Resignation
re/si/gnie/ren (aus lat. resignare „entsiegeln; ungültig machen; verzichten“): entsagen; verzichten; sich widerspruchslos fügen; sich in eine Lage schicken.
Ein schwieriges Wort, finde ich. Ich musste es erst nachschlagen. Er mag es nicht, wenn ich an sein Bücherregal gehe. Ich darf nicht vergessen, das Lexikon wieder zurückzustellen.
Ich kannte das Wort zwar nicht, aber ich kann etwas darüber sagen. Ob die in dem Buch wissen, was es wirklich bedeutet? Es ist ein gemeines Gefühl. Hinterhältig. Wieso schreiben sie nichts darüber? Es nistet sich ungefragt ein und wenn es sich erst einmal festgebissen hat, wird man es nicht mehr los.
Meine Schwester hat das Wort heute Morgen zu mir gesagt. „Fang’ bloß nicht an zu resignieren“, hat sie gesagt. Er möchte eigentlich nicht, dass ich ans Telefon gehe. Ich tue es auch nicht so gerne. Früher wusste man ja nie, wer in der Leitung ist. Ich war immer ein bisschen aufgeregt und mir sind die richtigen Worte nicht eingefallen. Er hat oft gelacht und gemeint, ich würde den Hörer anstarren, als ob der Anrufer gleich herausspringen würde.
Seit einiger Zeit haben wir einen ganz modernen Apparat, mit Nummernanzeige und Anrufbeantworter. Er hat ihn extra besorgt, damit er überprüfen kann, wenn sich in seiner Abwesenheit jemand meldet.
Wenn es klingelt, schaue ich meist nur auf die Anzeige, oder ich höre zu, wenn Anrufer eine Nachricht aufsprechen. Die Nummer heute morgen war ganz lang, mit zwei Nullen davor, ich habe erst abgehoben, als ich die Stimme meiner Schwester erkannt habe.
Er war schon auf dem Weg zur Arbeit. Früher, als ich hierher in sein Haus gezogen bin, gleich nach der Heirat, war ich oft traurig, wenn er weggegangen ist. Ich kam mir immer so verloren vor ohne ihn. Ich kannte niemanden in der Nachbarschaft und er möchte ja auch nicht, dass ich alleine aus dem Haus gehe.
Ich bin nicht besonders mutig und habe oft Angst, etwas Falsches zu tun, deswegen warte ich lieber ab. Er ist da ganz anders. Er weiß immer genau, was getan werden muss. Ich bin froh, wenn er mir sagt, was ich machen soll. Mutti hat damals auch gesagt, er wäre ein anständiger Kerl, ich solle froh sein, dass mich so einer nimmt.
Wenn ich etwas nicht verstehe, versucht er oft, es mir zu erklären. Nur mit der Waschmaschine kennt er sich nicht so gut aus. Als ich zu ihm gezogen bin, hat er eine neue gekauft und wollte mir zeigen, wie leicht sie zu bedienen ist. Er hat alles auf einmal in die Trommel gestreckt, Weiß- und Bunt- und Kochwäsche, und dann hat er gepresst und gestöhnt, weil das Bullauge nicht mehr zugegangen ist. Er ist sehr wütend geworden, weil ich gekichert habe, ich konnte nicht anders, es hat so witzig ausgesehen.
Mittlerweile macht es mir nicht mehr so viel aus, wenn er zur Arbeit geht. Manchmal bin ich auch froh. Die Stille hat etwas Tröstliches. Ich kann meine Aufgaben dann besser erledigen. An manchen Tagen lege ich mich auch gleich wieder hin, wenn er das Haus verlassen hat. Aber nur, wenn es zu sehr weh tut. Trotzdem schaffe ich es immer, alles aufzuräumen und das Essen zu machen, bis er zurückkommt. Nur die kaputten Möbel kann ich natürlich nicht alleine reparieren. Das erledigt er dann meist am Wochenende. „Sieht aus, als müsste ich mal wieder in den Baumarkt“, sagt er dann immer.
Wenn ich ehrlich bin, ich denke eigentlich gar nicht mehr so viel über all das nach. Ob er jetzt zu Hause oder bei der Arbeit oder im Baumarkt ist, das spielt eigentlich keine große Rolle. Vielleicht ist es das, was meine Schwester gemeint hat.
Sie lebt in Amerika, schon seit einer ganzen Weile. Sie hat sogar studiert, ich weiß nicht genau, was, ich glaube, mehrere Sachen. Meine Schwester kennt viele komplizierte Wörter. Ich verstehe nicht immer, was sie mir sagen will. Heute Morgen hat sie eine ganze Menge gesagt. Es hat sich angehört, als wäre sie ein bisschen betrunken. Wenn bei uns der Tag anfängt, ist es in Amerika nämlich schon Abend, das hat er mir einmal erklärt.
Meine Schwester war schon in vielen Ländern, sie reist gerne. Aber sie ist immer noch nicht verheiratet. Ich glaube, Mutti wäre sehr traurig, wenn sie das wüsste. Sie hat sich immer viele Sorgen um meine Schwester gemacht. Die beiden haben sich nie besonders gut verstanden.
Er versteht sich leider auch nicht so gut mit ihr. Einmal hat er sie sogar aus seinem Haus geworfen, an Weihnachten war das, oder kurz danach. Sie haben sich gestritten, er ist sehr laut geworden, weil sie ihm vorgeworfen hat, er würde alle Menschen wie Dreck behandeln. Ich fand es nicht schön, dass sie das gesagt hat. Seitdem hat meine Schwester uns nicht mehr besucht.
Vorhin hat es geklingelt. Ich habe kurz durch den Türspion geschaut. Es war unser Nachbar, ich glaube, er wollte die Bohrmaschine zurückbringen, die er sich letzte Woche ausgeliehen hat.
Unser Nachbar ist nett. Er behandelt ihn überhaupt nicht wie Dreck, ganz im Gegenteil, er hat ihn hereingebeten und sie haben ein Bier zusammen getrunken. Unser Nachbar hat mich angelächelt, als ich ihm die Flasche hingestellt habe. Er hat „Danke“ gesagt und sich erkundigt, wie es mir so geht. Man würde mich so selten sehen. Ob ich seine Frau nicht einmal kennenlernen möchte.
Ich habe nicht gewusst, was ich antworten sollte, es war mir ein bisschen peinlich. Ich glaube, er hat das gemerkt, denn er ist mit unserem Nachbarn gleich in die Garage gegangen.
Ich habe nicht aufgemacht, als er vorhin vor der Tür stand. Ich sehe heute so hässlich aus mit dem blauen Auge. Ich glaube, heute hätte unser Nachbar mich nicht angelächelt.
„Denk’ an das Kind“, hat meine Schwester heute Morgen zu mir gesagt. Ja. Das Kind. Am schönsten war es, als es noch in meinem Bauch war. Er hat immer darübergestreichelt und gesagt: „Jetzt müssen wir ganz vorsichtig sein.“
Seit das Kind auf der Welt ist, ist er nicht mehr so vorsichtig. Er mag nicht, wenn es schreit. Ich mag es auch nicht. In meinem Kopf wird es dann immer ganz wirr. Aber ich habe inzwischen herausgefunden, wie ich es machen muss. Wenn es im Schlafzimmer in seiner Wiege liegt, dick eingemummt, dann ist es meistens ruhig. Heute hat es den ganzen Tag noch nicht geschrien. Ich werde warten, bis es aufwacht, bevor ich ihm sein Fläschchen gebe.
Jetzt muss ich mich sowieso erst ums Abendessen kümmern. Er kommt bald von der Arbeit. Ich werde ihm einen Wurstsalat machen, mit vielen Gurken und Zwiebeln, so wie er es gerne hat.
Text: Katja Rübsaat
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Publication Date: 07-02-2012
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