Ich lebe in Glasgow. Keine besonders schöne Stadt, sie ist modern und funktionsgerecht. Mit dem wunderbaren Edinburgh können wir nicht mithalten, das wollen wir auch gar nicht.
Aber es gibt etwas, worin die Glasgower in Schottland unschlagbar sind: Fußball, die beliebteste Sportart der Schotten. Die beiden Vereine Celtic Glasgow und die Glasgow Rangers haben insgesamt bis jetzt siebenundneunzig Meisterschaften errungen, zuletzt gelang es im Jahre 1985 dem FC Aberdeen, diese Phalanx zu durchbrechen. Es gibt jedoch auch keine Stadt der Welt, in der die Rivalität zweier lokaler Mannschaften so hoch ist wie bei uns, nicht in Rom, nicht in München, nicht in Manchester und auch nicht in Madrid. Auf der einen Seite stehen die „Grünen“, die sich auf irische Traditionen berufen und sich zu dem katholischen Glauben bekennen. Das sind die Celtic-Fans. Ihnen gegenüber stehen die Rangers, deren Farbe Blau ist. Sie sind Protestanten und verehren das britische Empire und die Krone.
Hass und Verachtung für die Gegenseite waren und sind an der Tagesordnung, das hatte ich von klein auf gelernt. Meine Familie war katholisch, deswegen war es selbstverständlich, dass wir alle Anhänger von „Celtic FC“ waren. Mein Vater schleppte mich in den „Celtic Park“, unserem Stadion im Stadtteil Parkhead, seit ich laufen konnte. Ich ließ mich von der Begeisterung anstecken. Ganz besonders mochte ich den Spieler Mo Johnston, und war sehr enttäuscht, als er im Jahre 1987 zum FC Nantes nach Frankreich wechselte. Hocherfreut war ich zwei Jahre später, als mir mein Vater mitteilte, dass Mo sich entschied nach Glasgow zurückzukehren.
„Das ist doch eine verdammte Scheiße, dieser Judas, dieser Verräter“, schimpfte mein Vater, als er die Zeitung aufschlug. „Was ist dann, Daddy?“
„Nun, Bryan, das will ich dir zeigen. Da, sieh: Mo Johnston, dieser Drecksack, spielte künftig für die Rangers!“ Das war in der Tat ein Schock, noch niemals in 108 Jahren hatte ein bekennender Katholik für den Protestantenclub gespielt. „Aber, John, ist das dann wirklich so schlimm? Für die `Bhoys´ spielen doch auch zahlreiche Nichtkatholiken“, wandte meine Mutter ein. „Martha, du hast keine Ahnung davon, das kann man nicht vergleichen“, antwortete Vater erbost. Damit war das Thema beendet.
Wenige Wochen später stand der „Old Firm“ an, jenes Duell der beiden Mannschaften, das wie immer für ein ausverkauftes Stadion sorgte. Wir hatten ein Heimspiel, meine drei Brüder und mein Vater schwangen begeistert die Vereinsfahnen, mir hingegen hatten sie eine irische Nationalflagge in die Hand gedrückt, was mir gefiel. Schon lange vor Spielbeginn lieferten sich beide Fangruppen heftige, hasserfüllte Schlachtgesänge.
Als die Mannschaftsaufstellungen vom Stadionsprecher genannt wurden, war die Hölle los. Beide Anhängerschaften jubelten ihren Spielern zu. Das änderte sich, als Mos Name genannt wurde. Ein gigantisches Pfeifkonzert ertönte – von beiden Seiten. Die einen waren erbost, weil einer der ihren auf der falschen Seite spielte, die anderen akzeptierten Mo nicht, weil er dem falschen Glauben angehörte. Das machte mich nachdenklich, ich sagte jedoch nichts. Bei jedem Ballkontakt von Mo ertönte der Ruf: „Judas“. Davon ließ sich Johnston nicht beeindrucken, er machte ein tolles Spiel, schoss zwei Tore und lieferte eine Super-Vorlage. Ich war beeindruckt und zugleich innerlich zerrissen. Konnte ich einem Spieler zujubeln und verehren, der für „die anderen“ spielte?
Ich konnte, aber ich durfte das keinem wissen lassen. Heimlich sammelte ich alle Zeitungsausschnitte über Mo in einem kleinen Büchlein, das ich sorgsam verstecken musste. Zu meinem 16. Geburtstag schenkten mir meine Eltern ein grün-weißes Fantrikot von Celtic, ich verbarg meine Enttäuschung. Viel lieber hätte ich eines von den Rangers gehabt, die ich nun verehrte. Nachts träumte ich davon, und sprach wohl auch im Schlaf. So kam alles heraus, und mein Vater las mir am nächsten Morgen die Leviten. Ein Katholik konnte niemals Rangers-Fan sein – das ging gar nicht. Das war eine verbotene Liebe, das war noch viel schlimmer, als das, was sich Cousin Will vor drei Jahren geleistet hatte, als er seine muslimische Freundin präsentierte.
„Daddy, wo bleibt Eure Toleranz? Religiöser Hass hat schon zu so viel Unglück geführt, und...“
„Nein, Bryan, das geht zu weit. Ich verbiete dir ein für alle Mal, diesen Scheiß-Rangers zuzujubeln, oder dir gar ein Spiel von denen anzusehen, bei dem wir nicht der Gegner sind. Und: das mache ich jetzt mit deinem Drecksheft.“ Er zerriss mein Fan-Büchlein, das meine Mutter zuvor in meinem Zimmer gefunden hatte. Ich unterdrückte meine Wut und die Trauer und verließ wortlos den Raum.
Natürlich hielt ich mich nicht an die Anordnung meines alten Herrn, besorgte mir eine komplette Fanausrüstung der Rangers und besuchte so viel Spiele wie möglich von meinem neuen Lieblingsverein. Den dortigen Fans verschwieg ich aus gutem Grund meine Herkunft.
Als ich am 16.09.1991 volljährig wurde, zog ich zu Hause aus, und nahm mir ein billiges Zimmer im Südwesten Glasgows, nahe dem Ibrox Stadium, der Heimat der Rangers. Hier waren sogar die Mülltonnen blau und nicht grün. Mit meinem Vater habe ich nie wieder ein Wort gesprochen, ebenso wenig mit meinen Brüdern. Nur mit meiner Mutter hielt ich Kontakt, aber auch nur telefonisch.
Vor drei Jahren starb Daddy – ich war natürlich nicht auf der Beerdigung, es wäre mir auch schlecht bekommen. Man sagte mir, dass er sich in einen grün-weißen Sarg beisetzen ließ, mein Name fehlte auf dem Band des Kranzes meiner Familie. Es war so, als ob ich nicht mehr existierte. Wir hatten uns auseinandergelebt, im wahrsten Sinne des Wortes.
Am 14. Februar 2012 erlebte ich den größten Schock meines Lebens: „mein“ Verein musste Insolvenz anmelden, der Grund war ein Schuldenberg von 58 Millionen Euro. Noch viel größer war der Schreck, als der schottische Verband die Rangers gut fünf Monate später in die vierte Liga strafversetzte. Vier Jahre würde es keinen „Old Firm“ geben.
Meine Liebe zu „meinem Club“ wird aber niemals enden. „You never walk alone“ - das ist zwar der Schlachtruf der Celtics, aber hier passt er.
Images: www.wikipedia.org
Publication Date: 08-25-2012
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Gewidmet Mo Johnston, der mich zu dieser Geschichte inspiriert hat und allen, die tolerant sind.