Mit einem mulmigen Gefühl fuhr Hauptkommissar Torsten Seegers zum Tatort in Bad Sachsa. Zuletzt war er als Kind dort, als er acht Jahre alt war. Alle hatten es immer das Hexenhaus genannt. Es lag am Rande des Waldes an einem asphaltierten Wanderweg. In seiner Erinnerung war es unheimlich, das Haus. Heutzutage, vierzig Jahre später, glaubte er natürlich nicht mehr an Hexen, dennoch kam die Angst von früher wieder hoch, als er hörte, wohin ihn sein neuester Fall führte. Seit fünf Monaten war er nach Osterode versetzt worden, unweit seines Geburtsortes Bad Sachsa. Nun war er das hektische Großstadtleben Hannovers los und in der Provinz im Südharz gelandet. Aber auch dort geschahen Morde.
Sein Kollege, Kommissar Manfred Berthold, der neben ihm im Polizeiwagen saß, pfiff leise vor sich hin. Der Kerl hatte immer gute Laune, selbst wenn es darum ging, Morde aufzuklären. Doch dieser Fall war etwas ganz Besonderes. Arbeiter hatten in dem Haus, das abgerissen werden sollte, Leichen entdeckt, genauer gesagt waren es Skelette. Offenbar war die Tat schon viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, her, denn das Haus hatte seit Ewigkeiten keiner mehr betreten.
Am Tatort stießen die beiden auf Jörg Hohmann, den Rechtsmediziner. „Kein schöner Anblick, Torsten“, sagte er. Wie alle seiner Kollegen hasste er es, Pathologe genannt zu werden. „Das sagen die immer nur in den Krimis!“, empörte er sich dann stets, denn Pathologen sind in Kliniken tätig und Rechtsmediziner öffnen Leichen, die mutmaßlich Verbrechen zu Opfer gefallen sind. „Hier muss ich nicht mehr viel herum schneiden“, ergänzte Hohmann. Das verdarb sogar Berthold die Stimmung. Er wurde blass. So hatte ihn Seegers noch nie gesehen.
„Wo sind die Arbeiter, die das gefunden haben?“, wollte Berthold wissen. „Die meisten sind schon nach Hause gegangen. Ihnen war schlecht. Das kann ich verstehen. Aber da drüben ist noch einer, da an der alten Eiche“, antwortete der Rechtsmediziner. Sie verließen das Gebäude. Die kleine, graue Tür knarrte laut, als sie sie schlossen. Gleich daneben war noch eine größere mit einer Art Gatter im oberen Bereich. „Offenbar war das früher mal ein Stall“, meinte Berthold. „Keine Ahnung. Wir haben als Kinder immer Hexenhaus dazu gesagt, Manfred.“
„Als Kinder? Ach ja, du bist ja hier aufgewachsen, Tobias. Und wieso Hexenhaus?“
„Es sah damals so unheimlich aus wie jetzt, auch wenn es noch lange nicht so zerfallen war. Und diese stets verschlossenen Fenster – das war richtig gruselig. Als Kind hat man ja so seine Fantasien.“
Die Befragung des Arbeiters ergab nichts Bewegendes. Immerhin hatte er noch einen Schlüssel für die weitere Tür. Als die Kriminalbeamten diese aufschlossen, zuckten sie zusammen. Dahinter lagerten noch weitere Skelette, es mochten mindestens drei Dutzend sein. „Jetzt haben wir wirklich einen großen Fall. Mein Gott, ist das schrecklich“, rief Seegers und übergab sich. „Ich habe ja wirklich viel mitgemacht, aber das übertrifft alles“, ergänzte Berthold. Von seiner guten Laune war nichts mehr zu spüren. Hohmann war am abgehärtetsten von den dreien und betrat den Raum. „Da schaut mal!“, rief er begeistert und hob etwas Weißes auf. Es war aber kein Knochen, es war eine Scherbe. „Das war mal ein Teller. Und da ist auch ein Aufdruck“, sagte er und las vor: „Kinderheim Harz-Süd Bad Sachsa“.
„Ach, das Kinderheim, das war gleich da drüben. Da, wo jetzt der Ferienpark ist“, erklärte Seegers, der sich inzwischen einigermaßen beruhigt hatte. „Aber was hat das mit den Knochen zu tun?“, fragte Berthold. Seegers kratzte sich am Kopf und sprach: „Nun, das müssen wir wohl herausfinden. Ist Euch aufgefallen, wie klein die Skelette sind? Das sind vermutlich alles Knochen von Kindern“, sagte der Gerichtsmediziner. „Ich werde nach der Obduktion Genaueres sagen können. Dann wissen wir auch, wie alt sie sind.“
Zwei Tage später. Das Ergebnis der Untersuchung von Hohmann hatte ergeben, dass die Knochen mindestens sechzig, wenn nicht siebzig Jahre alt waren. Der Fall hatte bundesweit Schlagzeilen gemacht. Presse und Fernsehen stürzten sich mit Feuereifer darauf. Der Begriff „Hexenhaus“ hatte sich durchgesetzt, was angesichts des mutmaßlichen Verbrechens nun doch nicht so abwegig war. Sechsundvierzig Skelette hatte man gezählt, wie Hohmann vermutete, waren es alles Kinder. „Kleinwüchsige haben größere Köpfe“, stand in seinem Bericht. Überdies waren die Kleinen alle vergiftet worden.
Am nächsten Tag erhielt Hauptkommissar Seegers einen Anruf. „Guten Morgen. Ich muss etwas zu dieser Sache in Bad Sachsa erzählen. Mein Name tut nichts zur Sache.“
„Guten Morgen. Was möchten Sie dann mitteilen?“
„Ich war damals Kindergärtnerin in dem Heim in Bad Sachsa. Es war aber kein normales Heim, wie nach dem Krieg.“
„Sondern?“
„Es war ursprünglich Mitte der dreißiger Jahren als Kindererholungsheim in acht Holzhäusern errichtet worden. Doch nach der Enteignung durch die Nazis wurde ein Müttergenesungsheim daraus.“
„Und weiter?“
„Sie wissen was 44 in der Wolfsschanze geschah?“
„Natürlich.“
„Nach dem misslungenen Attentat änderte man abermals die Bestimmung des Heims. Es wurden dort sechsundvierzig Kinder der Beteiligten in Sippenhaft genommen. Sie unterlagen einer strengen Bewachung durch die Gestapo. Die Geschwister wurden voneinander getrennt und in verschiedenen Häuser gesteckt. Schulunterricht gab es nicht. Die Kinder durften auch nur einmal am Tag für einen kurzen Spaziergang nach draußen.“
„Das ist ja furchtbar. Was geschah weiter?“
„Am Ostermontag 45 sollten wir die Kinder zum Bahnhof bringen. Aber es ging nicht nach Hause, wie Sie wissen. Mehr sage ich nicht.“ Die Anruferin legte auf.
Seegers war entsetzt. Die weitere Recherche ergab, dass über den Verbleib der Kinder nach Kriegsende nichts bekannt war. Sie waren einfach verschwunden.
Sechsundvierzig Kinder! Und Hohmann hatte die Tellerscherbe gefunden. Man brauchte kein Genie zu sein, um seine Schlüsse daraus zu ziehen. Die Nazis hatten die Kleinen zuerst vergiftet und die Leichen dann in dem alten Haus zusammengepfercht. Nur dem geplanten Abriss war es zu verdanken, dass das jetzt entdeckt worden ist.
Natürlich wurde das „Hexenhaus“ nicht abgerissen. Eine große Gedenktafel erinnert nunmehr an diese Gräueltat. Auf dem Friedhof von Bad Sachsa wurden die sterblichen Überreste der Kinder beigesetzt.
Nachtrag:
Das Kinderheim in Bad Sachsa hat es tatsächlich gegeben, ebenso die dortige Unterbringung der Kinder der Beteiligten des Attentates von der Wolfsschanze. Allerdings wurden achtundzwanzig von ihnen im wahren Leben von den Nazis in ihre Familien zurück entlassen.
Die übrigen achtzehn (unter anderem die Stauffenberg-Kinder) wurden nach Kriegsende von den Alliierten befreit. Sie sollten aber tatsächlich umgebracht werden, und zwar im KZ Buchenwald. Ein Bombenangriff am Ostermontag 1945 auf dem Bahnhof Bad Sachsa verhinderte das. Der Transport kehrte zurück ins Kinderheim.
Nachzulesen ist die Geschichte hier:
http://www.spiegel.de/panorama/attentat-vom-20-juli-1944-blutrache-an-den-kindern-der-verschwoerer-a-307732.html
Hauptkommissar Torsten Seegers lehnte sich entspannt zurück. Noch eine halbe Stunde, dann hatte er Feierabend. Das Wochenende nahte. Er wollte mal wieder nach Hannover fahren, um sich dort mit ein paar alten Freunden zu treffen. Seit er vor drei Jahren von dort hier nach Osterode versetzt wurde, hatte er sie nicht mehr gesehen. Hier war es zwar sehr nett und ruhig, aber um einen drauf zu machen, war der Südharz eher ungeeignet.
Sein Kollege, Kommissar Manfred Berthold, hatte wie immer gute Laune. Nur selten ließ er sich durch die Arbeit davon abbringen. Nur damals, als in Bad Sachsa die Skelette der Kinder in diesem sogenannten Hexenhaus gefunden wurden, war das anders. Das hatte ihn sehr mitgenommen, wie alle, die an dem Fall gearbeitet hatten.
Das Telefon klingelte. Berthold ging ran. Er notierte sich etwas, und sagte dann, nachdem er das Gespräch beendet hatte: „Ich fürchte, Torsten, du musst deine Wochenendpläne ändern. Wir haben eine Leiche!“ „Scheiße. Hätte die nicht noch etwas warten können? Wo geht es denn hin?“ „Es geht nach Northeim. Man hat dort in einem Kanal einen Ertrunkenen gefunden, in der Nähe eines Fußballplatzes. Näheres weiß man noch nicht.“
Missmutig machte sich Seegers mit Berthold und Jörg Hohmann, dem Rechtsmediziner, auf dem Weg. Es waren etwa dreiundzwanzig Kilometer Entfernung zwischen beiden Orten, in etwas über zwanzig Minuten wäre man dort, wenn die Verkehrslage normal wäre. Auf der B 241 war zum Glück wenig los, so dass sie um kurz vor 16 Uhr dort eintrafen.
Das Vereinsgelände von Eintracht Northeim lag mitten auf einer Insel zwischen der Rhume und dem Rhumekanal. Der Platzwart des Vereins namens Ferdinand Keller, hatte die Leiche entdeckt. Ihm stand der Schrecken noch im Gesicht geschrieben, als die Polizeibeamten sich ihm vorstellten. „Wissen Sie, ab und zu fallen unsere Fußbälle ins Wasser. Ich fische sie denn immer raus. Und vorhin, da dachte ich, na, dieser Ball sieht aber komisch aus. Ich gehe also näher ran. Und dann war es gar kein Ball, sondern ein Kopf. Scheiße, Scheiße. Das muss doch nicht sein“, erzählte der Mann.
„Wasserleichen mag ich gar nicht“, murrte der Hauptkommissar und Hohmann bemerkte: „Ich auch nicht. Aber was muss, das muss.“ Mit diesen Worten begab er sich zum Wasser und drehte die Leiche, die dort bäuchlings lag, um. „Na, den kennt man ja wohl. Die Identifizierung können wir uns sparen“, rief er. Die anderen drei Männer folgten ihn. „Der Norbert Hase! Das darf doch wohl nicht wahr sein“, sagte der Hauptkommissar. „Klärt mich mal auf! Wer ist das?“, wollte Berthold wissen. „Liest du denn keine Zeitung? Das ist der Bürgermeisterkandidat, der NVP, dieser rechten Gruppierung, die hier in Northeim viel Zulauf hat“, erklärte der Rechtsmediziner und Seegers nickte. „Tja, der hatte viele Feinde. Verdächtige gibt es zuhauf. Wenn wir wieder im Büro sind, zeige ich dir mal die Flugblätter, die überall verteilt worden sind, Manfred“, ergänzte er. „Ich kann auch nicht gerade sagen, dass ich den mag“, sagte der Platzwart. Er fuhr fort: „Trotzdem. So einen Tod hat niemand verdient!“
Als die drei Polizeibeamten wieder im Kommissariat angekommen waren, öffnete Seegers die Schublade seines Schreibtisches und holte einen Zettel hervor. Dieser zeigte das Konterfei von Norbert Hase, umgeben von einem Fadenkreuz. Darunter stand in großen, roten Buchstaben: „Die Hasenjagd ist eröffnet!“. Berthold sah sich das an und bemerkte: „So etwas werfe ich immer gleich weg. Das verdirbt mir nur meine gute Laune.“ Seegers entgegnete: „Das solltest du aber nicht, jedenfalls nicht ohne Weiteres. Das, was da auf dem Flugblatt steht, ist auch eine Straftat. Das ist Aufforderung zum Mord. Und dazu ist jetzt ja wohl auch gekommen, wie man sieht. Wie auch immer, ich mache jetzt Feierabend und gehe ins Wochenende. Die Leiche wird uns ja nicht weglaufen!“
Zwei Stunden später saß Kommissar Berthold noch immer an seinem Arbeitsplatz. Der Vortrag seines Kollegen hatte ihm zu denken gegeben. Außerdem war ihm etwas eingefallen. Er hatte sich die alte „Hexenhaus“-Akte über den Fund der Kinderleichen in Bad Sachsa noch einmal vorgenommen. Immerhin ging es damals ja auch um Nazis und ihre Schandtaten. Bestand da ein Zusammenhang? Gerade als er etwas dazu entdeckt hatte, betrat Hohmann das Büro. Er setzte sich auf den Stuhl von Seegers und grinste. Er sagte: „Die ersten Ergebnisse stehen fest. Zunächst: Die Leiche ist noch ganz frisch. Der Mann ist keine zwölf Stunden tot. Und er starb nicht durch Ertrinken. Er wurde vergiftet!“
Berthold pfiff und sagte: „Vergiftet! Das passt ja irgendwie! Vor mir liegt der Hexenhaus-Fall. Die Kinder wurden ja damals auch vergiftet. Und rate mal, wie der Kommandant der Nazis hieß, der 1945 das Verbrechen befohlen hat!“ „Keine Ahnung. Ich kümmere mich ja nur um die Obduktion, nicht um die Ermittlungsarbeit. Wir sind ja nicht beim Tatort.“ Berthold lachte. Ein bisschen sah Hohmann schon wie Professor Boerne aus, aber so schrullig war er nicht. „Nun, ich werde es dir verraten. Er hieß Albert Hase. Ob dieser Norbert mit ihm verwandt war, können wir jetzt nicht mehr herausfinden. Aber am Montag werden wir bei den Standes- und Meldeämtern herumtelefonieren.“
Hauptkommissar Seegers kehrte drei Tage später froh gelaunt an seinen Arbeitsplatz zurück. Er hatte in Hannover viel Spaß gehabt und war glücklich, dass er auf andere Gedanken gekommen war. Jetzt aber hatte ihn der Alltag wieder. Berthold begrüßte ihn freundlich und schilderte die ersten Erkenntnisse. Fast den ganzen Vormittag verbrachten die beiden mit Telefonaten. Sie fanden heraus, dass Albert Hase tatsächlich einen Sohn namens Norbert hatte. Beide hatten in Bielefeld gelebt, wo Albert 1960 gestorben war, ohne jemals belangt worden zu sein. Norbert Hase war 1986 nach Northeim gezogen. Er war zweifelsohne derselbe, der jetzt in Hohmanns Kältekammer lag.
„So, jetzt müssen wir nur noch den Täter finden“, stellte Seegers fest. Er fuhr fort: „Nehmen wir uns doch mal die Verbreiter des Flugblattes zur Brust. Ein Name stand da ja leider bei.“ In diesem Moment wurde die eingegangene Post herein gebracht. Viel war es nicht, es war ja Montag. Doch ein Schreiben stach daraus hervor. Es enthielt nicht sehr viel Worte, lediglich: „Der Hase ist tot!“. „Na, das wissen wir ja schon. Weiter bringt uns das nicht“, stellte Seegers resigniert fest.
Drei Tage später, am Donnerstag, nachdem der Fall nicht nur in der Südharzregion, sondern bundesweit Schlagzeilen gemacht hatte, gab es einige Reaktionen der Bevölkerung, aber kaum eine, die zu einem Ergebnis zu dem Mord führte. Lediglich ein Hinweis schien vielversprechend zu sein. Ein weiterer anonymer Brief ging im Kommissariat ein. Er war konkreter, als der vom Montag. „Überprüfen Sie doch mal das Umfeld der NVP“ stand da. „Hm, irgendein Gesinnungsgenosse, der mit Hase nicht mehr konform geht? Das könnte sein“, meinte Seegers und begab sich mit Berthold
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Publication Date: 02-11-2020
ISBN: 978-3-7487-2920-4
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