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Weihnachten fällt aus

 

 

Sebastian freute sich nicht auf Weihnachten – ganz im Gegenteil. Das Jobcenter hatte ihm zu diesen Job als Christbaumverkäufer verdonnert, und das zu einem Hungerlohn. Das konnte einem wirklich die ganze Vorfreude auf das heilige Fest rauben, zumal dieses ganze Zinnober mit der ursprünglichen Bedeutung von Weihnachten rein gar nichts zu tun hatte. Zu allem Überfluss lief auf dem Verkaufsstand eine CD vom Chef mit grässlichen Liedern, wie z.B. „Last Christmas“ von Wham. Den Song hatte Sebastian schon immer gehasst, jetzt musste er ihn jeden Tag gefühlt zwei Dutzend mal anhören. Darum stand für ihn fest: Dieses Jahr fällt Weihnachten aus. Sehnsüchtig zählte Sebastian die Tage, bis dieser ganze Mist vorbei war.

 

Immerhin gab es nebenan einen Imbiss, wo eine hübsche, junge Frau arbeitete. Sie hieß Annegret, das hatte er schon nach drei Tagen herausgefunden. Schnell hatten sich die beiden angefreundet und festgestellt, dass es viele gemeinsame Interessen gab. Da auch Annegret vom Trubel der Vorweihnachtszeit genervt war, und ebenso wie Sebastian keine Kinder oder liebe Verwandte hatte, die zu Weihnachten Besuche oder Geschenke erwarteten, hatten sie beschlossen, einen Tag vor Heiligabend, am letzten Verkaufstag des Weihnachtsbaumstandes, zu verreisen. Es sollte dahin gehen, wo es garantiert nichts Weihnachtliches gab, keine nervige Musik, keine bunte Dekoration, keine Plätzchen und bestimmt keine Christbäume.

 

Das war leichter gesagt als getan, denn beide hatten nicht viel Geld und konnten nicht so einfach in die Südsee fliegen, wie es reiche Leute getan hätten. Bei einem Glas Rotwein in Annegrets gemütlicher, kleinen Wohnung, kam ihr dann die zündende Idee. „Ich habe eine gute Freundin, die ein schönes Ferienhaus in Mardorf hat, das liegt am Steinhuder Meer in der Nähe von Hannover. Im Winter ist da nicht viel los. Dagmar schuldet mir sowieso noch einen Gefallen, ich rufe sie gleich mal an, ob wir die Hütte über Weihnachten haben können“, erklärte sie und war froh, die Idee gehabt zu haben.

 

Dagmar war ohne Weiteres bereit, ihrer Freundin das Ferienhaus zu überlassen. Und so konnten Annegret und Sebastian am Abend des 23. Dezember ihre Sachen packen und sich auf den Weg von Bremen nach Mardorf machen. „Ein Glück, dass morgen Sonntag ist, und dass wir beide frei haben“, stellte Sebastian fest und packte seine kleine Reisetasche in Annegrets Auto. Sie hatte zuvor tatsächlich drei Koffer hinein getan mit dem Kommentar, dass das ja nur das Notwendigste sei. Wenn ihre Beziehung schon länger angedauert hätte, wäre es jetzt zu einer spitzen Bemerkung des jungen Mannes gekommen, aber so verkniff er sich wohlweislich eine Kritik.

 

Gegen 21 Uhr kamen die beiden in Neustadt am Rübenberge an. „Die Verbindungsstraße durch das Tote Moor gibt es erst seit etwa fünfzig Jahren. Bis dahin kam man nur über Umwege nach Mardorf“, berichtete Annegret und fuhr fort: „Deswegen hat sich in diesem abgelegenen Ort eine eigene Sprache entwickelt, das Et Mardröpske Plat. Es ist niederdeutsch und ähnelt niederländisch, schwedisch und englisch. Früher war das die alleinige Umgangssprache in Mardorf, heute spricht das da aber kaum noch jemand.“ „Das hört sich so an, als ob du schon oft da warst“, stellte Sebastian fest, der interessiert zugehört hatte. Sie durchfuhren gerade einen dichten Wald, der aber einen gehörigen Abstand zur Straße hatte. Dazwischen lag ein Streifen Moor, was man im Scheinwerferlicht erkennen konnte. „Ja, im Sommer war ich mit Dagmar und den anderen Mädels schon oft da. Man kann dort auch prima campen, aber wir haben ja eine feste Hütte, zum Glück!“

 

Kurz darauf hatten sie ihr Ziel erreicht, das Haus lag etwas außerhalb vom Ortskern und war nur über einen Feldweg zu erreichen. Zwei weitere Ferienhäuser lagen daneben, in einem von beiden brannte Licht und Musik dröhnte heraus. Wie Sebastian zu seinem Missfallen erkannte, war es ausgerechnet „Last Christmas“. „Na, ja, so ganz alleine sind wir denn doch nicht“, stellte Annegret fest und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Leise öffnete Sebastian seine Tür, ging zum Kofferraum und nahm seine Reisetasche sowie das Gepäck seiner Freundin heraus. Er wollte es vermeiden, Lärm zu machen, da er wenig Lust darauf hatte, dass sie bemerkt wurden. Wer solche Musik hört, stellt bestimmt auch Weihnachtsbäume auf, dachte er leicht verärgert.

 

Doch es war zu spät, die Tür des Nachbarn wurde aufgesperrt. Ein dicklicher, bebrillter Herr mit leicht ergrautem Haar trat heraus und kam auf sie zu. Er streckte seine Hand entgegen und sagte freudestrahlend: „Einen schönen guten Abend wünsche ich. Ich bin der Harald. Meine Frau Beate und ich sind schon heute morgen angekommen. Ist das nicht wunderschön hier? Das ist wahre Natur. Hier sagen sich Fuchs und Hase Gute Nacht, hi hi. Wir kommen aus Bielefeld und sind zum ersten Mal hier. Und wer seid Ihr beiden Hübschen?“. Eine ebenso beleibte Frau mit kurzem, blonden Haar war unterdessen dazugestoßen, offensichtlich die besagte Beate.

 

„Wir sind Annegret und Sebastian und kommen aus Bremen“, antwortete Annegret. Ihr Freund hätte am liebsten ergänzt: „Und wir wollen unsere Ruhe haben.“ Stattdessen grummelte er: „Nabend. War 'ne lange Fahrt.“ Harald nickte und sprach: „Ist aber gut ausgeschildert, kann man gar nicht verfehlen. Bringt erstmal Euer Zeug in Eure Hütte. Ihr habt doch bestimmt Lust auf ein Glas Rumpunsch, nicht wahr? Wir machen es uns bei schöner Musik und bei Keksen so richtig gemütlich!“

 

Immer noch missmutig schleppte Sebastian das Gepäck in das Ferienhaus und murmelte vor sich hin, Annegret, die das sehr wohl bemerkt hatte, nahm ihn kurz beiseite und sagte leise, damit es die Nachbarn nicht hörten: „Schatz, wir müssen ja nicht lange bleiben. Wir sagen denn einfach nach ein, zwei Gläsern Punsch, dass wir müde sind. Aber vielleicht wird es ja doch ganz schön. Und Weihnachten ist auch erst morgen. Dann haben wir immer Zeit genug für uns!“

 

Das Haus von Harald und Beate sah innen genau so aus, wie das von Sebastian und Annegret. Immerhin gab es keinen Baum. Offenbar hatten die beiden Gastgeber keine Lust gehabt, diesen von Bielefeld mitzuschleppen. Zu Sebastians Schrecken war aber jede Menge kitschige Dekoration an den Fenstern, an den Wänden und auf dem Kaminsims: Bunte, blinkende Lichterketten, Papiergirlanden mit „Merry Christmas“ und einen fetten Weihnachtsmann aus Plastik, der tanzte und das Lied vom rotnasigen Rentier namens Rudolf trällerte. Es konnte eigentlich nicht schlimmer kommen.

 

Harald hatte die Gläser mit dem dampfenden Punsch bereits gefüllt und anscheinend schon einiges davon intus, denn seine Nase glich der des besungenen Rudolfs. „Nehmt doch bitte Platz und bedient Euch, die Kekse hat meine Liebste übrigens selbst gebacken. Sie ist übrigens, der erste Hase, der backen kann, so heißt sie nämlich mit Nachnamen.“ Annegret grinste ein wenig, nahm einen kleinen Schluck von dem Heißgetränk und antwortete dann: „Und du Harald, heißt du Fuchs?“ „Ganz genau! Deswegen vorhin mein Witz mit dem Gute-Nacht-Sagen, hi hi“, entgegnete der Angesprochene und lachte über seinen eigenen Scherz.

 

Unterdessen war die Wham-CD abgelaufen und einer anderen gewichen, die Beate als „die schönsten Weihnachtslieder von den Fischer-Chören“ vorstellte. „Stille Nacht“, „Vom Himmel hoch“ und „Ihr Kinderlein kommet“ bereiteten Sebastian einen wahren Alptraum. Es war noch furchterregender, als er befürchtet hatte. Es war ja nicht so, dass er gar keine Weihnachtslieder mochte, aber ausgerechnet diese waren für ihn ein echtes Gräuel. Wenn wenigstens noch „Jesu, Joy of Man's desiring“ oder „Little Drummer Boy“ dabei gewesen wäre! So musste er sich wohl oder übel fügen und das Ganze ertragen.

 

„Oh, seht mal, es fängt an zu schneien“, rief Beate begeistert aus und zeigte aus dem mit künstlichem Schnee besprühten Fenster. Sie ergänzte: „Jetzt bekommen wir doch noch weiße Weihnachten!“ Ein Kind hätte nicht glücklicher sein können. Voller Begeisterung hätte sie fast ihr Punschglas umgeworfen. Am liebsten wollte Sebastian erwidern, dass ihm das völlig egal sei, ob dieses blöde Fest nun grün oder weiß war, aber er schwieg lieber.

 

Harald ging in die Küche, um Nachschub von dem Punsch zu holen. Als er zurückkam, hatte er nicht nur den Topf in den Händen, sondern auch noch eine Spraydose unter dem Arm geklemmt. Es handelte sich zu Sebastians Entsetzen um ein Spray mit Tannennadel-Duft, welchen Harald ausgiebig in dem ganzen Raum verteilte. Das war genug für Sebastian, er erklärte süffisant: „Wir danken Euch für den schönen Abend, aber wir sind jetzt wirklich müde von der Fahrerei.“

 

„Puh, das war aber wirklich zuviel“, stellte Annegret fest, als sie gegangen waren. „Jetzt haben wir endlich Zeit für uns“, antwortete Sebastian und nahm seine Freundin in den Arm. Er küsste sie und war froh, diesen Spießern entkommen zu sein – vorerst.

 

Am nächsten Morgen, dem Heiligabend, nachdem die beiden ausgiebig ausgeschlafen hatten, saßen sie gerade beim Frühstück, als es an der Tür klopfte. Was zu befürchten war, trat ein: Freudestrahlend verkündete ein frohgelaunter Harald, dass man für heute Nachmittag den Besuch der Tochter nebst Enkel erwartete und man sich freuen würde, wenn Sebastian und Annegret doch auch zur Bescherung herüber kommen würden. Leider sagte Annegret zu, bevor ihr Freund das verhindern konnte.

 

Wenige Stunden der Zweisamkeit waren dem jungen Paar vergönnt, bis „das ausgefallene Weihnachtsfest“ seine Fortsetzung finden sollte. Um halb vier trotteten die beiden wohl oder übel zu den unliebsamen Nachbarn herüber, um sich dem zu erwartenden Desaster zu stellen. Sebastian hatte sich in seinen kühnsten Träumen jedoch nicht das ausgemalt, was dann tatsächlich passierte. „Und nun kommt gleich der Weihnachtsmann!“, rief Harald begeistert und ergänzte glücklich: „Aber vorher spielen uns Elias und Mia noch das allerschönste Weihnachtslied vor: Oh, Tannebaum.“

 

Die beiden Kleinen packten ihre Blockflöten heraus und spielten so falsch, wie man nur spielen konnte. Dieser Super-GAU veranlasste Sebastian seiner Freundin ins Ohr zu flüstern: „Weihnachten konnten wir diesmal nicht entkommen. Aber versprich mir zwei Sachen: Gib unseren Kindern, die wir vielleicht haben werden, niemals eine Flöte in die Hand und Silvester fällt dieses Jahr aber bestimmt aus.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Images: www.pinkclusive.de
Publication Date: 12-18-2017

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