummelndes Donnern in weiter Ferne, das allmählich lauter wurde, kündigte das Näherrücken des Gewitters an. Ich duckte mich noch tiefer in die Laubkuhle unter mir, als gebe mir das zusätzlichen Schutz. Die Blitze durchbrachen nun die Wolken und zuckten über das Firmament. Die Augen schließend konzentrierte ich mich auf das Grollen des Donners, das inzwischen von ganz nah zu kommen schien. Endlich begann es zu prasseln – es regnete. Zwischendrin vernahm ich immer wieder mal ein wildes Donnern, aber schließlich siegte die Kraft des Wassers, dessen gleichmäßiges Rauschen mich in den Tiefschlaf begleitete.

 

*

 

Der folgende Morgen brachte freundliches Wetter, gerade so als ob es nie anders gewesen wäre. Erste Sonnenstrahlen blinzelten durch die Bäume, irgendwo sang eine Schwarzdrossel ihr melodiöses Lied. Gähnend schlug ich die Augen auf, aufgeweckt vom emsigen Treiben um mich herum. Die anderen machten sich schon reisefertig, nur Sina und ich steckten noch unter unseren Decken – Korrektur: unter meiner Decke. Sina hatte die Augen halb offen und blickte mich schmunzelnd an. Sie strahlte eine Liebenswürdigkeit aus, die mich faszinierte. Sie schien direkt aus ihrem Herzen zu kommen, eine Kraft, die alles Böse überstrahlte.

„Habt Ihr beiden es dann bald?“ riss mich Raðvið aus meinen Gedanken. „Oder können wir vorher noch ein Schweinchen grillen?“ Umständlich rappelte ich mich auf. „Wir sind gleich fertig.“ Viel mehr als die Decken mussten wir nicht verstauen, das Frühstück fiel dürftig aus, da wir auf unsere Notration angewiesen waren. Dörrfleisch sowie trockenes Brot. Dann brachen wir auf, unserer regensicheren Unterkunft Lebewohl wünschend. Wie auch schon in den Tagen zuvor führte Raðvið unsere kleine Schar an, da er sich hier am besten auskannte. Mich wunderte zwar, daß es oberirdisch keinerlei künstliche Bauten gab, doch er klärte mich auf, daß das Absicht war, denn es entsprach der Kultur seines Volkes, das zu verstecken, was niemand sehen sollte. Etwa die Eingänge zu ihren unterirdischen Städten, vor allem aber die empfindlichen Belüftungsschächte, deren Zerstörung fatal wäre. Klar, irgendwie mussten die Zwerge unter der Erde an Frischluft gelangen. Was für mich ein Beweis war, daß sie ursprünglich an der Erdoberfläche lebten, denn sonst hätten ihre Lungen doch schon längst Anpassungen an die schlechten Sauerstoffverhältnisse unter Tage ausgeprägt. Raðvið widersprach dieser These von mir dermaßen vehement, woraufhin ich es aufgab, sie weiterzuverfolgen.

„Jetzt dauert es nicht mehr lange“ versprach unser Führer. „An der Flanke des Berges dort drüben gibt es einen Eingang zu meiner Heimatstadt.“ Sah ganz nah aus, dauerte aber doch etliche Stunden, ehe wir am Ziel ankamen. „Wo soll jetzt da dieser Eingang sein?“ blickte sich Lukku suchend um.

„Wir stehen direkt davor“ grinste der Zwerg. „Gut getarnt, damit niemand zufällig drüberstolpert. Kommt mit.“ Er schritt bis zu einem buschigen Baum, neben dem ein größerer Felsen stand. Dort presste Raðvið seine Hand gegen den Stein, irgendwas gab nach und zu meinem Erstaunen schwang eine Seite des Felsens nach außen auf. Eine Geheimtür! Besonders groß war der Hohlraum nicht, doch dann begriff ich, denn ein Loch gähnte in dessen Mitte, wo eine Leiter hinabführte. Mit einer Fackel stieg Raðvið als erster hinab, ich folgte dichtauf. Als wir alle unten angekommen waren, ging es einen geraden Gang entlang bis zu einem Saal, in dem einige Loren standen wie sie in Bergwerken zum Fördern des Erzes benutzt werden. „Was sind das denn für Dinger?“ fragte Ralija.

„Das werdet ihr gleich sehen“ versicherte der Zwerg. „Transportloren. Damit kommen wir rasend schnell in die Stadt.“ Wir stiegen zu sechst in eine Lore, was dann ein bisschen eng wurde, aber es ging. In der Mitte befand sich eine Art Stange mit flachen Knubbeln an den Enden, die auf einer Mittelstange ruhte. Rael begriff die Funktionsweise rasch – wenn man die Knubbel abwechselnd betätigte, dann wurde die Kraft auf die Räder der Lore übertragen.

Etwas ungewohnt war es schon, in einer Bergwerkslore durch einen dunklen Tunnel zu sausen, aber freilich bequemer als zu latschen. Wir wechselten uns natürlich ab, damit jeder mal verschnaufen konnte. Schließlich erreichten wir einen Saal, der demjenigen glich, von dem aus wir unsere Fahrt gestartet hatten. Langsam rollte die Lore in ein Nebengleis, wo wir ausstiegen, da die Schienen hier abrupt endeten. Raðvið führte uns einen Gang entlang bis zu einem riesigen Stahltor, an dem Stacheln angebracht waren, was sehr brachial aussah. Wie durch Geisterhand schwang das Tor langsam, mit dumpfem Knarzen auf. Mehr als ein Dutzend Zwerge kamen uns entgegen, die uns misstrauisch beäugten. Sie machten keinen feindlichen Eindruck, schienen aber doch wachsam und jederzeit bereit, ihre Waffen einzusetzen. Der offensichtliche Anführer trat einen Schritt vor. „Wer seid Ihr?“ tönte seine männlich-markante Stimme, in der viel Autorität mitschwang.

Als er Raðvið sah, heiterte sich seine Miene auf. „Raðvið!“ rief er erfreut aus. Die beiden umarmten sich nach Zwergenart und irgendwie kam ich mir etwas überflüßig vor, da die zwei längere Zeit miteinander sprachen, ohne uns miteinzubeziehen. Dann gab uns der fremde Zwerg, der sich als Skirvir vorstellte, einen Wink und wir durchschritten gemeinsam das eindrucksvolle Tor, während die Wachen auf ihrem Posten zurückblieben. Ein langer Gang tat sich vor uns auf, der mit jedem Meter an Höhe als auch Breite gewann. Eine Hauptstraße, wie man uns erklärte, der wir bis zu einer Kreuzung folgten, wo wir nach links in eine ebenso große Straße einbogen. Zu beiden Seiten gab es Behausungen, Läden, Werkstätten und vereinzelt Seitengänge kleineren Ausmaßes. Unzählige Zwerge wuselten hin und her, die uns interessiert musterten. Am Ende der Hauptstraße standen mehrere schwer bewaffnete Wächter vor einem riesigen Portal, dessen Flügel nach oben hin abgerundet waren und spitz zuliefen.

Skirvir sprach kurz mit ihnen, dann ließen sie unsere gemischte Schar ein.

„Wir sind jetzt im Palast von König Goldemar“ erklärte Skirvir uns. „Diese Stadt ist der Geburtsort eures Freundes genauso wie der meinige. Gegründet wurde sie vor 1150 Umläufen von Fjalar, dem Listigen, dessen Name noch heute im Stadtnamen auftaucht. Wir begeben uns jetzt zum König, damit ihr eure Botschaft loswerden könnt.“

Für einen Palast empfand ich die Säle, durch die wir schritten, nicht protzig genug. Die Beleuchtung wurde nur von Fackeln an den Säulen oder offenen Feuern in speziellen Behältern sichergestellt, was bei der Größe der Hallen aber völlig ungenügend war. Die Architektur war weder prunkvoll noch besonders ästhetisch. Zweckmäßigkeit herrschte vor, obgleich ich gewisse handwerkliche Geschicklichkeit in den Türstöcken sowie bei den Säulenverzierungen feststellte. Dennoch dominierte ein eher schlichter Stil, der gänzlich unter der Würde eines Königs zu sein schien. Das wörtlich anzusprechen, hütete ich mich aber.

Abermals kamen wir zu einem Portal, vor dem mehrere Wachen mit Hellebarden standen. Doch auch diese ließen uns passieren. Vor einem anschließenden kleinen Tor klärte uns Skirvir über die erwarteten Höflichkeitsfloskeln auf, ehe wir in den dahinterliegenden Thronsaal eintraten, der ebenso schlicht wirkte wie das bereits Gesehene. Der König saß am Ende der Halle auf einem erhöht stehenden Thron, der so gar nicht in die ansonsten einfache Halle passen wollte, denn er war über und über mit Edelsteinen besetzt, die Sitzfläche bestand aus purem Gold, die Armlehnen aus Silber. Wir verneigten uns so, wie es uns Skirvir gezeigt hatte und schritten langsam bis zu einer Markierung, wo wir stehenzubleiben hatten. Goldemar stand von sich aus auf, um uns entgegen zu kommen. Sein weißer Bart verriet sein hohes Alter, dennoch trug er eine Kampfrüstung. Anstelle einer Krone bedeckte ein Stahlhelm seinen Kopf, auf dem zu jeder Seite ein nach außen gebogenes Horn wegstand.

„Willkommen in Fjalon, Freunde“ begrüßte er uns. „Falls Ihr zum ersten mal in einer Zwergenstadt seid, wird Euch alles sehr fremdartig vorkommen. Nichts desto trotz hoffe ich, daß Ihr Euch dennoch wohlfühlen werdet. Man hat mich bereits darüber unterrichtet, daß Ihr eine Botschaft für mich habt.“

„Das ist richtig“ bestätigte ich. „Der König der Elfen schickt Euch diese verschlüßelten Zeilen.“ Eigentlich erwartete ich, daß ein Diener des Königs mir das dargereichte Pergament abnehmen würde, um es dem König zu bringen, doch ich irrte mich. Goldemar überbrückte die Distanz zwischen uns, um sich das Pergament selbst zu nehmen. Er steckte seine Nase sogleich in die Aufzeichnungen und zog sich wieder zu seinem Thron zurück, wo er längere Zeit darüber brütete. Ob er den Code im Kopf entschlüßeln konnte? Es schien so, denn er wandte sich wieder uns zu. „Habt Dank für Euren wertvollen Botendienst. Ihr müsst wissen, daß die Informationslage momentan etwas angespannt ist, seitdem die Dunkelelfen nordwestlich unserer Position vorbeigestoßen sind und uns von den Elfen abgeschnitten haben. Seither ist kein Bote mehr durchgekommen. Mein Wunsch ist es, daß Ihr Euch ein, zwei Tage ausruht, ehe Ihr zurückkehrt. Ein Antwortschreiben würde ich Euch ebenfalls mitgeben, falls Ihr damit einverstanden seid.“ Ich nickte knapp und wir verneigten uns erneut, ehe wir die Halle wieder verließen. Skirvir erwartete uns vor der Tür. „Jetzt zeige ich Euch die Quartiere. Ein deftiges Mahl gibt es dann gleich im Anschluß. Ihr werdet sicher hungrig sein.“

Das konnte er laut sagen. Mein Magen knurrte schon seit geraumer Zeit wie ein ausgehungerter Wolf im Winter. Die Unterkünfte machten einen recht komfortablen Eindruck auf mich. In jeder Kammer standen neben zwei separaten Betten auch noch eine Kommode sowie ein Wandschrank, der mehr Gerümpel aufnehmen konnte als wir überhaupt dabei hatten. Da wir eh nicht viel mit uns führten, gelangten wir um so schneller zum angepriesenen Abendessen, das in einem Nebenraum serviert wurde. Auf einer langen Tafel standen allerlei Platten, die mit erlesenen Speisen aller Art gedeckt waren. Es gab eine Fischplatte, mehrere gemischte Fleischplatten, Salatteller, Metkaraffen, Bierhumpen und alles, was man zu einem echten Gelage brauchte. Wir schlugen uns den Wanst voll, bis außer einem Rülpser nichts mehr aus meiner Kehle drang. Lag mir die Putenkeule schwer im Magen … nun wurde mir klar, weshalb Völlerei in meiner Heimat negativ eingestuft wurde. Rael hatte im Rückblick gesehen noch am gesittetsten gegessen, mit Besteck ohne sich ihrer Gier zu ergeben. Lukku und ich hatten mit den Fingern gespeist und Raðvið, nun, diesbezüglich hüllen wir uns lieber in den Mantel des Schweigens. Wobei er natürlich essen konnte, wie er wollte, denn schließlich war er hier ja daheim. Nach dem feudalen Mahl begaben wir uns in unsere Schlafkammern, deren Aufteilung wir vorhin schon festgelegt hatten. Sina schlief natürlich bei mir. Viel komfortabler als die Nacht in der Höhle, obgleich für mich nur die Nähe zu meiner süßen Elfin entscheidend war. Eng kuschelten wir uns aneinander, das zweite Bett brauchten wir nicht.

 

Am Tag darauf hatten wir noch Gelegenheit, uns die Stadt genauer anzuschauen. Raðvið führte uns zu diversen Orten, die ihm besonders wichtig erschienen. „Hier in dieser Kneipe habe ich meinen allerersten Bierrausch erlebt. Das ist schon … eine halbe Ewigkeit her, aber ich erinnere mich immer noch. Wäre ich ohne Saufkumpan unterwegs gewesen, hätte ich wohl kaum mehr nach Hause gefunden. Mittlerweile bin ich schon so geübt, daß mir das nicht mehr passiert. So, dann schauen wir noch bei einer Freundin von mir vorbei, die ich schon ewig kenne. Die wird sich sicher freuen, mich mal wieder zu sehen.“

„Hört, hört. Raðvið hat eine Freundin“ zog ihn Lukku ein wenig auf. „Von der hast du uns noch gar nichts erzählt. Ist sie hübsch?“

„Sie ist nur eine Bekannte von früher“ grummelte der Zwerg vor sich hin. „Davon verstehst du nichts.“

Wir spazierten eine Seitenstraße entlang, zweigten in eine zweite ab und von dort aus nochmal in eine Gasse, bis ich mich überhaupt nicht mehr auskannte, weil alles irgendwie gleich aussah. Auch die Elfen schienen Orientierungsschwierigkeiten zu haben, denn unter der Erde konnte man sich weder nach dem Sonnenstand, noch nach dem Bewuchs richten, was ihrer Art entsprochen hätte. Vor einer Wohnstätte blieb der Zwerg stehen. „Hier wohnt sie.“ Er klopfte an die Eichentür, die sich kurz darauf öffnete. Eine Zwergin mit dunkelblonden Haaren öffnete, rief erfreut den Namen unseres Gefährten und umarmte ihn. Reihum stellte uns Raðvið vor, der die Zwergin „Sudra“ nannte, die uns in ihre Wohnung bat. Das Wiedersehen schien beide aus tiefstem Herzen zu freuen, was den Verdacht in mir weckte, daß da vielleicht sogar mehr dahinter steckte. Sina hatte wohl ähnliche Gedanken, denn sie machte einen Vorschlag:

„Ihr zwei scheint euch lange nicht mehr gesehen zu haben. Sicherlich habt ihr euch viel zu erzählen. Wie wäre es, wenn wir uns derweil die Stadt anschauen gehen und am Abend wiederkommen?“

„Ohne mich verlauft ihr euch doch“ warf Raðvið halbherzig ein, doch als Lukku auf seine Fähigkeiten als Kundschafter hinwies, schien es mir so, als sei der Zwerg damit einverstanden, wenn wir uns jetzt verabschiedeten. Wir drückten Sudra die Hand, die uns artig noch einige Worte mit auf den Weg gab, was wir uns unbedingt ansehen mussten. Draußen in der Gasse schmunzelte Rael. „Würde mich nicht wundern, wenn die beiden verheiratet wären.“

Soweit hatte ich selbst gar nicht gedacht. „Unser Kleiner? Das wäre ja der Hammer! Er hat zwar nie was erzählt, aber vorstellbar wäre es.“

„Ist doch egal“ meinte Ralija. „Gönnen wir den beiden einige ungestörte Stunden. Wohin gehen wir jetzt?“ Da wir uns alle mehr schlecht als recht auskannten, gestaltete sich die Antwort unpräzise. „Da lang“ deutete Lukku. „Die Gegend kommt mir unbekannt vor.“

Tatsächlich fanden wir etliche Seitenstraßen, die wir zum ersten mal betraten. Ein älterer Zwerg trat vor uns hin, sein grauer Bart gab ihm die Würde eines Oberlehrers. „Ihr seid nicht von hier“ stellte er eine unwiderlegbare Tatsache fest. „Darf ich fragen, woher Ihr kommt?“

Wir gaben dem Alten bereitwillig Auskunft, was diesen ermutigte, noch einige Fragen zu stellen. Etwa, was wir von der Stadt hielten, wie uns das Essen schmeckte und dergleichen mehr. Schließlich verabschiedete er sich von uns, die wir weiterzogen, ein Geschäft zu besichtigen, wo es eine Unzahl an glänzenden Steinen aller Art gab. In meiner freigiebigen Art kaufte ich Sina ein Amethystamulett, das in seinem dunklen lilablau eine wahre Zierde an ihrem Hals darstellte. Sie lächelte mich voller Anmut an, was der schönste Dank war, den man sich wünschen konnte. Im Anschluß bummelten wir ziellos durch die Gassen, verirrten uns, fanden zu einem zentralen Platz, wo zwei Hauptstraßen aufeinandertrafen, von wo aus wir in Gefilde vordrangen, die uns wieder bekannt vorkamen. Eine Spelunke hatte es uns besonders angetan, in der man dem Würfelspiel frönte. Die Regeln des hier beliebtesten Spiels fanden wir schnell heraus – zwei Spieler traten gegeneinander an und jeder versuchte, eine größere Anzahl an Punkten zu werfen als der andere. Leichter gesagt als getan, denn ohne ein Quäntchen Glück schaffte man das nur sporadisch. Lukku hatte eine Glückssträhne, da er eine Serie hinlegte, wie sie auch einige der anwesenden Zwerge selten erlebt hatten. Bereits nach kurzer Zeit beschränkte ich mich aufs Zuschauen, weil mir das Glück momentan scheinbar nur in der Liebe hold war. Ein Umstand, der mich allerdings alles andere als schmerzte. Unserem Dunkelelf war Fortuna auch weiterhin hold, bis schließlich niemand mehr gegen ihn spielen wollte. Nun schlenderten wir kreuz und quer durch die Gassen, wo wir noch allerhand uns Fremdartiges entdeckten. Es war keineswegs verwunderlich, daß wir dabei die Zeit völlig vergaßen. „Sagt mal, wie spät ist es eigentlich?“ erinnerte uns Ralija. Niemand vermochte es zu sagen. Als wir vor dem Haus Sudras ankamen, war es bereits tiefe Nacht. Trotzdem öffnete man uns ohne zeitliche Verzögerung. Die Hausherrin bat uns mit freundlichen Worten herein und wir fanden unseren zurückgebliebenen Gefährten in reichlich angeheiterter Stimmung. Mehrere geleerte Humpen Honigwein zeugten von dem Gelage, das in unserer Abwesenheit stattgefunden hatte. Dementsprechend lustig war Raðvið, als wir in die Stube traten. „Freunde, wie schön euch zu sehen“ lallte er mit breit grinsendem Gesicht. „Setzt euch und trinkt was. Hattet ihr einen schönen Tag?“ – „Ja“ bestätigte Rael. „Genau wie du.“ Wir blieben noch eine Weile, ehe wir uns auf Grund der fortgeschrittenen Abendstunde verabschiedeten. Den Weg zurück in unsere Gemächer im Palast fanden wir ohne Schwierigkeiten. Weitaus komplexer war die Aufgabe, Raðvið davon abzuhalten, uns „eine Lieblingskneipe“ von innen zu zeigen. Irgendwie bugsierten wir ihn weiter, auf die Tür des Palastes zu, vor der selbst mitten in der Nacht stets zwei Wächter im Schichtdienst standen. Weniger, weil es jemand gewagt hätte, dort einzudringen, sondern vielmehr, damit man auch nach Mitternacht mit unaufschiebbaren Angelegenheiten kommen konnte. Der hinzugezogene Leutnant konnte dann im Bedarfsfall entscheiden, ob der König geweckt werden sollte, um sich der Sache selbst anzunehmen. Erstaunlich unbürokratisch also, dieses Verfahren. Wenn ich da an meine Heimat dachte, wo man mindestens ein halbes Dutzend Blätter ausfüllen musste, um überhaupt vom Stadtpräfekten angehört zu werden …

Jedenfalls gelangten wir ohne Zwischenfälle in unsere Quartiere, wo wir uns sogleich zu Bett begaben. Eine Zeitlang hörte ich noch gedämpfte Gesänge über einen Zwergenheros aus der angrenzenden Nachbarkammer, worüber Sina und ich grinsen mussten, ehe es still wurde. Zärtlich streichelte ich die grünen Haare Sinas, deren Farbe mir zwar in der unbeleuchteten Schlafkammer verborgen blieb, die ich aber vor meinem geistigen Auge bewahrte. Grün, die Farbe der Hoffnung, des Waldes, der Natur, die Haarfarbe der schönsten Elfin der Welt. Feingliedrige Finger strichen über meine Wange, aus meiner Kehle löste sich ein Seufzer. Möge dieser Moment niemals vergehen.

 

*

 

Unser letzter Tag in der Zwergenstadt war rasch vergangen. Viele neue Eindrücke hatten wir gewonnen, hatten uns von der einheimischen Bevölkerung akzeptiert gefühlt und unseren Auftrag erfüllt. Nun galt es das Dokument des Zwergenkönigs, das er mir vor unserer Abreise überreichen ließ, an seinen Bestimmungsort zu bringen. Eine angemessene Belohnung wäre uns sicher, auch wenn es sich nur um einen besseren Handlangerdienst handelte, den wir hier absolvierten. Die erste Etappe hatte außer der Begegnung mit dem Dunkelelfenspähtrupp wenig Aufregendes gehabt, aber vielleicht würden wir auf dem Rückweg mehr erleben. Es begann alles damit, daß uns Skirvir in Begleitung einiger Soldaten zurück zum Einstieg brachte, wo wir uns voneinander verabschiedeten. Er umarmte jeden von uns, was eine gewisse Komik in sich barg, denn Lukku musste sich dazu am weitesten nach unten beugen. Dann schloß sich der Tarneingang hinter uns. Raðvið blieb den ganzen Vormittag über recht schweigsam. Man sah ihm die Melancholie an, die der Abschied bewirkt hatte, wobei ich mir nicht im Klaren darüber war, ob es nun daran lag, daß er seine Heimatstadt hinter sich ließ oder Sudra. Vermutlich beides. Als ich ihn darauf ansprach, brummte er jedenfalls nur. „Alles, was mir abgeht, das ist die konstante Versorgung mit Met. Wenn wir durch die Gegend stiefeln, dann muss ich ja oft tagelang Wasser saufen. Wie soll man das denn aushalten?“

„Du armer Kerl!“ bemitleidete ihn Ralija mit gespielter Anteilnahme. „Das nächste mal werden wir schauen, daß wir jeden Abend an einer Kneipe vorbeikommen, damit du nicht verdurstest.“

„Das wäre auch das mindeste. Sonst bekomme ich noch eine Depression wegen anhaltendem Metentzug.“ Er brabbelte noch weitere Argumente vor sich hin, denen ich für meinen Teil aber kein Gehör mehr schenkte. Stattdessen wandte ich mich Sina zu, die angestrengt den Horizont beobachtete. „Siehst du was?“ – „Ich bin mir nicht ganz sicher. Dort sind graue Schleier am Himmel, aber ich vermag nicht mit Gewissheit zu sagen, ob es sich dabei um Rauch handeln könnte.“ Angespannt blickte ich in die Richtung, doch meine Augen schienen weitaus weniger gut zu sein als die der Elfin. Außer einigen großen Kumuluswolken entdeckte ich nämlich rein gar nichts. Doch ich vertraute auf Sinas Instinkt. „Was könnte das bedeuten?“ Sina zuckte mit den Schultern. „Kommt darauf an. Wo Rauch ist, gibt es auch Feuer. Ein Waldbrand wird es wohl kaum sein, dazu war das Wetter in der letzten Zeit zu feucht. Köhlerhütten wie bei euch gibt es bei uns Elfen offiziell keine. Du weißt ja, daß uns der Wald viel wert ist. Wir würden daher auch nie Holz verbrennen.“

„Soll heißen, es sind illegale Köhler?“ folgerte ich messerscharf.

„Wahrscheinlich. Die wären dann allerdings ziemlich dreist, denn irgendwo dort in der Nähe müsste sich Teralia befinden, eine der südlichsten Elfengrenzstädte.“

„Wir werden uns das mal aus der Nähe anschauen. Liegt sowieso auf unserer Marschroute.“

Ich schilderte den anderen Sinas Entdeckung, die ebenfalls dafür plädierten, den frechen Köhlern die Kohle zu versalzen. „Das hat mich das letzte mal schon so befriedigt, als wir die Holzfäller fertiggemacht haben“ rief Ralija voller Tatendrang. „Jeder, der sich an Bäumen vergreift, ist ein Verbrecher, der längst an den Galgen gehört. Wenn ich dabei behilflich sein kann, dann ist mir das eine besondere Freude.“ Ihren Zorn konnte ich nachempfinden, galten mir auf Grund meiner Religion Bäume auch als besondere Lebensformen, denen man Achtung schuldete. In schnellem Marschtempo durchquerten wir einen ausgedehnten Forst, wo der Sichtbereich sehr eingeschränkt war. Zwar waren wir auf der Hut, doch als wir eine lange Kolonne Dunkelelfeninfanterie ausmachten, verblüffte uns das dann doch ein wenig. Gerade noch rechtzeitig hatten wir uns in einigen Büschen versteckt, aufgeschreckt von zahllosen Stiefeln, die den Waldboden erschütterten. Mehrere hundert Mann zogen unweit unserer Position vorüber, einem imaginären Ziel entgegen, das sich nur erahnen ließ. Jetzt nur nicht niesen! Doch kein spontaner Reiz in meiner Nase wurde uns zum Verhängnis. Die Gegner zogen einfach an uns vorüber, ohne auch nur unsere Existenz zu ahnen. Wir warteten noch länger ab, um etwaigen Nachzüglern zu entgehen, doch unbegründet war unsere Vorsicht, denn niemand hatte getrödelt. Schon bald danach erreichten wir das Ende des Waldes, das ziemlich abrupt kam. Plötzlich öffneten sich die Baumkronen und vor uns lag etwas tiefer eine größere Ebene, die einigermaßen gut übersehbar war. Der Ausblick war überwältigend, obgleich anders als erwartet. In etlichen Kilometern Entfernung lag eine von wuchtigen Mauern eingefaßte Stadt, aus der stellenweise grauer Rauch aufstieg. Doch sie schien weitestgehend intakt zu sein, was durch einen größeren Belagerungsring, der sich als schwarze Kontur abzeichnete, in Frage gestellt schien. „Das ist Teralia“ rief Sina entsetzt. „Belagert von Dunkelelfen!“ Sah zumindest danach aus, auch wenn ich mich hier in dieser Gegend nicht auskannte. „Lasst uns einen Bogen um die Stadt machen“ schlug Lukku vor.

Ralija blickte ihn verdutzt an. „Du willst nichts tun, um den Verteidigern zu helfen?“

„Was sollen wir sechs schon großartig unternehmen? Einen Entlastungsangriff von hinten? Außerdem haben wir eine Botschaft dabei, die unter keinen Umständen in feindliche Hände fallen darf. Das hat wohl absolute Priorität.“ Im Grunde genommen sah ich es genauso, aber ich spürte regelrecht die aufgewühlten Emotionen unserer beiden Elfinnen, die ihre Artgenossen in Bedrängnis wähnten und ihnen verständlicherweise zu Hilfe kommen wollten. Daher versuchte ich einen Kompromiss anzuleiern: „Hört mal zu. Unsere Mission ist es, die Antwort von König Goldemar zum Elfenkönig zu befördern. Allerdings brauchen wir nicht zu sechst sein, um diese Aufgabe zu erfüllen. Daher schlage ich vor, wir wählen einen aus unserer Mitte aus, der allein loszieht, um die Botschaft zu überbringen, während die anderen versuchen, der Elfenstadt zu helfen.“

„Weise gesprochen für einen Menschen“ lobte Ralija. „Man könnte dich glatt für unseren Anführer halten.“ Sie sagte das nicht etwa spöttisch, sondern durchaus mit einem gewissen Respekt, was meinem Selbstbewusstsein natürlich schmeichelte.

„Wer geht?“ stellte ich die entscheidende Frage. Raðvið meldete sich freiwillig. „Immerhin bin ich unser stärkster Kämpfer und daher imstande, das Dokument angemessen zu verteidigen. Außerdem verspüre ich wenig Lust, mich heimlich in eine Stadt zu schleichen, die belagert wird. Das ist unzwergisch.“ Wortlos übergab ich ihm das geschnürte Paket mit dem versiegelten Dokument. Der Zwerg verabschiedete sich knapp von uns, nachdem wir ausgemacht hatten, wo wir uns an welchem Tag zu welcher Zeit treffen wollten. In fünf Tagen in der zentral gelegenen Kleinstadt Alaija in der Herberge, die dem Marktplatz am nächsten war. Zu fünft pirschten wir uns links um den Belagerungsring herum, um eine Lücke zu finden. Dabei mussten wir höllisch aufpassen, nicht von Dunkelelfengruppen gesehen zu werden, die in den umliegenden Wäldern auf die Jagd gingen, um Fleisch für die Truppen heranzubringen oder Beeren sowie sonstige Früchte des Waldes sammelten. Dank der Instinkte unserer Elfinnen lief alles wie geplant. Die Nachtelfen erwarteten offenbar keinen Entsatzangriff von außen, was sich an ihrer Arglosigkeit zeigte. Bei unserem Halbkreis um die Stadt herum fiel mir ein Schwachpunkt auf: Teralia lag zentral in der Ebene, von flachen Wiesen umgeben, die denkbar schlechten Sichtschutz boten, weil das Gras kniehoch war, lediglich im Westen – also dort, wo wir uns aufhielten – wurde das offene Gelände durch hügeliges Terrain, leicht bewaldet, doch offen in ihrer Form, unterbrochen. Die größten sichtbaren Konzentrationen des Belagerungsringes befanden sich im Süden und im Norden. Speziell auf unserer Höhe schien er durchlässig zu sein, doch das konnte täuschen. Vielleicht handelte es sich um einen hundsgemeinen Trick der Dunkelelfen, potentielle Boten aus der Stadt in einer Falle zu locken. Das konnte uns ebenso betreffen, obwohl kaum davon auszugehen war, daß der Gegner damit rechnete, daß jemand von außen kommen würde, der hinein wollte. Vorsicht würde nichts desto trotz unsere treueste Verbündete sein. Wir berieten uns kurz, im Schutz der Dunkelheit erneut vorzurücken, zogen uns folglich sofort in tieferes Gehölz zurück, wo wir den restlichen Tag mehr oder minder gemütlich verstreichen ließen. Als die Umgebung endlich in düsteres schwarz getaucht wurde, erahnte man den Belagerungsring nur noch anhand der Fackeln. Doch auch in der Stadt leuchteten Lichter auf. Es schien so, als wollten sich beide Seiten damit zu verstehen geben, daß sie noch anwesend waren und nicht so leicht überrumpelt werden konnten. Uns war diese Beleuchtung eine willkommene Orientierungshilfe, minimierte sich dadurch doch das Risiko, in die falsche Richtung zu pirschen. Lukku bestand darauf, zuerst den Gegner auszuspähen, was mir allerdings recht riskant vorkam. Doch er argumentierte geschickt, daß ein Dunkelelf am ehesten in der Lage sei, wie ein Dunkelelf zu denken und demnach seine Artgenossen am besten übertölpeln konnte. Daher vereinbarten wir, bis zu seiner Rückkehr an Ort und Stelle zu warten. Lukkus gedrungene Gestalt wurde von der Dunkelheit geschluckt, die ihm Tarnung sowie Mantel zugleich war. Lautlos gelangte er an der äußersten Postenreihe vorbei, was ihm erlaubte, sich den Zelten zu nähern, in denen die gewöhnlichen Soldaten schliefen. Einmal musste er sich in den Schatten drängen, da eine Patrouille bestehend aus vier Mann nah an ihm vorüberzog. Ansonsten bereitete es ihm wenig Schwierigkeiten, sich durch die Zeltstadt zu bewegen. Vor einem größeren Zelt, vor dem drei Speerträger standen, verharrte er. Das musste das Zelt des Anführers sein, das er gesucht hatte. Von der Hinterseite schlich er sich dicht heran, bis er hören konnte, was im Inneren gesprochen wurde.

„… möchte ich darauf hinweisen, daß die Belagerungstürme spätestens übermorgen fertiggestellt sein werden.“ – „Sehr gut, dann greifen wir in drei Tagen im Morgengrauen an, doch das wird nur ein Scheinangriff sein. Sobald der Gegner unser Sturmgerät sieht, wird er alle seine Truppen im Süden konzentrieren, um unsere Attacke abzuwehren. Das nutzen wir aus und greifen an der Nordseite mit Sturmleitern an.“ – „Ein genialer Plan. Aber was ist, wenn wir mit den Türmen bis an die Mauer gelangen?“ – „Um so besser. Dann wird der geplante Scheinangriff tatsächlich der Hauptangriff.“ Gedämpftes Lachen war die Folge, was auch Lukku zu einem verhaltenen Grinsen brachte, wenngleich aus ganz anderen Gründen. Eine Weile lauschte er noch, doch der brisanteste Dialog war schon gesprochen worden. Schließlich verstummten die Stimmen und er verließ seinen Horchposten, um zu seinen Gefährten zurückzukehren. „Spät kommst du, aber du kommst“ wurde er von Rael empfangen. „Das dauert seine Zeit“ rechtfertigte sich der Neuankömmling. „Aber jetzt haben wir denen da drinnen wenigstens etwas zu bieten.“ Knapp fasste er die Resultate seiner Lauschaktion zusammen, was für allgemeine Bewunderung sorgte. Unser weiteres Vorgehen hatten wir während der langen Wartezeit bereits durchgesprochen. Etwaige Wächter sollten Lukku und Ralija unschädlich machen, während Sina mit dem Bogen sicherte. Rael sowie meine Wenigkeit würden die Nachhut bilden um insbesonders die Flanken zu sichern. „Bist du auch so aufgeregt wie ich?“ flüsterte mir Rael zu, von der ich nicht mehr als die Konturen ihrer Gestalt wahrnahm. „Schon“ bestätigte ich.

„Um uns herum lagern vielleicht tausend Dunkelelfen“ murmelte sie weiter. „Wenn die uns bemerken, dann beginnen sie mit einer großen Jagd und dann …“ – „… machen sie Schaschlick aus uns“ vollendete ich ihren Satz mit ruhiger Stimme, auch wenn mir alles andere als wohl zumute war. Ein geborener Held wie diejenigen aus Raðviðs Zwergenepen war ich halt keiner. Doch so furchtsam war ich dann auch wieder nicht, um einer Frau direkt ins Gesicht zu sagen, daß ich Angst hatte. Mein Herz schlug lediglich etwas schneller, das war alles. Oder? Die anderen setzten sich in Bewegung, was auch mich dazu nötigte, meinen Körper vorwärts zu befördern. Dunkelheit umgab uns, die auf dem unebenen Gelände das Schreiten erschwerte. Es war vielmehr eine Art Tappen, wobei ich immer auf der Hut sein musste, nicht über einen Stein oder eine Wurzel zu stolpern. Rael hatte ähnliche Probleme wie ich, bewegte sich aber weitaus weniger hölzern sondern geschmeidig wie ein Wiesel. Irgendwann hörte ich von vorn ein dumpfes Geräusch, das zuzuordnen mir unmöglich war. Nochmal ertönte ein ähnlicher Klang, dann herrschte wieder Stille. Vom heranhuschenden Lukku erfuhr ich, daß zwei Wachen ausgeschaltet werden mussten, die hier postiert gewesen waren. Also doch. Hatte mich mein Instinkt nicht im Stich gelassen – amüsant fand ich hingegen die Schilderung, daß die Wächter Richtung Stadt geblickt hatten. Offensichtlich rechnete der Feind also wirklich nicht mit einer Bedrohung aus dem Rücken. Jetzt würde er freilich gewarnt sein, obwohl es durchaus sein konnte, daß er dennoch davon ausging, Leute aus der Stadt hätten seine Wachen überwältigt. In diesem Fall würden sie aber nach Spuren suchen, um die Boten abzufangen. Sie würden aber keine finden – höchstens unsere, die wir in dem moosbewachsenen, sumpfigen Gelände mit Sicherheit hinterließen – und daraus folgern, daß jemand von außen in die Stadt gegangen sein musste. Wir mussten also schnell handeln, gedachten wir aus der Stadt auch wieder unversehrt herauszukommen. Jederzeit rechnete ich mit einem zweiten Wächtertreffen, doch nichts geschah. Ohne weitere Vorkommnisse pirschten wir uns näher und näher an Teralia heran. Die Stadtmauern wirkten im fahlen Licht der Fackeln auf den Wehrgängen unbezwingbar, doch die Militärgeschichte lehrt, daß es keine unüberwindbaren Bollwerke gibt. In einer Entfernung von knapp hundert Metern hielten wir an, um nicht versehentlich von der Mauer aus beschossen zu werden, im nachvollziehbaren Glauben, wir seien Feinde. Sina nahm einen Pfeil aus ihrem Köcher und befestigte ein zusammengerolltes Dokument daran, das ich vorbereitend geschrieben hatte, als es noch hell war. Darauf stand nichts anderes als daß wir Freunde der Elfen waren und in die Stadt kommen wollten, um ihnen zu helfen. Ferner der Hinweis, daß man eine Fackel schwenken sollte, sofern wir uns nähern konnten, das heißt, sobald wir hier davon ausgehen konnten, uns ungefährdet der Mauer nähern zu können, ohne von Pfeilen gespickt zu werden. Sina spannte ihren Langbogen, zielte auf eine Stelle seitlich an einem Turm, wo ein Holzvorbau über der Tür zum Wehrgang prangte, ließ los und der Pfeil schwirrte durch die Luft, traf wie vorgesehen den Vorbau, in dem er steckenblieb. Zuerst sah es so aus, als habe niemand bemerkt, was sich ereignet hatte, doch dann wuselten auf der Mauer Gestalten herum, von denen eine den Pfeil klaubte. Jetzt konnten wir nur abwarten, was passieren würde. Nichts tat sich. Ob die Verteidiger eine List der Dunkelelfen vermuteten? Oder erlaubte ihre Befehlshierarchie in einer solchen Situation keine schnellen Entscheidungen, etwa weil sich der Mauerabschnittsbefehlshaber erst mit dem übergeordneten Kommandanten beratschlagen musste? Endlich wurde eine Fackel geschwenkt, was mich mit Erleichterung erfüllte. Im Niemandsland zwischen den Fronten zu stehen wäre keine beruhigende Sache gewesen. Wir liefen in gemäßigtem Trab auf die Mauer zu, wo man uns bereits eine Strickleiter herabgelassen hatte. Aus taktischen Gründen schickten wir Ralija und Sina voran, denn wenn die da oben Lukku als erstes erblickten, kamen die vielleicht doch noch auf die Idee, es handle sich um eine List. In meinem Schreiben hatte ich zwar darauf hingewiesen, daß wir eine gemischte Abenteurergruppe waren, unter denen sich auch ein loyaler Nachtelf befand, aber wer käme im Ernstfall nicht auch auf diesen Gedanken, wenn er eine Stadt verteidigte? Als guter Anführer kletterte ich als letzter hinauf, dem sicheren Schutz der beachtlichen Mauer entgegen. Oben empfingen uns edel gekleidete Elfenkrieger, die uns willkommen hießen. Einer ihrer Anführer in silbern glänzender Rüstung mit sehr vornehmer Ausstrahlung gebot uns ihm in einen Turm zu folgen, wo er sich auf eine Vorratskiste setzte, nachdem er uns identische Sitzgelegenheiten angeboten hatte. „Eure Ankunft kommt unerwartet, doch in der derzeitigen Lage ist uns jede unverhoffte Lösung willkommen. Also: was führt euch denn zu dieser schweren Stunde in unsere Stadt?“ Er blickte von einem zum anderen, da er wohl keine Ahnung hatte, von wem am ehesten eine Antwort zu erwarten war. Sina räusperte sich verhalten, wodurch der Blick des Anführers auf sie gerichtet war. „Wir sind eigentlich in einer anderen Mission unterwegs, kamen aber zufällig hier vorbei und haben gesehen, was los ist. Wir haben beobachtet, daß die Dunkelelfen jenseits des kleinen Waldstücks im Süden, was ihr von hier aus nicht sehen könnt, mit dem Bau von Belagerungsgerät beschäftigt sind. Offenbar plant man für überübermorgen einen Sturmangriff.“ Sie berichtete von dem, was Lukku im Lager der Feinde herausgefunden hatte. Der Silberne blickte ernst. „So etwas haben wir schon fast befürchtet. Wir haben bereits mehrere Boten losgesandt, um Hilfe zu holen, wissen aber nicht, ob es einem gelang, durchzukommen.“

„Das vermögen wir nicht zu beurteilen“ meinte Ralija. „Aber einen der unsrigen haben wir vorausgesandt, um eine Botschaft zu übermitteln. Er wird alles Erforderliche in die Wege leiten, um einen Entsatzangriff zu initiieren. Wie weit ist denn die nächste Garnisonsstadt entfernt?“ – „Zwei Tagesreisen. Könnte knapp werden, wenn die Nachtelfen tatsächlich so schnell angreifen, wie Ihr es gehört haben wollt. Aber wir sind vorbereitet und durch Euch gewarnt. Wir werden die Nordmauer nicht komplett entblößen.“

„Es könnte sein, daß der Gegner seine Pläne über den Haufen wirft“ gab Lukku mit ernster Miene zu bedenken. „Beim Überwinden der feindlichen Linien mussten wir zwei Wachen ausschalten. Es könnte sein, daß er irrtümlich davon ausgeht, ein Bote aus der Stadt habe es nach draußen geschafft. Demnach wird der Feind mit Entsatz von außen rechnen und seine Bemühungen, die Stadt zu erobern, beschleunigen.“

„Möglich“ gab der Elf zu. „Aber das werden wir beizeiten sehen. Was habt Ihr jetzt vor? Soll ich Euch Quartiere zuweisen lassen?“

„Wir werden versuchen, wieder durch die gegnerischen Linien zu schleichen“ bemerkte ich. „Unsere Hauptaufgabe ist es jetzt nicht, Eure Verteidigung von innen zu verstärken, sondern unseren Botengang zu vollstrecken.“

„Das sehe ich durchaus ein. Gut, dann wünsche ich Euch viel Erfolg. Hoffentlich kommt Ihr mal wieder, damit Ihr unsere Stadt unter besseren Bedingungen besichtigen könnt.“

„Das wäre wünschenswert“ kommentierte ich. „Vielleicht bietet sich dafür eine Gelegenheit.“

„Mich würde es auf alle Fälle freuen. Fragt einfach nach Ulreg, dem Kommandanten der Wache – das bin nämlich ich. Ihr werdet dann sofort …“ Soeben trat ein Bogenschütze herein, der Ulreg einige Sätze ins Ohr flüsterte, ehe er wieder verschwand. Ulregs Miene hatte sich gewandelt. „Leider muss ich Euch etwas mitteilen, was für Eure weiteren Pläne von Bedeutung ist. Der Gegner hat offenbar die Wachen entdeckt, denen Ihr begegnet seid. Ob Ihr es heute Nacht auf demselben Weg, den Ihr gekommen seid, schaffen könnt, die Stadt zu verlassen, halte ich für unwahrscheinlich. Doch seht selbst.“

Er stand auf und gebot uns, ihm zu folgen. Auf dem Mauerabschnitt angekommen, über den wir in die Stadt gelangt waren, sahen wir es bereits. Im Westen, wo vorher das sumpfige Gelände komplett im Dunkeln gelegen war, flackerten nun zahllose Lichter auf. Kommandos gellten von dort herüber, Metall klirrte, da kam keine Maus mehr durch.

„Tja“ meinte Rael. „Sieht so aus, als säßen wir hier erst einmal fest. Machen wir das Beste daraus.“

 

*

 

Trotz seiner kurzen Beine legte Raðvið am ersten Tag unserer Trennung eine beachtliche Strecke zurück, die man ihm kaum zugetraut hätte. Als der Abend graute, suchte er sich in einem kleinen Waldstück unweit des Wegs unter einem Busch eine Schlafstelle, dürftig ausgepolstert mit zusammengetragenem Laub. Eine Notlösung, da eine wetterfeste Unterkunft in der Umgebung unauffindbar war. Dann durfte es des Nachts eben nicht regnen. Tatsächlich sollte ihm das Glück hold bleiben, denn das Wetter blieb konstant. So eilte er tags darauf frohen Mutes, gut ausgeschlafen, weiter. Das Geheimdokument trug er unter seinem Kettenhemd in einer Tasche auf der Brust, wo es vor allen Gefahren geschützt war. Gegen Mittag kam er durch ein beschauliches Elfendorf, wo er Bescheid gab, daß Teralia von den Dunkelelfen belagert wurde. Diese Neuigkeit verunsicherte die Leute im Dorf, die größtenteils einfache Bauern oder Hirten waren. Der Bürgermeister, der einzige Bewohner, der über ein Pferd verfügte, schickte sofort einen Boten los, damit er die nächste Garnison verständigte. In der ländlich geprägten, kaum bevölkerten Südprovinz des Elfenreichs ging eben alles etwas ruhiger zu. Nach einer deftigen Brotzeit im einzigen örtlichen Wirtshaus, die aus mehreren Portionen bestand, so ausgehungert fühlte sich unser Freund, zog der Zwerg weiter, denn es gab da noch etwas Wichtiges zu erledigen. Wer sollte den Geheimbrief zuverlässig zustellen, wenn nicht er? Freilich, er hätte ihn theoretisch dem berittenen Boten des Dorfes mitgeben können, aber einem einfachen Bauern, der gerade eben mal reiten konnte, eine Botschaft von vielleicht großer Wichtigkeit anzuvertrauen – das entsprach nicht den Gepflogenheiten eines Zwergs. Da war es doch viel spannender, selber auf große Tour zu gehen. Wie es wohl inzwischen um seine Gefährten bestellt war, die ganz allein ohne seine Hilfe zurechtkommen mussten?

 

*

 

Die uns zugewiesenen Quartiere konnte man schwerlich als besonders luxuriös bezeichnen, aber immerhin lag man weich und trocken. Von dem tönenden Remmidemmi, den die Belagerer draußen machten, bekam man hier drinnen wenigstens nichts mit. Sina schmiegte sich eng an mich, ihre feingliedrigen Hände auf meine Brust gelegt. Sanft fuhr ich ihr durchs Haar, steckte meine Nase tief in ihren Nacken um ihren Körpergeruch einzuatmen. Sie kicherte mädchenhaft, weil ich sie kitzelte. Man wäre nie darauf gekommen, daß nur wenige hundert Meter von uns entfernt tausende Krieger darauf warteten, uns den Garaus zu machen. Hinter den dicken Stadtmauern waren wir vorerst sicher. Mein Unterbewußtsein schien das zu wissen, denn ich schlief ausgesprochen gut. Zwar wurde ich als erster wach, doch die so herrlich ruhig schlafende Elfin auf mir bewegte mich dazu, noch einmal die Augen zuzumachen. Vor mich hindösend wäre ich beinahe nochmal eingeschlafen, doch Sinas jähes Erwachen riss auch mich aus meinem Schlummer. „Hast du gut geschlafen?“ vernahm ich den Klang ihrer angenehmen, leicht erotisierenden Stimme. „Ja“ bestätigte ich. „Und du?“

„Hervorragend. Ich habe geträumt, daß wir an einem Seeufer lagen und dann schwimmen gegangen sind. Wir haben uns von der Sonne trocknen lassen und haben Früchte im Wald gesammelt. Es war einfach herrlich.“ Ganz so wunderbar gestaltete sich die Realität nicht, aber wenigstens gab es so etwas wie ein Frühstück. Wir trafen draußen die anderen, mit denen zusammen wir überlegten, was wir den Tag über tun sollten. „Die Stadt anschauen?“ war sich Rael nicht ganz sicher. Vermutlich dachte sie an die Reaktion der Bewohner, die vielleicht nicht so gut darauf zu sprechen waren, falls wir hier Sehenswürdigkeiten betrachteten, während ihrer Stadt die Eroberung durch Dunkelelfentruppen drohte. Lukku plädierte dafür, auf dem Wehrgang die Stadt zu umrunden, damit wir etwaige Punkte entdecken konnten, die uns in der kommenden Nacht doch noch ermöglichen könnten, die Stadt heimlich zu verlassen. Ralija äußerte sich eher gelangweilt. „Mir egal, was wir machen. Ich bin bei allem dabei.“ Sina schwieg und sah mich mit verträumten Augen an. Womöglich dachte sie an das gleiche wie ich: den Tag mit Nichtstun zu verbringen, zu zweit in unserem Quartier … doch das konnte ich schlecht vorschlagen, weshalb ich mich schweigsam gab. Auch Sina sagte nichts dazu. Für mich Beweis genug, daß mein Grund auch der ihrige war. Wir einigten uns schließlich darauf, daß jeder das machen würde, worauf er Lust verspürte. Ralija und Rael streiften zu zweit durch die Stadt wegen den Besichtigungen, Lukku unternahm eine Stadtmauerrundtour und Sina folgte mir zurück in unser Quartier. Erst am frühen Nachmittag kamen wir wieder hervor, seelisch gestärkt, obgleich körperlich ermüdet. Sina reckte ihre Glieder, gähnte herzhaft und gab mir mit geschloßenen Augen einen langen Kuss. Berauscht wandte ich mich ab, dem Treiben auf der Straße zu. Das Leben der einfachen Bevölkerung ging schließlich auch trotz der Belagerung weiter. Sie wuselten wie eh und je hin und her, wobei man aber weniger Hektik feststellte als sonst. Lag wohl daran, daß die Zahl der auswärtigen Besucher gleich null war, da ja niemand auf normalem Wege in die Stadt kam. Von den anderen Gefährten war weit und breit niemand zu sehen. Vermutlich zogen die immer noch durch die Gegend in der berechtigten Annahme, wir würden alleine klarkommen.

„Was machen wir beiden jetzt?“ fragte mich Sina unschlüßig.

„Die anderen suchen? Keine Ahnung, wo die sich herumtreiben.“

„Ich hätte Lust auf ein erfrischendes Bad …“ – „Jetzt gleich?“

„Klar, warum nicht? Schauen wir mal, ob wir hier ein Badehaus finden …“

Tatsächlich gab es eins, in dem wir zu zweit in eine Wanne steigen konnten. Etwas eng wurde es zwar schon, denn dafür war sie eigentlich nicht vorgesehen, aber ich empfand es dennoch als sehr entspannend, im heißen Wasser zu liegen, Sinas Beine streichelnd ihren Körper unter der Wasseroberfläche zu ertasten. Im Anschluß daran speisten wir in einem Wirtshaus, in dem wegen der unsteten Versorgungslage zwar nur noch die Hälfte der Gerichte verfügbar waren, aber auf tranchierte Fischfilets mit Trüffelfüllung konnten wir gut verzichten. Als später die anderen wieder zu uns stießen, vertrieben wir uns die Zeit mit Messerwerfen. Mit Lukku konnte es keiner von uns aufnehmen. Eigentlich hätte ich gerne mit Axtwerfen weitergemacht, aber da Raðvið der einzige mit einer Axt war, mussten wir darauf verzichten. Wie es ihm wohl gerade ging?

 

*

 

„Seht euch mal den Kurzen an“ spottete ein betrunkener Elf, der mit zwei Kameraden aus einer Kneipe in irgendeinem unbedeutenden kleinen Städtchen wankte. „He, Winzling, woher des Wegs?“ Raðvið konnte ihre Alkoholfahne regelrecht riechen, gedachte aber nicht sich zu einer Schlägerei provozieren zu lassen. Drei besoffene Spitzohren zusammenzuschlagen war keine große Heldentat. Doch dann machte der Wortführer der Säufer unbedachterweise eine Anspielung auf die Größe eines speziellen Körperteils, was den Zwerg in Rage versetzte. Das Getümmel war kurz, aber effektiv. Die drei Betrunkenen wälzten sich verdroschen am Boden, kaum mehr fähig sich aufzurichten. „Lasst euch das eine Lehre sein, wenn ihr wieder mal einem Zwerg begegnet.“ Mit einem Lächeln kehrte er in einer Herberge ein, wo er sich ein Zimmer nahm zwecks komfortablerer Übernachtung als am Tag zuvor.

 

*

 

Mitten in der Nacht wachte ich plötzlich auf. Sina rüttelte mich heftig an der Schulter. „Wach auf. Da draußen ist die Hölle los!“ – „Was? Wie? Was ist denn los?“ Mühsam schlug ich meine Augen auf, die noch ganz verschwommen waren. Mehrmals blinzelte ich, ehe ich klar sehen konnte. „Ein Angriff“ erklärte mir Sina. „Beeil dich, verdammt noch mal!“

Verschlafen setzte ich mich auf den Bettrand. Wo zum Henker waren meine Klamotten? Ach, dort lagen sie ja. Während ich mich eilig anzog, hatte Sina schon ihre Waffen geschnappt und stand bereits an der Tür. Ihr Blick verriet mir, daß es ihr zu lange dauerte, bis ich endlich fertig wurde. „Ich geh schon mal raus. Komm nach so schnell du kannst.“

Mein Lederwams hatte ich eh schon fast an, stolperte dann aber über irgendein Bündel, das am Boden lag, was mich zu einem Fluch verleitete. Wer hatte da seinen Krempel einfach hingeworfen? Oh, das war ich wohl selbst gewesen. Den Lederhelm angelte ich aus dem Regal, um ihn mir auf den Kopf zu stülpen, rückte ihn zurecht, ergriff das Schwert und eilte nun ebenfalls nach draußen. Dort schien wirklich die Midgardschlange los zu sein. Ein einziges Tohuwabohu herrschte, Elfenkrieger liefen den Wehrgang hinauf, von Sina keine Spur. Ralija schoß mit der Armbrust auf einen Gegner, den ich von meiner Position aus nicht sehen konnte. „Weißt du, wo die anderen sind?“ rief ich ihr zu.

„Lukku ist dort hinten“ wies sie mit dem Kopf in eine Richtung. „Sonst habe ich niemanden gesehen.“ Die Sorge um Sina bewegte mich dazu, mit gezücktem Kurzschwert den Wehrgang hinaufzulaufen. Ein Pfeil flog dicht an mir vorbei. Glück gehabt. Die Dunkelelfen hatten es irgendwie geschafft, auf die Mauer zu gelangen, von wo aus sie bereits Anstalten machten, auszuschwärmen. Ulreg stand in seiner silbernen Rüstung wie ein Fels in der Brandung und schlug auf zwei Feinde mit einem Kriegshammer ein. Mit Kampfgeschrei kam ich ihm zu Hilfe, doch mein Gegner war flink. Er stach gekonnt mit einer Lanze nach mir, die mich beinahe aufgespießt hätte, wäre ich nicht schnell genug zur Seite ausgewichen. Jetzt war ich richtig wach, denn mir war bewußt, daß wir alle dran waren, sollte es den Angreifern gelingen, die Stadt zu nehmen. Mit brutalen Schlägen brachte ich den Dunkelelfen in die Rückwärtsbewegung. Von der Seite huschte ein Schatten heran, mein Gegner brach sich an den Hals greifend schreiend zusammen. Lukku grinste mich an, als habe er soeben einen Witz erzählt. Schon verschwand er wieder im Getümmel und auch ich hatte keine lange Atempause, denn der Kampf ging erbarmungslos weiter. Zwar wehrten wir uns nach Kräften, aber der Eindruck drängte sich mir auf, daß wir auf verlorenem Posten standen. Immer mehr Dunkelelfen drückten nach, gewannen an Boden, während die Zahl der Verteidiger gleichzeitig spürbar zusammenschrumpfte und der Gegner führte immer neue Kräfte auf die Mauern, die auf mehreren hundert Metern ihm zu gehören schienen. „Wir müssen uns schnellstens zurückziehen“ schrie ich Ulreg zu, der wenige Meter von mir entfernt gerade einen Axtstreich parierte. „Wir müssen die Stellung halten“ entgegnete der silberne Elfe, dessen aufrichtiger Mut mir imponierte, aber in der momentanen Situation wohl kaum noch angebracht war, sondern vielmehr an Draufgängertum grenzte. „Ulreg, die Lage ist hoffnungslos, wir müssen uns zurückziehen, sonst gehen wir alle dabei drauf.“

Er schien zu überlegen, zermalmte seinen Gegner mit einem Treffer seines Streithammers und wandte sich endlich an einen anderen Elfensoldaten. „Gib das Zeichen, wir kämpfen uns bis zur Zitadelle durch.“ Ein dumpfes Horn erklang dreimal, was als Signal für alle Kämpfenden galt, sich von ihrer augenblicklichen Position abzusetzen in Richtung auf die Festung der Stadt, von wo aus eine Weiterführung der Verteidigung sinnvoller erschien. Den anderen den Rückzug deckend, kämpften Lukku und ich Seite an Seite mit der Elfennachhut. Noch immer hatte ich Sina nicht gesehen, was mir arge Sorgen bereitete. Als ich Lukku darauf ansprach, beruhigte er mich, daß sie alt genug sei und selbst auf sich aufpassen könne. Sein Wort in Thors Ohr! Die Vorstellung, daß sie irgendwo lag, mit schweren Verletzungen, meinen Namen auf ihren Lippen … das wollte ich mir nur ungern ausmalen. Vor meinem inneren Auge sah ich sie in einer Blutlache liegend, was mich anstachelte weiterzukämpfen. Mit brutalen Hieben drosch ich auf einen Dunkelelfen ein, der freilich nichts für meine schreckliche Vorstellung konnte, aber das Pech hatte, an mich geraten zu sein. Ihn schien mein plötzlicher Wutanfall zu erstaunen, denn er beschränkte sich darauf, meine Hiebe mit seinem Schild abzuwehren und mich nicht weiter zu provozieren. Dann hatten wir das Tor zur Festung erreicht, was den Zweikampf jäh beendete. Die schweren, eisenverstärkten Pforten öffneten sich mit einem quietschenden Knarzen hinter uns, was mich nur äußerlich durchschnaufen ließ. Wo steckte Sina? Hatte sie sich in die Zitadelle retten können, ohne daß ich es bemerkt hatte? Suchend blickte ich mich um. Rael kam soeben auf mich zu. Sie blutete aus einer Armwunde, machte ansonsten aber einen guten Eindruck. „Nur ein Kratzer“ lachte sie. „Brennt ein bisschen, aber bis ich heirate, sieht man nichts mehr.“

„Hast du Sina gesehen?“ fragte ich voller Hoffnung.

„Nein, war die nicht bei dir?“ Mutlos schüttelte ich den Kopf. Wo steckte sie bloß?

Immerhin fand ich meine anderen Gefährten, die alle mehr oder weniger lädiert waren. Lukku hatte einen Pfeil in den Unterschenkel bekommen, der aber keine schwere Wunde hinterlassen hatte, die ihn kaum störte. Ralija trug eine Scharte an der Stirn davon, nur ich hatte nichts abbekommen. Dabei hätte ich jede Verwundung mit Freuden ertragen, wäre jetzt nur Sina in meiner Nähe. So sehr ich auch unter den Verteidigern nachfragte, niemand hatte sie gesehen. Bedrückt legte ich mich an diesem Abend schlafen, in leichte Melancholie verfallen.

 

Was sind meine Hände wert, die dich nicht streicheln können?

Was nutzen mir meine Lippen, wenn sie dich nicht liebkosen können?

Wozu habe ich Augen, die deinen Liebreiz nicht sehen können?

Wieso dürfen meine Ohren deine anmutige Stimme nicht hören?

Wozu habe ich Füße, wenn sie den Weg zu dir nicht finden?

Was nutzt mir meine Nase, die doch nur deinen Geruch vermisst?

Was ist mein starker Arm wert, wenn er dich nicht schützen kann?

Meine muskulöse Brust ist umsonst, wenn dein Kopf nicht darauf ruht.

All die Freuden dieser Existenz nicht mit dir zu teilen, betrübt mein Herz.

Was übrig bleibt ist Bitterkeit, Verzweiflung und ewiger Schmerz.

Welchen Wert hat mein Leben, wenn ich es allein ohne dich verbringen soll?

 

Eine alptraumreiche Nacht später hatte sich unsere Situation nicht maßgeblich verändert. Wir hielten die erhöht angelegte Festung der Stadt, während letztere in die Hände des Feindes geraten war. Nicht alle Bewohner hatten sich retten können, gar manche waren von den Dunkelelfen gefangengenommen worden. Sie zu befreien, überstieg unsere Kräfte bei weitem. Wir konnten froh sein, falls wir es schafften so lange auszuharren, bis von außen endlich ein Entsatzangriff vollzogen wurde. Die Kampfmoral hatte generell etwas gelitten nach dem Rückschlag vom Vortag, doch Ulreg tat sein möglichstes, die Männer weiter anzuspornen. Meine Stimmung war auf dem Tiefstand. Von Sina keine Spur, alles Nachfragen ergebnislos und vielleicht trug ich eine gewisse Mitschuld, weil ich am Morgen nicht früh genug aus dem Bett gekommen war. Wäre ich ein bisschen eher aufgewacht, dann hätte ich sie begleitet anstatt sie vorgehen zu lassen und wir hätten beide dasselbe Schicksal geteilt. So aber schien mir alles sinnlos. Ralija versuchte mich aufzumuntern, was ihr nur teilweise gelang. Sie meinte es gut, aber das half mir in meiner Gemütslage kaum weiter. Rael gesellte sich zu mir. Sie lächelte mich mit ihrer verständnisvollen Art an und legte eine Hand auf meine Schulter. „Du magst sie sehr, nicht wahr?“ Ich nickte. „Wenn ihr etwas schlimmes passiert wäre, dann hättest du es gefühlt. Sie ist bestimmt noch am Leben. Wahrscheinlich wurde sie im Kampf verwundet oder niedergeschlagen, dann ist sie gefangengenommen worden.“ Ich schöpfte neue Hoffnung. „Meinst du wirklich?“

„Ganz sicher. Sie zählt jetzt auf uns, daß wir sie befreien. Du darfst nicht um sie trauern, solange es dazu keine gravierende Veranlassung gibt. Lass dich nicht gehen, sondern überleg dir, wie wir sie finden können. Ich werde dir überallhin folgen und die anderen ebenfalls.“

„Ausgerechnet jetzt ist Raðvið weg. Dem wäre sicherlich etwas Gutes eingefallen.“

Rael tätschelte mütterlich meine Hand. „Keine Sorge, wir finden schon eine Möglichkeit. Aber zuerst müssen wir die Belagerung durchbrechen. Lukku hat da vorhin so einen Einfall geäußert. Vielleicht solltest du mal mit ihm reden …“ Dankbar drückte ich ihre Hand und sah mich nach unserem Dunkelelfen um, der sich fünfzig Meter weiter im Messerwerfen übte. Von hinten trat ich an ihn heran. „Ähm … Rael hat gemeint, dir sei etwas eingefallen, wie wir hier herauskommen könnten?“ Lukku warf soeben das letzte seiner Messer, das ebenso sein Ziel traf wie die anderen zuvor. „Ja“ drehte er sich zu mir herum. „Die Festung besitzt einen Ablauf, über den überschüßiges Regenwasser über eine Röhre in einen Tümpel geleitet wird, der nördlich des Markplatzes liegt.“ Nachdenklich kratzte ich mich am Hinterkopf. „Aber was kann uns das denn nutzen?“

„Ganz einfach, die besagte Röhre endet zwar unterhalb der Wasseroberfläche, damit niemand von der Stadt aus in die Zitadelle kommt, aber die andere Richtung ist möglich. Man muss nur einige Meter tauchen und schon schwimmt man im Tümpel.“

„Aber die Röhre wird doch am Ende sicher mit einem Gitter verschlossen sein!?“

„Nein, ich habe mit dem Festungsbaumeister gesprochen. Früher gab es tatsächlich ein Gatter, aber dort sammelte sich Laub an, das mit dem Regenwasser hinabfloß. Zum Reinigen ist das Ganze ziemlich umständlich, also hat man das Gatter entfernt.“

„Hervorragend. Einen Versuch ist es jedenfalls wert. Besprechen wir das am besten gleich mit den anderen.“ Ich rief Ralija sowie Rael herbei, denen ich Lukkus Vorschlag unterbreitete. Ralija wiegte den Kopf hin und her, sie schien etwas auszusetzen zu haben. „Wenn wir entdeckt werden, dann können wir unmöglich wieder zurück. Was machen wir in diesem Fall?“ – „Bis zum bitteren Ende kämpfen“ meinte Lukku. „Eine andere Möglichkeit haben wir dann nicht, es sei denn wir ergeben uns.“

„Ist das anzuraten?“ fragte Rael. „Wahrscheinlich werden die uns dann versklaven.“

„Mit Sicherheit sogar. Es könnte aber auch sein, daß die ein kleines Exempel statuieren. Diesem Risiko werde ich mich mit Sicherheit nicht aussetzen.“ Zwar sprach er nicht offen aus, was seine Artgenossen unter einem „kleinen Exempel“ verstanden, aber soweit reichte meine Phantasie, um mir diverse Gräueltaten lebhaft vorzustellen. Was gab es demoralisierenderes für die Belagerten, als wenn welche aus ihrer Mitte von den Belagerern demonstrativ hingerichtet wurden? Wobei solche Aktionen mitunter erst recht den Kampfgeist weckten, denn Rachelust ist bekanntlich eine starke Motivation.

Nachdem ich mit Ulreg über unsere geplante Aktion gesprochen hatte, für die er mir sein Einverständnis gab – schließlich gehörten wir quasi zu den Verteidigern der Stadt, was bedeutete, daß wir unsere Elfenkameraden nicht ohne ein Wort verlassen konnten – bereiteten wir uns auf den nächtlichen Akt vor. Wir dösten bis in den Spätnachmittag hinein, damit wir alle Kräfte beieinander hatten, wenn es darauf ankam. Der Gegner beschränkte sich darauf, die Stadt zu plündern, denn die Zitadelle würde ihm früher oder später schon noch in die Hände fallen. Weg konnten wir ja nicht. Ein Ausfall wäre zwar im Bereich des durchführbaren, aber auf Grund der geschrumpften Mannschaftsstärken verzichtete Ulreg darauf. Die einzige Hoffnung beruhte darin, daß endlich ein Befreiungsschlag von außen käme. Ulreg beruhigte uns, denn er verwies auf einen Geheimgang, der von der Feste aus nach außerhalb der Stadtmauern führte. Falls der Fall drohte, konnte man also durch Flucht einer Gefangennahme entgehen.

„Ja, aber“ begann ich nachzudenken. „Dann könnten wir doch eigentlich diesen Geheimgang nehmen anstatt der Röhre.“

„Nein“ widersprach Ulreg vehement. „Das ist unser letzter Trumpf. Momentan wimmelt es überall von den Dunkelelfen. Falls ihr den Geheimgang nehmt und entdeckt werdet, dann ist unsere einzige Fluchtmöglichkeit verspielt. Der Gegner wird sogar versuchen, durch den Gang in die Festung einzudringen. Ihr werdet sicher verstehen, daß dieses Wagnis zu groß ist.“ Das begriff ich sehr wohl. Also doch ein Tauchkurs. Als sich die Abenddämmerung mit rötlichen Farben am Himmel abzeichnete, begaben wir uns zum Regenwasserabfluß. Unsere Habseligkeiten hatten wir mit Schnüren zusätzlich gesichert, damit beim Tauchen nichts verlorenging. Natürlich würde uns das Baden in voller Montur behindern, aber nackt zu schwimmen konnten wir uns kaum leisten. Ulreg, der uns geleitet hatte, wünschte uns Glück. Jeder drückte jedem die Hand, ehe der erste mit einer kleinen Fackel in die Röhre stieg. Wer das war? Der Anführer, also ich. Anfangs hatte die Röhre einen Durchmesser von einem knappen Meter, wurde dann aber enger. Auf dem feuchten Boden sitzend schob ich mich mit den Füßen voran vorwärts. Nach einer Kurve wurde es abschüßiger und ich befürchtete schon, im freien, ungebremsten Fall nach unten zu schlittern, aber da es schon länger nicht mehr geregnet hatte, war der Stein nicht besonders rutschig. Viel mehr störte mich die Enge, die einen halb kriechen, halb robben ließ. Hinter mir vernahm ich die regelmäßigen Geräusche meiner Gefährten, was mich etwas beruhigte, gleichzeitig aber auch ängstigte, denn wenn irgendwas schiefging und wir umkehren mussten, dann steckte ich am tiefsten in der Scheiße. Am Ende blieb einer stecken und ich würde hier … doch das war freilich Unsinn. Offensichtlich schürte die beengte Situation in mir Ängste, die wenig mit den tatsächlich möglichen Zuständen zu tun hatten, sondern vielmehr der Urangst entsprangen, eingeschlossen zu sein. Die Gelehrten nannten das – glaube ich – Phobie. Endlich sah ich vor mir Wasser, dunkelgrün, geheimnisvoll. Einen Moment zögerte ich, dann schob ich meine Beine hinein. Kalt, sogar sehr kalt. „Was ist da vorn los?“ hörte ich Raels Stimme, der es hier unten auch nicht eben behaglich war. Dabei hatte ich nicht einmal eine Spinne gesehen.

„Wir sind unten“ klärte ich sie auf. „Aber das Wasser ist ziemlich kalt. Da muss ich mich erst einmal daran gewöhnen.“ Ich reichte die Fackel an den hinter mir steckenden Lukku weiter, schnaufte tief durch, holte Atem und tauchte schließlich weg. Meter um Meter schob ich mich vorwärts in das schwarze Nichts, trotz offener Augen wie blind, weil bereits keine Helligkeit mehr bis zu mir vordrang. Immer weiter tastete ich mich voran in dem Wissen, daß die Röhre absolut gerade weiterführte. Als meine Finger ins Leere tasteten, hatte ich es geschafft. Ich befand mich bereits im Tümpel, weshalb ich nun nach oben schwamm, bis ich die Wasseroberfläche durchstieß. Schnell atmete ich durch, die Umgebung aushorchend. Nein, kein Dunkelelf saß am Ufer, der mich entdeckt hatte. Kein Speer flog mir entgegen, kein Pfeil surrte auf mich zu. Es lag nur der Tümpel ruhig da. Das Lederwams klebte an meinem Leib wie Honig. Unangenehm, aber leider erforderlich. Eine Weile schwamm ich auf der Stelle, bis eine Gestalt neben mir auftauchte – Lukku. Als auch die Frauen es geschafft hatten, stiegen wir an einer Stelle aus dem Wasser, wo mehrere Büsche dicht beieinanderstanden. Triefend vor Nässe hatten wir zuerst unsere eigenen Sorgen. Normalerweise würde man sich jetzt ausziehen um die Kleider trocknen zu lassen, aber das schied für uns aus. Wir pressten stattdessen mit den Händen die meiste Feuchtigkeit heraus, was sich zwar immer noch unangenehm anfühlte, aber wenigstens nicht mehr so viele Geräusche verursachte. Wie Wildkatzen huschten wir durch die erste Gasse, an den Häusern vorbei, drückten uns in den Schatten, wenn wir irgendwas hörten um sofort weiterzuhasten. Die Stadt zu verlassen bereitete uns keinerlei Schwierigkeiten. Über schmale Gassen gelangten wir bis zur Westmauer, wo an einem Mauerabschnitt zwischen zwei Türmen gerade einmal drei Dunkelelfen Wache schoben. Deren Bewegungsmuster herauszufinden dauerte nicht sehr lange. Dann übernahm Lukku den einen, wir die zwei anderen und schon war der Weg frei. Ein Seil mit Haken hatten wir mitgenommen und mit dem ging es nun ganz leicht. Die Suche nach Sina konnte beginnen.

 

*

 

Eine lange Kolonne Gefangener trottete zur Stadt hinaus. Um Fluchtversuche zu vereiteln, hatte man sie gruppenweise zu zehnt aneinandergebunden. Die Hände des Vordermannes an einem Seil mit dem Hals des Hintermannes. Auf diese Art benötigte man nur wenige Begleiter. Die meisten der Gefangenen, unter denen sich auch Frauen befanden, schienen aber derart entmutigt auf Grund der Einnahme ihrer Stadt, daß kaum mit Problemen zu rechnen war. Der Anführer der Bewacher, ein Dunkelelf mit fahler Gesichtshaut und stechendem Blick, schärfte seinen Leuten dennoch ein, wachsam zu sein. Dreihundert Elfensklaven würden auf dem Markt im hundert Kilometer entfernten Bal Sogor ordentliche Preise erzielen. Als Leutnant seines Kriegsherrn würde er einen Teil des Verkaufspreises für sich selbst einstecken können. Kritisch blickte er von seinem Ross herab, die vorbeiziehende Schar musternd. Ausschuß befand sich natürlich auch darunter, aber zu seiner Zufriedenheit erblickte er auch kräftige Männer, die ordentlich zupacken konnten. Die Verwalter der Bergwerke würden sich um solche Burschen reissen. Die Frauen waren ebenfalls nicht zu verachten. Stramme Waden, ausgeprägte Oberweite, schlanke Körper, dafür würde man Höchstpreise erzielen. In der zweiten Gruppe befand sich an der vorletzten Position eine Elfin, die er kaum wahrnahm. Nicht etwa, weil sie unattraktiv gewesen wäre, sondern vielmehr weil man in der Masse das Einzelindividuum übersieht. Dabei hätte er sie unbedingt anschauen müssen, weil dann hätte er den Hass in ihren dunkelblauen Augen lodern sehen. In ihren dunkelgrünen Haaren klebte verkrustetes Blut, das von einem kraftvollen Schlag auf den Kopf herrührte, dem sie ihre Gefangenschaft verdankte. Die Fesseln schnitten in ihre Handgelenke, aber das störte sie nicht. Ihr einziger Gedanke waren ihre Gefährten, die sie wiederfinden wollte. Doch zuerst würde sie fliehen müssen.

 

Ein Feuer brennt in meinem Herzen,

kanns nicht löschen, bereitet Schmerzen.

Nur der Schlaf bringt kühle Linderung,

trägt mich fort auf sanften Schwingen,

das Erwachen gleicht einer Niederung,

die mir die alten Sorgen aufs Neue bringen.

So zieh ich aus, mein Mädchen zu suchen,

in den Wäldern, den Ebenen und in den Bergen,

im Königreich der Elfen und bei den Zwergen,

mein unbarmherziges Schicksal, das könnt ich verfluchen.

Doch find ich dich einst, dann werd ich dir sagen,

daß mich nun endlich keine Sorgen mehr plagen.

 

Die meisten Dunkelelfen hatten zwar ein Quartier in der Stadt gefunden, doch etliche kampierten nach wie vor draußen vor der Stadt in einfachen Zelten. Von Lukku stammte der akzeptable Vorschlag, uns einen der Soldaten zu greifen, damit wir erfuhren, wohin man die Gefangenen transportiert hatte. Andernfalls konnten wir lange suchen. Das Risiko schien mir gering, zumal wir uns in der Dunkelheit jederzeit verbergen konnten. Daher legten wir uns auf die Lauer, um möglichst einen einzelnen Nachtelfen zu überwältigen. Drei schlenderten lautstark palavernd an uns vorbei, ehe wieder Ruhe einkehrte. Dann torkelten zwei heran, die wohl zuviel getrunken hatten. Auch sie ließen wir ungeschoren vorüber, bis dann endlich ein Einzelner kam. Lukku hielt ihm vom hinten den Mund zu, damit er nicht vor Überraschung schreien konnte, Ralija umklammerte seine Beine. „Kein Laut“ zischte ihm Lukku ins Ohr. „Sonst geht es dir schlecht.“ Rael half mir dabei, unseren unfreiwilligen Gefangenen zu fesseln und zu knebeln, denn ihn hier inmitten des feindlichen Zeltlagers zu befragen, erachtete ich als zu riskant. Zu zweit hoben wir ihn uns auf die Schulter. Ein paar hundert Meter weiter verzogen wir uns in den Wald, in dem wir vorgestern bis zum Einbruch der Dunkelheit gelagert hatten. Ich schärfte dem Dunkelelfen ein, daß es um ihn geschehen war, sollte er um Hilfe rufen. Dann nahm ich den Knebel aus seinem Mund. „Also“ begann ich das Verhör. „Wir wollen von dir wissen, wo ihr die Gefangenen hingebracht habt.“ Zuerst schwieg er, doch dann zischte ihm jemand zu, was mit seinen Ohren geschehen würde, wenn er nichts sagte. Das löste seine Zunge.

„Sie sind gleich nach der Eroberung der Stadt abgeführt worden.“ – „Wohin?“

„Nach Bal Sogor, da befindet sich der nächste Sklavenmarkt.“ – „In welcher Richtung liegt das?“

„Direkt im Süden. Vielleicht hundert Kilometer weit entfernt.“ – „Wie viele Wachen sind dabei?“

„Das weiß ich nicht. Einige Dutzend wahrscheinlich. Mehr werden für drei- bis vierhundert Gefangene kaum nötig sein.“ – „Wie viele Soldaten seid ihr hier insgesamt?“

„Ich bin mir nicht sicher ... vielleicht siebentausend nach Abzug der Verluste.“

Konnte stimmen. Eine ähnlich große Zahl hatte ich selbst überschlagen. Da ich keine weiteren Fragen hatte, knebelten wir den Burschen wieder und ließen ihn in den Büschen liegen. Die restliche Nacht würde er hier schon ausharren können, ehe seine Kameraden ihn dann finden würden. Für uns bedeutete das einen gehörigen Vorsprung, der ausreichen würde, uns abzusetzen.

„Wenn er uns belügt hat, was dann?“ dachte Rael nach.

„Na, nach Norden werden die ihre Gefangenen kaum bringen, weil von dort die Elfenentsatzarmee kommen wird. Das kann durchaus stimmen.“ – „Das denke ich auch“ stimmte Lukku zu. „Wir sollten tagsüber schauen, ob wir Spuren entdecken. Irgendwo müssen die mit ihrem Zug ja übernachtet haben. Einige hundert Gefangene sollten gänzlich andere Spuren hinterlassen als lagernde Soldatentrupps.“

Mit Lukku als Kundschafter vorneweg zogen wir gen Süden, eine Himmelsrichtung, die dank des am Himmel stehenden beinahe kugelrunden Mondes leicht herauszufinden war.

 

*

 

Die hereinbrechende Dämmerung zwang den Anführer des Gefangenenzugs ein provisorisches Nachtlager aufzuschlagen. Da weder Zelte noch Decken oder dergleichen vorhanden waren, mussten sich die Gefangenen in die Wiese legen, wo es aber zumindest trocken war. Einige murrten und kamen nach einigen Peitschenhieben dahinter, daß es schlimmer hätte kommen können. Aus Sicherheitsgründen konnte man ihnen die Fesseln nicht abnehmen. Zu groß wäre das Risiko einer Flucht gewesen. Die Wächter waren so schon nervös genug, was man angesichts ihrer chronischen Unterzahl durchaus nachvollziehen konnte. Auch sie würden wohl kaum besonders gut schlafen, zumal sie zudem in drei Schichten als Nachtwache eingeteilt wurden. Ein Auge für Bedrohungen von außen, eins für solche von innerhalb des Lagers.

Sina hatte ursprünglich vorgehabt, den Schutz der Nacht zur Flucht zu nutzen, doch angesichts der Tatsache, daß die Knoten ihrer Handfesseln unbezwingbar blieben, hinderte sie zudem der lästige Strick um ihren Hals an einem Ortswechsel. Zwar vermochte sie ihren Nachbarn, einen jüngeren Elfenknaben dazu zu bewegen, ihr bei der Befreiung behilflich zu sein, doch einer der Wächter hatte aufgepaßt und ging mit einigen Stockschlägen dazwischen. Noch einmal versuchte sie nach Schichtwechsel ihr Glück, doch letzten Endes gab sie erfolglos auf. Irgendwie ging auch diese Nacht vorüber, ohne daß es beim morgendlichen Abzählen zu Ungereimtheiten gekommen wäre. Alle noch da. Der Marsch ging weiter, schnurgerade immer gen Süden, dem Verlauf der Straße folgend, die sich um Hügeln und Seen herumwand. Bei ihrer Errichtung war man den Weg des geringsten Widerstandes gegangen, der da gleichbedeutend mit den geringsten Baukosten gewesen war.

Selten kamen andere Reisende entgegen, meistens handelte es sich um berittene Kompanien, die einen Marschbefehl gen Norden hatten. Man konnte daraus schließen, daß eine größere Aktion geplant war, aber mehr wäre pure Spekulation. Gegen Mittag legte man eine längere Pause ein, deren Erholungsgrad dürftig war, da sie mangels Schatten unter der sengenden Hitze der Mittagssonne stattfand. Dennoch tat es gut, die vom langen Marsch müden Beine auszuruhen. All zu bald knallten wieder die Peitschen der Dunkelelfen, die zum Weiterzug drängten. Stunden um Stunden verstrichen, in denen man zig Kilometer zurücklegte, bis schließlich am Spätnachmittag eine Kleinstadt auftauchte. Sina erriet aus den erleichterten Reaktionen der Nachtelfen, daß sie ihr Ziel erreicht hatten. Hoffentlich ergab sich noch eine weitere Möglichkeit zur Flucht, denn laut Gerüchten, die unter den anderen Elfen kursierten, würde man sie in der Stadt verkaufen. Da sah man wieder mal, wie unzivilisiert die Dunkelelfen doch waren – bei den Tagelfen gab es keine Sklaverei. Beim Durchschreiten des stählernen Stadttores wurde Sina bewußt, daß es von hier womöglich keine Rettung mehr geben würde. Die Vorstellung, ihre Gefährten nie mehr zu sehen, versetzte ihr Herz in Aufruhr. Nein, sie würde sich niemals fügen, ihren Willen zur Flucht konnte keiner brechen. Nur der Tod vermochte das.

Der Zug schlängelte sich durch die Gassen bis zu einem zentralen Platz, auf dem zahllose Marktstände standen. Dort sperrte man sie in große Käfige, die durch stabile Eisengitter begrenzt wurden. Anschließend begann die Versteigerung. Der Auktionator hatte sich bereits im Vorfeld mit einigen Bergwerksbesitzern geeinigt, einen Großteil der Männer an sie zu verkaufen. Weitere Interessenten hatten über fünfzig Elfinnen für ihre Obstplantagen geordert. Blieben also nicht mehr besonders viele übrig, die nun öffentlich versteigert werden sollten. Der Käfig leerte sich zusehends bis Sina an die Reihe kam. Zwei Bewaffnete, die im Dienste des Auktionators standen, geleiteten sie auf die Bühne, wo der Eigentümer bereits Sinas Vorzüge anpries. „Mein hochgeschätztes Publikum, nun möchte ich Euch eine rassige Elfin aus den tiefsten Wäldern Eriels vorstellen, die mit 200 Soth Anfangsgebot wirklich nicht zu teuer bemessen ist. Seht euch nur die schlanken Gliedmaßen an, ihre edlen Züge und die von der Natur wahrlich gesegnete Figur. Sie wird nicht nur die Nächte versüßen, sondern auch am Tag durch ihren entzückenden Anblick erfreuen. So etwas findet Ihr so schnell kein zweites mal und wenn doch, dann natürlich nur bei mir. Macht Euer Gebot, seid nicht kleinlich, schließlich wollt Ihr Euch doch sicher nicht blamieren? Schon gar nicht vor der hübschen Elfin.“

Sina verschlug es fast die Sprache, so wie sie sich hier selbst als Ware angepriesen sah. Es widerte sie an, als erste Gebote abgegeben wurden. Ein weißhaariger Kaufmann bekam schließlich den Zuschlag für 650 Soth. Eine beachtliche Summe, aber keineswegs die Höchstsumme an diesem Tag. Die hatte für 2500 Soth ein Philosoph erzielt, der alle bedeutenden Denkerwerke der Dunkelelfen auswendig vortragen konnte. Dagegen kam Sina natürlich nicht an, das ist klar. Nach der Abwicklung der Zahlungsmodalitäten, die im Überreichen eines Beutels mit Geldstücken bestand, übergab der Sklavenhändler die verkaufte Ware. „Ihr werdet viel Vergnügen mit Euerer Neuerwerbung haben, das garantiere ich mit meinem Namen.“ schwafelte er ohne Pause vor sich hin. „Falls Ihr bei Gelegenheit wieder Sklaven benötigt, laßt Euch sagen, daß ich übermorgen eine neue Lieferung bekomme. Es wird sich erlesene Ware darunter befinden.“

Dann nahm der Käufer seine Sklavin in Empfang, um sie nach Hause zu führen. Unterwegs sprach er kein Wort, so als gäbe es nichts zu sagen. Vor einem Haus, dessen Eingang zwei Säulen einrahmten, blieb er stehen.

„Hier ist dein neues Zuhause“ gab er kund. „Ich bin Quor, aber du hast mich mit Herr anzureden. Ich werde jetzt deine Fesseln lösen und mein Sklavenverwalter wird dir dein Quartier zeigen. Wenn du versuchst zu fliehen, dann stirbst du. Wenn du tust, was ich von dir verlange, dann wird es dir an nichts mangeln. Hast du noch Fragen?“ Sina schüttelte den Kopf. Als sie ihre Hände endlich wieder frei hatte, dachte sie einen Augenblick darüber nach, sofort die Flucht zu ergreifen, doch etwas hielt sie zurück. Am hellichten Tag stünden ihre Chancen schlecht, zumal ohne zeitlichen Vorsprung. Folglich besann sie sich anders, ihre kriegerischen Gefühle verbergend, die verschüchterte Sklavin mimend. Die Kammer, die ihr der dickliche Hausverwalter zeigte, war zwar klein, aber sah ganz passabel aus. Da würde man es schon eine Nacht aushalten – in der zweiten würde sie das Haus ohnehin verlassen und auch die Stadt. Die Drohung in Bezug auf die Konsequenz eines Fluchtversuchs bewirkte bei ihr lediglich, daß sie nun wusste, daß sie sich nicht erwischen lassen durfte. Erfolgreiche Flucht oder Tod, so sollte die Parole lauten.

 

*

 

Der erste Tag im Leben als Sklavin begann unangenehm. Unsanft wurde sie geweckt, zu einer Zeit, die wohl vor dem Morgengrauen liegen musste, denn ein Dutzend Leuchter erhellte die Räumlichkeiten. Der Verwalter wies ihr diverse niedere Arbeiten an, darunter auch die Frühstücksvorbereitungen in der Küche, die sie unter der Fuchtel einer Art Kochsklavin auszuführen hatte. Nur nicht negativ auffallen, schärfte sie sich ein, dann konnte sie morgen bereits wieder in Freiheit sein. Dafür konnte man dann auch demütigende Arbeiten verrichten. Falls es dem Hausherren allerdings einfallen würde, an diesem Abend seinen Neukauf im Schlafgemach zu „testen“, dann wäre eine Grenze überschritten. Hoffentlich kam dem nicht dieser Gedanke – es wäre sein sicherer Tod. Das würde sie sich nämlich nicht gefallen lassen, selbst wenn es dann auch ihr eigenes Leben kostete. Im Übrigen hatte sie herausgefunden, daß sie ein Wertgegenstand war – der umgerechnete Betrag ihres Kaufpreises reichte gewöhnlichen Leuten ein ganzes Jahr davon zu leben. Der Tag verlief entgegen der Erwartungshaltung relativ rasch. Außer den hierzulande üblichen Haushaltsarbeiten musste sie lediglich einmal ihren Herrn bei einem Einkaufsgang in die Stadt begleiten. Ihr fiel dann die Aufgabe zu, die gekauften Sachen heim zu tragen. Am Abend verlangt ihr Herr, daß sie ein Spiel mit ihm machte. Eines namens „Pach“, das sie nicht kannte. Die Regeln waren jedoch schnell erlernbar und so gelang es ihr, auch mal zu gewinnen, was sie mit einer gewissen Befriedigung erfüllte. Als Quor erneut verlor, zog er sich zurück. Sina konnte nun machen, was sie wollte. Zum Schein begab sie sich in ihre Kammer, doch dachte sie natürlich nicht ans Schlafen, sondern sehnte Mitternacht herbei.

 

*

 

Zwar war ich fest davon überzeugt gewesen, daß wir den Vorsprung, den die Kolonne hatte, locker aufholen würden können, doch die Wirklichkeit sollte uns demonstrieren, daß man sich irren kann. Mein Plan war es gewesen, die Gefangenen während der Nacht zu befreien, doch unglücklicherweise waren wir zu langsam. Man sah kaum noch die Straße, so dunkel war es geworden, was mich aber nicht daran hinderte, weiterzumarschieren. „Deren Lager kann nicht mehr weit weg sein“ war ich mir sicher. Rael versuchte es mit Argumenten, die nicht zu mir durchkamen. Dann drückte mich Ralija verständnisvoll an ihre Brust, was mir ein wenig die Verbissenheit nahm, in der ich gefangen war, denn in dieser Haltung konnte man kein Streitgespräch führen, geschweige denn seine Kameraden davon überzeugen, daß man um jeden Preis weiterziehen musste, egal ob nun Nacht war oder nicht. „Ich weiß wie sehr du sie magst“ sprach Ralija beruhigend auf mich ein. Ihre Augen ruhten in meinen, besänftigten meinen Zorn. „Wir haben alles getan, was wir konnten, aber wir haben es trotzdem nicht geschafft. Aber morgen ist auch noch ein Tag. Nein, sag jetzt nichts. Ich ahne, was du meinst. Morgen erreichen die Gefangenen Bal Sogor und dort werden sich ihre Spuren verlieren. Das ist richtig, aber auch wir kommen morgen dort an und wir werden ihre Spur wiederfinden. Das schwöre ich dir.“

Ich drückte sie freundschaftlich an mich und löste dann unsere Umarmung. „Gut, wahrscheinlich habt ihr Recht. Schlagen wir hier unser Lager auf.“

Seufzend tastete ich den Boden ab, um eine bequeme Stelle aufzuspüren. Meine Decke hatte ich gleich als Unterlage ausgebreitet, die übrigen gruppierten sich um mich herum. Stille umgab mich, nur die regelmäßigen Atemgeräusche meiner Freunde vernahm ich, wenn ich die Ohren spitzte. Mein Körper lag ruhig, aber meinen Geist hatte eine gewisse Rastlosigkeit ergriffen. Sina mochte irgendwo dort draußen auf mich warten, egal wo auch immer, ich würde sie finden, selbst wenn ich sie bis ans Ende der Welt suchen müsste. Das schwor ich mir in jener Nacht.

 

*

 

Raðvið hatte die Botschaft erfolgreich am Elfenhof zugestellt, sich dafür den Dank des Königs Aldaelf abgeholt und erklärt, er wolle so schnell als möglich wieder zurück zu seinen Gefährten, die sich wohl noch immer in der Nähe des belagerten Teralias befinden mussten.

„Eure Gefährten wiederzufinden könnte etwas schwieriger werden als erwartet, da mir erst heute der Fall Teralias von Spähern gemeldet wurde“ fuhr der König aus. „Ein unerfreulicher Rückschlag an der Südfront, der einen mächtigen Eckpfeiler unserer Grenzregion in Feindeshand bringt. Aber es sind bereits Maßnahmen ergriffen, um verlorene Gebiete zurückzuerobern. Dennoch würde ich Euch raten, vorsichtig zu sein. Dort unten im Süden braut sich derzeit einiges zusammen. Das Schicksal des Elfenreichs liegt auf Messers Schneide.“

„Wir Zwerge sind ja auch noch da“ entgegnete er entschloßen. „Gemeinsam schlagen wir diese Wichte schon zurück.“ Der Ansatz eines verhaltenen Grinsens zeigte sich auf dem würdevollen Antlitz des Königs. „Das ist das erfreuliche an den Zwergen, daß sie nie kleinbeigeben. Ihre Selbstüberschätzung ist hingegen weniger hilfreich. Vor allem, wenn man gemeinsam einen Angriff plant und die werten Verbündeten schon mal allein angreifen, anstatt abzuwarten wie besprochen.“

Letzten Endes gab Aldaelf Raðvið vier Elfen seiner Leibgarde mit, die den Auftrag hatten, den Zwerg sicher nach Teralia zu bringen, wo er seine Gefährten wiederfinden wollte.

 

*

 

Das Haus schien völlig still. Sina hatte die Tür zum Gang einen Spalt aufgemacht, kein Geräusch. Vorsichtig tappte sie die Steintreppe hinunter schnurstracks auf die Eingangstür zu, die allerdings abgesperrt war. Nacheinander klapperte sie die Fenster ab, von denen aber alle vergittert waren. Im Parterre schien es kein einziges Fenster zu geben, durch das man sich hätte zwängen können. Die Hintertür war natürlich auch per Schlüßel verriegelt. Daher schlich Sina hinauf in den ersten Stock, wo sie sich mittels einiger zusammengeknoteter Decken in eine Seitengasse abseilte. Ihre elfischen Instinkte warnten sie vor Gefahr. Schleunigst drückte sie sich in eine Nische des Mauerwerks. Lachend zogen einige Dunkelelfenjugendliche vorbei, sich aufgeregt über irgendwelche Leute unterhaltend, von denen Sina noch nie etwas gehört hatte. Beinahe belustigt schnappte sie ein paar Brocken auf, mit denen sie wenig anfangen konnte. Jedenfalls musste die besagte Person supertoll sein. Als die Luft wieder rein war, pirschte sich die Elfin weiter gen Norden. Im Dunkeln war dies gar nicht so leicht zu erkennen, aber sie glaubte sich den Weg gemerkt zu haben. Jetzt würde sich zeigen, ob sie auch unter veränderten Bedingungen die Orientierung behielt. Der Mond versteckte sich hinter einer dichten Wolkenschicht und schied daher als Bestimmungshelfer aus. Aus dem Bauch heraus entschied sie sich für eine Richtung. Tatsächlich tauchte wenig später der dunkle Schatten der Stadtmauer auf. Das letzte Hindernis vor der Freiheit. Doch sie musste vorsichtig sein, nicht überhastet reagieren, denn es gab garantiert Wachen, die die Mauern kontrollierten. Hier konnte man wohl kaum so einfach die Mauer hinabklettern, ohne dabei erwischt zu werden. Es sei denn, man war schlau oder frech oder sogar beides. Ein Plan reifte in Sinas Kopf, der so unglaublich schien, daß er sich wahrscheinlich durchführen ließ. Doch dazu musste sie noch einige Vorkehrungen treffen. Sie schlich in der Nähe des Tores umher, bis sie schließlich eine Stelle fand, die ihr geeignet schien. Von der Gasse zweigte ein schmaler Weg zu einem Hinterhof ab, in dem allerhand Gerümpel herumstand. Fäßer, gestapelte Kisten, wie geschaffen um jemanden zu verstecken. Dieser jemand kam gerade vorbei, ein ahnungsloser Soldat. Wie ein Straßenräuber blickte sich Sina nach allen Seiten um, ob sie auch wirklich allein waren. Dann sprang sie ihren Gegner von der Seite an, der gar nicht mehr reagieren konnte, so schnell war er niedergeschlagen. Das schwierige folgte erst, denn Sina musste den Bewußtlosen in den besagten Hinterhof zerren, was einiges an Schweiß kostete. Dort zog sie ihr Opfer aus um die Kleidung zu tauschen. Zwar passten ihr die Sachen nicht exakt, aber das würde niemandem auffallen. Nachdem sie den halbnackten Soldaten in ein Faß gesteckt hatte, überprüfte sie nochmal den Sitz ihrer Uniform. Es gab nichts zu beanstanden. Nun konnte sie ganz offen durch die Straßen gehen, was gewisse Vorteile mit sich brachte. Vor einer Taverne fand sie endlich, wonach sie gesucht hatte: mehrere angebundene Pferde in einem Stall direkt nebenan. Ungeniert sattelte sie eines, stieg auf und ritt in gemächlichem Trab los, direkt auf das Tor zu. Fünf Wächter wurden auf sie aufmerksam, dachten sich aber wegen ihrer Uniform nichts. Wie selbstverständlich hielt Sina ihr Pferd an. „Öffnet das Tor, im Namen des Präfekten.“ Bereitwillig hoben drei der Soldaten den massiven Balken empor, der als Riegel diente. Schon stemmten sie sich gegen das massive Portal, welches sich langsam öffnete. Sina trieb ihr Pferd durch den Spalt und galoppierte los. Ein Grinsen konnte sie sich nicht verkneifen, denn es war tatsächlich so einfach gegangen, wie sie es sich ausgemalt hatte. Dabei konnte den Torwachen niemand einen Fehler vorwerfen. Es war wohl nichts Besonderes, wenn in der Nacht Boten ausritten. Zumal im Kriege. Da man ihre Flucht spätestens in den Morgenstunden bemerken würde, musste sie die Nacht durchreiten, um so viel Raum wie möglich zurückzulegen. Auf dem ausgeruhten Pferd keine große Schwierigkeit. Fatal wäre nur, falls sie die falsche Richtung einschlug, also tiefer ins Dunkelelfenland ritt. Doch sie glaubte zu ahnen, wohin sie reiten musste. Ein Elf spürt, wo seine Heimat liegt. Stunden vergingen, in denen sie nicht mehr wusste, auf welche Seite sie das Gewicht ihres Körpers verlagern sollte, weil ihr Hintern überall wehtat. Als der Morgen endlich graute und die Farbe der Wiesen sich von schwarz nach grün änderte, wagte sie es kurz anzuhalten. Mit steifen Beinen humpelte sie einige Schritte herum, streckte sich ausgiebig und hielt ihren geschundenen Hintern. Reiten war wahrlich nicht ihr Ding. Sina taxierte die Umgebung, alles friedlich. Ob sie sich schon im Elfenland befand? Sie konnte sich nicht erinnern, ob sie hier schon einmal vorbeigekommen war. Jedenfalls würde es sich auszahlen, wachsam zu bleiben, denn die Dunkelelfenarmee konnte sich immer noch hier irgendwo im Grenzgebiet herumtreiben. Sie schwang sich wieder auf den Pferderücken und setzte den Ritt fort.

 

*

 

Nach einer kurzen Nacht, die mit dem einsetzenden Morgengrauen beendet wurde, marschierten wir weiter gen Süden, Bal Sogor entgegen. Auf der Straße selbst konnten wir uns nicht vorwärtsbewegen, weil das viel zu gefährlich gewesen wäre. Daher drückten wir uns in den Waldstücken herum, die sich etliche hundert Meter zur Seite hin entlangzogen, allerdings durch einen breiten Wiesenstreifen von der Straße getrennt. Immer wieder mussten wir uns in Deckung werfen, weil potentiell feindlich gesinnte Trupps die Straße benutzten. Doch im Allgemeinen kamen wir ganz gut voran. Als endlich eine größere Stadt mit beachtlichen Mauern vor uns lag, lag die Vermutung nahe, daß wir Bal Sogor erreicht hatten. Wie vorgehen? Irgendwo dort drinnen musste sich Sina aufhalten, verschleppt von den Dunkelelfen. Dachte sie in diesem Augenblick an mich? Aber diese Frage war unlogisch, da sie wohl ebenso häufig an mich dachte wie ich an sie – ständig. Selbst im Schlaf hatte ich von ihr geträumt. Daß sie auf der anderen Seite eines reißenden Flußes stand, über den keine Brücke führte.

„Wie kommen wir da hinein?“ fragte ich meine Gefährten, da ich nicht über deren Köpfe hinweg den Haudraufplan umsetzen wollte, der mir gerade in den Sinn kam.

„Bis zur Nacht warten, mit einem Wurfanker über die Mauer klettern …“ schlug Lukku vor.

„Wieso so umständlich?“ konterte Ralija. „Du fällst doch hier überhaupt nicht auf – geh doch einfach in die Stadt hinein und schau, ob du eine Spur finden kannst.“

Lukku blickte verdutzt drein. „Stimmt. Darauf wäre ich jetzt nie gekommen. Das kommt halt davon, wenn man ständig mit Elfen, Menschen und Zwergen abhängt – da vergisst man seine eigene Herkunft.“

„Solange du deine spitzen Ohren nicht vergisst“ scherzte Rael.

„Der Spruch hätte eigentlich von Raðvið stammen können“ winkte der Dunkelelf ab. „Wie ich sehe, vertrittst du ihn derweil.“

„Ich gebe mir Mühe. Aber ohne Bart und Axt ist das schwierig.“

„Alles klar, wir warten hier im Wald, Lukku, bis du zurück bist. Viel Glück!“

Bange Stunden folgten, in denen nichts, aber auch absolut nichts passierte. Am Waldrand auf Beobachtungsposten liegend sahen wir eine Menge Leute in die Stadt hinein als auch herauskommen. Nach unserem Freund jedoch spähten wir vergeblich.

„Ob seine Tarnung aufgeflogen ist?“ spekulierte Ralija.

„Keine Ahnung“ meinte Rael. „Aber wenn er nicht in der Lage ist, unter seinesgleichen nicht aufzufallen, wer dann? Der wird sicher Erkundigungen einholen, was wahrscheinlich etwas schwieriger ist, denn sonst wäre er schon zurück.“

„Moment, da hinten kommt er.“ Ralija hatte sich nicht getäuscht. Ohne besondere Eile trottete Lukku die Straße entlang, um dann zu uns ins Gebüsch zu stoßen. Erwartungsvoll blickten wir ihn an. „Also“ begann er. „Es hat ein bisschen gedauert, bis ich ohne aufzufallen auf dem Sklavenmarkt mitgekriegt habe, wo die Sklaven aus Teralia geblieben sind. Mir ist es sogar gelungen, Sinas Spur zu finden, die an einen Kaufmann verkauft worden ist. Dort habe ich geklopft und als er mich empfing, gab ich kund, die Sklavin kaufen zu wollen, die er gestern gekauft hatte, weil ich deren Zwillingsschwester in meinem Besitz hatte, die mir außerordentlich gefiel und nun gedachte ich dieses Vergnügen zu verdoppeln. Da teilt mir der Kaufmann mit, daß die Sklavin undankbar gewesen sei und sich auf der Flucht befände. Ihr könnt Euch vorstellen, daß das mein Konzept durcheinanderbrachte. Was machen wir jetzt?“

„Hmm“ überlegte ich. „Also wenn ich sie wäre, dann würde ich natürlich Richtung Norden gehen. Am besten nach Teralia, weil wir uns dort zuletzt gesehen haben. Freilich wird sie vermuten, daß die Stadt inzwischen gefallen ist, aber das ändert wohl nichts daran. An ihrer Stelle würde ich dort warten, wo wir in der einen Nacht im Wald lagen, bevor wir in die Stadt geschlichen sind.“

„Hoffentlicht hat Sina dieselben Gedankengänge“ meinte Rael. „Aber etwas Besseres würde mir ehrlich gesagt auch nicht einfallen. Man muss natürlich auch berücksichtigen, daß sie sich ebenfalls die Frage stellen wird, wo sie uns wiederfindet. Dabei wird sie wohl zu ähnlichen Resultaten gelangen – hoffe ich zumindest.“

Wir einigten uns darauf, nach Teralia zurückzuwandern, um dort im besagten Waldstück auf Sina zu warten. Zudem war zu erwarten, daß auch Raðvið diesen Ort aufsuchen würde, da er von unserer Exkursion ins Dunkelelfenterritorium nichts ahnte. In zügigem Tempo benutzten wir den gleichen Weg, den wir gekommen waren, übernachteten irgendwo in der Pampa und kamen nach zwei Tagen an unserem Ziel an.

 

*

Nach mehrtägigem Marsch erreichte Raðvið mit seinen vier Elfenbegleitern, die zu seinem Verdruß allesamt recht schweigsam waren, die Ebene vor Teralia. Schon von weitem sah man, daß die Stadt von den Dunkelelfen erobert worden war. „Heilige Scheiße!“ entfuhr es Raðvið unbeherrscht. „Was ist denn hier passiert?“ – „Offensichtlich ist die Stadt gefallen“ meinte einer der Elfenkrieger. „Oder sie hat sich ergeben. Dann dürften Eure Freunde entweder tot oder in Gefangenschaft geraten sein.“

„Das mag ich einfach nicht glauben“ jammerte der Zwerg. „Das ist einfach unmöglich. Die Götter wissen doch, daß die zur Stammabenteurergruppe gehören – so leicht sterben die nicht. Das ist ausgemacht.“

„Wie bitte?“ Einer der Elfen verstand nicht ganz, worauf Raðvið hinaus wollte.

„Ganz einfach“ erklärte dieser. „Diese Abenteuer, die wir ständig erleben, bringen uns zwar in Gefahr, aber uns passiert nichts, weil das eben so sein muss. Sonst wäre es ja kein gutes Abenteuer. Das ist in jedem guten Zwergenepos so und ich bin mir sicher, daß unsere Erlebnisse auch einmal den Stoff für ein Epos bilden werden. Rein von demher kann uns direkt Beteiligten also nichts Schlimmes zustoßen. Versteht ihr?“

Angesichts so viel unwiderlegbarer Logik zogen es die Elfen vor, zu schweigen. Sie hatten in den vergangenen Tagen schon desöfteren erlebt, daß es manchmal besser war, in seiner Gegenwart nichts auf seine Äußerungen zu erwidern.

„Nun, was treiben wir jetzt?“ fragte einer stattdessen, um das Thema zu wechseln.

„Lasst mich mal überlegen ... wir haben uns in einem Waldstück südöstlich der Stadt getrennt. Es könnte sein, daß die anderen dort auf mich warten oder zumindest Zeichen zurückgelassen haben. Wir sollten uns da mal umschauen.“ In einem Bogen umrundeten die fünf die nunmehr feindlich besetzte Stadt und gelangten in das besagte Waldstück, in dem sich wenig geändert hatte. Keine Holzfällerkolonnen, keine jagenden Dunkelelfen, nichts von alledem, was Raðvið befürchtet hatte. Er hätte es ja niemals zugegeben, aber seine Gefährten fehlten ihm.

 

*

 

Daß Teralia mittlerweile von den Dunkelelfen vollständig erobert worden war, erkannte man schnell. Die Flagge der Dunkelelfen wehte weithin sichtbar von den Türmen der Zitadelle. Sina zögerte einen Moment, weil sie nicht wusste, was sie nun tun sollte. Die Sorge um ihre Gefährten brachte sie auf die schrecklichsten Gedanken, aber innerlich hoffte sie, daß die Realität nur halb so fürchterlich aussah. Wenn ihre Freunde den Sturm der Zitadelle überlebt hatten, dann waren sie sicher auf der Suche nach ihr. Aber woher sollten sie wissen, wohin man sie verschleppt hatte? Würde sie ihre Kameraden wiederfinden, von denen sie weder wusste, ob sie noch am Leben waren, noch wo sie sich gerade aufhielten? Doch halt, Raðvið hatte genau dasselbe Problem – wohin würde er gehen, wenn er Teralia in der Hand des Feindes vorfände? Dann kam auf sie von selbst auf die Lösung …

 

*

 

An einen Baum gelehnt stand eine Elfin, deren grünes Haar ihr über die Schultern herab fiel.

„Sina! Bin ich froh dich zu sehen!“ rief Raðvið und die beiden umarmten sich herzhaft. „Wo sind denn die anderen?“ – „Tja, das weiß ich nicht“ bekannte Sina. „Ich hoffe, daß wir sie gemeinsam finden. Wer sind die da?“ Damit meinte sie die Elfen in Raðviðs Schlepptau. „Ach, das sind Leibwachen vom Elfenkönig, die er mir mitgegeben hat, damit ich auch sicher ankomme.“ Die genannten betrachteten ihre Aufgabe als erledigt und verabschiedeten sich. Als die Gefährten unter sich waren, hatten sie freilich viele Fragen.

„Wie kann das sein, daß du nicht weißt, wo die anderen sind?“ wunderte sich der Zwerg.

„Nun ja, das war so“ fing Sina an und erzählte die lange Geschichte ihrer Gefangennahme, ihrer Flucht und der Einnahme der Stadt in ihrer Abwesenheit. „Hoffentlich wurden die vier nicht getötet.“

Raðvið grinste freundlich. „Nein, mit Sicherheit nicht. Die müssen uns doch noch helfen, den Krieg zu beenden. Das wissen die Götter doch, daß wir beide allein das nicht hinkriegen.“

„Hoffentlich hast du Recht. Ich hab solche Sehnsucht nach ihm, das kannst du dir gar nicht vorstellen.“

„Das stimmt. Wäre auch sehr bedenklich, falls ich es nachfühlen könnte ...“

Die beiden schlugen ihr Lager im Sichtschutz einer Senke im Wald auf, wo man sie selbst dann nicht entdecken würde, auch wenn man ganz nah vorbeiginge. Dennoch hielt immer einer Wache, weniger aus Sorge wegen herumstreifender Dunkelelfen sondern vielmehr um das potentielle Herannahen ihrer Gefährten zu bemerken.

 

*

 

Wir streiften ziellos durch das Waldstück, das wie leergefegt schien. Als wir den Platz wiederfanden, wo wir vor ungefähr einer Woche gelagert hatten, war meine Enttäuschung riesengroß. Kein Zeichen von Sina, keine Spuren, nichts. Demoralisiert suchten wir die Umgebung ab, mehr pro forma als ernsthaft damit rechnend, daß dies zu etwas führen könnte. Doch plötzlich sah ich sie mit verschränkten Armen zwischen zwei Baumstämmen stehen. „Sina!“ rief ich freudig und schon stürzte ich auf sie zu. Wir umarmten uns innig, küssten uns herzhaft ohne uns vor den Gefährten zu schämen. Immer wieder stammelte ich ihren Namen, als wäre sie von den Toten auferstanden. Nun ja, irgendwie verhielt es sich auch so ähnlich, denn ich hatte mir große Sorgen gemacht, sie lebend wiederzusehen. „Was habt ihr denn alles erlebt? Erzähl schon.“ forderte sie mich auf. Das gegenseitige Austauschen der Erlebnisse sei hier nur angedeutet, jedenfalls sorgte das Wiedersehen für große Freude, die Raðvið „in angemessener Atmosphäre einer schnuckligen Taverne“ gern begossen hätte, aber Können vor Lachen. Ich versprach unserem Kleinsten, daß wir das nachholen würden, sobald sich dazu eine Gelegenheit böte, was seine Miene aufmunterte. „… endlich wieder einen ordentlichen Rachenputzer … habe ich mir reichlich verdient nach meiner Sondermission zu den Spitzohren … beinahe verdurstet …“ murmelte er noch eine Weile vor sich hin. Indessen hatten wir wandernd den Waldrand erreicht. Mein Blick wanderte nach Teralia, das in einer Entfernung von einem halben Kilometer scheinbar friedlich dalag. Ein unbedarfter Reisender konnte von den versklavten Stadtbewohnern nichts ahnen, die jetzt irgendwo ein karges Dasein fristeten, bis sie doch noch irgendwie die Freiheit wiedererlangten oder ausgelöst wurden. Die reine Wahrheit aller Dinge steckt meistens tiefer als die bloße Oberfläche erahnen läßt.

Rael stützte sich auf ihren Kampfstab. „Wohin marschieren wir jetzt eigentlich?“

Irgendwie kam es, daß mich alle anstarrten. „Also, ich dachte wir könnten vielleicht wieder Richtung Norden gehen, aus dem Kampfgebiet heraus. Oder wollt ihr dabei sein, wenn die Elfenarmee versucht, Teralia zurückzuerobern?“

„An vorderster Front will ich kämpfen, meine Feinde niederstrecken und muss ich auch sterben, dann mit dem Ruf Heil dir, heil ewiges Elfenland“ zitierte Ralija ein bekanntes Elfenepos. „Sammelt meine sterblichen Überreste nach der Schlacht. Bestattet sie wie es die Tradition erfordert, dann werde ich eingehen in das jenseitige Land, in dem mich alle bereits gestorbenen Krieger unserer Sippe begrüßen werden.“

„Ich kann mir zwar etwas Besseres vorstellen, als gegen meine Artgenossen zu ziehen, aber ich bin bereit dazu“ äußerte sich Lukku.

„Ja, aber“ versuchte ich meinen Wunsch durchzusetzen. „Wir wissen ja gar nicht, wann die Armee der Elfen eintrifft und was wollt ihr da großartig machen?“

„Wir kämpfen mit ihnen gegen die Dunkelelfen und hauen ihnen die Hucke voll. Das ist eine angemessene Rache für die Verschleppung Sinas.“

Seufzend gab ich mich geschlagen. Auch Raðvið schien nicht sehr angetan von dem Gedanken zu sein, noch länger in einer feindlich gesinnten Region zu verweilen, wo es keinerlei Kneipen gab, in denen wir unser Wiedersehen feiern konnten. Aber so war das in einer demokratischen Vereinigung: die Minderheit litt unter der Entscheidung der Mehrheit. Daher warteten wir also das Eintreffen der qualitativ beachtlichen Elfenarmee ab, die erst zwei Tage später eintraf. Wir schloßen uns an und es begann der Sturmangriff an der Südseite, der die Rückeroberung beim ersten Anlauf zur Folge hatte. Die disziplinierten Elfeneinheiten verweilten aber gar nicht lange, sondern setzten eine Garnison ein um sofort weiterzuziehen, der Dunkelelfenarmee entgegen, deren Hauptstreitmacht irgendwo Richtung Osten gezogen war, soweit die Kundschafter das beurteilen konnten. Wir scherten uns darum nicht, sondern kehrten in Teralia in einem Wirtshaus ein, wo wir allerdings eine herbe Enttäuschung verkraften mussten – die Dunkelelfen hatten alle Biervorräte leergesoffen. Vermutlich der Grund, weshalb die Erstürmung so leicht abgegangen war. Unverrichteter Dinge zogen wir gen Norden, heimatlicheren Gefilden entgegen. Thor allein mochte wissen, welche Abenteuer unser noch harrten, welche Gegner es noch zu bekämpfen galt und was das Schicksal ferner bringen würde.

 

*

 

Drei Tage lang verbrachten wir untätig in einem Gasthaus neben der Handelsstraße, betranken uns sinnlos und erholten uns ein wenig von den Strapazen der vergangenen Wochen. Hier erfuhren wir auch von der Schlacht zwischen den Dunkelelfen und der Elfenarmee. Letztere hatte, den Berichten zufolge, ihre Reiterei in der Reserve gehalten und dem Feind Schwäche vorgespielt, indem die Fußsoldaten sich langsam zurückzogen. Dann aber waren die blindlings nachstoßenden, allzu siegessicheren Dunkelelfen härtesten Flankenangriffen der Elfenkavallerie ausgesetzt, die ihre Linien erschütterte. Es zeigten sich erste Auflösungserscheinungen, die schon bald das komplette Heer in Aufreibung versetzten. Der oberste Feldherr der Nachtelfen tobte, doch nützte das nur wenig. Der Sieg der Elfen war unvermeidlich. Wir freuten uns über diese positive Neuigkeit, die dem Land den Frieden näherbrachte.

An einem dieser Abende saßen wir bei einem Krug Met zusammen und unterhielten uns über das Programm der kommenden Tage. Raðvið machte den Vorschlag, einige Zeit in Fjalon zu verbringen, bis der Krieg zu Ende war. „Dort gibt es etliche vor einem Jahrhundert stillgelegte Stollen, in denen sich Monster herumtreiben sollen“ fügte er schnell hinzu, damit niemand auf den Gedanken kam, er wolle nur regelmäßig Gelegenheit zum Saufen erhalten. Ralija zog es vor, wieder in die Elfenwälder zu ziehen, um die Nähe zur Natur zu suchen. Rael schloß sich dem an, was aber kaum verwunderte, da der Begriff „Stollen“ bei ihr schon ausreichte, um ihre Arachnophobie zu schüren. Sina schwieg, doch ihr Blick verriet mir, daß ihr alles recht war, solange wir beide zusammenbleiben konnten. Mir ging es ebenso, was ich ebenfalls nicht extra aussprechen musste. Sie verstand mich auch ohne Worte. Lukku begeisterte die Idee, alte Bergwerkstunnel zu erkunden, womit eine Pattsituation entstand. Während die anderen wild durcheinander argumentierten, beratschlagte ich mich kurz mit Sina. Dann gab ich bekannt, daß wir auch lieber in die Zwergenstadt zurückkehren würden. „Da seht ihr es“ meinte Raðvið. „Es gibt eben noch mehr Leute, die ordentlich gebaute Tunnel zu schätzen wissen. Vielleicht entdecken wir sogar etwas Besonderes, das wäre doch etwas. Einen Drachenhort, einen Schatz, eine Monsterhöhle oder was weiß ich.“

„Vielleicht aber auch nur einen großen Haufen Zwergenmüll“ grinste Ralija. „Ich kann mir

vorstellen, daß ihr ehemalige Tunnel als öffentliche Müllhalde verwendet.“

„Das ist bei uns unüblich. Wir sind sehr reinliche Zeitgenossen, die ihre Abfälle gewissenhaft

trennen sowie separat entsorgen. Ganz im Gegenteil zu den Menschen, die ihren Mist einfach auf die Straße kippen.“

Diesen Seitenhieb auf meine Kultur verkraftete ich ohne mit der Wimper zu zucken. Es entsprach irgendwie sogar der Wahrheit, deshalb beleidigte es mich kaum. Tatsache war, daß jeder von uns durch seine bloße Existenz Schadstoffe emitierte, die in die Umwelt gelangten. Ein vollständig als natürlich zu bezeichnender Umstand, den man hinnehmen musste, ob man nun wollte oder nicht. Lediglich das Ausmaß der Verschmutzung schien von Bedeutung zu sein. Den Elfen war viel daran gelegen, der Natur, die sie verehrten, so wenig wie nur irgendwie möglich zuzumuten. Bei uns Menschen dachte man zuerst an die eigenen Bedürfnisse. So verschieden sind unterschiedliche Kulturen. Die einen dachten erst an den eigenen Vorteil, die anderen waren bereits einen Schritt weiter, denn sie hatten erkannt, daß die Natur die oberste Göttin aller Dinge war.

Wir zogen los, immer in Zweiergruppen nebeneinander, neben mir meine kleine Elfin mit den wunderhübschen grünen Haaren. Unsere Blicke kreuzten sich, meine Hand griff nach der ihren.

„Ach Sina“ schwärmte ich in ihr Ohr. „Niemals zuvor habe ich ein Mädchen so sehr geliebt wie dich. Wenn du bei mir bist, dann fühle ich mich euphorisch, großartig, der Wirklichkeit

entrückt, als befände ich mich in einer anderen Dimension. Ohne dich ist das Leben sinnlos, es erscheint mir unvollkommen.“

„Was liebst du denn besonders an mir?“ – „Deine Liebenswürdigkeit. Du bist zu allen gutherzig, ganz egal wie du zu ihnen stehtst. Das bewundere ich so an dir. Ach ja ...“ Sie lächelte mich auf eine Art an, die meine Emotionen nur noch mehr anheizte. Sehnsucht kann ein sehr starkes Gefühl sein, das sich stets in meinem Herzen breitmachte, wenn wir voneinander getrennt waren. Sie nagte an mir, schien mich von innen auszuhöhlen wie ein Parasit, doch wurde sie immer beim nächsten Wiedersehen geheilt.

Nach dem glorreichen Sieg des Elfenheeres mussten wir nicht mehr befürchten, Dunkelelfenpatrouillen über den Weg zu laufen, was den Marsch nach Fjalon in einen angenehmen Spaziergang verwandelte. Wir betraten die Stadt über denselben getarnten Einstieg, wo wir diesmal mit weniger Mißtrauen empfangen wurden. Unser erstes Ziel war die Bekannte von Raðvið, die uns ausgehungerten Reisenden ordentlich aufkochte. Kulinarisch gestärkt verbrachten wir einen ereignisarmen Abend bei ihr, ehe wir ihr Angebot, bei ihr zu übernachten, dankend annahmen. Einmal richtig durchschlafen würde uns die nötigen Kräfte verschaffen, die wir für die Tunnelexkursion brauchen würden. Dort unten zu schlafen gedachte ich nämlich um jeden Preis zu vermeiden.

Nach einem mehr als ausgiebigen Frühstück verabschiedeten wir uns, nachdem jeder ein größeres Proviantpaket mitgenommen hatte. Raðvið führte uns an, dem Zugang zu den stillgelegten Tunneln entgegen. Ein Stahltor versperrte uns den Weg, doch er öffnete es mit einem Schlüßel, dessen Herkunft mir schleierhaft blieb. Darauf angesprochen erklärte er, daß er den Schlüßel schon länger in seinem Besitz und bei einem Freund aufbewahrt hatte. Jetzt erst ergab sich die Gelegenheit, auf die er so lange gewartet hatte. „Da geht nämlich nicht jeder Zwerg mit runter.“

„Das kann ich keinem verübeln“ murmelte Rael, was der Kleine aber nicht hörte, weil er zu weit weg war.

„Wieso ist hier eigentlich abgesperrt?“ fragte Ralija naiv.

„Na das ist doch logisch“ meinte Raðvið kopfschüttelnd. „Damit sich hier unten keine neugierigen Zwergenkinder verirren. Die würden doch sonst einen Wettbewerb machen, wer sich am weitesten hinein traut. Das ist viel zu gefährlich.“ Bloß gut, daß es für uns Erwachsene ungefährlich war. Beinahe hätte ich über meinen eigenen Witz lachen müssen, aber gerade noch hatte ich es mir verkneifen können. Nacheinander traten wir durchs Tor, das hinter uns wieder abgesperrt wurde. Drei Fackeln hatten wir mitgenommen, ohne die wir hier unten schwerlich ausgekommen wären. Das Licht war unsere Lebensversicherung, hier mit heiler Haut wieder herauszukommen. Geheimnisvoll flackerte das fahle Fackellicht an den Wänden, die einigermaßen gleichmäßig bearbeitet waren. Man hätte meinen können, man befände sich noch innerhalb der Stadt, doch größere Ansammlungen an Dreck und Steinen verrieten, daß hier schon lange niemand mehr seinen Fuß hingesetzt hatte. Entsprechend miefig gestaltete sich das Atmen.

Doch meine unbewußte Angst, ersticken zu müssen, weil die Luft kaum atembar war, bewahrheitete sich zu meiner Erleichterung nicht. Irgendeinen Luftaustausch musste es also geben, auch wenn ich selbst keinen Luftzug feststellen konnte, als ich meinen Finger mit Speichel befeuchtete und in die Höhe hielt. Je weiter wir stapften, desto spürbarer wurde die Abgeschiedenheit der verlassenen Tunnel. Ein merkwürdiges Objekt lag an der Seite, das ich als Hammerkopf identifizierte. Der Holzgriff war freilich schon vor langer Zeit verrottet oder von unermüdlichen Bakterien zersetzt. Als Laie sehr schwer zu beurteilen. Kann Holz in einer

solchen Umgebung vermodern? Keine Ahnung. „Wir müssen irgendwie Markierungen hinterlassen, damit wir den Weg zurück wiederfinden“ vernahm ich Raðviðs Stimme von vorn. „Mach mal jemand von euch ein Symbol an die Wand.“ Ralija kam der Aufforderung freiwillig nach. Mit einem weichen Stein ritzte sie in Brusthöhe einen Pfeil an die Stollenwand, der nach Waldläuferart anzeigte, woher wir gekommen waren. Sehr beruhigend, denn andernfalls wäre auch mir der Hintern auf Grundeis ... gerade in diesem Moment hörte ich Rael aufschreien.

„Was ist denn los?“ wunderte sich Lukku, hinter dem sie sich versteckt hatte. „Da, da ist eine

Spinne!“ zeigte sie mit deutlichem Ekel auf eine Stelle einen Meter vor ihr. Dort hing eine

dicke Spinne an einem Faden von der Decke. Lukku musste sie zuerst vertreiben, ehe Rael bereit war, die Stelle zu passieren. „Ich habe doch gleich gewußt, daß es keine gute Idee war,

hierher zu kommen.“

„Warte erst ab, bis wir die vergessenen Zwergenschätze zu Gesicht bekommen“ versuchte Ralija sie aufzumuntern, doch das half nur wenig. Entweder glaubte sie nicht an die Schätze, deren Existenz höchstwahrscheinlich eine schöne Illusion war oder aber ihre Spinnenangst überstieg die Aussicht auf materiellen Wohlstand.

Immer tiefer drangen wir in die Zwergenminen vor, in denen es außer Staub und schlechter Belüftung nur wenig zu geben schien. Doch auf einmal drang plötzlich ein merkwürdiges Grollen an unser Ohr, das aus den tiefsten Tiefen kam, so dumpf klang es zumindest. „Was war das denn?“ erschrak Ralija.

„Keine Ahnung“ gestand Lukku ein. „Aber wie ein natürlicher Laut kam es mir nicht vor.“

„Vielleicht Steinwürmer?“ mutmaßte Raðvið, doch so recht glaubte er selbst nicht daran. „Oder hier hat sich ein Monster breitgemacht. Das wäre doch ein herrliches Abenteuer! Wir sechs, die Bezwinger des gräßlichen Stollenmonsters!“ Ja, das war eine Idee – es sei denn wir wurden gefressen.

„Das ist unlogisch“ klärte ich meine Gefährten auf. „Hier unten kann es keine größeren

Raubtiere geben, weil sich die von nichts ernähren könnten. Oder glaubt ihr, daß hier ständig

mehrköpfige Abenteurergruppen vorbeikommen, die man fressen kann?“ Rael leuchtete das sofort ein. „Außerdem müssen es auch mehrere Individuen sein, weil sie sich sonst nicht vermehren könnten. Größere Beutetiere gibt es allerdings keine. Ergo kann es hier keine Monster geben. Es gibt doch keinen zweiten Eingang, oder?“

„Nicht daß ich wüsste“ zuckte Raðvið mit den Schultern. „Das wäre schließlich ein Sicherheitsrisiko, denn jeder Feind könnte damit bis in unsere Stadt gelangen.“ Mehr zu sich

murmelnd fügte er hinzu, daß er nach unserer Rückkehr unbedingt anregen sollte, das

Eingangstor zum versiegelten Stollensystem zu verstärken. Furchtlos schritten wir weiter,

rückten näher zueinander auf, die Fackeln loderten heißer als zuvor. Vermutlich Einbildung.

„Hört ihr dieses Rauschen?“ blieb Sina auf einmal stehen. Lukku nickte, alle anderen brauchten etwas länger, doch dann vernahm ich es auch. Klang wie fließendes Wasser. Wir gingen noch eine Weile, ehe das Geräusch spürbar stärker wurde und sich von einem sanften Brausen bis zu einem gewaltigen Tosen steigerte. Dann sahen wir es. Der Stollenboden vor uns war auf mehreren Metern Länge eingebrochen und darunter stürzte ein unterirdischer Fluß vorbei. Hier konnten wir unmöglich weiter, weshalb wir zur letzten Kreuzung zurückliefen, wo wir einfach eine andere Richtung einschlugen. Eine Weggabelung löste die andere ab, was die Zahl unserer Wandmarkierungen binnen Kürze vervielfältigte. Es dauerte längere Zeit, während der ich völlig meinen Orientierungssinn verlor, bis sich eine größere Höhle vor uns auftat. Stark verrostete Loren standen herum, die einst wohl zum Abtransport von Geröll oder Erz dienten. Jetzt boten sie ein Abbild der Vergänglichkeit der materiellen Welt, die mich nachdenklich machte. Ein größerer Haufen Schutt türmte sich in einer Ecke auf, ansonsten gab es nichts zu entdecken. Zu meiner Beruhigung hatten wir das furchterregende Grollen, das von einem Monster hätte stammen können, seitdem nicht mehr gehört. Offensichtlich hatte die Phantasie mehr dazugedichtet als tatsächlich vorhanden war. Halbkreisförmig schwärmten wir daher sorglos aus, um die Höhlenwände nach weiteren Stollen abzusuchen, da unsere Fackeln in dem gewaltigen Innenraum nicht bis an die angrenzenden Wände reichten.

„Hier geht’s weiter“ schallte nach kurzer Suche Lukkus Stimme durch den Hohlraum. Zu ihm aufgeschlossen folgten wir dem entdeckten Tunnel, der etwas schmaler war als die bisherigen. Wenigstens stießen wir nicht mit den Köpfen an, da die Tunnelhöhe immer noch an die zwei Meter betrug. Unerwartet viel für die winzigen Erbauer. Die Frage brannte mir auf der Zunge, weshalb man die Stollen so unnötig hoch gebaut hatte, aber ehe ich noch unseren Experten für derlei Belange interviewen konnte, wurde unsere Aufmerksamkeit von einem gleichmäßigen Schaben vor uns abgelenkt. Es klang, als rieben hundert Leute kleine Lederstücke aneinander. Vielleicht etwas heller. Solch ein Geräusch konnte ich nicht einordnen, weil ich es noch niemals zuvor gehört hatte. Die anderen schienen ebenfalls ahnungslos zu sein, denn keiner machte einen Vorschlag zur Identifizierung. Dann sahen wir es und was wir da sahen, jagte selbst mir einen Schauer den Rücken hinunter. Eine unüberschaubare Front aus langen Beinen schob sich auf uns zu, die an kugelförmigen Leibern steckten. Riesenspinnen, so weit das Licht der Fackeln reichte. Natürlich wollten die nichts von uns, weil die sich nur von Insekten und ganz selten von kleinen Säugetieren ernährten, aber dennoch wirkte es bedrohlich. Man konnte davon ausgehen, daß diese Tiere noch nie Licht gesehen hatten und entsprechend neugierig waren, worum es sich dabei handelte. Daher kamen sie ohne Scheu in unsere Richtung. Für Rael war der Anblick zuviel. Sie stieß einen Schrei aus, als würde sie bei lebendigem Leib gefressen, rannte panisch den Tunnel zurück, woher wir gekommen waren und ließ sich auch durch Rufe nicht zum Anhalten bewegen.

„Los, kommt, wir müssen ihr hinterher“ rief Sina, als erste die Verfolgung aufnehmend. Bloß gut, daß Rael eine Fackel trug, denn damit sahen wir recht gut, wohin sie lief. Auf der anderen Seite wäre sie ohne Fackel kaum weiter als dreißig Meter gekommen ohne gegen die Wand zu laufen. Keuchend hechelte ich hinter den anderen her, die ein ordentliches Tempo vorlegten. Es ging in jenen Seitenstollen hinein, dort nach rechts, erneut kam eine Abzweigung, wieder nach links und schließlich war Rael wohl aus der Puste gekommen. Zitternd kauerte sie nämlich auf dem Boden, die Fackel neben ihr. Sie hatte ihre Arme um die angezogenen Beine geschlungen und starrte apathisch vor sich hin. Sina tröstete sie und redete beschwichtigend auf sie ein.

„Ich will raus hier“ murmelte Rael. „Von wegen hier gibt es Schätze. Außer diesen widerlichen Drecksviechern gibt es gar nichts.“

„Na komm“ legte Sina ihren Arm um sie. „Wir lassen es gut sein und kehren um, kommst du?“ Das musste sie nicht zweimal sagen. Doch von welchem Stollen her waren wir gekommen? Bereits an der ersten Kreuzung teilten sich die Meinungen. Abwechselnd folgten wir jedem Tunnel um herauszufinden, ob es der richtige war. Doch nirgends fanden wir Ralijas Kreidemarkierungen an der Wand und keiner konnte sich mit Sicherheit daran erinnern, wohin er gelaufen war. Rael bekam beinahe zum zweiten mal eine Krise, doch Sinas bezaubernde Art sorgte dafür, daß sie trotzdem die Nerven behielt, worüber ich sehr dankbar war. Noch einmal eine Suchaktion durchzuführen, wo wir uns eh schon verirrt hatten, das wäre ganz schlecht gewesen. Gemeinsam untersuchten wir alle Gänge der Umgebung. All zu weit konnte die letzte Markierung nicht entfernt sein, da wir nur wenige Minuten lang hinter Rael hergelaufen waren. Die Fackeln würden noch viele Stunden reichen, Ersatz hatten wir uns reichlich mitgenommen. Davor brauchten wir uns folglich nicht zu ängstigen, daß wir irgendwann im Dunkeln herumstöbern mussten. Zuversichtlich suchten wir weiter, bis Sina endlich erleichtert aufschrie. „Hier ist es! Ich hab die Markierung entdeckt!“

Tatsächlich. Gut sichtbar prangten die Kreidestriche an der Wand, die uns sicher wie bei einer Schnitzeljagd hinausgeleiteten. Am Stahltor angekommen, sank Rael auf die Knie, ihren Gott dafür dankend, daß er uns heil zurückgeführt hatte. Beinahe hätte Lukku eine bissige Bemerkung losgelassen, denn ohne den Kreidemarkierungen wäre es keinem Gott der Welt gelungen, uns wieder aus diesem Labyrinth aus Stollen herauszuführen. Aber sag das mal als Atheist einem Gläubigen. Als sich die massive Tür vor uns öffnete, atmete ich tief durch. Die Luft hier in der Zwergenstadt roch gleich um Klassen besser, auch wenn ich mir das vermutlich nur einbildete.

„Bin ich froh, daß wir heil aus dem Schlamassel gekommen sind“ freute sich Rael, uns alle nacheinander umarmend. „Das war wirklich eine Schnapsidee von dir, Raðvið.“

Der Kleine blickte betrübt in die Runde, weil er vermutlich nichts Schlagkräftiges zu entgegnen hatte. Unsere Exkursion hatte auch wirklich nichts zustande gebracht. Aber man kann eben nicht immer auf Befehl ein Abenteuer erleben.

„Trinken wir erst mal einen auf den Schreck“ schlug Ralija vor, was allgemeinen Zuspruch fand. Die nächste Taverne war rasch gefunden, wo sich Raels Gemütszustand rapide verbesserte. Nach dem langen Marsch hatten wir einen ordentlichen Kohldampf, dem wir mit einheimischen Spezialitäten begegneten. Erbseneintopf mit gesotenen Sojasproßen empfahl uns der Wirt besonders. „Das schmackhafte Tagesgericht zum fairen Preis“ schmunzelte der Wirt, seinen stattlichen Vollbart kraulend.

Beim nahrhaften Schmaus einigten wir uns darauf, am folgenden Tag wieder gen Norden zu ziehen, um die Elfenwälder unsicher zu machen. Sina schwärmte mir von einem See vor, dessen Romantik, Zitat, „mit nichts zu vergleichen ist, was du bisher erlebt hast“. Das machte mich neugierig, was wohl leicht nachvollziehbar ist. Die wunderschöne Elfin an meiner Seite sprach von lauschigen Stellen am Ufer, wo man es sich im weichen Moos bequem machen konnte, während man gleichzeitig die Schwäne beobachtete. „Manchmal äsen Einhörner auf den Wiesen in der Nähe, es ist einfach herrlich.“ Das glaubte ich ihr aufs Wort.

„Ich hör schon die Hochzeitstrommeln wumpern“ grinste Lukku anläßlich unseres Themas.

„Bei uns gibt es keine Trommeln“ klärte ihn Ralija bereitwillig auf. „Wir Elfen bevorzugen weniger kriegerische Klänge wie etwa die von Flöten oder Harfen. Das solltest du doch eigentlich inzwischen wissen.“ Der Dunkelelf verzog das Gesicht. „Was weiß denn ich von Elfenbräuchen? Mich hat noch nie jemand zu einer Elfenhochzeit eingeladen.“

„Bei unserer bist du ein gern gesehener Gast“ versprach Sina, wandte ihren Blick dann aber mir zu. „Oder möchtest du mich etwa nicht heiraten?“

„Wen sollte ich denn sonst heiraten wollen?“ stellte ich eine rhetorische Gegenfrage. „Außer dir käme dafür doch eh keine in Betracht. Obwohl … ich kannte da mal eine Kleine in der Nähe von …“ Sina gab mir einen freundschaftlichen Knuff mit dem Ellenbogen in die Seite.

 

Einige Tage später durchstreiften wir die weitläufigen Wälder im Westen des Elfenlandes. Nur selten traf man hier auf eine Siedlung, man freute sich regelrecht, wenn man einem elfischen Wesen begegnete, mit dem man Neuigkeiten austauschen konnte. Vor allem Ralija und Sina genossen die Streifzüge durch den ihnen so vertrauten Wald. Raðvið moserte ein bisschen herum, daß man ständig über Wurzeln stolpere und die Bierversorgung alles andere als gesichert war. Von ihm hätte ich jedoch schwerlich etwas anderes erwartet. Rael schien ihre Panikattacke gut überstanden zu haben. Nun ja, lag vermutlich daran, daß es nur wenige Spinnen gab, die im Wald ihre Netze spinnten und diejenigen waren allesamt ziemlich klein, so daß sich Rael nicht vor ihnen fürchtete. Lukku amüsierte sich über diesen Umstand, da ihm unverständlich blieb, wie man sich vor großen fürchten konnte, vor kleinen aber nicht. „Das verstehe ich auch nicht“ schaltete sich Raðvið ein, bei dem das Stichwort „klein“ eine nachhaltige Wirkung zeigte. „Was meinst du wohl, warum wir Zwerge im Kampf so gefürchtet sind? Doch nicht wegen unserer geringen Körpergröße, sondern wegen unserer Tapferkeit. Auf die Körpergröße kommt es nicht an. Vor einem Menschen hat beispielsweise keiner Angst, obwohl sie mindestens einen Kopf größer sind als wir.“

„Nun ja“ meinte Rael. „Kleine Spinnen wirken irgendwie ungefährlicher auf mich. Da sind die Beine auch nicht so lang. Bei großen kriege ich immer sofort Panik.“

„Du hast also Angst vor langen Beinen? Da stimmt doch irgendwas mit dir nicht, Rael!“

Lukku und ich grinsten uns gegenseitig an, vermutlich das Gleiche denkend.

Rael ließ ein gekünsteltes Lachen erklingen, das uns nur noch weiter erheiterte. Ralija überspielte die Situation, auf eine Blume zeigend. „Seht euch mal diese hübsche Orchidee an!“ Voller Bewunderung bückte sie sich vor der blauen ... was auch immer das für eine Art war. Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen, doch Sina schien ebenfalls davon angetan. Lukku gähnte herzhaft. Für ihn war diese Entdeckung nur eine weitere Unterbrechung unseres Marsches.

 

Als der Abend näherrückte, schlugen wir das Nachtlager mitten im Wald auf wie schon so oft in den vergangenen Tagen. Die frische Waldluft ermöglichte ganz einen anderen Schlaf als die in den Morgenstunden reichlich abgestandene Luft in den Herbergszimmern. Wenn man sich daran erst einmal gewöhnt hatte, mochte man es kaum mehr missen. Vor dem Einschlafen flüsterte mir Sina zu, daß sie am liebsten mit mir in einem Baumhaus wohnen würde, sobald wir verheiratet waren. Dagegen hatte ich nichts einzuwenden, denn irgendwie verzauberte mich die elfische Kultur, der nachhaltige Umgang mit der Natur, der in so krassem Gegensatz zum menschlichen Kurzfristigkeitsstreben stand.

„Ferner wünsche ich mir drei Söhne und drei Töchter“ schwärmte Sina weiter. „Angeblich besitzen Halbelfen von beiden Elternteilen die besten Eigenschaften.“

„Woher hast du denn diese Weisheit?“ – „Das sagt man bei uns so. Wird schon etwas dran sein. Sei doch mal ehrlich: meine Anmut gekreuzt mit deiner Liebenswürdigkeit – da muss doch etwas Besonderes herauskommen, oder?“

„Die Vermutung liegt nahe. Obwohl jeder Sohn eine Vergeudung wäre, denn dem könntest du bei weitem nicht so viel mitgeben als wie einer Tochter.“

Sie gab mir einen Kuss, der mich zum Schweigen brachte. Die Dunkelheit der Nacht hüllte uns unter der Wolldecke zusätzlich ein, friedlich schliefen wir.

 

In einer Kleinstadt, in der wir eine Nacht verbrachten, bekamen wir in unserer Herberge Besuch von einem Ratsherren der Stadt, der uns bat, ihn anzuhören. Da es keinen Grund gab, dieses Gesuch abzulehnen, hörten wir zu, was er zu sagen hatte. Er sprach davon, daß wir zu berühmten Personen im Elfenland geworden seien, erzählte von einigen unserer Abenteuer gewürzt mit einer gehörigen Portion Übertreibung und bat uns schließlich, der Stadt bei einer heiklen Angelegenheit zu helfen. Es ging um einen alten Aberglauben, den man sich schon seit Urzeiten erzählte.

„Es gibt in unserer Stadtlegende die Prophezeiung, daß uns nur jemand von außerhalb helfen kann. Wir haben nämlich seit langer Zeit schon das Problem, daß wir unseren Stadtgründer nicht namentlich kennen. In der Chronik steht lediglich, es sei ein Mann gewesen, der von weit her gekommen war und nur ein Fremder wird in der Lage sein, ihn zu erkennen. Vielleicht seid ihr diejenigen, welchen es gelingen könnte. Würdet ihr … ?“

„Diese Bitte schlagen wir euch nicht ab, jedoch kann ich kaum versprechen, daß unser Bemühen von Erfolg gekrönt sein wird.“ Überschwänglich dankte er uns dennoch und wir begaben uns sofort ans Werk. Doch wo anfangen? Wie sollten wir auf die Schnelle herausfinden, wer derjenige gewesen war, der vor über zweitausend Jahren diese Stadt gegründet hatte? Ziellos spazierten wir durch die gepflegten Gassen der Siedlung, in der Hoffnung, per Zufall auf etwas zu stoßen, was uns weiterhalf. Natürlich fanden wir anfang rein gar nichts. Beinahe hätten wir schon die Lust verloren, als Rael mit einem mal aufschrie. „Da sind Symbole auf der Wand!“ Jetzt bemerkte ich es auch: an der Mauer zeigten sich von Flechten überwucherte, bemooste Einkerbungen, die zwar nur unscharf zu erkennen waren, aber nach einiger Arbeit legten wir sie weitgehend frei. Merkwürdige Zeichen, rundliche Kreise, von Linien durchzogen, seltsam verschnörkelt. „Kannst du etwas damit anfangen?“ wollte Ralija wissen.

„Das ist eine sehr alte Schrift“ bekundete Rael. „Definitiv menschlichen Ursprungs.“

„Spann uns nicht auf die Folter“ knurrte Lukku. „Übersetz uns den Mist, damit wir weiterziehen können. Hier ist absolut tote Hose.“

„Ganz so einfach ist es leider nicht. Einige Zeichen kann ich nicht entziffern, die anderen stellen eine Zahl dar, wahrscheinlich das Gründungsjahr oder aber das Jahr, in dem man die Stadtmauer fertigstellte. Wer weiß schon, was sich die Jungs damals dachten? Wir brauchen weitere Hinweise.“

Lukku seufzte, ihn schien das alles zu langweilen. Aus meiner Sicht durchaus verständlich, denn Spurensuche auf Steinen entsprach nicht gerade meinem Erwartungshorizont. Dennoch trottete ich folgsam den anderen hinterher, die nun auch die Außenseite der Stadtmauer untersuchten. Ich tat zumindest so, als suche ich angestrengt mit.

„Hier ist es“ rief Sina. Rael betrachtete die Symbole und es dauerte längere Zeit, bis sie stolz ihr Ergebnis präsentierte: „Memnon aus Karasia heißt unser Mann.“

„Dann schnell zum Obermufti, damit wir hier keine Wurzeln schlagen.“ Lukkus Unmut äußerte sich zuweilen sehr zynisch. Der Bürgermeister machte einen zufriedenen Eindruck, als Rael ihm ihre Erkenntnisse mitteilte. Zwar bestand er darauf uns zu Ehren ein Fest zu veranstalten, doch bescheiden wie wir nun einmal waren, lehnten wir dankend ab. Wir wollten weiter. Dafür zeigte der Elf Verständnis.

 

„Ach Freunde, wir haben wirklich einiges zusammen erlebt“ begann ich meine Rede. „Mehrmals waren wir in argen Schwierigkeiten, sind aber immer heil herausgekommen. Ich habe mich in Sina verliebt, wie euch nicht unbemerkt geblieben ist und wir haben beschloßen, das elfische Ritual zur Verbindung zweier Liebenden zu begehen. Wie das im Detail funktioniert, weiß ich nicht, aber wir müssen dazu einen See aufsuchen, dem mystische Kräfte zugeschrieben werden. Wenn ihr wollt, könnt ihr uns dorthin begleiten. Wir würden uns beide freuen, wenn ihr die Zeugen unserer Verbindung wärt.“ Abwartend blickte ich in die Runde. Zuerst sagte keiner was, doch dann begann Ralija. „Das freut mich von Herzen, daß ihr euch dazu entschieden habt. Es ist mir eine Ehre, euch begleiten zu dürfen.“

„Es wird mich freuen, eine derartige Elfenzeremonie zu erleben“ folgte Lukku.

Unwillkürlich zuckte ich zusammen, als ein lautes Krachen erklang. Raðvið hatte seinen Krug auf die Tischplatte gehämmert, als wolle er die Festigkeit des Materials überprüfen. „Natürlich bin ich auch dabei oder glaubst du etwa, ich lasse dich mit den Spitzohren ganz allein?“ – „Ich bin doch auch noch da!“ meldete sich Rael als Letzte zu Wort.

„Dann bleiben wir also vollzählig zusammen“ stellte ich mit Befriedigung fest. „Wer weiß, vielleicht erleben wir ja noch etwas Spannendes.“

„Davon gehe ich aus“ grinste Lukku schelmisch. „Aber die spannendsten Sachen werdet ihr beide wohl allein ohne uns erleben.“ Sina errötete, wohingegen mich der Kommentar eher kalt ließ.

„Trinken wir noch eine Runde?“ lenkte Rael die Aufmerksamkeit auf ein unverfänglicheres Thema. „Bier her, Bier her!“ johlte Raðvið. „Ich und du und alle hier, trinken immer gern ein Bier, miteinander, lustig sind wir, wir uns unser Zwergenbier.“

 

„Wo ist jetzt dieser See, von dem ihr gelabert habt? Wir marschieren jetzt seit Tagen durch die Büsche, aber außer Bäumen Fehlanzeige.“ Raðviðs kurzen Beinen schien der Waldboden auf Dauer zu weich zu sein. Das kommt davon, wenn man nur harte Steinböden gewohnt ist.

„Genieß doch einfach die schöne Natur“ meinte Ralija. „Hast du schon mal so herrlich naturbelassene Wälder durchstreift?“ – „Nein, noch nie“ gab der Zwerg kleinlaut zurück. „Gerade das beunruhigt mich. Hier gibt es nirgendwo Bier und wir müssen zu allem Überdruß auch noch im Freien schlafen. Hast du etwa die vorletzte Nacht vergessen? Da hat es mittendrin zum Regnen angefangen und ich war zerzaust wie ein Ratte nachdem sie das Meer durchschwommen hat. Nass wie ein Putzlumpen musste ich dann herumhocken, weil ich sowieso nicht mehr schlafen konnte und alles, was euch dazu einfiel, war mir zu sagen, daß ich halt meine durchnässten Klamotten ausziehen soll.“ Er schnaubte durch die Nase, was immer sehr lustig wirkte, aber mit Sicherheit anders gemeint war.

„Heute Nachmittag sind wir da“ versprach Sina. „Dann erreichen wir den See und Sogras Dun.“

„Gibt es da was zu trinken?“ – „Nun, also nicht direkt, aber wir können zumindest wieder in trockenen Betten schlafen. Das ist doch auch etwas, oder?“

Der Zwerg brummelte noch länger vor sich hin, wobei ich aber kaum etwas davon verstand, da er sich ganz ans Ende unserer Gruppe zurückfallen hatte lassen. Sinas Voraussage sollte sich bewahrheiten. Der Zenit der Sonne war noch nicht besonders lange überschritten, als sich die Bäume lichteten, einen atemberaubenden Blick auf einen smaragdgrünen See freigebend. Ein schmaler Pfad führte am Seeufer entlang, laut Sina reichte er ganz herum.

Sina zog den Sonnenstand in ihre Richtungsbestimmung mit ein, ehe sie nach links drehte.

„Wie weit ist es noch?“ nervte uns Raðvið zum wiederholten mal wie ein kleines Kind.

„Wir sind gleich da“ versprach Sina. Tatsächlich führte uns der Trampelpfad zu einer Ansammlung von Gebäuden, deren Baustil noch spitzer als in den Siedlungen ausfiel. Sina erklärte, daß dieser Eindruck nicht verkehrt war, denn es handelte sich hier um sehr alte Bauwerke, deren Charakteristik eben durch mehr Rundungen gekennzeichnet war.

Wir durchschritten einen gewölbten Bogen, durch den wir auf einen runden Platz gelangten, wo uns ein älterer Elf in festlicher Gewandung empfing, die bis zum Boden reichte. Weiß der Geier woher er von unserem Kommen unterrichtet war. „Willkommen“ begrüßte er uns, jeden von uns innigst umarmend.

„Meister, haben Euch die Geister des Waldes mitgeteilt, daß wir kommen werden?“ erkundigte sich Sina.

„Nein“ lächelte der Elf. „Ich sah euch vorhin den Seeweg heraufkommen, also habe ich mich gleich darauf vorbereitet, euch zu empfangen. Wer von euch will den Weg der Vereinigung beschreiten?“ Er blickte abwechselnd Ralija sowie Sina an. Ralija wehrte mit den Händen ab. „Nein, ich bin nicht die Glückliche.“ – „Kommt“ hieß er Sina und mich. „Während ihr auf die Zeremonie vorbereitet werdet, können eure Freunde schon mal die Gästequartiere beziehen.“

Ein zweiter Elf in einer ähnlichen Robe wie unser Führer tauchte auf, der unsere Gefährten in eins der Gebäude geleitete, während wir drei ein anderes betraten. Hier erhielten wir weiße Roben schlichter Art, die für die Reinheit standen. Neu gewandet begann für uns die Zeremonie, an der nun auch unsere Freunde teilnahmen, wenngleich auch nur im Hintergrund.

„Dain sieht in eure Herzen, erkennt eure Wünsche und Begehrlichkeiten. Ihr seid hier, um einen Bund zu schließen. Dazu müsst ihr einmal barfuß um den See herumwandern. Gebt euch ganz euren Gefühlen hin, aber sprecht kein Wort. Wenn zwischen euch Harmonie herrscht, dann werden keine Wörter nötig sein, ihr werdet euch dennoch verstehen. Sobald ihr den symbolischen Zyklus vollendet habt, werdet ihr ein neues Leben beginnen, in dem ihr nie mehr allein seid.“

Der Elfenpriester, denn um einen solchen handelte es sich, verstummte und wies zum Westtor. Dorthinaus wanderten wir ohne ein Wort zu sprechen, nebeneinander schreitend. Die steinernen Gebäude blieben bald hinter uns zurück, rechts von uns der See, auf der linken Seite Wald, vor uns der Weg. Manchmal blickten wir uns gegenseitig an, doch keiner brach das Schweigen. Je weiter wir gingen, desto ungewohnter erschien mir das Gehen ohne Schuhe. Doch der Pfad verlief über weichen Boden, der sich auf der Haut angenehm anfühlte. Bienen summten um uns herum, denen die Blumen am Ufer ergiebig Nektar spendeten. Wir vollendeten die Seeumrundung, automatisch wieder an unserem Ausgangspunkt ankommend, wo wir vom Priester empfangen wurden. Mit einem freundlichen Lächeln blickte er uns entgegen. „Nun seid ihr mit dem Segen Dains verbunden. Mögen eure Wege immer von Glück gesegnet sein. Begebt euch jetzt ins Dampfbad, um das Ritual zu vollenden.“

In einem kleinen Vorraum entledigten wir uns der Roben, um völlig nackt ins heiße Wasser zu steigen. „Der Dampf soll unseren Geist reinigen und böse Geister fernhalten“ klärte mich Sina auf. Behaglich räkelte ich mich im heißen Wasser, zur Decke aufsteigende Dämpfe erzeugten eine lauschige Atmosphäre, da man die jenseitige Wand nur mehr schemenhaft erkennen konnte. Schläfrig schloß ich die Augen, meinen Kopf gegen den Beckenrand lehnend. Sinas Körper schmiegte sich an den meinen – die Welt kann manchmal so schön sein! Doch nichts im Leben dauert ewig und nach einer Weile erklang ein Gong, der Sina zufolge das Zeichen für uns war, daß das Ritual beendet war. Etwas unwillig stieg ich aus dem immer noch heißen Wasser, um mir wieder meine eigenen Klamotten anzuziehen. Schnell noch die Stiefel angezogen, fertig. Gemäß dem Elfenrhytus waren wir nun miteinander verbunden, was uns der Priester in einer kurzen Rede noch einmal vergegenwärtigte. Dann wünschte er uns ein schönes Zusammenleben und wir verabschiedeten uns.

„Da sind ja unsere Hochzeiter“ rief Rael erfreut. „Wie fühlt ihr euch denn jetzt?“

„Gut“ bekannte ich ehrlich. „Es ist ein großartiges Gefühl. Ungewohnt, aber toll.“

„Dem kann ich nichts hinzufügen“ lächelte meine frischgekührte Braut. Umgeben von unseren Freunden, die uns in die Mitte nahmen, zogen wir los.

Ralija sang mit heller Stimme von einer Elfin, die ihren Geliebten in einem Hain empfing. Das alte, aber nichts desto trotz weitverbreitete und beliebte Lied stammte aus der mittleren Ära des Elfenreichs, als die Grenzen noch wesentlich weiter im Norden lagen. Ein Zeitalter romantischer Gesänge, in denen Kriege nur aus Erzählungen bekannt waren. Erst danach hatte man erfahren, was totaler Krieg bedeutete. Vernichtung, Zerstörung, Ausradierung ganzer Ortschaften samt Bewohner, doch gemessen am Menschenalter war das auch schon wieder ewig her. Die Zeiten hatten sich gewandelt, obgleich der jüngst zurückliegende Krieg gegen die Nachtelfen davon zeugte, daß der Friede jederzeit gestört werden konnte.

Uns berührte das alles kaum noch, hatten wir doch zueinander gefunden und zudem Freunde fürs Leben gewonnen. Braucht man noch mehr als das?

 

[1] Elfisches Sprichwort [2] Elfisches Sprichwort. [3] Zwergen-Sprichwort.

 

ENDE

Imprint

Images: Mit freundlicher Genehmigung von Dashinvaine: http://dashinvaine.deviantart.com/art/Tamlina-and-the-Dragon-s-Ring-129936265
Publication Date: 05-27-2013

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Mit freundlicher Genehmigung von Dashinvaine: http://dashinvaine.deviantart.com/art/Tamlina-and-the-Dragon-s-Ring-129936265

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