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Hoch oben am Himmel stand der bleiche Mond in einem weiten Wolkenloch und warf sein Licht auf den hellen Schnee. Ein paar Sterne blitzten durch die Wolken, aus denen dicke Schneeflocken zur Erde fielen. Die Nacht wirkte ruhig und friedlich, trotz des drohenden Aufheulen eines Wolfes, in weiter Ferne.
Unter dem Vollmond, durch den tiefen Schnee stapfte ein in Schwarz gekleideter Mann, an dessen Seite ein riesiger Wolf, mit struppigem Fell lief. Mehr eine Bestie, von deren Lefzen Speichel in den Schnee tropfte und eine feine, geschmolzene Spur hinterließ.
Der Blick des Wolfes war auf eine kleine Scheune gerichtet, die in der Nähe lag und den Geruch von Schafen herantrug. Das Tier deutete an, seine Schritte dorthin zu lenken, da wurde es auch schon von dem Mann zurückgehalten.
„Noch nicht!“ Seine Stimme war nicht hart, dennoch mit einer solchen Autorität erfüllt, das ihr jeder sofort gehorcht hätte.
Das Ziel des Mannes selbst war ein ebenfalls sehr kleines Häuschen, zu dem der Stall gehörte, sowie eine riesige Weide, unter einer dicken Schneedecke lag und über die sie kamen. Aus dem Schornstein, stiegen dicke Rauchschwaden zum Himmel, ein paar der Fenster waren vom warmen, flackernden Schein des Kamins erhellt.
Vor einem der Fenster stoppten die Schritte des Mannes.
An dem Glas rankten sich Eiskristalle empor, die nur ein paar zwischen klar und verschwommen wechselnde Bilder von dem zuließen, was darin vorging.
Nicht nur das Feuer im Kamin, auf dem ein Topf vor sich hinköchelte, diente als Lichtquelle, auch zwei Kerzen, die auf dem Tisch in einfachen Leuchtern brannten. Zwei Teller standen sich auf dem kleinen Tisch gegenüber Einer vor einem leeren Platz, der andere vor einem groß und stark wirkenden Mann. Das kurzes Haar, in dem ein paar Tropfen geschmolzenem Schnees glitzerten, war genauso dunkelbraun, wie sein Vollbart. Und auch wenn das den Mann grob wirken ließ, sprach aus seinen braunen Augen ein friedfertiger Charakter, der nicht mal einer Fliege etwas tun konnte. Unter seinem Vollbart lag ein Lächeln versteckt, das einem jungen Mädchen galt.
Sie war noch sehr jung, wirkte gerade mal 13 Jahre alt und weckte in dem Fremden einen unbändigen Hunger, den er aber nicht an ihr stillen konnte. Ihr Aussehen hinderte ihn daran.
Nicht weil sie so hässlich war, eher das Gegenteil. Dieses Mädchen war sogar richtig süß, trotz der Ruß bedeckten Wangen und der ärmlichen, schmutzigen Kleidung eines Bauernkindes. Am faszinierendsten an diesem zarten Wesen waren die wachen, aber nette Augen, die von einem solchen Grün erfüllt wurden, wie das von Licht überflutete Gras einer Sommerwiese. Ihr Haar war so rot, wie ein prasselndes Feuer und ihr Lächeln von der Unschuld eines neugeborenen Lamms. Ihr Verwandtschaftsverhältnis zu dem Bärtigen war optisch nicht gegeben. Sie nannte den Bär von einem Mann Vater, während sie ihn höflich fragte, ob er schon Hunger hatte. Mit einer Kelle rührte sie dabei die Suppe im Kessel um, deren Duft sogar durch den Kamin nach draußen getragen wurde. Verwandt waren sie nicht, dass wusste der Fremde.
Was ihn am stärksten zu ihr hinzog war ihr feuerrotes, lockiges Haar, das davon zeugte, was dieses Mädchen war. Die Tochter einer Hexe, in deren Adern eine ihr noch unbekannte Macht schlummerte. Nur darauf wartend geweckt zu werden. Und nach dieser Kraft dürstete es den Fremden. Er wollte sie besitzen, auch wenn sie ihm schon einmal abhanden kam.
Mit Sprüngen und einem leisen Jaulen, machte die Bestie an seiner Seite auf sich aufmerksam. Während er sich nach dieser Kraft sehnte, verzehrte sich das Tier nach dem Fleisch der Schafe.
„Ich erlaube dir, deinen Hunger an den Tieren zu stillen!“, rief der Fremde, sein Blick blieb weiter an dem jungen Mädchen liegen. Seine Stimme war leise, wirkte aber sehr nachdrücklich, als er das nächste sagte. „Und bring das Mädchen zu mir, nur füge ihr keinen einzigen Kratzer zu!“
Der Wolf stürmte sofort los zum Stall. Auf dem Gesicht des Fremden allerdings bildete sich ein Lächeln, bei dem die obere Reihe seine Zähne aufblitzen. Dabei wurden zwei Reißzähne offenbart, über die er sich mit seiner Zunge fuhr.
Langsam wandte er sich zum Gehen ab. Wenn er nicht an diesem Mädchen seinen Hunger stillen konnte, musste er es in dem nahe gelegenen Dorf.

Flora saß mit ihrem Vater Bernhard zusammen am Tisch. Vor ihnen stand jeweils ein Teller mit Suppe, die dass Mädchen nur für ihn gekocht hatte. Daneben lag ein Stückchen Brot.
Es war keine reichliche Mahlzeit. Nur ein kleiner Kessel, in dem die Suppe aus Wintergemüse gekocht wurde. Sie waren Schafhirten, da war es ihnen nicht vergönnt ihren Tisch mit mehr zu decken. Aber es reichte ihnen.
„Was ist meine Tochter schon für eine vorzügliche Köchin?“
Ein Lachen drang unter seinem Vollbart hervor.
„Ich habe nur ein paar getrocknete Kräuter hinein getan.“ Flora lächelte verlegen über die Worte ihres Vaters. Ein weiterer Anstoß für ihn, aufzulachen. Erst dann setzte sie sich mit an den Tisch. Von den Tellern stieg ein sanfter Dunstschleier auf, mit dem auch der Geruch zu ihr getragen wurde.
Diesmal war es ihr wahrlich gelungen ein vorzügliches Mahl zu bereiten.
Flora war stolz auf sich.
Sie und Bernhard waren nicht verwandt. Der Schäfer hatte das Mädchen im Wald gefunden. Ein kleines Bündel, halb erfroren, dem er seitdem ein Heim bot und das er so liebte, als sei es sein eigenes Kind.
Flora war ihm dafür schon immer dankbar. Dennoch quälte sie in letzter Zeit die Frage, wer ihre richtigen Eltern waren. Wo sie herkam und was ihre Eltern dazu trieb, das Kind im Wald auszusetzen.
Sie war damals noch ein Baby und hatte keine Erinnerung an Mutter und Vater. Weswegen sie sich in Gedanken immer versuchte auszumalen, wie es wohl war, in den Armen ihrer Mutter zu liegen.
Dort war sie wunderschön, mit ebenso feurigem Haar, wie Floras. Ihr Vater war groß und gütig, wie Bernhard. Vielleicht waren sie adelig und mussten vor ihren Häschern fliehen.
Lauter solche fantastischen Geschichten malte sich Flora aus, auch wenn die Wahrheit wahrscheinlich viel düsterer war. In Zeiten des streng religiösen Glaubens und der Inquisition, lag die Vermutung nah, ihre Eltern hätten etwas Falsches gesagt oder getan, so dass sie verurteilt worden waren.
Eine Angst, die den Schäfer auch immer quälte, der schon seine gutmütige und unschuldige Frau im Feuer des Scheiterhaufens verlor.
So mancher verlor darauf sein Leben, weil den anderen etwas nicht passte, aus Neid oder Missgunst.
So wollte er seine geliebte Ziehtochter nicht verlieren, weswegen er sich damals nicht im Dorf umgehört hatte, ob das Kind zu jemand gehörte.
Auch Flora hütete sich, etwas Falsches im Dorf zu sagen.
Vom nahen Stall setzte lautes Blöken ein. Sofort sah das Mädchen unsicher zu Bernhard auf. „Was ist los?“, lautete ihre Frage.
„Ein Wolf muss es in den Stall geschafft haben“, knurrte der Bärtige auf.
Aber nein, das war unmöglich. Sie hatte ihm in den vergangenen Tagen geholfen den Stall zu sichern.
Immer zu Vollmond durchstreiften zwei gewaltige Wölfe die Gegend, auf der Suche nach Vieh. Sogar ein paar der Bauern waren diesen Bestien zum Opfer gefallen. Sie waren so Furcht einflößend, dass im Dorf die Rede von Teufelskreaturen – Werwölfen – war.
Ein Glaube, den weder Flora, noch Bernhard teilten.
Albernes Gewäsch von abergläubigem Pack

, so nannte es der große Mann.
Dennoch waren diese Bestien überaus intelligent, was auch der nächtliche Einbruch in die Scheune zeigen würde, den Bernhard zu verhindert hoffte.
Hektisch stand er vom gedeckten Tisch auf. Das Geschirr klapperte und ein Schwall heißer Suppe, lief über den Rand, bei seinem schnellen Aufbruch. Sogar sein Stuhl kippte nach hinten weg, wo er polternd auf dem Boden liegen blieb. Bernhard kam noch nicht einmal dazu seine Jacke überzustreifen, sondern griff sofort zur Mistgabel, mit der er sich auf in den tiefen Schnee machte.
Wie es sich für eine gute Tochter gehörte, richtete sie erst das Chaos. Sie wischte die Suppe auf, stellte den Stuhl zurück. Erst als das getan war, griff sie zu ihrer Jacke, um ihrem Vater in die Nacht zu folgen.
Es war Vollmond und die Jäger des Dorfes waren unterwegs. Da war vorsichtig geboten.
Flora wollte nicht wissen, was sie mit einer Rothaarigen machten, die nachts durch den Schnee stapfte. Einmal hatte nur die Haarfarbe ausgereicht, dass sie von einer Bäuerin als Hexe betitelt wurde. Flora gelang nur knapp die Flucht, bevor die Männer des Inquisitors den Platz erreicht hätten.
Der Schnee ging ihr in der Nähe des Hauses bis knapp unter die Knie, so hart war der diesjährige Winter.
Flora sah gerade noch den Schäfer in der Scheune verschwinden, wo das Blöcken der Schafe panisch erklang.
Waren es wirklich diese Bestien? Das Mädchen schlang ihre zitternden Arme um den Körper. Bisher waren sie verschont geblieben doch jetzt…
Ein Schrei zerriss die Nacht.
Ihr Vater, war etwas mit ihm passiert?
Flora tat vorsichtig einen Schritt auf die Scheune zu.
Ihr Herz donnerte in ihrer Brust, vor Angst um den liebsten Vater, auch wenn ihr Körper wie versteinert war.
Bernhard hatte oft genug davor gewarnt, sie solle nachts in der Nähe des sicheren Hauses bleiben. Jetzt aber drängte alles in ihr dazu, dorthin zu laufen, um ihm zu helfen, ohne überhaupt zu wissen, was sie tun konnte.
Heiße Tränen brannten in ihren Augen, die jeden Moment ausbrechen wollten, während ihr Innerstes einen Kampf zwischen Besorgnis und Vernunft ausfocht.
Letztendlich war es ihre Vernunft die deutlich schrie, Bernhard würde nicht wollen, dass sie ihr Leben riskierte, aber unerhört blieb.
Flora rannte der Scheune entgegen. Der kühle Wind trug ihre Tränen hinein in das rote Haar.
Das Licht des bleichen Mondes viel auf die Scheune, aus der klägliche Laute drangen. Den Schatten, der aus dem offenen Tor nach draußen trat, hielt sie erst für eines der flüchtenden Schafe.
Bis das Mondlicht ein struppiges Fell erleuchtet und zwei gefährliche Augen aufblitzen ließ, die direkt auf das Mädchen blickten.
Das Maul der Bestie war geöffnet und entblößte die blanken Zähne. Von den Lefzen tropfte frisches Blut, in den reinen Schnee. Und auch das Fell der Kreatur war getränkt mit dem Blut seiner Beute. Ihrer Schafe und vielleicht sogar…
Nein, weiter wollte Flora nicht denken.
Ein erstickter Laut drang aus ihrer Kehle, als die Bestie gefährlich knurrend einen Schritt auf sie zu tat.
War es ein großer Hund, ein Streuner oder doch ein Wolf. Das Mädchen hatte noch nie so ein gewaltiges Tier gesehen.
Sie tat einen Schritt zurück.
Die Pranken der Bestie waren so gewaltig. Ein einziger Hieb würde genügen, einen Mann wie den Schäfer Bernhard umzustoßen, mit dem gewaltigen Maul, konnte es die Kehle seiner Opfer zerbeißen.
Flora presste ihre Hand auf dem Mund, um einen erneuten Schrei zu unterdrücken, der sich in ihrer Kehle anbahnte, während sie weiter langsam einen Schritt nach dem anderen zurück zum Haus tat.
Nein, sie durfte nicht in Panik geraten und zum Haus zurück rennen. Dieses Tier würde sie dann sicher sofort jagen und töten. Sie musste sich vorsichtig zurückziehen.
Es gab nur diese eine einzige Chance!
Nicht, sei still!

befahl sie ihrem Herz, das so laut in ihrer Brust zu donnern schien, dass es vielleicht sogar die Kreatur hören konnte und bei dieser erst recht das Jagdfieber geweckt wurde.
Flora warf einen ganz kurzen Blick hinter sich.
Nur noch wenige Schritte trennten sie von der Tür. Es war fast geschafft, doch ihre Beine waren plötzlich so weich, dass sie befürchte zu stürzen.
Als ihr Blick wieder zur Scheune wanderte, war das Tier verschwunden. Nur noch eine kleine Blutlache konnte sie erkennen, die den Schnee in tiefes Rot färbte.
Wo war der Wolf? Hatte er sie verschont?
Mit wild klopfendem Herz, das sie nun nicht mehr unter Kontrolle bringen konnte, sah sie sich um.
Plötzlich drang ein Knurren zu ihr, ganz nah an ihrem Ohr.
Flora wandte sich in diese Richtung.
Dort stand die gleiche Kreatur. Nein doch nicht. Die zweite dieser Bestien.
Letztendlich gaben ihre Knie unter dem Gewicht des Mädchens nach. Es hatte alles keinen Sinn mehr. Ihr Leben endete nicht auf dem Scheiterhaufen, unter Anordnung des Inquisitors, sondern hier, zerfleischt von diesen Bestien.
Der graue Wolf machte sich bereit. Er bleckte die Zähne seines gewaltigen Mauls, aus dem er ihr den nach tot stinkende Atem entgegen blies.
Plötzlich wirbelte feiner Schnee auf. Der Leib eines dunklen Wolfes warf das Mädchen um, während der Fang warnend an der Schnauze des anderen Tieres vorbei zielte.
Was hatte das zu bedeuten?
Flora sah vom Boden auf zu den wilden Bestien, die sich gegenseitig in ihre Schranken zu weißen versuchten.
Sie konnte nicht darüber nachdenken, sondern kroch der Tür entgegen. Doch da war der graue Wolf schon wieder vor ihr, während das andere Tier über ihren Körper sprang und mit gefletschten Zähnen da stand.
Sofort schrak das Mädchen zurück.
Sie zog sich nun auf dem Rücken durch den Schnee, während beide Wölfe langsam einen Schritt nach den Anderen taten, aber im sicheren Abstand zu dem Mädchen.
Was ging hier nur vor?

fragte Flora sich.
Vorsichtig richtete sich das Mädchen auf, während die Wölfe sie antrieben, wie ein Hund das Schaf.
Erschreckend war die Richtung.
Nicht nur weg von ihrem Heim, sondern hin zum düsteren Wald, indem der Schäfer sie als Baby gefunden hatte.
„Flora!“, drang eine Stimme durch die winterliche Nacht, die das Mädchen zum Straucheln brachte. Ihr Körper drängte sich an den Stamm eines der ersten Bäume, nicht Willens noch einen Schritt weiter zu tun.
Die Bestien folgten ihrem Beispiel und stoppten ihre Schritte. Ihre wachen Augen, richteten den Blicke hin zur Scheune, wo eine Meute aus Bauern, begleitet von den Männern des Inquisitors standen. Allen voran ein Junge, dessen Körper vor Angst zitterte aber bereit war, dass Mädchen zu beschützen.
Ein Speer sauste durch die Luft. Gut gezielt von einem der Männer des Inquisitors, dem der graue Wolf mit einem Sprung zur Seite bequem ausweichen konnte.
Flora sah auf die Waffe, die knapp neben ihren Füßen im festen Boden stecken geblieben war. Gefolgt wurde sie von einer Mistgabel, die weit über den Köpfen der Tiere entlang sauste und im Schnee aufkam.
Beide Wölfe fletschten die Zähne, während der dunkle dabei nach der Luft schnappte.
Flora wusste nicht Recht, ob sie Glück empfinden sollte. Selbst die beiden Bestien spürten, dass dieses Nacht für sie ein Ende hatte. Dass sie ihre Beute aufgeben und zurück in den dichten Wald mussten, wenn sie ihren kostbaren Pelz nicht als Jagdtrophäe abgeben wollten.
Ein weiterer Speer sauste auf die Bestien zu, dem die Tiere ebenfalls gekonnt ausweichen. Noch einmal warfen sie den Jägern ihre großen Köpfe entgegen, als wäre dies ein Zeichen, der Kampf sei noch nicht gewonnen, nur aufgeschoben. Dann sprangen ihre kräftigen Leiber dem Wald entgegen. Hinter ihnen her, hetzten ein paar der Jäger auf schnellen Pferden.
Das Donnern der Hufe übertönte sogar Floras Herzschlag, bis es langsam in der dunklen Nacht verhallte.
Zitternd sank das Kind auf ihre Knie in den Schnee hinein.
War es zu Ende? Tränen rannen über ihre Wangen. Sie würde gerne daran glauben, wenn die Männer nicht wären.
Neben der Jagd auf diese intelligenten Wölfe, ließen sie auch kein verräterisches Zeichen außer Acht, dass auf Anbetung der falschen Götter oder gar dem Praktizieren der Magie schließen ließ.
Zahllose Unschuldige waren ihnen schon in die Finger gefallen.
Ein Schicksal, vor dem das Mädchen noch mehr Angst hatte, als von den Bestien zerfleischt zu werden.
„Flora geht es dir gut?“ Sobald die Stimme des Jungen so nah an ihrem Ohr erklang, warf sie sich ihm schluchzend in die Arme.
Sie spürte nicht nur seinen warmen Körper nah an ihrem, auch seinen Atem auf ihrem Haar, bei jedem Wort, dass er sanft zu ihr sprach. Seine Arme fuhren ihr dabei tröstend über ihren Rücken, wie es das Mädchen oft tat, wenn er zu ihnen kam, nach einem Streit mit dem strengen Vater.
„Es ist alles wieder gut. Die Bestien sind weg. Ich bin bei dir.“
War es das? Flora vergrub ihr Gesicht tief in dem weichen Mantel des Jungen. Erst als sie ganz fest an die Worte glauben wollte, fiel ihr alles wieder ein und sie löste sich von ihm.
In einem feinen Dunstnebel verließ ihr Name seine Kehle.
Die Wangen waren vor Kälte gerötet, auf seinen Lippen lag ein aufmunterndes Lächeln. Die braunen Haare lagen unter einer Mütze verborgen, deren Wolle von ihren Schafen stammte.
Doch nichts war in Ordnung.
Wer wusste, wie viele ihrer Schafe die dunkle Bestie gerissen hatte. Flora sah den gewaltigen Leib des Tieres noch genau vor sich. Das dunkle Fell getränkt vom Blut der Beute.
Sie hörte wieder den Schrei ihres Vaters, der sie vom sicheren Haus weggelockt hatte.
Und sofort sprang das Mädchen auf.
Erneut rief der Junge ihren Namen. Diesmal lag darin eine Besorgnis, die sie nicht kannte aber er schien zu verstehen.
Sie spüre einen Arm um ihren Körper, der ihr Halt gab, als Flora drohte im tiefen Schnee zu stürzen. Erst auf der leichten Anhöhe, die zu ihrem Stall führte, war alles flacher. Hier hatte der Wind, wie auch auf dem Feld einiges davon weg geblasen. Hin zum Haus, oder dem Wald.
„Geht es dir gut, Kind?“, erkundigte sich einer der Bauern bei ihr. Doch statt zu antworten, drängte sie sich an den Männern vorbei.
Als erstes fielen ihr ein paar der Schafe auf, die der Bestie entkommen waren. Vielleicht hatten ja auch andere Glück, hoffte das Mädchen, während es das schwere Tor voll aufstieß.
Ein erstickter Laut des Entsetzens drang aus der Kehle einiger der Männer, ob Jäger oder einfacher Bauer.
Einer der Dorfbewohner wandte sich sogar von dem Bild ab und musste sich übergeben. Keiner von ihnen schien solch einen Anblick erwartet zu haben.
„Allmächtiger Herr“, drang es Fassungslos von einem der Männer. Sein Blick wanderte über die Leiber der gerissenen Tiere, deren Innerstes offen lag. Über die Wände ergoss sich ein Bild des Grauens, das Stroh auf dem Boden war Blutgetränkt. Scheinbar hatte die Bestie nicht nur seinen Hunger an den Tieren stillen wollen, sondern vorgehabt jedes einzelne von ihnen einfach nur zu töten.
Damit wurde die Legende um die Werwölfe nur noch genährt.
Mitten in diesem Bild aus Blut und Leid saß der Schäfer Bernhard, das Bein verdreht aber sonst scheinbar unverletzt.
Sofort eilte das Mädchen zu ihrem Vater, ohne dabei auf ihr Kleid zu achten, kniete sie sich zu ihm und betastete das Knie.
Der Schäfer verzog vor Schmerz das Gesicht. Neben ihm lag ein Schemel. Flora ahnte, was passiert war aber es beruhigte sie auch.
„Ich bin so froh, dass es dir gut geht“, rief er, durch seinen eigenen Schmerz hindurch. Er wollte ihr zartes Gesicht tätscheln, doch hielt inne, als sein Blick auf die blutige Handfläche viel. „Diese elenden Monster.“
„Bernhard, alter Freund!“ Ein Mann trat durch das Tor, den keiner der beiden je als Freund betiteln wollte. Sein Blick wanderte neugierig auf das, was von der Bestie angerichtet wurde. Im Gegensatz zu seinen Männern, wirkte der Inquisitor geradezu entzückt von diesem abscheulichen Grauen. „Der Wolf hat dich doch nicht etwa gebissen?“
Seine falsche Besorgnis wischte der Schäfer sofort hinfort.
„Es tut mir Leid, aber du wirst wohl jemand anderes für den Scheiterhaufen suchen müssen.“
Der Schäfer versuchte sich aufzurichten, knickte aber sofort unter Schmerzen ein.
„Die Bestien schienen kein Hunger auf das Fleisch eines alten Mannes zu haben. Ich bin in meinem Kampf gestolpert.“
Missgünstig schürzte der Inquisitor die Lippe. Als er jedoch auf das Mädchen schaute, erhellte sich sein Blick wieder. Der Mann fuhr mit den Fingern über seinen gepflegten Oberlippenbart.
„Und das Mädchen?“
„Vater“, drang die Stimme des Jungen zu ihnen. „Der Wolf hat sie nicht verletzt.“
Ein Fehler. Die Hand des Inquisitors sauste sofort auf seinen Sohn herab. Er hasste es, wenn dieser ihm öffentlich widersprach.
Flora tat der 15-Jährige leid.
Sein Vater wollte in der Öffentlichkeit, das Bild des ehrenwerten Inquisitors wahren und auch seinem Sohn diese Richtung vorgeben. Oftmals kam der Junge weinend zu ihnen, weil der Vater ihn gezüchtigt hatte oder etwas anderem ihm auf dem Herzen lag.
Sehnend, nach der Wärme von Flora und Bernhards Heim.
Der Inquisitor wandte sich von seinem Sohn ab, der jetzt starr auf den Boden starte, in Furcht vor erneuter Strafe.
„Ihr habt doch alle gesehen, wie die Wölfe sich in der Nähe des Hexengörs benahmen. Wer weiß, ob nicht sie die Bestien befehligte.“
Floras Augen weideten sich vor Schrecken, ebenso wie die von Viktor, als er wieder zu seinem Vater sah.
Das Verhalten dieser Bestien war eigenartig, selbst Flora wusste es nicht so recht zu deuten. Aber dass der Inquisitor solch eine Vermutung laut werden ließ.
„Jeder unserer Fallen entgehen diese Bestien. Sie sind intelligent und dürsten nach dem Blut ihrer Opfer. Es muss Hexerei gewesen sein, die diese Werwölfe zu uns geführt hat. Wie anders ist es zu erklären, dass sie dem Mädchen so nah gekommen sind, ohne sie zu verletzen, während viele unserer Kinder und Freunde schon von ihnen zerrissen wurden?“
Ängstlich drückte das Mädchen ihren Körper zu ihrem Vater hin.
Nein, das durfte nicht passieren. Flora hatte nie jemanden etwas getan oder war böse, die Unschuld in Person, wie der Schäfer oft sagte. Wie sein unschuldiges Weib, das ebenfalls der Hexerei angeklagt auf dem Scheiterhaufen endete.
So wie in dieser Nacht, versuchte der Inquisitor die Meute aufzustacheln. Während es damals gelang, widersprachen heute ein paar von ihnen.
„Sie ist nur ein Kind!“ Einer der Bauern trat aus der Masse heraus, aber unter dem strengen Blick des Inquisitors, wirkte er nicht wie ein großer, starker Bauer, sondern ein kleiner Diener. „Herr, seht doch nur was diese Bestien angerichtet haben. Es spricht wider jede Vernunft. Vielleicht war dieses Kind auch nur ein Opfer und wäre später im Wald zerfleischt worden.“
„Sie ist eine Hexenbrut!“, keifte der Inquisitor. „Sag Schäfer, woher stammt sie eigentlich. Von deiner Frau? Die starb noch vor der Geburt des Mädchens oder hatte der Teufel bei ihrer Zeugung seine Hände im Spiel?“
Ein finsteres Lächeln zog sich über das Gesicht des Mannes, in dessen Augen sie schon das Feuer des Scheiterhaufens aufblitzen sah. Zitternd verkroch sie sich in die Arme ihres Vaters.
„Sollte ich dieses Gör noch einmal im Dorf sehen oder…“ Er sah zu seinem Sohn herunter. In Viktors Nähe

, beendete Flora den Satz in ihren Gedanken. „Werde ich sie zusammen mit ihrem Vater auf den Scheiterhaufen brennen lassen.“
Damit wandte sich der Mann ab.
Viktor warf beiden noch einen kurzen, entschuldigenden Blick zu, bevor er seinem Vater gehorsam durch den Schnee folgte.
Mit ihm verschwand auch die Meute. Nur zwei Männer blieben zurück. Einer davon hatte für Flora Partei ergriffen und sie flehte innerlich, es würde dafür keine Strafe des furchtbaren Inquisitors zur Folge haben.
Sie halfen Bernhard, sich aufzurichten und in das Haus zurück.
Auch auf die Wölfe kamen sie, aber auch Bernhard zu sprechen. Flora schwieg aus Angst. Von ihrer Befürchtung, sie hätten das Mädchen in den Wald treiben wollen.
Ein Aussprechen dieser Vermutung kam der Bestätigung von Ignatius Worten gleich. Und dann könnte sie sich auch wünschen, die Wölfe hätten sie in dieser Nacht angegriffen.

In der letzten Nacht, war der Schäfer ungeschickt beim Kampf mit der Bestie über einen Schemel gestürzt. Sein Bein knickte dabei so ungünstig um, das es brach. Einer der Bauern hatte sein Versprechen gehalten und einen Arzt gerufen, Bernhards Verletzung versorgte.
Nun war es Floras Aufgabe dafür zu sorgen, dass ihr Vater sich schonte und das Bett nicht verließ, bis der Knochen zusammen gewachsen war. Das hieß auch, ihre Aufgabe war es, sich um die Schafe zu kümmern und das Grauen zu beseitigen, was in der letzten Nacht angerichtet wurde.
Wider dem väterlichen Befehl kam Viktor zu ihr. Mit einer Hacke mühte er sich ab das gefrorene Erdreich zu lockern, für einen Graben, in dem sie die Überreste ihrer Schafsherde begraben konnten, von der ihnen jetzt nicht einmal zehn Tiere blieben.
Flora richtete indessen, den übrigen Tieren einen Platz ein, damit sie diese nicht noch durch die eisige Kälte verloren. Alleine würde sie wahrscheinlich lange benötigen, ehe sie alles beseitigt hatte. Dabei musste sich das Mädchen dazu drängen, die Scheune mit all der Grausamkeit überhaupt zu betreten. Sie tat es. Jemand musste sich darum kümmern, wenn es ihr Vater schon nicht konnte.
Tränen rannen ihr über die Wangen, den Blick musste sie auf das richten, was sie tat.
„Soll ich es nicht lieber machen?“, bot ihr Viktor an. Aber er hatte mit dem störrischen Boden schon genug zu tun. Viktor war zwei Jahre älter als sie und besaß nicht annähernd so viel Kraft wie ein erwachsener Mann.
Doch letztendlich warf sie sich bei einer erneuten Frage, dem Freund weinend und zitternd in die Arme, als sie an die vergangene Nacht dachte. Diese gewaltigen Bestien.
Es war zu viel für das schwache Mädchen.
„Glaubst du an das, was dein Vater gesagt hat?“, schluchzte sie. „Die Wölfe sie drängten mich in den Wald. Es war furchtbar.“
Sanft wandere seine Hand über Floras Rücken.
„Manchmal frage ich mich, ob mein Vater noch klar bei Verstand ist“, antwortete der Junge. „Niemand weiß, wo die Bestien herkommen, oder was sie antreibt. Man muss sich nur eure Scheune ansehen, um die Vermutung zu äußern, es sei der blanke Wille zu töten. Es ist nicht deine Schuld, oder die eines anderen Bürgers. Und vielleicht ziehen diese Bestien auch bald weiter oder gehen einem der Jäger in die Falle.“
Viktor zog sie weiter in seine Umarmung hinein.
„Ich…“ Er stockte. Flora fühlte, wie sich sein Körper verkrampfte. Nur das Wieso blieb ihr verborgen. „Ich…“ Der Junge rang mit sich, bis die Worte seine Kehle herausdrangen. „Ich habe ein Geschenk für dich.“
Flora wollte zu ihm aufsehen, doch Viktor ließ es nicht zu. Er wollte nicht, dass sie ihn erröten sah, so hielt er die zitternde Hand nur vor sie, in der eine Kette lag.
Zarte Glieder umfassen sich und baten einem grünen Stein halt, in feines Silber gefasst.
„Nein!“ Entschieden erklang ihre Stimme, genauso fest wie das Kopfschütteln. Solch ein teures Geschenk konnte sie nie von dem Jungen annehmen, egal welch tiefe Freundschaft sie verband.
„Bitte Flora“, flehte er. „Nimm sie einfach.“
Zu einem weiteren Protest ließ er es nicht kommen. Er drückte ihr die Kett in die Hände und verließ dann fluchtartig den Platz Richtung Dorf.
Flora betrachtete sich das Schmuckstück, ohne überhaupt zu verstehen, was das zu bedeuten hatte.
Sie erinnerte sich an die roten Wangen des Jungen, die er sogleich verdeckte, bevor er sich abwandte, um sie zu verlassen. Hatte es vielleicht… Nein, sie verscheuchte den Gedanken.
Flora spürte, wie eine Wärme ihre Wangen erfüllte und die Kälte vertrieb.
Sie waren nur Freunde, nichts weiter. Und selbst das konnte gefährlich sein. Immerhin war dieser Junge der Sohn des Inquisitors. Flora wollte nicht daran denken, was sein Vater in solch einem Fall tun würde.
Sie verbarg die Kette in ihrem Kleid, bevor sie zurück ins Haus ging, um ihrem Vater die Suppe vom Vortag aufzuwärmen.

Viktor lief, so schnell ihn seine Beine trugen. Angetrieben von einer Hitze, die in letzter Zeit in ihm aufstieg, wann immer er an dieses Mädchen dachte.
Ihre zarte Haut, manchmal schmutzig von der Arbeit am Herd, im Stall oder auf dem Feld. Die feurigen Locken. Ihre faszinierenden aber auch gütigen Augen.
Sie bedeutete ihm so viel, genau wie Bernhard, bei dem er sich immer so wohl fühlte. Dabei hatte der Schäfer keinen einzigen Grund, ihn gut zu behandeln. Viktor war der Sohn des Mannes, der Bernhards liebe Frau auf den Scheiterhaufen gebracht hatte.
Und wofür? Viktor wusste nicht alles. Er wolle auch nicht wissen, was passierte, wenn die grauen Wolken des Hasses auf die Familie, das kleine Häuschen ganz verschlangen.
Für Viktor war nur klar, er musste Flora irgendwie beschützen. Vor seinem Vater und der Meute, die er wohl wie so oft aufwiegeln würde. Auch wenn er zu schwach war, sich gegen seinen Vater aufzulehnen, er musste irgendetwas tun.

Die blanke Klinge, blitzte im hellen Schein der Sonne auf. Sie wollte das nicht tun, doch was blieb ihr für eine andere Wahl?
Immer schon, hielt Bernhard das Mädchen von der Stadt fern. Aus Angst, sie könnte einem Dorfbewohner falsch auffallen, oder sogar dem Inquisitor. So wie seine geliebte Frau, der die schlimmsten Dinge angelastet wurden.
Jetzt konnte Bernhard nicht in die Stadt, um frische Lebensmittel einzukaufen.
Ihre Hand zitterte, als die Klinge des Messers, durch ihr rotes Haar fuhr. Flora tat es nicht gerne, aber sie sah auch keine andere Möglichkeit.
Die Worte des Inquisitors hingen noch schwer über dem Mädchen. Dass er sie hinrichten würde, wenn sie auch nur einen Schritt ins Dorf tat.
Ein weiterer Schnitt und noch mehr, bis es so kurz war, das keine der roten Strähnen unter ihrem Tuch hervor schauten. Ob Viktor sie so überhaupt wieder erkannte? Tränen benässten ihre Wangen, als sie ich im Spiegel betrachtete.
„Was hast du vor?“, erkundigte sich Bernhard, der im Bett saß und von der kleinen Kammer aus, in der sie eine Nische zum schlafen hatten, zu ihr blickte.
Flora hatte ihn nicht wecken wollen. Ihr Ziel war ein kleiner Korb.
Jetzt sah sie ihn bedrückt, geradezu schuldbewusst an.
„Wir brauchen frische Waren vom Markt“, drang es leise über ihre blassen Lippen. Ihr Körper zitterte immer noch, während sie diese Worte sagte. Genau wie ihr Vater, so hatte sie schreckliche Angst vor all dem, was ihr Ignatius und seine Männer antun könnten. „Ich versuche nicht aufzufallen.“ Flora zupfte sich noch einmal das Tuch zurecht, unter dem sich ihr störrisches rotes Haar versteckte.
„Sei vorsichtig“, bat sie der alte Schäfer.
Seine letzten Worte, bevor sie das Haus schweigend in Richtung Dorf verließ.
Früher erblühte der Markt vor Ständen, jetzt aber gab es nur noch wenige Läden, die das Mädchen aufsuchen konnte.
Seit Amtsantritt Ignatius’ wurden viele Bürger Opfer des religiösen Wahns, von Falschanschuldigungen oder sie flohen in Angst vor möglichen Strafen. Nur wenige blieben trotz Schicksalsschlägen so standhaft wie der Schäfer Bernhard, gegen den Ignatius einen privaten Feldzug führte.
Flora trat mit ihrem Korb zur Händlerin und diktierte der ihren Wunsch. Frisches Gemüse brauchten sie und Fleisch. Keines ihrer Schafe konnten sie dieses Jahr schlachten. Und wer wusste schon, ob die Wolle ihrer verbliebenen Tiere genug abwarfen, um alles wieder aufzubauen. Vielleicht müssten sie sogar einen Teil ihres Landes an den Inquisitor verkaufen, wenn dieser nicht auch einen anderen Weg fand, an dies zu gelangen.
Flora reichte der Händlerin das nötige Geld und wollte sich abwenden, als eine grobe Hand über das Tuch fuhr, unter dem sie ihr rotes Haar versteckte. Etwas später, blieb sie schwer darauf ruhen.
„Was für eine Freude“, drang es in einem Auflachen durch das Geschäft. „Welch seltene Erscheinung haben wir denn hier?“
Flora schrak zurück.
Die Hand vergrub sich im Stoff des Tuches und ehe sie überhaupt begriff, wurden die Reste ihres feurigen Haares offenbart.
„Ein schmutziges Ding“, presste er voller Abscheu hervor.
Floras Körper begann zu zittern. Wie letzte Nacht, so spürte sie auch jetzt ganz deutlich ihr Herz in der Brust schlagen, auch wenn sie diesmal keinem Wolf gegenüberstand, sondern einem anderen, furchtbaren Raubtier.
Dem Inquisitor, der von zwei seiner Männer begleitet wurde.
„Ich kann nicht verstehen, wieso es Viktor immer zu dir zieht. Vielleicht ist es ja Hexerei. Wir werden es sicher herausfinden.“ Ein vergnügtes Lächeln zog sich über die Lippen des Mannes. Es fehlte nur noch, dass aus seiner Kehle, ein wahnsinniges Lachen erklang.
Wenn jemand mit dem Teufel im Bunde stand, dann dieser Mann, dachte Flora grimmig bei sich.
Voller Freude genoss er es, das Blut Unschuldiger zu vergießen, sie in die brennende Hölle des Scheiterhaufens zu werfen.
Flora wollte so nicht enden. Und auch, wenn es nichts ändern würde, so versuchte das Mädchen doch in ihrer Panik zu flüchten.
Tränen rannen ihren Wangen entlang. Eigentlich müsste sie wissen, dass sich der Inquisitor diese Chance nicht entgehen ließ. Er würde sie jagen, ob er sie nun im Dorf erwischte, oder bei ihrem geliebten Vater. Beide würden gefangen genommen werden. Dann wurden sie zur Befragung gebracht, um mit Hilfe der furchtbarsten Instrumente die Wahrheit zu erfahren. Und am Ende wartete der Scheiterhaufen.
Flora rannte, so schnell sie ihre Beine trugen. Ihren Korb presste sie dabei, an die donnerte Brust. Zuerst sah sie die beiden nicht, erst nachdem sie mit einem Zwinkern die Tränen aus ihren Augen trieb.
Da war es schon zu spät.
Einer der Männer erfasste ihren Körper, um einen Sturz zu verhindern, doch ihr Korb entleerte sich vor den Füßen der beiden.
„Vorsichtig Mädchen“, tadelte sie der Mann.
Er war groß gewachsen und hatte einen wölfischen Blick an sich, der sie sofort zurücktreten ließ. Seine Haare waren schwarz, der Körper kräftig und sicher geübt im Umgang mit einem Schwert. Genau wie sein braunhaariger Begleiter.
Beide waren ihr unbekannt und musterten das Mädchen aus tiefen, dunklen Augen, vor denen sie noch mehr zurück schreckte.
„Gut, dass ihr diese elende Hexenbrut aufgehalten habt“, rief der Inquisitor mit strenger Stimme. „Diesem Mädchen wird zusammen mit ihrem Vater der Prozess gemacht. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was für Sünden sie begangen haben.“
„Das können wir uns sehr gut vorstellen“, rief der Schwarzhaarige, dessen Hand nach Flora griff, noch ehe Ignatius es tun konnte.
Nun verblieben ihr sämtliche Fluchtwege versperrt.
Mit einem Ruck zog der Mann Flora an sich. Doch sein Blick irritierte das Mädchen.
Seine Augenbrauen verzog er zu einem grimmigen Blick. Fast so wie ein Hund oder Wolf, der seine Beute verteidigte.
„Den Bauern in diesem Dorf scheinen die Weiber auszugehen“, höhnte sein Kamerad. „Jetzt müssen sie sich schon an unschuldigen Kindern vergreifen.“
„Georg“, knurrte der Schwarzhaarige dem anderen leise entgegen. „Hüte deine Zunge. Du weißt, wir dürfen niemanden gegen uns aufbringen. Aber das Mädchen können wir ihnen trotzdem nicht überlassen.“
Hatten sie ebenfalls Angst vor dem Inquisitor?
Flora sah auf, in das Gesicht des dunklen Mannes, der sich über die blanken Zähne leckte.
„Wie mein Freund schon andeuten ließ, werden wir euch das Mädchen nicht aushändigen“, sagte er mit Nachdruck und zog Flora fester in seine Arme. Seine Körperhaltung wirkte geduckt. Nicht unterwürfig, eher zum Sprung bereit, während sein Kamerad selbstsicher den Männern des Inquisitors entgegen blickte.
Diese legten ihre Hände drohend auf die Knäufe ihrer Schwerter. Es würde nur noch eine einzige Anweisung von Ignatius fehlen, bis sie diese ergriffen.
„Ihr wisst nicht, wer dieses Mädchen ist“, rief Ignatius. „Sie ist die Tochter einer Hexe. Ein Monster, dass wir den reinigenden Flammen opfern müssen.“
Wie im Wahn sprudelten die Worte aus der Kehle des Mannes. Und bei jedem davon, zuckte Floras Körper vor Angst zusammen.
Sie konnte sich nicht mehr beherrschen. Ihr zitternder Körper drückte sich dem Fremden entgegen, ihre Tränen rannen unaufhaltsam ihre Wangen entlang, und benässten den Stoff seines Hemdes.
„Währe sie eine Hexe, wieso verflucht sie euch dann nicht?“, entgegnete der Schwarzhaarige. „Oder beschwört den Teufel, um zu entkommen. Ihr habt nur ein Mädchen vor euch. Ein Kind, so unschuldig wie der zarte Morgen eines neuen Tages. Ihr werdet verstehen, dass wir sie euch nicht ausliefern, sondern mitnehmen.“
Flora wollte sich zu ihren Lebensmitteln herunterbeugen und wenigstens einen Teil davon retten, doch der Mann zog sie einfach mit sich.
„Bitte, mein Vater ist verletzt und wir brauchen neue Lebensmittel“, flehte sie.
„Lass es!“, wies er ihr streng an. „Und vergiss deinen Vater.“ Sein Blick wanderte zurück auf den Inquisitor, der seine Untergebenen zügelte, die ihnen schon hinterher eilen wollten.
Kurz darauf gab er den Befehl, das Haus des Schäfers aufzusuchen.
„Er ist nicht mehr zu retten“, verdeutliche ihr der Mann.
Wieso nur?

Flora schlug die Hände vor ihr Gesicht. Sie weinte bitterlich und schien in ihrer Schuld gefangen, den Vater ausgeliefert zu haben. Was hatten sie getan? Womit verdienten sie solch eine Strafe?

fragte sie sich dabei immer wieder.
Und selbst die zärtlichen Berührungen des Fremden wussten sie nicht zu beruhigen.

Dicke Schneeflocken fielen aus dunklen Wolken zur Erde. In dieser furchtbaren, Blut getränkten Nacht. Flora zitterte und sah sich den großen Wölfen gegenüber, die sie wie ein Hirtenhund das Schaf, in eine ganz bestimmte Richtung drängten.
Genau diese Szene ging ihr durch den Kopf. Während die Männer sie durch den Wald führten.
Ihr Körper war verkrampft. In gewaltigen Dampfstößen drang ihr Atem schwer aus der Kehle. Immer wenn sie langsamer wurde, schubste sie der Braunhaarige an, damit sie wieder schneller lief.
Ihre flehenden Bitten, sie mögen das Mädchen zum Vater bringen, blieb ungehört.
„Soll ich dich tragen?“, rief der Braunhaarige grob, dem ihr Widerwillen zu anstrengend war. „Lauf weiter, du hast ab jetzt kein Heim mehr.“
Hart, ohne Rücksicht auf das junge Mädchen. Anders als sein Kamerad, der zwar ernst aussah, aber lieber mit beruhigenden Worten zu ihr sprach.
Konrad lautete der Name des Schwarzhaarigen, der Braunhaarige hörte auf den Namen Georg.
„Wohin bringt ihr mich?“, wollte Flora mit zitternder Stimme wissen.
Ihr Blick richtete sich ängstlich nach vorne, wo der Wald dichter wurde. Viele Legenden rankten sich um diesen Teil de Waldes. Von einem Geisterschloss, obszönen Festen, die hier von Hexen abgehalten wurden und auch das die beiden Wölfe hier ihren Bau hatten.
Sie wollte nicht weitergehen.
Sie folgten einem Weg entlang, breit genug für eine Kutsche. Furchen von Rädern und frische Hufabdrücke zeugten davon, dass er auch heute noch dafür genutzt wurde, auch wenn sich Flora nicht vorstellen konnte, wer hier so abgeschieden lebte.
Es dauerte nicht lange und sie konnte eine hohe Mauer ausmachen, hinter der sich ein düsteres Gemäuer auftat. Wieder verkrampfte sich Floras Körper, der sich auch so bald dem drängen der Männer widersetzte.
Nein, sie wollte nicht dorthin.
„Sei unbesorgt, Mädchen“, rief Konrad ruhig. „Unser Herr wird dich gütig aufnehmen. Hier ist dir Schutz vor Ignatius’ Häschern gewiss. Keiner von ihnen traut sich nahe genug an das Haus unseres Herren heran.“
Raben stiegen mit einem elenden Krächzen von der Mauer auf. Verscheucht vom finsteren Bellen vieler Hunde, die ihren massigen Körper gegen das Tor stemmten.
Flora zählte drei, weitere hielten sich hinter der Mauer versteckt.
Sie erzitterte jedes Mal, wenn die Tiere gegen das Tor sprangen und es drohte aufzuspringen. Ein Szenario, das in ihrem Kopf anwuchs, auch wenn in der Realität, das Eisentor sicher auch ein durchgegangenes Pferd aufhalten würde.
Ein einziger strenger Blick der beiden Männer reichte. Schon wichen die Tiere in geduckte Haltung zurück, als hätten sie einen Schlag ereilt bekommen. Ihr Jaulen, wirke kläglich, der Schwanz eben noch hoch erhoben, war jetzt eingezogen zwischen den Beinen.
„Dumme Tiere“, knurrte Georg ihnen entgegen.
Konrads Hand lag schwer auf Floras Schulter. Eine Erinnerung, dass sie nicht einfach fliehen konnte. Es gab kein Zurück mehr für sie.
Der eiserne Schlüssel, den Georg mit sich führte, ließ das Schloss nur schwer aufspringen. Alles wirkte so alt und düster.
Flora wollte sich dagegen wehren. Sie wollte den beiden Männern nicht hinein folgen oder sogar ihren Herren begegnen. Konrad übte sofort Druck auf ihre schmalen Schultern aus.
„Diese dumme Gans sollte froh sein, dass wir sie vor dem Inquisitor beschützt haben“, beschwerte sich Georg. „Was will unser Herr von ihr?“
Konrad zuckte darauf ratlos mit den Schultern.
Was konnten seine Worte zu bedeuten haben? Flora überschritt die Schwelle ins Innere. Hinter ihr fiel die Tür zu. Ihr erschien jetzt alles wie eine Falle, in die sie geraten war.
„Konrad, Georg“, rief eine strenge Stimme. Nicht ihr Herr. Der ältere Mann wirkte blass und alt. Ein Diener gezehrt von den Jahren, die er schon unter seinem Herren diente.
Er wirke im Gegensatz zu den einschüchternden beiden Männern, trotzt seiner Strenge, eher klein und unbedeutend. Sein Haar war schon etwas lichter und wurde von grauen Strähnen durchzogen.
Langsam trat er vom zweiten Stock aus zu ihnen in die eindrucksvolle Eingangshalle. Als sein Blick auf Flora fiel, schien er das Mädchen abwertend zu mustern.
„Wer ist das?“ Der Mann stoppte kurz vor ihnen. Seine Hände wanderten an Floras Sachen und zupften diese prüfend, so als wäre sie nur irgendeine Ware. „Was für ein schmutziges Bauernmädchen habt ihr da aufgelesen. Benehmt ihr euch seit neusten auch wie Hunde, die irgendwelche Sachen anschleppen?“
Ein kehliges Knurren drang von Georg, der sich von dem alten Mann nichts gefallen lassen wollte.
Konrad streckte die Hand aus, um den Kameraden zurück zu halten.
Wie die beiden Wölfe, ging es Flora durch den Kopf.
In jener furchtbaren Nacht.
Der schwarze sprang auf den grauen zu, um diesen davon abzuhalten, Flora anzugreifen. Ein eigentlich verrückter Gedanke. Es waren Tiere, die nach Instinkt handelten, nicht überlegten.
Dennoch stellten sich beim Gedanken daran, die Härchen ihrer Arme auf. Flora fuhr mit ihren Händen darüber. Eine Geste die Konrad sofort auffing, aber falsch interpretierte. Obwohl, ein Funken Wahrheit war daran.
„Ist dir Kalt?“, erkundigte sich der Mann. „Komm an den Kamin und wärme dich auf.“
Kein wirkliches Angebot. Der Dunkelhaarige nahm ihr eine Antwort ab, indem er das Mädchen mit Leichtigkeit an diese Stelle schob.
Das Gemäuer wirkte von innen so alt und kühl, wie auch schon von außen.
Gemälde und Skulpturen an den Wänden zeugten von einem eindrucksvollen Vermögen des Besitzers, nicht aber von Gastfreundschaft. Vor dem knisternden Kamin war ein Bärenfell ausgebreitet, auf dem sich Konrad niederließ und sie zu sich bat.
„Unser Herr hat verlangt, dass wir dieses Mädchen zu ihm bringen.“
Flora wollte sich gerade zu ihm setzten, jetzt jedoch hielt sie inne. Ihr Blick wanderte dabei unschlüssig zu den Männern, von denen der Ältere die beiden Jüngeren genauso verwirrt ansah.
„Da habt ihr sicher etwas falsch verstanden, Konrad. Was soll unser Herr mit solch einem dummen Bauernkind anfangen. Noch nicht einmal ein ordentliches Mahl, wird sie ihm bereiten können.“
Flora spürte deutlich die Spannung zwischen den Männern. Ohne zu wissen, wen er nun abschätziger behandelte. Das junge Mädchen oder die beiden Männer, von denen einer, mit gesenktem Oberkörper vor ihm stand. Die Zähne blank gebleckt, fast wie ein Wolf, zum Angriff bereit.
„Wir tun nur, wie uns geheißen wird“, knurrte Georg. „Wenn es dir nicht gefällt, wende dich an unseren Herren. Und wenn du weiter meinst, uns ungestraft beleidigen zu können, regeln wir das gerne auf meine Art.“
Flora wollte nicht wissen, wie diese aussah.
Eine kräftige Hand griff nach ihr und zog das Mädchen zu sich auf das Fell.
„Georg“, rief er dabei beschwichtigend dem Kameraden zu. „Du solltest deine Differenzen anders beilegen und stattdessen die Fensterläden schließen. Und du…“ Er wandte sich an den älteren Mann. „Tu nicht so, als wärst du etwas Besseres als wir. Du stehst nur bedingt über uns, bist aber auch lediglich ein Diener. Weck unseren Herren und berichte ihm, dass wir Besuch mitgebracht haben.“

Der Diener kam der Aufforderung sofort aber mit missmutigem Blick nach. Flora sah ihm zu, wie er im langsamen im oberen Stockwerk verschwand.
Sie verstand das alles nicht.
Wieso wollte der Hausherr sie sehen? Und wieso sollte sie ihm kein ordentliches Mahl bereiten können? Ihr Vater lobte ihre Kochkünste.
Die beiden Männer, die ihr mit ihren wölfischen Gesten unheimlich waren, lachten über diese Fragen. Auch wenn Georg gestand, dass er sich sehr über ein Mahl aus ihren Händen freuen würde.
Konrad, der eher ruhiger war, schwieg und nahm ihr nach einer Weile den Mantel ab.
Auch wenn sie keinen von ihnen einzuschätzen vermochte, so fühlte sie sich dennoch im Schein des warmen Kamins sicher.
Wie hypnotisiert starrte sie auf das prasselnde Feuer, mit der stummen Frage nach ihrem Vater, den sie zurück lassen musste.
Hatte sie Bernhard ins Unglück gestürzt? Sie wäre jetzt noch viel lieber bei ihm, um ihr schmerzendes Herz zu beruhigen.
Schwere Schritte waren vom oberen Stockwerk zu vernehmen.
Flora wandte ihren Blick.
Im Augenwinkel sah sie die beiden Männer, wie sie demütig ihren Blick vor dem Mann senkten. Wieder verglich sie die beiden, mit Wölfen, in ihrer Art und Geste.
Von der Treppe aus, trat ein Mann zu ihnen im schweren Mantel, der zuerst die beiden Männer mit einem eher undefinierbaren Blick musterte. Eine stumme Geste, auf die sie wenige Schritte von Flora und dem wärmenden Feuer weg traten.
Das Mädchen schluckte hörbar und fühlte sich plötzlich so alleine unter dem Blick des Fremden.
Er war nicht hässlich, eher von einer eigenartigen Ausstrahlung begleitet. Finster wie ein Rabe. Mit eben solchen Gesichtszügen. Eine lange, leicht gebogene Nase. Sein Bart war dünn über der Oberlippe geformt, die er sich kurz benässte. Seine braunen Augen wirkten in seinem Gesicht eher klein und musterten Flora voller Interesse.
Auch wenn ihr die beiden wolfsähnlichen Männer mittlerweile ganz angenehm waren, so verursachte dieser Mann ihr eine eisige Gänsehaut.
„Lass dem Mädchen ein warmes Bad ein“, befahl er an seinen alten Diener gewandt, der eher gehofft hatte, die anderen beiden würden gerügt werden. Als nächstes wandte er sich auch an diese. „Nehmt eines der Pferde und reitet ins Dorf um unseren Gast saubere Kleidung zu kaufen.
„Bitte lasst mich gehen“, flehte Flora. „Ich muss zu meinem Vater.“
Der Fremde wandte sich an seine Untergebenen, von denen Konrad das Wort ergriff, um ihm alles genau zu erklären. Vom Inquisitor und dessen Vorhaben, dem Mädchen den Prozess zu machen.
„Wenn es so ist, kann niemand eurem Vater mehr helfen“, sagte der Mann mit einer solch ungerührten Stimme, als würde Eiswasser durch seine Ader fließen und kein warmes Blut.
Ein strenger Blick zu den beiden Männern, die sofort ihr Haupt neigten und dann wortlos das Haus verließen.
Flora hätte es gerne gesehen, wenn wenigstens Konrad hier geblieben wäre.
Mit seiner Hand griff der Hausherr nach dem Mädchen, das sofort ängstlich zurück wich. Dabei wollte er nur sanft ihre Wange berühren.
„Wie heißt du, Mädchen“, forderte er sie auf.
„Flora“, drang es gehorsam aus ihrer Kehle.
Sie wollte seinem Blick entkommen, in dem sie sich gefangen glaubte.
Wieder trat der Mann auf sie zu und diesmal wusste sie sich nicht abzuwenden, sondern blieb starr auf der Stelle stehen.
„Ängstige dich nicht Mädchen“, sprach er leise. „Du bist hier in Sicherheit. Niemand kann und wird dir etwas tun. Nicht einmal der Inquisitor. Mein Name ist August und ich habe schon deine Mutter gekannt.“
Mutter, dieses Wort sprach er so scharf aus, neugierig auf die Reaktion des Mädchens.
„Meine Mutter?“ Flora schien sich verhört zu haben. Gab es denn wirklich jemanden, der sie gekannt hatte? Etwas tief in ihr wuchs immer mehr an. So groß, dass sogar ihre Furcht verdrängt wurde.
Die Sehnsucht nach ihrer Herkunft. Ein Geheimnis, dass ihr bisher verborgen blieb.
„Ja.“ August nickte. „Deine Mutter war einst meine Dienerin. Ihr Haar war von genau dem gleichen Rot wie deines. Ihre Augen waren geheimnisvoll wie die einer Katze, nicht so klar wie deine, Kind. Das letzte Mal sah ich sie hier in diesem Dorf. Der Inquisitor ertränkte sie wie einen räudigen Köter. Es war ihre Wahl und ich konnte nichts mehr für sie tun.“
Viktors Vater hatte ihre Mutter ermordet? Diese Erkenntnis hing über ihr, wie ein Richtbeil.
Sie hatte in Erwägung gezogen – nein es war wahrscheinlich, dass ihre Mutter eines der Opfer des Inquisitors war. Dennoch verdrängte Flora diesen Gedanken gerne.
Ihn jetzt so deutlich zu hören, schmerzte sie. Auch wenn sie es nicht verstand.
Ignatius brachte die Menschen auf den Scheiterhaufen, dass er ihre Mutter ertränkt haben sollte, war untypisch für ihn.
„Sie verriet mich, mit ihrer Flucht zu deinem Vater, einem einfachen Bauern. Dabei war sie für viel Wichtigeres vorgesehen. Ihr edles Blut war zu wertvoll, um sich mit einem Bauern zu vermischen.“
Für vieles, was der Mann sagte, brauchte sie eine Weile, bis sie verstand. Was und wie er es meinte, auch wenn es noch nicht jede Frage beantwortete.
Wieso ausgerechnet sie zu Bernhard kam, wenn der Inquisitor sie doch zusammen mit ihren Eltern vernichten konnte. Doch die Antwort kannte August ebenfalls.
„Deine Mutter war eine mächtige Hexe. Sie hätte den Inquisitor damals einfach töten können, doch sie versprach deinen Vater, ihre Kräfte nie wieder einzusetzen.“ Ein Grinsen zog sich über das Gesicht des Mannes.
Flora wusste nicht zu sagen, ob ihn diese Tatsache erfreute, oder es andere Gründe hatte.
„Nicht einmal, als ihr geliebter Mann, vor ihren Augen erschlagen wurde und sie ihr Ende im Wasser fand. Was für eine Verschwendung.“
Vielleicht… Ja vielleicht hatte der Mann gehofft, ihre Mutter würde ihren Schwur noch brechen, sich los sagen von der Existenz einer einfachen Bäuerin, ging es Flora durch den Kopf. Wenn es so etwas wie Hexerei wirklich gab.
Für das Mädchen stand fest, dass alles nur Aberglaube war, sonst nichts.
Ihre Mutter war keine Hexe oder ähnliches. Dennoch lauschte sie weiter neugierig den Worten des Mannes.
Aufgrund des Tagesanbruchs, musste ich mich leider zurückziehen, noch ehe ich ihr Kind – dich – an mich nehmen konnte. Danach verschwand deine Spur. Die ersten Jahre hat der Schäfer dich gut von allem abgeschottet, wohl aus Angst vor dem Inquisitor. Aber alles Weitere kann wohl nur dieser Wahnsinnige beantworten. Vielleicht können meine beiden Untergebenen etwas in der Stadt in Auskunft bringen, wie es um deinen Ziehvater steht. Ich bin mir sicher, er würde wollen, dass du in Sicherheit bist, Kind.“
Floras Beine gaben unter ihr nach, als sie versuchte das zu verarbeiten.
All dies schreckliche, was ihr August offenbarte. Über ihre Eltern und wie sie starben.
„Kind, hast du dich je in deinem Leben, an der Feuerstelle verbrannt?“
Sie schüttelte den Kopf.
Ihr Vater hatte sie immer beschützt und von allem fern gehalten, an dem sie sich verletzten konnte. Und später auch beim Kochen, war sie vorsichtig.
Was August jetzt tat, darauf hätte sie sich in ihrem ganzen bisherigen Leben nie vorbereiten können.
Er packte das junge Mädchen an den Armen, hievte es in die Höhe, nur um Flora dann zum Kamin zu stoßen.
Sie stöhnte auf, beim Sturz auf den Steinboden.
Was hatte dieser Mann nun vor?

fragte sie sich noch, da ergriff er ihre Hand auch schon wieder und zog das Mädchen mit sich, das nicht gegen den fast übermenschlich starken Mann ankam. Selbst ihre Fingernägel, die sich in seine Haut gruben und ihre roten Spuren hinterließen, beeindruckten ihn nicht.
Hilflos sah sie mit an, wie der Mann sie weiter zum Kamin zog und ihre zarte Hand hinein ins Feuer hielt.
Der widerlich, beißende Gestank von verbranntem Fleisch stieg ihr in die Nase. Doch es war nicht ihr zitternder Körper, von dem die Flammen zehrten. Sie spürte lediglich eine angenehme Wärme, die ihre Hand entlang wanderte. Noch lange, als August seine wieder hinaus gezogen hatte, die er sich jetzt übersät mit Brandblasen ansah.
Floras Augen waren geweitet auf dieses Schauspiel gerichtet.
Das Feuer taste um ihre Hand entlang, ein Stück den Arm hinauf, aus dem Kamin, nur speisend von ihrer Kleidung, nicht aber dem Fleisch, das darunter verborgen war.
„Wie ist das möglich?“, drang es erstaunt aus ihrer Kehle.
„Es ist dein Element, Kind“, rief der Mann. „Bleib bei mir und ich werde dich lehren, das Feuer zu beherrschen.“
„Nein!“, rief das Mädchen bestimmt. Sie zog ihre Hand zurück und zur gleichen Zeit erlosch auch das Feuer im Kamin, als hätte es ihr Körper aufgesogen. Nur noch ein angenehm, wärmendes Gefühl blieb in ihrem Inneren zurück.
„Du hast keine Wahl“, rief er zu ihr. „Die Menschen werden dich nicht akzeptieren, wenn sie dein Geheimnis erfahren. Nur hier bist du sicher.“
Angetan, betrachtete sich der Mann die Brandblasen auf seiner Haut.
Tat es nicht weh

, fragte sich Flora. Und als hätte sie die Frage laut ausgesprochen, antwortete ihr das dunkle Gegenüber.
„In ein paar Tagen ist es verheilt.“
Wieder bildete sich Lächeln auf seinen Lippen, bei dem er sogar die Zähne offenbarte.
Jetzt glaubte Flora ganz ihren Verstand zu verlieren.
Große Reißzähne prangten am Oberkiefer, gefährlich wie bei einem Raubtier. Vampir ging es ihr durch den Kopf.
Aber das war nicht möglich. So etwas gab es nicht, genauso wenig wie echte Hexen.
Hexen.

Ein Wort, das durch ihren Kopf hallte.
War sie tatsächlich solch eine Kreatur? Eine Hexe, wie auch ihre Mutter. Das konnte nicht sein. Das musste ein Alptraum sein. Oder sie war gerade dabei ihren Verstand zu verlieren.

Etwas später, August hatte ihr ein Zimmer in seinem Haus zugewiesen, das über ein eigenes Bad verfügte, stand sie vor einem großen Spiegel und betrachtete sich in dem vornehmen Kleid.
Konrad musste es ihr ausgesucht haben. Georg wirkte nicht so interessiert an dem Mädchen, wie dieser Mann, der schon den ganzen Tag versuchte sich sanft an sie heran zu tasten.
Es war von leuchtend gelber Farbe wie die Sonne. Viel zu edel für das Mädchen, das schon immer in schlichte Sachen gekleidet war.
Ihre Hand griff fast automatisch in ihre Tasche, wo sie schnell fündig wurde und einen kleinen Gegenstand herausholte. Eine silberne Kette, mit einem wunderhübschen, grünen Stein. Womöglich ein Smaragd.
Flora hielt ihn vor sich und musste an Viktor denken. Ihren Freund. Was er jetzt wohl tat und was er sagen würde, könnte er sie so sehen?
Einen Moment haderte das Mädchen mit sich, tat den Stein aber letztendlich um.

Bei jedem Schrei des Mannes, der hier vor ihnen lag und unter dem zufriedenen Auge seines Vaters bis nah an die Besinnungslosigkeit getrieben wurde – wann immer er die schmale Grenze überschritt, wussten die Männer ihn zurück zu holen –, war es Viktor, als würde er dort liegen.
Er wünschte sich sogar, einen Teil seiner Schmerzen übernehmen zu können, oder ihn davor zu bewahren.
Schon in frühster Kindheit nahm der Junge an der Beweiserbringung Teil, wie es die Leute hier so harmlos ausdrückten. Noch nie hatte es ihn so geschmerzt, wie an diesem Tag. Aber bisher lag auch noch nie ein so vertrauter – geliebter – Mensch hier vor ihm.
Wusste sein Vater, wie ihn das quälte. Oder war es sogar die Strafe dafür, dass er so oft es ging Bernhards Haus aufsuchte, um den Schäfer zu sehen, oder Flora.
Viktor schwieg, das hatte er in den ganzen Jahren gelernt, ruhig zu sein und alles an sich vorbei ziehen zu lassen. Die Düsternis dieses Raumes, mit all seinen Schrecken, Geräuschen und Gerüchen.
Ganz früher glaubte er sogar an das, was sein Vater tat. Dass diese Menschen Sünder waren und nichts anderes verdient hatten. Bis er diese beiden Leute traf und sie ihn eines Besseren belehrten.
Wie froh Viktor war, dass wenigstens Flora verschwunden blieb. Er wollte auch nicht noch sie so verlieren. Gepeinigt vom Schmerz in dieser Kammer, später dann oben auf dem Scheiterhaufen.
Knochen knackten unter dem Zug der Streckbank.
Der Junge wandte seinen Kopf von all dem ab, wurde aber sofort von seinem Vater gerügt.
Viktor mochte nicht daran denken, was noch kommen würde.
Im Feuer lag eine glühende Zange. Der Junge hätte beinah selbst geschrieen, als auch noch diese eingesetzt wurde. Jetzt war auch der Schäfer am Ende, der Ignatius Fragen ganz zu dessen Zufriedenheit beantwortet.
Was er zugab, über sich und seine geliebte, unschuldige Tochter, war einfach furchtbar.
Viktor presste sich die Hand auf den Mund. Mühsam versuchte er den Würgereflex zu unterdrücken. In der Luft lag der Ekel erregende Geruch, nach verbranntem menschlichem Fleisch.
Wie sehr er seinen eigenen Vater in diesem Moment verachtete, sogar hasste, während dieser sich am Leid des armen Mannes ergötzte. Der Junge hatte keine Worte mehr dafür. Er wünschte dem Mann nur, es würde alles ein schnelles Ende haben. Das all die Qualen überstanden waren und das Flora niemals hierher zurück fand. Nicht dass sie auch noch diese Hölle erleiden musste. Das hätte Viktor nie ertragen können.
Nicht nach der Schuld, die er sich selbst hierfür gab.

„Herr.“ Konrad betrat wie immer in Demut sein Arbeitszimmer. Entschuldigend, für diese Störung.
Ein braver Hund, der seinem Herren loyal diente. Dennoch war er es, der sich am Meisten zu dem Mädchen hingezogen fühlte. Sie unterhielt und mit kleinen Geschenken versuchte aufzuheitern.
Georg war das Kind egal, während sein einziger menschlicher Diener, das Bauernkind zu verachten schien.
Was Flora betraf, da wusste August einfach nicht weiter.
Im Gegensatz zu ihrer Mutter, für die solche Worte wie Mitleid, Güte, Zuneigung, Liebe und vieles weitere Menschliche erst an Bedeutung gewann, als dieser Bauer in ihr Leben trat, wuchs Flora in den Armen eines liebenden Vaters auf. Um diesen Trauerte sie so sehr, dass sie kaum noch etwas zu sich nahm. Ganz anders als seine in Hass auf die Menschen gezeichnete Dienerin.
Aber alles konnte man ändern.
Es musste einen Weg geben, selbst dieses unschuldige Geschöpf zu verderben. Ihr Herz mit Bosheit und Hass anzufüllen, um das vernichtende Feuer in ihren Adern ganz zu wecken.
Diesen Weg würde ihm unwissentlich Ignatius bereiten.
„Wann findet die Hinrichtung statt?“, verlangte August zu erfahren.
Der Diener zögerte, wissend darum, was sein Herr plante. Ein Kummer, den er dem Mädchen gerne erspart hätte.
„Morgen Abend“, antwortete er erst, nach einem strengen Blick des Unsterblichen.
„Perfekt.“ August entblößte in einem breiten Grinsen seine Reißzähne. „Bereite alles für morgen vor.“
Ehe der Mann vor ihm einen Wort des Protestes von sich geben konnte, wandte sich August von ihm ab, dem Fenster zu. Ein Zeichen, dass das Gespräch beendet war.
Wie das Mädchen wohl reagieren würde, wenn ihr der geliebte Vater genommen wurde? Wer solle ihr dann noch die Güte der Menschen nah bringen?

„Wohin wollt ihr mit mir?“ Flora reifte langsam zur Frau, besaß aber immer noch die Unschuld und Neugier eines kleinen Kindes.
Behutsam legte er ihr den dunklen Mantel über die schmalen Schultern.
„Ich möchte in die Stadt, mein Kind“, antwortete er. „Du begleitest mich, weil ich dachte, du würdest diesen Schäfer gerne noch ein letztes Mal sehen.“
Flora zog sich langsam von ihm zurück. Sie begriff, was diese Worte zu bedeuten hatten. Ungefähr zeitgleich blickte sie mit der stummen Frage, wieso er ihr nichts davon berichtet hatte, zu Konrad.
Sie schien zu dem Mann Vertrauen gefasst zu haben und einen Moment wog August ab, in wie weit es seine Ausbildung für das Mädchen beeinflussen könnte. Sie sollte sich nur auf ihn allein konzentrieren. Er war es, dem sie unbedingte Treue geloben musste.
Andererseits, könnte das Vertrauen zu dem Diener sie auch für alles weitere öffnen. Auf alle Fälle musste er gut über alles wachen.
Das Mädchen rang mit sich, nicht sofort in Tränen los zu brechen. Die ganze Zeit hatte sie schon Angst um ihren Ziehvater, die jetzt zur harten Gewissheit wurde.
Flehend sah sie zu August auf. Ehe sie auch nur die Frage stellen konnte, schüttelte er auch schon den Kopf, ohne dem Mädchen einen Funken Mitleid zu schenken.
Sicher hätte er den Schäfer befreien können, um ihr damit auch ein friedliches Leben zu schenken. Doch viel mehr sehnte er sich die Macht wieder zu besitzen, die er schon einmal an einen Menschen verloren hatte. Die wie er hoffte, bald das Dorf in ein rasendes Meer aus Rache stürzen würde.
Vorsichtig öffnete er seine Hand vor dem Mädchen, in der er bis eben einen Ring verborgen hielt.
In dem unscheinbaren, matt glänzend goldenen Ring war ein Rubin eingefasst. Ein einzigartiges Stück, mit eigenartiger Anziehungskraft und einem nützlichen Zauber, den Flora sofort spürte, nachdem sie ihn sich auf einen ihrer Finger steckte.
Das viel zu kurz geratene Haar in leuchtendem Rot, ermattete langsam, bis es die Farbe eines dunklen Brauntons angenommen hatte. Die wundervoll, zarten Gesichtszüge, die Flora schon jetzt eine einzigartige Schönheit verliehen, wurden einfach, fast schon langweilig. Auch die faszinierend grünen Augen wandelten ihre Farbe, so dass dieses Mädchen keine einzige Ähnlichkeit mehr mit dem Hexenkind besaß, dass vom Inquisitor gesucht wurde.
Flora begriff die Wandlung erst, nachdem August sie zu einem der großen Spiegel führte.
Mit einer Mischung aus Angst und Faszination betrachtete sie sich das Spiegelbild. Prüfend fuhr sie sogar über die Oberfläche, um sich zu vergewissern, das alles real war. Kein Bild, vor dem sie Stand.
„Eine Illusion“, antwortete August auf ihre vielen, stummen bleibenden Fragen. „Es wird niemand durchschauen aber auch verhindern, dass dich jemand erkennt.“
Ihre Finger wanderten wieder zu dem Ring, um ihn abzustreifen. Sie war nicht mit der Angst vor Magie aufgewachsen. Eher mit der Lebensanschauung, all diese Dinge würden nicht existieren.
Vielleicht sah sie es auch als einen Alptraum an.
Eine Ansicht, die sie bald ablegen würde.
„Er hat einst deiner Mutter gehört“, sprach August ruhig auf sie ein. „Er wird dir ein guter Schutz vor Ignatius sein. Oder willst du, dass dich seine Häscher gefangen nehmen.“
Ängstlich schüttelte sie den Kopf.
Eine Angst, die sie auf den Weg ins Dorf verstummen ließ. Sie rutschte sogar näher an Konrad, als ihre Kutsche langsam in die Stadt rollte, hin zum Gerichtsgebäude, vor dem das Holz für den Scheiterhaufen aufgetürmt lag.
Eine ganze Meute hatte sich schon lange vor dem eigentlichen Schauspiel versammelt, den sie beiwohnen wollten.
Zitternd drücke sich Flora Konrad in die Arme. Es war nicht alleine die Angst, um den geliebten Ziehvater, die dieses zarte Ding zu erdrücken schien. Vielmehr Ignatius Symbol der religiösen Reinigung.
Eine wie August fand, lachhafte Angst. Sie, deren Blutlinie im Feuer erschaffen wurde, fürchtete einen Tod in solchen Flammen.
Schon bevor der Schäfer auf den Scheiterhaufen geführt wurde, wanderte Floras Blick über die Menge hinweg, hoch zu einem Balkon, ganz nah am Schauspiel, von dem aus der Inquisitor alles genau betrachten konnte. An seiner Seite, der ganze Stolz des Mannes. Ein 15-jähirger Junge, den er schon als sein Nachfolger wähnte.
Tränen stiegen in ihre Augen, je näher die Zeit rückte, zu der Ignatius seinen Befehl geben würde, das Holz zu entzünden.
Immer wieder wanderte ihr Blick dabei zwischen dem Scheiterhaufen und eben diesem Balkon hin und her.
Flehte sie darum, der Inquisitor würde zu verstand kommen?
Diese Bitte würde Ignatius niemals erfüllen, der mit zufriedenem Blick auf den gebrochenen Mann herunter sah. Der große Schäfer wurde nur von den festen Seilen gehalten, mit denen er an den Pfahl gebunden war.
Eine ergreifende Rede über tugendhaft und ihren großen Kampf gegen das Böse, drang vom Balkon, zu der jubelnden Menge, während in ihrem Inneren, das junge Mädchen kläglich weinte.
Einer der Männer des Inquisitors trat mit seiner Fackel zu dem Holz, das zum Teil mit Stroh und anderen Materialien versehen war, damit das Feuer schnell den Verurteilten erreichte.
Es dauerte auch nicht lange. Kurz nachdem es entzündet wurde, klangen auch schon die Schmerzensschreie zu ihnen.
Flora wollte aufschreien, doch Konrad presste ihr seine große Hand fest auf den Mund. Sie durfte sich nicht verraten. Es war zu gefährlich, wenn auch noch die Tochter, in die Hände des Inquisitors viel.
Mit aufgerissenen Augen starrte das Mädchen über die Menge hinweg, zu dem Mann der für sie zu einem Vater geworden war und jetzt von Schmerzen gepeinigt ohne Möglichkeit zu entkommen im Feuer stand, während die Flammen vom Holz und dem Fleisch des Mannes zehrten.
Der Menge an Schaulustigen bejubelte alles, keiner schien Mitleid mit dem Mann zu haben. Für sie schien er das Monster, zu dem der Inquisitor ihn gemacht hatte, kein liebender Vater, dessen Tochter in der Menge bitterlich um ihn weinte.
Konrad schloss seine Arme um sie. Er zwang das Mädchen den Blick von diesem Bild abzuwenden.
August wollte schon anweisen, ihr fern zu bleiben, aber der Diener war es, der seinen Herren mit einem einzigen Blick rügte.
Vielleicht hatte er sogar Recht.
Sie sollten wieder zum Haus zurückkehren. Das Mädchen besaß nichts mehr, was sie an dieses Dorf fesselte.
Konrad drängte zum gehen, doch das Mädchen wandte ihren Blick noch einmal zum Balkon hinauf, auf dem Ignatius mit seinen Gästen stand. Oder war es gar nicht der Inquisitor, dem dieser Blick galt?
Der Junge an seine Seite wirkte angewidert von all dem, was sich zu seinen Füßen abspiele. Es dauerte auch nicht lange und er zog sich vom Balkon zurück. Kurz vorher schien sich der Blick der beiden Kinder zu kreuzen.
Floras Hand griff zu ihrer Brust, wo sie einen silbernen Anhänger trug, mit einem wunderschönen Smaragd.
Auch wenn sie es vielleicht hoffte, der Junge konnte sie in dieser Gestalt nicht erkennen.
August rief Georg zu sich.
„Geh und bring mir den Sohn des Inquisitors“, flüsterte er dem Diener so leise ins Ohr, das kein weiterer, schon gar nicht Flora es gehört haben könnte. „Krümm ihm aber kein Haar, ich will mit ihm sprechen.“
Georg nickte seinem Herren kurz gehorsam zu, ehe er davon eilte.
Konrad war das alles nicht geheuer. Fragend schaute er zu dem Unsterblichen. Aber der sollte sich gefälligst um Flora kümmern, die ihr Gesicht weinend in seinen Mantel drückte.
Eine Hexe und der Sohn des berühmten Inquisitors, was für ein komisches Paar.

Es war ein grauenvolles Schauspiel, dem Menschen zujubelten. Dabei wollte er nichts davon hören. Weder die Schreie des Mannes, in seiner endlos wirkenden Qual. Noch die Worte der Menschen, die wirklich an eine Reinigung von einem Untergebenen des Teufels glaubten, wie es ihnen Ignatius weisgemacht hatte.
Sein Vater stand hier zusammen mit ihm auf dem Balkon und wirkte angetan von dem Spektakel, dem Leiden des Mannes, bis dieser letztendlich verstummte. Jetzt erzählte er einigen seiner Gäste, darunter auch der Bürgermeister mit samt seiner Familie, die er zu sich eingeladen hatte, von den schrecklichen Taten des Mannes.
Alles erlogen und doch in den Tagen vor seinem Tod in einem noch schrecklicherem Martyrium gestanden. Auch von Flora sprach er, die bis heute verschwunden blieb.
Viktor wandte sein Blick von all dem ab, dass er seit seiner Geburt mit ansehen musste.
Schmerzlich erinnerte er sich an die ganze schöne Zeit mit den Beiden. Von ihrem ersten Kennen lernen an.
Er war damals noch ganz unter der Kontrolle seines Vaters und glaubte jedes Wort, was dieser sagte.
Flora war noch so jung und ihm kam ihr Verhalten befremdlich vor. Wie das Mädchen im Wald nach Kräutern und Pilzen suchte, hielt er erst für ein Zeichen von Hexerei.
Dennoch konnte er seinen Blick nicht von dieser lieblichen Erscheinung abwenden, die erst als er sich durch das Knacken von Ästen unter seinen Schritten verriet, ängstlich vor ihrem Besucher davon schreckte.
Das Mädchen war so schnell verschwunden. Viktor wusste nicht, ob er die Begegnung nur geträumt hatte. Die nächsten Tage suchte er die Stelle immer wieder auf, ohne Erfolg zu haben. Doch er traf sie wieder.
Diesmal wich sie nicht zurück, sondern begrüßte sie mit so viel Neugier, wie auch er. Sie besaß schon damals dieses warme Lächeln und den wundervollen Blick, die ihn bis heute faszinierten.
Ihr warmer Charakter war so angenehm, im Gegensatz zum strengen Vater zuhause.
Seit dieser Zeit ertrug er es auch kaum noch, mit seinem Vater unter einem Dach zu leben, der so viele unschuldige Seelen auf den Scheiterhaufen gebracht hatte. Darunter auch Bernhards Frau.
Genau wie jetzt den Mann selbst.
War es Viktors Schuld? Weil er sich zu der Familie hingezogen fühlte, besonders Flora.
Sein Vater hatte es schon immer mit Argwohn betrachtetet, sogar mit Verboten oder Androhung von Strafe verhindern wollen. Schürte das seine Wut, bis er zu diesem Mittel griff?

fragte sich Viktor immer wieder.
Nein.
Der Hass wuchs schon viel früher. Und vielleicht lag es auch an dem großen, fruchtbaren Boden, der dem Schäfer gehörte und er als Weide für seine Schafe nutzte. Jetzt nach dessen Verurteilung und Hinrichtung viel alles dem Inquisitor zu. Dafür hatte er schon nach dem ersten Tag gesorgt.
Viktor wandte sich von all dem ab.
Er ertrug es einfach nicht mehr. Die an Wahnsinn grenzenden Worte des Vaters, über die so wundervollen Menschen, bei denen Viktor ein zweites Heim fand. Die jubelnde Masse. Der Gestank nach Feuer und verbranntem Fleisch.
Es widerte ihn alles an.
Noch einmal ließ Viktor seinen Blick über die Leute schweifen.
Eine keine Gruppe viel ihm dabei auf. Keiner von ihnen war aus dem Dorf. Vielleicht bewohnten sie ja ein Haus in der Nähe.
Der große Mann jagte mit seinem Blick sogar dem Sohn des Inquisitors einen eisigen Schauer über den Rücken. Er war gut gekleidet. Kein einfacher Bürger, wie die Leute um ihn herum. In seiner Begleitung waren zwei Männer. Beide sehr kräftig. Diener vielleicht, die ihn beschützen sollten.
In den Armen des schwarzhaarigen Dieners lag ein junges Mädchen, ungefähr in Floras Alter. Ihr Kleid wirkte genauso edel wie das des Mannes. Wahrscheinlich dessen Tochter.
Das Mädchen wischte sich die Tränen am Mantel ab.
Wenigstens ein Mensch auf diesem Platz, der nicht an das glaubte, was Ignatius sagte und Mitleid mit dem armen Mann hatte, dessen Hinrichtung sie beiwohnte.
Einen Moment kreuzten sich ihre Blicke und Viktor schien darin gefangen. Ein warmes Gefühl durchzog ihn, wie so oft bei Flora. Dabei hatte das Mädchen, das ihn anstarrte und dessen Hand auf ihrer Brust ruhte, keinerlei Ähnlichkeit mit dem liebreizenden Mädchen, das er so gerne hatte, sogar liebte, wie ihm erst spät bewusst geworden war.
Viktor schüttelte das Gefühl ab, aber ohne die Gedanken an Flora dabei zu verdrängen.
Er brauchte frische Luft.
Gegen die Anordnung seines Vaters verließ er den Balkon und auch das Haus, in dem später noch ein kleines Dinner veranstaltetet werden würde.
Er konnte das nicht verstehen, wieso dieses Schauspiel ihnen nicht die Lust an Essen und Fröhlichkeit nahm wie ihm.
Erst in einer kleinen Gasse blieb Viktor stehen.
Der Qualm vom Scheiterhaufen wurde nicht hierher getrieben, so dass er fast sehnsüchtig die klare Luft der eisigen Nacht einatmete.
Hier war es auch, wo er seinen Gefühlen Platz bieten konnte.
Viktor ließ sich an einer der Hauswände hinunter in den Schnee sinken. Heiße Tränen stürzten seine Augen in eine Flut der Trauer.
Er verfluche seinen Vater für all das was er dieser Familie antat und damit auch ihm, der so viel Zuneigung für beide empfand. Noch schlimmer war die Gewissheit, dass er Flora vielleicht nie wieder sehen würde.
Seine Hand ballte sich zu einer Faust, die er auf den harten Steinboden niederschlagen ließ. Nichts davon war so schlimm, wie der Schmerz in seiner Brust. Über die Unfähigkeit nichts für beide tun zu können.
Nichts für Bernhard und auch nichts für Flora.
„Junge“, drang es aus der dunklen Nacht zu ihm.
Viktor rührte sich nicht. Es war ihm egal, wer dieser Mann war, oder was er von ihm wollte. Alles in ihm sehnte sich nach Ruhe und Einsamkeit.
„Du bist doch der Junges des Inquisitor Ignatius?“, wolle der Mann wissen.
Wieder machte Viktor keine Anstalten sich zu rühren oder zu dem Fremden aufzuschauen. Mit seiner Hand wischte er die Tränen weg, die bei jedem weiteren Gedanken an Flora nur stärker wurden.
„Ich wolle dich bitten, mir zu folgen“, sagte der Fremde. „Mein Herr, würde sich gerne mit dir Unterhalten, Junge. Es geht um ein Mädchen. Flora heißt sie.“
„Flora“, drang es erstickt aus seiner Kehle. Hatte er sich verhört?
Nun sah er doch zu dem Mann auf. Er war in Begleitung dieses unheimlichen Fremden, und des Mädchens. Aber was konnten sie von Flora wissen.
„Geht… geht es ihr gut?“, erkundigte sich Viktor bei dem Fremden.
„Bitte stell deine Fragen, meinem Herren.“ Damit verließ der Mann die Gasse in Richtung Marktplatz.
Viktor wusste nicht, wie er es einschätzten sollte. Ob es gut war, dem Fremden zu vertrauen. Er, genau wie dieser gut gekleidete Mann, kamen ihm wie Raubtiere vor, in dessen Hand er die Freundin nicht wissen wollte.
Ein Gefühl, dass sich verstärkte, als er diesem Herren gegenüberstand.
„Wo ist Flora?“, drang es auch sofort eisern aus Viktors Kehle. Misstrauisch wanderte sein Blick vom Herren zum Diener und wieder zurück.
„In meiner Obhut“, antwortete der Fremde knapp. „Und ich denke es ist besser so. Oder willst du sie am gleichen Ort sehen wie ihren Vater?“
Viktor schüttelte den Kopf. Eher zu der Frage kam, wieso ein edler Herr wie er, ein Bauernmädchen aufnahm, erklärte es ihm der Fremde schon.
„Sie gehört sozusagen zu meiner Familie, wie auch schon ihre Mutter. Vielleicht war es ein Wink des Schicksals, der die Tochter zu mir führte. Ich werde mich so gut um sie kümmern, wie mir möglich ist. Aber du wirst sicher einsehen, dass sie zu ihrer eigenen Sicherheit hier niemanden haben darf, zu dem sie zurück will. Nicht auszudenken, was geschieht, wenn sie deinem Vater noch einmal begegnet.“
Viktor wusste, worauf der Fremde hinaus wollte.
Ihre Wege mussten sich trennen. Sie durften sich nicht wieder sehen. Aber wenn es hieß, dass er sie noch ein letztes Mal sehen konnte. Seine geliebte Freundin. Ihr warmes Lächeln erblicken konnte, dann wollte er es tun, egal was es ihn kosten würde.

Auch wenn Viktor dieser Fremde unheimlich war, so hatte er doch Recht. Flora durfte nicht ins Dorf zurückkehren, nicht einmal um ihn wieder zusehen. Viktor wollte nicht, dass sie das gleiche Schicksal erlitt, wie ihr geliebter Vater.
Und doch, dachte er nur mit Gram, an diese schwierige Aufgabe, die ihm bevorstand. Flora nur dieses eine, einzige Mal noch sehen zu können.
Sein Vater begleitete wie so oft eine Jagdgesellschaft. Dass der Junge mit seinem Schimmel zurück blieb, sogar einen anderen Weg einschlug war gewohnt. Meist mit dem Ziel Flora zu sehen, wie auch an diesem kühlen Wintertag.
Das Tier witterte in den Wind hinein, je näher sie der Lichtung kamen. Mächtige stöße heißen Dampfes drangen aus den Nüstern des Tieres in die kühle Luft.
Mit den Hufen tippelte es unruhig im Schnee, nicht willens, auch nur einen Schritt weiter dorthin zu tun.
Was hatte das Pferd in solche Aufregung versetzt? Viktor konnte es nicht verstehen, wollte sich aber auch keinen weiteren Kampf mit dem Tier liefern. Es war nahe genug, dass er zu Fuß gehen konnte.
Er stieg ab und flüsterte dem Tier noch ein paar beruhigende Worte zu, ehe er es zurück ließ.
Wie versprochen, war Flora bei den beiden, starken Männern auf einer Waldlichtung.
Sie sah so anders aus.
Nur langsam ging Viktor weiter, ohne seinen Blick dabei von der Freundin zu nehmen. Ihr Kleid wirkte edel. Bernhard hätte ihr sicher nie solch ein schönes Kleid kaufen können.
Er bedauerte diese Tatsache nicht, wünschte sogar, der Vater wäre noch am Leben, um seine Tochter so sehen zu können.
Wie schön sie war, trotz des kurzen Haares.
Ihre Augen wirkten traurig über den Verlust, klarten aber sofort auf, als sie ihn erblickte.
Wenn sie noch eben aus Trauer geweint hatte, so tat sie es jetzt aus Freude. Nur sein strenges Gesicht irritierte das Mädchen deutlich. Deswegen tastete sie sich vorsichtig zu ihm vor.
„Viktor“, rief sie mit ihrer angenehm hellen Stimme. „Wie hast du hierher gefunden?“
„Ich bin mit meinem Vater auf der Jagd“, begann er mit der Wahrheit. „Er sucht nach dir, Flora.“
„Ja, das kann ich mir denken.“ Ein dünnes Lächeln zog sich über ihre Lippen. Ihr Blick wandte sich Schuldbewusst von ihm ab. „Es ist meine Schuld. Er hatte mich gewarnt ins Dorf zu gehen. Trotzdem hab ich nicht gehorcht und meinem Vater ihm ausgeliefert.“
Glaubte sie das wirklich?
Wie gerne würde Viktor sie in seine Arme nehmen, um sie in diesem Moment zu trösten.
Es war nicht seine Schuld, weil er sich so zu ihr hingezogen fühlte, auch nicht ihre. Alles begann lange vor ihnen und diente nur als Vorwand. Ignatius hätte sich sonst etwas anderes ausgedachte, um beiden zu schaden.
Ihn quälte es, was er jetzt tun musste. Seine Stimme füllte sich mit dem gleichen Ton, den sein Vater oft in Reden nutzte. Standhaft aber auch überheblich dem Delinquenten gegenüber.
„Ich könnte ihn herrufen. Die Jagd nach einer Hexe, wird sicher alle erfreuen.“
„Viktor, was ist mit dir? Du bist mein Freund.“ Sie verstand das alles nicht. Einer der Männer griff nach ihren Schultern, was sie aber sofort abschüttelte. Genau wie ihre Tränen, die jetzt voller Schmerz aus ihren Augen quollen.
Der Junge hatte lange genug trainiert, keines seiner Gefühle hervorblitzen zu lassen, wenn er es musste. Er tat es oft, wenn er zusammen mit seinem Vater der Folter beiwohnte.
„Ich soll dein Freund sein?“ Er lachte verächtlich auf. „Ich bin der Sohn des ehrenwerten Inquisitors Ignatius. Wieso sollte ich mich mit einer Hexe befreunden. Mein Vater hätte es mir nie gestattet. Lediglich der Studie halber, hab ich in eurer Nähe verbracht. Um die Zeichen besser deuten zu könne, woran man eine Hexe erkennt.“
„Was ist mit deinem Geschenk?“ Flora zog einen ihrer Handschuhe aus, nachdem sie damit nicht in ihren Kragen fassen konnte. Jetzt zog sie ihre Kette ein Stück heraus. Weit genug, dass der Smaragd auf ihre Kleidung fiel.
Im Schein der Sonne leuchtete er genauso grün auf, wie ihre wundervollen Augen.
Das sie ihn trug. Viktors Mundwinkel zuckte licht, bei dem Glück, das ihn jetzt umfing. Ein Gefühl, dass er schon bald wieder unter Kontrolle brachte.
„Es ist nur ein billiger Stein. Lediglich ein Geschenk, dich in Sicherheit zu wiegen.“
Er spuckte die Worte so leicht aus, dass es ihn selbst überraschte. Aber er musste es tun, sagte er sich dabei immer wieder stumm.
Für Flora, um sie vor seinem Vater zu schützen.
Floras Tränen wurden bitterlich, als sie schwach in den Schnee sank, zu Füßen ihrer stumm beobachtenden Beschützer.
„Ich gebe dir eine Chance, Hexe.“ Das letzte Wort sprach er dabei so scharf aus, dass Flora es als Ohrfeige auffangen musste. „Ich warte noch damit, bis ich meinen Vater informiere. Du solltest verschwinden und nie wieder hier her zurückkommen.“
Der Junge wandte sich von ihr ab.
Er hörte Flora seinen Namen schreien. Ihre Hand streckte sie ihm entgegen aber er konnte dieses Flehen nicht erhören.
Nur noch eines wollte er ihr geben. Ein letztes Geschenk.
„Es war egal, ob du den Worten meines Vaters folgst oder nicht. Bernhards Schicksal stand schon davor fest. Wenn nicht dadurch, hätte er einen anderen Grund gefunden, ihn wegen seiner vielen Sünden büßen zu lassen.“
„Viktor“, ein letzter kläglicher Versuch von dem Mädchen. Ein letztes flehendes Wort an den Freund, dem der Junge am liebsten in ihre Arme gefolgt wäre.
Seine Worte waren wie ein Dolch, der tief in seinem Herz lag. Die Gewissheit sie nie wieder zu sehen, schien ihn fast umzubringen.
Dennoch ging Viktor, ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen.
In Gedanken sah er ihr zartes Gesicht vor sich. Wie er es liebte, mit einem Lächeln auf den Lippen. So wollte er sie in Erinnerung behalten. Nicht so unglücklich, wie sie ihm jetzt nach sah. Ein Blick, der ihn mehr schmerzte, als jede Wunde es tun könnte.
„Es war für Flora!“, sagte er sich noch einmal bestimmend. Um sie zu schützen. Überall war sie glücklicher als an seiner Seite.
Egal was er versuchte, nur so konnte er sie schützen.
Viktor nahm die Zügel seines Hengstes. Er wagte es nicht, noch einmal zurück zu schauen. Wer weiß, ob er sonst die Kraft gehabt hätte, sich in den Sattel zu setzen.
Mit schnellem Schritt trug das Pferd ihn fort von diesem Ort. Weit in den Wald hinein. Er fühlte den kalten Wind im Gesicht, der seine Tränen hinfort wehte. Die Bäume rasten an ihm vorbei. Kopflos, so konnte man seine Flucht beschreiben. Ohne eigentliches Ziel, bis der Schimmel unter ihm stürzte.
Viktor wurde heruntergeworfen, in den Schnee. Aber es war ihm egal. Alles war ihm in diesem Moment egal.
Der junge vergrub sein Gesicht in dem kühlen Weiß. Seine Augen waren so heiß von Tränen, in Trauer um zwei Menschen, die er wahrscheinlich nie wieder sah.
Alles schmerzte so sehr. Sein Körper von der eisigen Kälte und den Sturz. Aber noch tiefer war das Loch, das dieser Abschied in seine Seele gerissen hatte.
Vielleicht konnte er ja irgendwann noch einmal Flora unter die Augen treten. Aber nicht jetzt. Er war viel zu schwach und wusste sich nicht einmal gegen den eigenen Vater zu erheben. Vorher musste er stärker werden, um sie irgendwann beschützen zu können.

Flora rannte, so weit sie ihre Füße trugen. Georg und Konrad blieben zurück. Beide akzeptierten ihren Wunsch alleine zu sein. Und dennoch kamen sie auch ihrer Aufgabe nach.
Das Mädchen spürte deutlich, dass sie in der Nähe waren.
Aber ihr war es egal.
Sie rannte so weit, bis ihre Füße keinen festen tritt mehr finden konnten.
Ein See, begriff sie, während ihres Falles auf die dicke Eisdecke.
Sie war schon oft im Wald, aber noch nie so weit. War es vielleicht an diesem Ort, wo ihre Mutter ertrank?
Flora blieb auf der Eisdecke sitzen, ihr Blick erkundete die Gegend.
Die Eisdecke war am Rand stabil genug ihr Gewicht zu tragen. Nur in der Mitte tat sich eine brüchige Stelle auf, wo ein tiefes, dunkles Loch klaffte.
Sie wollte nicht daran denken, was sich hier womöglich einst abgespielt hatte. Ihre Gedanken waren nur bei ihm. Viktor, der sie als Hexe betitelt hatte. Nicht so naiv wie einst, sondern vollen ernstes.
„Wieso?“, schrie Flora all ihre Trauer heraus. Wieso hatte er es getan? Bedeutete sie ihm denn wirklich so wenig?
Es war ihr egal, ob sie womöglich die Männer hörten, die in diesem Wald auf der Jagd waren. Oder die Kälter, unter der sie erzitterte.
Durch einen Schleier aus Tränen betrachtete sie das Eisloch, das ihr in diesem Moment so lockend vorkam. Sie hatte alles verloren. Ihren Vater, den besten Freund. Was sollte sie jetzt tun?
Ihre Hand war so kalt, dass sie schmerzte, als das Mädchen zu der Kette griff.
Viktors Kette.
Sie nahm auch noch den zweiten Handschuh ab, um die Kette öffnen zu können.
Jetzt lag sie in ihren zitternden Händen. Der Stein leuchtete in der Sonne so geheimnisvoll auf. War er denn wirklich nur Teil eines hinterhältigen Plans?
Wut stieg in ihr auf.
Wenn dem so war und alle sie als Hexe sahen, dann konnte sie auch Augusts Angebot annehmen.
Ihre Finger schlossen sich um den Stein. Das Mädchen zog ihre Hand weit zurück.
Sollten sie die Hexe bekommen, nach der sie sich sehnten. Sie würde alle für ihren Schmerz büßen lassen. Die Dorfbewohner, Ignatius und…
Ihre Hand schnellte mit Schwung nach vorne. Sie wollte los lassen. Diesen schön warmen Stein fort werfen, wie es Viktor mit ihrer Freundschaft tat und dennoch hielt sie ihn weiter fest.
Viktor.
Sie sah ihn genau vor sich. Seine rosigen Wangen, vor Scham glühend, als er ihn ihr gab. War dies alles nur vorgetäuscht? Seine Verlegenheit an diesem Tag.
Flora zog den Stein an sich. Drückte ihn an ihr Herz.
In dieser Einsamkeit schwor sie sich etwas.
Sie wollte zu August gehen, um gehorsam seine Schülerin zu sein. Er sollte ihr zeigen, wie sie mit ihrer Macht umging. Nicht um sich an allen zu rächen. Vielleicht, wenn Viktor es erst meinte. Aber bis dahin wollte sie Mut sammeln, ihm noch einmal unter die Augen zu treten.
Als das, was sie wirklich war. Die Tochter einer mächtigen Hexe.

August war zufrieden. Alles verlief nach seinem Plan!
Flora, gekränkt vom Verrat ihres Freundes, würde zu seiner Dienerin werden. Ihm die Treue schwören und nach seinem Vorbild geformt werden. Bis sie die Hexe war, die er wollte. Beseelt mit der Macht ihrer Ahnen.
Noch einmal würde er nicht zulassen, dass jemand ihm seine Pläne durchkreuzte. Nicht wie damals mit ihrer Mutter, die zusammen mit dem Bauern floh. Er war sich sicher, dass dieser Junge Floras Glauben an die Menschen zerstört hatte.
Ganz so, wie er es für den Bauer auf einem Schachbrett vorgesehen hatte.
Seine Finger erfassten die schwarze Königin und setzten sie mitten aufs Spielbrett. Genau wie Flora, die ihm ihre Treue beweisen würde, indem sie das Dorf auslöschte.
Wer sollte sie aufhalten. Dieser dumme Bauer, der sie so sehr liebte?
Wenn er sich gegen ihn stellte, würde ihn August zerschlagen.
In einer einzelnen Bewegung warf August eine der Figuren vom Brett, die auf dem Boden zerbarst. Genau wie diese Figur, knurrte er in Gedanken.



Fortgesetzt wird die Geschichte im 2. Teil.






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Text: Titelbild: Wolfsmond von Cimaron (pixelio.de)
Publication Date: 04-27-2010

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