Hunger nach Leben
Ich stand vor dem Spiegel und betrachtete mein Spiegelbild. Ein hässliches, ausgezehrtes Gesicht mit hervorquellenden, blauen Augen schaute mich an. Das Gesicht aufgedunsen und bleich. Lange schaute ich mich an, ich konnte mich immer noch nicht begreifen. Wieso saß ich immer noch da? Ich sollte schon längst weg sein, meine Mutter abholen, mich fertig machen und meine Hausarbeit erledigen und vor allem sollte ich raus hier aus diesem stickigen Zimmer. Ich spürte das Fett an meinen Beinen, meinem Bauch und meinem Po förmlich von Sekunde von Sekunde anwachsen. Bei jedem Bissen, jedem Anblick im Spiegel meines vor Fett triefenden Körpers und jedem Tropfen Blut der über meine Arme rann hörte ich die Stimme tief in meinem Inneren intensiver. „Du bist so abscheulich, schau dich an du bist so eklig, so widerlich, eine fette, dumme Kuh. Kein Mensch braucht dich. Im Gegenteil die sind doch alle froh wenn sie dich endlich los sind.“ Ich versuchte wegzuhören und die Stimme in meinem Kopf damit zu übertönen indem ich meine Stereoanlage auf volle Lautstärke drehte. Doch umso mehr ich es versuchte desto aufdringlicher wurde mein zweites Ich. Ich rannte aus dem Zimmer und hinaus in den strömenden Regen. Die Tränen liefen mir unaufhaltsam übers Gesicht und vermischten sich mit dem Blut, das mir immer noch über den Arm lief und eine kleine, rote Lache auf dem Boden bildete. Ich weinte immer noch. Der Regen wurde noch stärker und ich fing an zu rennen. Auch wenn ich mich strikt dagegen wehrte konnte ich nichts dagegen ändern: Heute war Sonntag- der 26.November.
Der 26.November, ein Datum, dies wusste ich, würde ich mein Leben lang nicht mehr vergessen können. Noch immer sah ich diesen Tag, an dem mein Leben anfing von Tag zu Tag zu verblassen, vor mir, als wäre es erst letzte Woche gewesen. Eigentlich hätte es ein wunderschöner Tag werden können. Dass damals die Sonne schien kann ich diesem grauenhaften Tag noch immer nicht verzeihen-und ich werde es auch nie. In solchen Momenten verfluche ich mein sonst so nützliches fotografisches Gedächtnis. Denn immer wenn ich meine Augen schließe sehe ich das Szenario vor mir, den Wagen, wie er mit 60 Stundenkilometern gegen den Laternenpfahl rast, das Gesicht meiner Schwester, der die Überraschung förmlich ins Gesicht geschrieben steht . Einen kurzen Augenblick später war sie schon tot. Und alles wegen mir…Ich sehe immer noch meine Mutter vor mir, wie sie mit lächelndem Gesicht von der Arbeit kommt und wie sich ihr Gesicht von einem Moment zum anderen in blanke Verzweiflung verwandelt, als sie die Leiche ihrer ältesten Tochter erblickt. Ich sehe ihren Körper immer noch vor mir, ihren schmalen Leichnam wie sie da so blass und doch so friedlich in einem dieser fremden, weißen Billigsärge lag. Die Augen geschlossen, mit nur einer kleine rote Narbe an der Schläfe, der Rest so unnatürlich überschminkt um den schrecklichen Anblick etwas zu erträglicher zu machen.
Sarah du weißt gar nicht wie sehr ich dich vermisse! Es war meine Schuld, meine ganz alleine, nur weil ich unbedingt auf dieses schwachsinniges Konzert von meinem Schwarm gehen musste. Dieser Blödmann, ausgerechnet wegen ihm!
Moritz ist der Mann für mich gewesen: muskulös, attraktiv und der Frauenschwarm schlechthin. Sein blödes Hip-Hop Konzert, das damals das absolut Größte für mich gewesen ist. Mit meinen 14 Jahren steckte ich vollständig in der Phase der Pubertät und fand alles cool was zurzeit angesagt war. Mein Selbstwertgefühl ist noch nie sonderlich gut ausgeprägt gewesen, aber in dieser Zeit tat ich absolut alles um irgendwie dazuzugehören. Ich bin noch nie sonderlich beliebt gewesen, jedenfalls hatte ich immer das Gefühl es nicht zu sein, doch damals gab ich alles auf was mich irgendwie anders zu machen pflegte. Ab diesem Zeitpunkt fing ich an penibel auf mein Aussehen zu achten, schminkte mich, obwohl ich das insgeheim absolut albern fand, kaufte von meinem wenigen Taschengeld, das ich bekam, die neuesten Markenklamotten nur um ein wenig mein angerissenes Selbstbewusstsein aufzubessern. Ich verbannte meine geliebte Geige, und damit das was mir am liebsten war, auf den Dachboden und ersetzte ihre wohlvertrauten Töne durch den neusten Hit von Bushido. Das war bevor Moritz kam. Zu Anfang des Schuljahres der achten Klasse betrat er unser Klassenzimmer und zog sofort jegliche Aufmerksamkeit auf sich, insbesondere die der Mädchen. Selbst die unscheinbaren, eifrigen Musterschülerinnen Annika und Angela waren seinem Charme hilflos ausgeliefert. Damals schwor ich mir alles zu tun um ihm zu gefallen, ich war wie besessen davon, wie in Trance. Ich bemerkte nicht wie ich mehr und mehr von dem Rest an Persönlichkeit verlor den ich noch besaß. An diesem Abend nun überredete ich meine Schwester, die wenige Tage zuvor noch schwer krank mit Grippe im Bett lag, mich zu diesem bescheuerten Konzert zu fahren. Die Stadt, in der das Konzert stattfand, lag eine halbe Stunde von unserem Heimatort entfernt und mir hätte eigentlich bewusst sein müssen, dass die Fahrt die letzte Kraft meiner angeschlagenen Schwester in Anspruch nehmen würde, aber ich war wie besessen davon Moritz zu sehen, dies war das einzige das ich im Kopf hatte –und haben wollte.
Auf einer kleinen Landstraße passierte es dann, Sarah war einen kurzen Augenblick lang damit beschäftigt auf die Landkarte zu schielen ,als auf einmal ein Lastwagen, der gerade dabei war auszuscheren, und uns zu überholen i einen Moment die Kontrolle verloren haben musste uns übersah und die Seitentür unseres Autos rammte.
Das erste das ich wieder mitbekam, als ich einen Tag später im Krankenhaus erwachte, war meine heulende Mutter, die auf meiner Bettkante saß. Bleich und schmal sah sie aus und so jämmerlich das ich erschrak, noch nie zuvor hatte meine Mutter sosehr die Fassung verloren. Normalerweise war sie kein labiler Mensch und war berühmt für ihre starken Nerven. Doch an diesem Tag wurde ich mit einem Schlag erwachsen, als sich meine Mutter zu mir umdrehte, mich mit ihren leeren, verzweifelten blauen Augen ansah und sagte:“ Elise, Sarah ist tot“. Kein Wort davon ,dass sie sich freute mich zu sehen oder wie erleichtert sie war das es wenigstens mir gut ginge.
Heute kann ich sie verstehen und ich schäme mich immer noch dafür, das dies die ersten Gedanken waren mir nach dieser Hiobsbotschaft in den sinn kamen.
Aber ab diesem Tag hatte ich das Gefühl, schuld zu sein. Für alles, den Tod meiner geliebten Schwester, meiner verzweifelten Mutter, der kaputten Ehe meiner Eltern, welche ein Jahr nach dem Unfall zu Bruch ging, und gegenüber Benjamin, ihrem Freund, der einige Monate später in seiner Wohnung tot aufgefunden wurde. Todesgrund: Eine überdosierte Spritze Kokain.
Mein junges Leben ging steil bergab und von Jahr zu Jahr wurde es schlimmer. Moritz, meine traurige Sehnsucht nach Liebe, entpuppte sich als große Enttäuschung. Moritz war nichts als ein Macho und mitfühlend wie ein Stein.
Er brachte kein Wort des Beilleides heraus, als ich ihm von Sarahs Tod erzählte…
Mit 16 Jahren fing ich an eine Diät nach der anderen zu machen und tagein, tagaus Kalorien zu zählen. Meine Verzweiflung und meinen Schmerz versuchte ich mit dem ewigen Hunger zu übertönen.
Wenn mich die Schuldgefühle zu überrumpeln drohten schnitt ich mir feine Wunden in meine Hand. Immer und immer wieder stach ich mit Rasierklingen, dem Küchenmesser oder einer Glasscherbe in meine vernarbten Arme. Innerlich schrie ich um Hilfe doch keiner hörte mich.
Doch wie auch? Ich kapselte mich von meiner Umwelt immer weiter ab. Von meinen Freunden, die mir doch eigentlich so wichtig waren und die ich doch auch so bitterlich brauchte, machte ich immer weniger bis ich sie irgendwann ganz vergaß.
Ich lebte weiter, doch war ich nur äußerlich anwesend. Wie eine Marionette lebte ich in den Tag hinein. Ich ging weiterhin normal zur Schule, schrieb nach wie vor gute Noten doch die Person Elise hatte sich verabschiedet. Meine Freizeit verbrachte ich mit hungern, joggen, Kalorien zählen und auf dem Friedhof.
Wie oft saß ich an dem Grab meiner Schwester, wie viele Nächte verbrachte ich damit mich bei ihr zu entschuldigen und wie viel Geld gab ich für die Grabpflege aus.
Ich liebte sie, wie man eine Schwester nur lieben konnte und es war als ob ein Teil von mir mit ihr unter die Erde gegangen wäre. Ich weiß nicht weshalb, aber das Hungern füllte mich aus. Umso mehr ich hungerte und umso mehr ich an Gewicht verlor, desto mehr, so kam es mir vor, kam ein Stück von mir zurück. Aber vielleicht wollte ich auch nur langsam verschwinden, einfach nicht mehr da sein. Das Ritzen lenkte mich von meinen Schuldgefühlen ab und der äußerliche Schmerz umhüllte meinen seelischen Schmerz wie eine schützende, undurchdringliche Wand, doch dieses beschützenden Gefühl hielt nur solange an, wie der Schmerz durch das Messer und nur solange das Blut über meine Arme rann ,anhielt.
Mit meiner Mutter lebte ich irgendwann nur noch räumlich zusammen. Es kam selten vor das wir ein Wort wechselten und wenn dann war dies so hart und herzlos, das es mich zusammen zucken ließ. Meine starke, liebevolle und fröhliche Mutter hatte sich in ein gefühlsloses Häufchen Elend verwandelt. Sie nahm ebenfalls stark ab und ihre sonst so glänzenden vollen Haare wurden stumpf und farblos. Ihre prächtigen Augen, die mich so sehr an meine Schwester erinnerten waren auf einmal kalt und leblos.
So verging ein Jahr ums andere. Ich lebte mein Leben vor mich hin ohne jedoch allzu viel davon mitzubekommen. Ein Tag nach dem anderen rauschte an mir vorbei, ich stand auf, ging zur Schule kam heim, ging joggen, das Grab meiner Schwester besuchen und abends schlief ich ein. Meine Träume waren entweder so verschwommen das ich am nächsten Morgen nicht die leiseste Erinnerung übrig hatte oder aber ich sah immer wieder das gleiche Szenario vor mir. Meine Schwester wie sie auf die Windschutzscheibe flog, ihren leblosen Körper neben mir, die Tränen meiner Mutter und immer wieder die gleiche erbarmungslose Stimme, die mir Vorwürfe machte das alles meine Schuld gewesen sein.
Damals bin ich mir sicher gewesen vergessen zu haben wie es ist zu lachen und das Wort „Lebensfreude“ war undefinierbar für mich. Mein Leben war für mich gelaufen bevor es überhaupt richtig angefangen hatte und hätte mir damals jemand gesagt das ich jemals wieder so etwas wie Glück verspüren würde, ich hätte ihn ausgelacht und wäre zurück in mein Selbstmitleid verfallen.
Doch es gab tatsächlich eine Wendung in meinem verbitterten Alltag.
Mein Lebensengel hieß Musik.
Es war ein Jahr vor meinem Abi, als ich an einem trüben Sonntagnachmittag aus dem strömendem Regen von dem Grab meiner Schwester zurückkam. Ich hatte davor zwei Stunden damit zugebracht meiner Schwester meine Schuld zu beteuern. Als ich nun von meinem täglichen Beichtgang zurückkehrte lief ich durch die Straße die zu unserem Haus führten, als ich eine Gruppe Musiker bemerkte die am Straßenrand standen und Musik machten. Eine Bratsche, das wusste ich, da ich dieses Instrument als Kind schon immer lernen wollte, zwei Geigen, eine Flöte, eine Gitarre und ein Mädchen sang. Alle schienen in meinem Alter gewesen zu sein. Die Melodie die sie spielten weckten in mir Erinnerungen, an lang vergangene glückliche Zeiten. Ich hielt mitten in meinen hastigen Bewegungen inne und schloss die Augen. Erinnerungen strömten in mich ein und liefen wie ein schneller Film vor meinem inneren Auge ab.
Ich sah meine Schwester und mich auf einer Klippe stehen, die Arme erhoben bereit zum Sprung. Umgeben von hohen felsigen Klippen und unter uns nichts als das wilde Meer. Ich vertiefte mich so sehr in dieses illusionierte Bild das ich das Gefühl hatte die salzige Meeresluft auf meiner Zunge schmecken zu können, den lauen Wind zu spüren der mir durch die Haare strich, sogar das Adrenalin das mir in die Blutbahnen schoss meinte ich zu bemerken. Ich erinnerte mich an ein Lachen, mein Lachen, wie ich da oben stand und mich so frei fühlte, frei von allem, ohne Sorgen nur in diesem einen Moment.
Auf einmal verstummte die Musik und ich befand mich unwillkürlich wieder in der Gegenwart. Nachdenklich betrachtete ich die jungen Musiker, sie schienen kaum älter wie ich zu sein und so glücklich. Ein Mädchen- eine der zwei Geigerinnen, übte eine unglaubliche Anziehungskraft auf mich aus und sie schien nur so zu strahlen. Ihre Augen glänzten und ihr Lachen wirkte befreiend und einladend auf mich. Die sechs jungen Leute hatten einen Hut vor sich stehen und ein Plakat mit dem sie angaben, das sie für Kinder in Uganda sammelten.
Zögerlich begab ich mich nach vorne zu dem Hut und spendete zwei Euro aus meinem Geldbeutel.
Das Mädchen, welches ich die ganze Zeit schon bewundert hatte lächelte mich an und bedankte sich leise. Mir lief ein Schauer über den Rücken und die unerwartete Freundlichkeit des Mädchens erfüllte mich so mit Euphorie das ich das erste Mal, seit jenem besagten Tag, beschwingt nach Hause eilte. Ich hatte das Gefühl zu fliegen und ich bemerkte wie ich leise die irische Melodie des Stückes vor mich hin summte. Zu Hause angekommen verflog meine gute Stimmung sofort wieder als ich aus meiner Traumwelt erwachte. Mir wurde schlagartig bewusst, dass ich mich nicht in Irland befand und eigentlich nicht das Recht hatte so fröhlich zu sein. Meine Schwester war tot und es war meine Schuld! Nie würde ich mir das verzeihen können mein Leben lang nicht und sofort überkamen mich wieder die Schuldgefühle. Ich rannte zum Kühlschrank und schnappte mir alles Essbare das ich finden konnte auf verschlang es noch während ich es richtig ausgepackt hatte: Schokolade, Müsli, Quark, Chips, Essiggurken… Meine Mutter würde wieder einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn sie den leeren Kühlschrank vorfinden würde. Sofort verspürte ich wieder wahnsinnige Schuldgefühle, als ich an meine arme, alt gewordene und fertige Mutter dachte. Ich brachte ihr rein gar nichts als Probleme. Zuerst brachte ich ihre geliebte Tochter um, zerstörte ihre 20 Jahre lange Ehe und nun fraß ich ihr auch noch den Kühlschrank leer. Ich schlug die immer noch offene Kühlschranktüre zu und rannte auf die Toilette. Wie so oft steckte ich mir auch diesmal den Finger in den Mund und übergab mich. „ Du bist ein Nichts, Nichts, Nichts“ klang die Stimme in meinen Gedanken wieder und immer wieder. Und auf einmal schossen mir die Tränen ins Gesicht, sie rannten mir nur so über meine blassen und aufgedunsenen Wangen. Ich heulte wie schon lange nicht mehr, und je mehr ich schluchzte und je mehr ich mir die Tränen wegwischte desto besser fühlte ich mich auf einmal. Ich konnte mich kaum daran erinnern wann ich das letzte Mal so geheult hatte. Auch wenn es manchen vielleicht komisch vorkäme aber selbst bei der Beerdigung von Sarah hatte ich nicht geweint, nicht weil mich die Situation nicht mitgenommen hätte, ich war einfach unfähig gewesen nur die kleinste Träne zu vergießen.
Dies war das erste Mal seit langem, da sich das Gefühl hatte mir selber wieder näher zu kommen. Es war als wäre ein Stück meiner Seele, und wenn auch nur ein bisschen was davon zu mir zurückgekommen.
Am nächsten Tag ging ich wieder zurück zu der Stelle an der die fünf jungen Leute gestern noch gespielt hatten. Zu meiner großen Enttäuschung waren sie weder an diesem Tag noch an den weiteren Tagen dort auffindbar und ich hatte mich mit dem Gedanken schon abgefunden, das sie wahrscheinlich schon längst woanders waren, als mir zufälligerweise zwei Wochen später ,das Mädchen mit der Geige im Supermarkt begegnete. Ich war gerade dabei die Nährwerttabelle einer Magermilchpackung durchzulesen als mich jemand von hinten berührte. Erschrocken fiel mir die Packung aus der Hand da mir diese sanfte Berührung so unwillkürlich vorkam. Ich drehte mich um uns sah in das strahlende Gesicht des hübschen Mädchens. Ihre grünen Augen strahlten mich an, so voller Lebenslust und Freude, dass mir schon wieder beinahe die Tränen in die Augen schossen. Mit Mühe und Not konnte ich mich zusammenreisen und bückte mich nach der zerrissenen Milchpackung. Doch bevor ich soweit war streckte mir das Mädchen die Packung schon entgegen. „Hey" sagte sie in einem so freundlichen Tonfall das es mir kalt den Rücken runter lief, „ Ich kenne dich doch. Warst du nichts das Mädchen neulich in der Schillingsstraße?"
Ich nickte nur, unfähig wie immer etwas zu sagen wenn mich jemand ansprach. Es kam so selten vor das ich tatsächlich mit jemandem redete, dass ich das Gefühl hatte verlernt zu haben wie einfache Kommunikation geht. Doch ich freute mich so überschwänglich darüber die junge Frau zu sehen, dass ich Angst hatte sie mit jedem holprigen Satz in die Flucht zu schlagen. Allerdings schien sie nicht den Eindruck zu machen, dass sie mein Gestotter sichtlich stören würde. „ Hast du Lust in dem kleine Cafe an der Straße etwas trinken zu gehen, dann kann ich mich revanchieren". Sie lachte ihr herzliches, wärmendes Lachen und sagte dies so nebenbei als wäre es das selbstverständlichste in der Welt ein Mädchen das man nur einmal zuvor gesehen hatte gleich ins nächste Cafe einzuladen. Ich war so überrascht, dass meine Finger zu zittern anfingen und mir die Milchpackung erneut aus den Fingern schlüpfte. War das peinlich, ich wäre am liebsten im Boden verkrochen und hätte alles dafür gegeben wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte unbemerkt aus dem Laden zu fliehen. Doch das war leider unmöglich da der Supermarkt gerammelt voll war und ein durchdringen unmöglich war wollte man nicht sämtliche Leute zu Fall bringen, was noch ein Niveau peinlicher gewesen wäre. Da also keine Möglichkeit bestand unbemerkt Reißaus zu nehmen nickte ich nur zaghaft und ließ mich von ihr in das kleine Cafe mit dem passenden Namen“ Cafe Suprise“ begleiten. „Bestell den Frutyshake", riet sie mir.“ „Ich weiß nicht genau“, murmelte ich, immerhin hatte der Shake nach meinen Berechnungen mindestens 300 Kalorien! „Ich bestehe darauf“, meinte sie bestimmend und am Ende ließ ich mich doch dazu überreden den Drink zu bestellen. „Genieß ihn einfach, lass ihn dir auf der Zunge zergehen. Schmeckst du die Erdbeeren und den süßen Geschmack auf deiner Zunge. Das ist wie Urlaub auf der Karibik“, meinte sie lachend. Vorsichtig nippte ich an dem Getränk und versuchte mir den warmen Sandstrand vorzustellen. Es funktionierte tatsächlich und ich merkte wie ich wieder in meine Traumwelt versank.
Als ich ein leises Kichern hörte schreckte ich auf und spürte wie ich augenblicklich errötete-eine Eigenschaft die ich von meiner Mutter geerbt hatte, meine Schwester hatte dieses Merkmal auch gehabt… Nicht daran denken Elise, ermahnte ich mich innerlich, ein Weinkrampf war jetzt wirklich fehl am Platz. Doch ich kam gar nicht dazu mir weiterhin Gedanken zu machen, denn das Mädchen plapperte munter weiter. Es wurde ein langes und interessantes Gespräch indem ich dass das Mädchen Malina Meißler hieß, 20 Jahre alt war, in Düsseldorf wohnte und Musikwissenschaften und Kulturwissenschaften studierte. Als ich sie auf ihre musikalische Aktivität in der Schillingsstraße hinwies lachte sie nur. „Das war Reiners Idee, er hat ein Patenkind in Uganda und wir sind dann eben auf die Idee gekommen es mit Musik zu versuchen. Lief eigentlich gar nicht so schlecht, immerhin haben wir 150 Euro an einem Nachmittag zusammenbekommen. Mit dem Geld soll ein Musikinternat für Straßenkinder gebaut werden, Rainer organisiert das. Wenn du willst kann ich dich den anderen einmal vorstellen. Spielst du auch ein Instrument?“Ein Instrument, spielte ich das eigentlich? „Nun ja, ich habe mal Violine gespielt, wie du, aber ich habe es aufgegeben“. Mir war nicht danach zu Mute Malina ausführlich zu erklären weshalb ich meine Geige auf den Dachboden verbannt hatte, doch sie hakte auch nicht weiter nach und wechselte freundlicherweise das Thema. Später begleitete ich sie noch zum Bahnhof, wo sie ihre Bandmitglieder erwartete. Sie schlug mir zwar vor noch zu warten damit ich sie gleich kennen lernen konnte, doch das war mir nun wirklich zu viel, und deshalb schwang ich mich noch schnell auf mein Fahrrad bevor ihre Kollegen mit dem Zug eintreffen konnten. Ich war so sehr in meine Gedanken vertieft, dass ich fast in die falsche Straße abgebogen wäre. Zuhause stürzte ich diesmal nicht wie sonst gleich zum Kühlschrank sondern hechtete die Treppen zum Dachboden rauf.
Irgendwo hier musste sie sein, eine verstaubte und vergessene Geige. Ich durchstöberte alte Kisten, kämpfte mich durch alte Spinnweben und durchkämmte den ganzen Ramsch nach meiner geliebten Geige.
Auf einmal merkte ich wie sehr ich das Gefühl der Saiten, ihren Klang und ihr glattes Holz vermisste.
Und plötzlich fand ich sie, in einer alten von Holzwürmern durchnagten Kiste. Der Kasten war noch so gut wie neu, wenn auch etwas verstaubt. Ich zerrte das alte Ding hervor und öffnete ihn vorsichtig. Da lag sie, genauso unschuldig wie an dem Tag an dem sie das letzte Mal das Tageslicht gesehen hatte. Ich nahm sie vorsichtig raus, aus Angst ihr etwas anzutun und pustete den Staub von ihr, der sich im Laufe der Zeit dort angesammelt hatte. Ehrfürchtig löste ich den Bogen aus seiner Halterung und spannte ihn fest. In dem Kasten fand noch einen kleinen Rest Kolofonium mit dem ich ihn einschmierte.
Was war das für ein unbeschreibliches Gefühl das alte Instrument in den Händen zu halten… Schon wieder überfielen mich die Erinnerungen. Ich sah mich vor mir, mit genau diesem Instrument in den Händen, zarte zehn Jahre zählte ich und hatte gerade eine „ganze „ Geige bekommen, eine für die Großen. Mit meinem kindlichen Stolz strotzte ich nur so vor Glück, unwissend das dies der letzte Wunsch meines Großvaters gewesen ist. Vor seinem Tod bestand er darauf mir seine alte Geige zu vermachen, eine französische, hundertjahre alte Violine auf der er selber schon große Konzerte gespielt hatte. Ich wurde auf einmal von so viel Wehmut gepackt und den allgegenwärtigen Schuldgefühlen, nur diesmal hatte ich sie meinem Opa gegenüber, da ich dessen Geschenk so entwürdigt hatte.
In diesem Moment nahm ich mir von Herzen vor wenigstens diese Schuld wieder gut zu machen.
Vorsichtig fing ich an die Saiten zu streichen und genoss den schönen Klang der Violine, gewiss war sie verstimmt, doch an der Schönheit ihres Klanges hatte dies trotzdem keine Schaden genommen. Immer lauter werdend fing ich an Melodien zu spielen die mir im Kopf herumschwirrten. Ich spielte die irische Melodie nach, welche ich kürzlich gehört hatte und war wieder in Irland, einen Augenblick später tanzte ich mit „Lord oft he Dance“ auf dem Dachboden und wieder einen Moment später tanzte ich über duftende Frühlingswiesen mit Antonio Vivaldi. Es war ein so unbeschreibliches Gefühl und„noch nie war mir etwas so fremd gewesen, denn ich spürte, dass es tief aus meinem Inneren kam“. Dieses Innere war meine Lebenskraft und ich spürte wie sie langsam wieder in meine Adern kroch, ich verspürte sogar so etwas wie Freude. Ich konnte mir plötzlich eigestehen, das ich die Vergangenheit nicht ändern konnte aber wusste, ich konnte in sie zurückkehren und mit ihr in die Zukunft gehen.
Ich stürmte hinunter ins Wohnzimmer und zerrte noch während dem Laufen den kleinen Zettel mit Melinas Handynummer, denn sie mir glücklicherweise doch noch schnell zugesteckt hatte, aus meiner Hosentasche. Mit zitternden Händen wählte ich ihre Nummer als mir auf einmal einfiel wie blödsinnig diese Aktion eigentlich war, was genau sollte ich ihr eigentlich sagen?
Doch bevor ich mich entsinnen konnte erklang Melinas fröhliche Stimme schon am Telefon.
„Ich wusste, dass du dich melden würdest“ war das Erste was sie sagte.
„Woher?“, wollte ich wissen. „ Ich kenne die Menschen eben“, erwiderte sie wobei der Stolz in ihrer Stimme nicht zu überhören war.
Ich weiß nicht warum, eigentlich war es eher untypischst für mich, aber es sprudelte nur so aus mir heraus. Ich erzählte Melina von meiner „Entdeckung „ auf dem Dachboden mit einer Euphorie die ich mir selber im Leben nicht zugetraut hätte.
Zwei Tage später traf ich auch den Rest von Melina Bandkollegen und war von ihnen mindestens genauso entzückt wie von ihr persönlich. Ich versuchte wieder regelmäßig zu essen, auch wenn ich wusste, dass ich nie ganz geheilt sein werde, genauso wenig wie von meinen Schuldgefühlen, meinem ständigen Hunger und meiner Trauer. Mit meiner Mutter versuchte ich wieder eine halbwegs ordentliche Beziehung aufzubauen, was mit der Zeit auch wieder einigermaßen gut ging.
Nach dem ich mein Abi halbwegs gut über die Bühne gebracht hatte zog ich mit Melina und den anderen in eine WG und begann ein Studium, gleich wie Melina in Musikwissenschaften. Wir wurden mit unsere „Musikgruppe“ relativ erfolgreich doch mir kam es nie auf den Erfolg und den Ruhm an für mich ist Musik ein Lebenselixier geworden und Melina ein Engel.
Ein Engel der mein zerbrochenes Leben wieder angefangen hat aufzubauen.
Publication Date: 06-06-2011
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