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Roses Castle



Im Sturm, der um die starke Kathedrale
wie ein Verneiner stürzt der denkt und denkt,
fühlt man sich zärtlicher mit einem Male
von deinem Lächeln zu dir hingelenkt:

lächelnder Engel, fühlende Figur,
mit einem Mund, gemacht aus hundert Munden:
gewahrst du gar nicht, wie dir unsre Stunden
abgleiten von der vollen Sonnenuhr,

auf der des Tages ganze Zahl zugleich,
gleich wirklich, steht in tiefem Gleichgewichte,
als wären alle Stunden reif und reich.

Was weißt du, Steinerner, von unserm Sein?
und hältst du mit noch seligerm Gesichte
vielleicht die Tafel in die Nacht hinein?


L’Ange du Meridien, Rainer Maria Rilke, Mai/Juni 1906, Paris




Kapitel 1

Ich lächelte noch bevor ich meine Augen aufschlug. Heute sollte der perfekte Tag werden.
Auf den Tag genau war ich mit Avan ein Jahr zusammen und das wollten wir feiern. Selbst wenn es keinen Anlass zum feiern geben würde, würde ich es trotzdem tun. Allein mein Leben hier hätte man jeden Tag feiern müssen.
Es war wie im Märchen. Kaum zu glauben, dass es so etwas noch gab: das perfekte Leben.
Ich hatte eine wundervolle beste Freundin Liz und den wohl mit Abstand schönsten, liebevollsten und besten Freund den es gab: Avan Legrand.
Als ich vor 6 Jahren mit meinen Eltern und Bruder Paul nach New York gezogen war, war ich zuerst skeptisch gewesen, aber hatte auch Vorfreude empfunden.
Alle prahlten vom tollen New York, wo alles möglich war. Ich hatte gedacht, es wären nur Geschichten, doch da hatte ich mich getäuscht.
In New York hatte ich mich zum ersten Mal richtig zu Hause gefühlt.
Seit meiner Geburt, irgendwo in England, sind wir ständig umgezogen. Russland, Frankreich, Rumänien, Spanien, eine längere Zeit in Israel und in fast allen Staaten von den USA.
Und in New York lief alles blendend; es sah auch nicht so aus, als würde mein Vater bald wieder versetzt werden, also brauchte ich mir nicht großartig Gedanken machen.
Paul und ich sind während den ganzen Umzügen immer mehr zusammen gewachsen. Er war nicht nur mein Bruder, sondern auch bester Freund.
Auch wenn er zwei Jahre älter als ich war und blad seinen Abschluss machen würde, konnte ich ihm alles erzählen.
Nun schlug ich auch endlich die Augen auf und blickte direkt auf den East River.
Meine Mum hatte sich dieses Apartment ausgesucht und auch somit die gesamte Einrichtung der Wohnung übernommen.

Ich zog mir meinen roten Bademantel über und ging in die Küche, wo Mum und Dad bereits am Tisch saßen. Doch Paul fehlte. Es war üblich, dass er immer bei uns saß, egal wie spät er nach Hause gekommen war. Aber vielleicht hatten meine Eltern auch einfach mal erbarmen.
„Einen wunderschönen Morgen wünsche ich euch“, sagte ich mit einem Lächeln, welches der Sonne Konkurrenz machen könnte.
Als nichts zurück kam, schaute ich beide besorgt an.
Mein Vater rieb sich die Schläfen, während meine Mutter in ihre Kaffeetasse starrte, als könnte sie sie irgendwie bewegen, von allein leer zu werden.
Ich stocherte in meinem Müsli herum, bis ich mich endlich durchrang sie zu fragen, was los sei.
„Was ist los, Mum? Ist irgendetwas mit Paul passiert?“
Erschrocken fuhr Mum zusammen. War sie so in Gedanken vertieft?
Langsam bekam ich es mit der Angst zutun. Falls Paul irgendetwas zustoßen würde…
Nachdem Mum nicht antwortete und es auch nicht aussah, als wolle sie sich noch dazu durchringen, sah ich Dad an.
„Alison, wir müssen es ihr sagen. Du kannst es nicht immer weiter nach hinten schieben. Es ist schon Morgen…“, raunte er Mum zu.
Wie auf Kommando zogen sich meine Augenbrauen zusammen.
„Dad, was ist hier los?“
Endlich sah mich Mum an. „June, Schätzchen, das kommt jetzt bestimmt etwas plötzlich…“, setzte sie an und schaute ärgerlich zu Dad, der schnaubte, als wäre ihm das Theater leid.
Nun war ich noch verwirrter. „Was ist? Wollt ihr euch scheiden lassen?“
Mum lächelte überrascht. „Nein, nein. Um Gotteswillen, nein. Es ist ganz anders als du denkst.“
Mum schloss ihre Augen und holte tief Luft. „Wir ziehen Morgen nach England, du und Paul werden dort auf ein sehr angesehenes Internat gehen, denn…“
Danach hörte ich nicht mehr zu. Ich ließ mit einem lauten Geräusch meinen Löffel in die Schüssel gleiten, starrte ausdruckslos auf den Tisch und merkte, wie Tränen meine Augen füllten.
Das durften sie nicht machen. Sie konnten mich nicht aus diesem wundervollen Leben reißen. Ich überlegte fieberhaft, ob ich sie durch irgendetwas verärgert haben könnte. Doch mir fiel nichts ein; mein Verhalten war so wie immer gewesen: Tadellos.
England war schrecklich weit weg. So würde ich alle meine Freunde verlieren.
Ich würde jedoch dafür sorgen, dass ich zwei von ihnen niemals verlieren würde. Liz und Avan.
Mum nahm meine Hand; ich zog sie sofort zurück und starrte beide ausdruckslos an.
„Schätzchen, mach nicht so ein Drama daraus. Es wird dir dort gefallen. Schließlich bist du ja auch in England geboren. Es wird dir gefallen, glaub mir.“
Wütend sprang ich auf.
„Es wird mir nirgendwo besser gefallen, als hier! Ich könnt das nicht machen, Mum. Warum gleich morgen? Warum habt ihr mir das nicht früher gesagt?“, fuhr ich sie an.
Mum senkte den Blick; Dad antwortete.
„Wir wollten es dir vorher sagen, aber du warst so glücklich, June. Wir wollten dir die letzten Wochen nicht durch diese Nachricht vermiesen.“
Verständnislos schüttelte ich den Kopf. „Wo ist Paul? Weiß er davon bescheid?“
„Paul ist schon in England, gestern ist er hingeflogen. Er sucht uns eine kleine Wohnung, wo wir vorübergehend bleiben können, bis ihr euch eingelebt habt. Meine Arbeit will mich in Zukunft öfter versetzten.“
Ich ignorierte die letzte Information und stürzte mich, wie ein Raubvogel auf seine Beute, auf die Tatsache, dass Paul es anscheinend schon früher wusste als ich. Klammerte mich daran fest, so dass ich plötzlich auf alle unglaublich wütend war.
Mit einem letzten abwertenden Geräusch zog ich von dannen in mein Zimmer.
Ich hörte meine Mutter noch so etwas wie: „Sei pünktlich zu Hause“ nachrufen.

Nachdem ich die Tür zugeknallt, geduscht, meine Haare gemacht und mich umgezogen hatte, rief ich Liz an, um mich bei ihr wegen meinen Eltern zu beschweren.
Sie meldete sich mit einem Müden: „Ja?“
Ich sah kurz auf die Uhr. Man sollte doch meinen, dass man um 10 Uhr morgens schon wach war.
„Wer auch immer du bist: entweder du sagst jetzt etwas oder Adíos.“
Ich grinste. „Ich bin’s, Liz. June.“
„Oh, June! Sag das doch gleich, Süße. Was ist denn?“ Sofort klang sie wacher.
„Liz, ich zieh Morgen nach England. Mum und Dad haben mir das erst heute gesagt. Und Paul ist schon dort.“
Ich hörte wie sie die Luft einzog. „Paul ist schon dort? Warum hat er mir nicht Tschüss gesagt? Da redest du aber noch mal mit ihm!“
Ich stöhnte auf und verdrehte die Augen. Liz hatte mir letzte Woche gestanden, dass sie in Paul verknallt wäre.
„Liz, bist du denn nicht traurig, dass ich auch wegziehe?“, schniefte ich ins Telefon.
„Natürlich, Süße! Du bist doch meine beste Freundin. Aber du musst mir was als Abschied da lassen. Vielleicht dein Lieblingstop? Damit ich dich nie vergessen werde.“
Tränen rollten über meine Wangen. „Ja, natürlich. Ich fahr jetzt noch zu Avan und sag ihm bescheid. Ich werde dich vermissen, Liz.“
Ich hörte wie sie geräuschvoll Luft holte.
„Weinst du?“, rief ich überrascht aus.
Wieder ein schniefen. „Natürlich. Wer wird mir jetzt die Nägel machen?“
Meine Unterlippe begann zu zittern; ich biss darauf und zwang sie sich normal zu verhalten.
Ich stand auf und zog mir meine Jacke über.
„Wir werden auf jeden Fall telefonieren. Ich liebe dich, Chica.“
Ich nickte und wischte die Tränen weg. „Ich liebe dich auch, Liz. Bis dann.“
Ich legte auf und presste das Telefon gegen mein Herz.
Was sollte das bloß werden?
Mit nassen Wangen, machte ich mich auf zu Avan, um mich von ihm zu verabschieden. Das würde schwer werden…

Jedes Mal, wenn meine Eltern mir einen entschuldigenden Blick zuwarfen, strafte ich sie mit einem bösen.
Als dann auch endlich unser Flug aufgerufen wurde, machten wir uns auf den Weg. Unser Gebäck hatten wir schon abgegeben.
Während des ganzen Fluges hatte ich kaum mit meinen Eltern gesprochen. Wenn denn, nur kurze Sätze wie: „Möchtest du was essen“? – „Nein, danke.“
Von New York bis nach Manchester würden wir sieben Stunden fliegen und danach noch knapp eine Stunde mit dem Auto zu einem kleinem Ort an der Westküste Englands fahren, wo dort meine neue Schule sein würde.
„Roses Castle wird dir gefallen.“, sagte Mum im Auto, während Dad sich mit dem Auto abmühte. „Es ist eines der renommiertesten Internate für Jungen und Mädchen in ganz England. Du wirst dort schnell Freunde finden, immerhin ist Paul auch da. Das Internat hat eine hervorragende Geschichte und die Uniformen sind auch erträglich. In meiner Jugend war ich doch auch auf einem Internat, die Uniformen dort…schrecklich.“
Meine Mutter setzte mal wieder ihr Gute-Laune-Gesicht auf und dachte es wäre alles vergessen und vergeben. Doch das war es ganz und gar nicht.
„Also der perfekte Ort um die Individualität Jugendlicher zu unterdrücken. Vielen Dank, Mutter. Wenn ich dort meinen Abschluss habe, werde ich weder einen eigenständig denkendes Gehirn haben noch eine eigene Persönlichkeit“, giftete ich sie an.
Eine kurze Unsicherheit glitt über ihre Züge, die sie jedoch wieder ganz beherrscht zu einem Lächeln formte.
Wütend starrte ich aus dem Fenster und sah so viel Grün wie noch nie.
In New York gab es den Central Park der grün war, alles andere war aus beton und grau. Es überraschte mich, aber ich fand dieses viele grün irgendwie beruhigend.
Als wir in dem Ort hereinfuhren sah man den perfekt Englischenrasen. Wahrscheinlich hockten sich die verklemmten Briten mit der Nagelschere und Lineal auf ihren wertvollen Rasen, um ihn zu schneiden.
Wir hielten an und ich stand direkt vor einem alten, mit roten Backsteinen gemauerten Haus. Es war schön, keine Frage. Aber es hätte durch aus besser in die viktorianische Zeit herein gepasst, als jetzt im 21. Jahrhundert. Aber was hatte Mom gesagt? – Die Schule wurde 1845 gegründet? Hoffentlich hatten sie bereits auf Strom und fließend Wasser umgestellt, dachte ich unfreundlich.
Am Einganstor stand bereits Paul; ich warf ihm einen bösen Blick zu, er hatte mich ebenso belogen wie meine Eltern.
Paul sah aus wie immer. Seine braunen, verwuschelten Haare standen in allen Richtungen ab und seine blau-grünen Augen wirkten offen und vertraut. Seine kräftige Nase war mit Sommersprossen übersäht und seine Lippen verzogen sich zu einem entschuldigenden Lächeln.
Ich hievte meine Taschen aus dem kleinen Wagen und lehnte Pauls Hilfe demonstrativ ab.
„Es tut mir Leid, June. Sie haben mich bestochen“, raunte er mir ins Ohr.
Ich zuckte mit den Schultern und tat extrem gelassen, obwohl ich eigentlich tierisch aufgeregt war.
„Du weißt, wo ihr jetzt hin müsst, Paul?“
Paul nickte und ich sah ihn verwundert an.
„Ihr fahrt schon wieder weiter?“
Mum nickte leidig. „Wir rufen euch heute Abend an. Viel Spaß.“
Nachdem wir noch einmal umarmt wurden, ließen uns unsere Eltern samt Gepäck am Straßenrand stehen.
„Ich fasse es einfach nicht, dass du mir nichts davon gesagt hast!“, fuhr ich Paul an und machte eine abwertende Handbewegung in Richtung Internat.
„Es tut mir Leid, dass habe ich dir aber auch schon gesagt. Du kannst jetzt nicht die ganze Welt hassen, bloß weil man dir etwas verheimlicht hat. Außerdem finde ich das Internat gar nicht mal so schlecht. Hübsche Engländerinnen in Röcken…“
Ich musste grinsen. „Also dein persönliches Paradies auf Erden. Vielleicht hast du ja Recht“, gab ich zu.
Er nickte erfreut und drehte sich um, damit er die Schule begutachten konnte.
„Es hat was, dieses viktorianische. Irgendwie alt und neu in einem, findest du nicht?“
Ich überging seine Frage, indem ich ihn fragte, wo wir nun hinmussten, um uns anzukündigen.
„Richtig. Wir müssen jetzt dort hin, zu diesem kleinem roten Haus. Dort soll uns ein gewisser Mr. Palmer erwarten. Du brauchst nicht nervös sein, June. Falls dir irgendwer Stress macht, hast du ja mich. Deinen großen Bruder.“
Skeptisch sah ich ihn an. „Klar, Paul. Du bist genauso furchteinflößend wie ein Hundewelpe.“
Er verdrehte die Augen und setzte sich in Bewegung. Mit einem grinsen folgte ich ihm.
In Gedanken versuchte ich mir schon einmal auszumalen, wie der Tag wohl verlaufen würde.
Ich war noch nie auf einem Internat gewesen, also konnte ich mir alles nur von Filmen her ableiten.
Es würde also zwei Optionen für mich geben: Entweder würde ich sofort in die Elite aufgenommen werden oder musste mich mit Strebern rumschlagen. Ich wusste nicht was schmackhafter war; Pinke-Super-Zicken oder leheranhimmelnde Streber.
Wahrscheinlich gab es auch hier einen heißen, Schulchef auf den alle Mädchen abfuhren, er aber mit der „Schulkönigen“ zusammen war und zudem auch nicht sehr schlau. Was für eine Verlockung…
Als wir den kurzen Weg bis zum Sekretariat entlang liefen sah ich mich um.
Anscheinend bestand dieser ganze Campus aus roten Backsteingebäuden, mit spitzen Türmchen und alten, robusten Dächern. Der Rasen war gleichmäßig auf einer Länge abgemäht.
Es wunderte mich, dass ich nirgendwo andere Menschen sah, das Internat schien wie ausgestorben.
Hastig holte ich Paul ein. „Bist du sicher, dass diese Schule überhaupt noch genutzt wird? Oder ob hier überhaupt noch irgendein Mensch lebt?“
Ohne eine Miene zu verziehen ging Paul weiter. „Es sind wahrscheinlich alle bei der täglichen Zusammenkunft. Immerhin fing hier Morgen schon die Schule an. Wir sind sozusagen Nachzügler. Da wir nun die einzigen Neuen sind, werden wir wohl vor allen Schülern vorgestellt werden. Um ehrlich zu sein, macht es mich ein wenig nervös.“
Ich riss meine Augen auf. Vor allen Schülern. Allen. Die gesamte Schule. Schrecklich. Furchtbar. Der Tag war im Eimer.
Ich schleppte mich die letzten Meter immer noch etwas betäubt, von der erschreckenden Nachricht, an das kleine Fenster, hinter dem eine alte, liebenswürdig-aussehende Frau saß.
„Guten Morgen, Kinder. Ihr müsst die zwei Amerikaner sein, richtig? Dann bist du, “, sie zeigte mit einem pinklackierten, künstlichen Fingernagel auf mich, „Jules…“
„June, Ma’am“, korrigierte ich sie. Man sollte doch meinen, dass June ein einfacher Name war.
„Richtig, richtig. Verzeiht, bitte. Du bist June Fairhust und dein Bruder muss dann Paul Fairhust sein. Ihr zwei lasst am besten eure Koffer hier stehen, sie werden dann auf euer Zimmer gebracht. Und jetzt geht ihr bitte, diesen Weg entlang, bis zu dem großen Gebäude mit goldenem Schriftzug. Darin befindet sich gerade die gesamte Schule und dort werdet ihr auch vorgestellt. Hier sind noch zwei Pläne für euch. Außerdem, wird euch noch ein Stundenplan überreicht werden und Mr. Palmer führt ein Gespräch mit euch beiden. Einen schönen Tag in Roses Castle.“
Mit einem letzten Lächeln wandte ich mich ab und zog Paul mit mir. Wir liefen über Kieswege und an großen, alten Gebäuden vorbei. Mir fielen immer wieder die gleichen Muster auf: roter Backstein, spitze Türmchen, gotische Fenster und graue aber robuste Türen. Vor jedem Haus stand ein Schild mit einem heiligen Namen. Doch diese Namen waren mir in keinster Weise bekannt. Was höchst wahrscheinlich auch daran lag, dass ich mich mit Religionen und heiligen Menschen nicht so gut auskannte.
Als wir das große Gebäude erreicht hatten, blieben wir mit offenen Mündern davor stehen.
Es war eines der imposantesten Gebäude, die ich jemals gesehen hatte. Ich stellte mir vor, wie es wohl nachts aussehen würde. Mit Mondschein und Nebel. Vielleicht geheimnisvoll oder aber auch gruselig und kalt. Ich konnte mir vorstellen, dass dieses Haus viele Facetten hatte; unglaublich schöne, aber auch viele furchteinflößende.
Es war ebenfalls mit roten Backsteinen gemauert und besaß an beiden Hausecken zwei spitz zu laufende Türme. Die Tür war groß und schwer, wie die von katholischen Kathedralen. Sie war mit Gold verziert. Mit viel Fantasie konnte man kleine Bilder erkennen. Engel mit Schwertern, Engelchöre. Schrecklich viele Szenarien von Engeln.
Ich unterdrückte den Drang, mit meinen Händen über das Material zustreifen.
Paul fasste sich schneller als ich und öffnete die Tür mit einem lauten knautschenden Geräusch.
Da ich mich so gut wie noch nicht von meinem Entsetzten erholt hatte, war es nicht gerade gut, dass wir hinter eine Masse von Schüler standen, die ruckartig ihre Köpfe wandten. Alle bis auf zehn Schüler. Ihre Blicke blieben starr nach vorn gerichtet, als wollten sie uns zeigen, dass sie sich für nichts interessierten.
Mit einem lauten Krachen schloss sich die Tür hinter uns, ich zuckte zusammen und wurde rot.
Paul – selbstbewusst wie er war – schüttelte sich kurz und marschierte dann geradewegs auf das Podest drauf zu, wo ein kleiner, dicker und kahlköpfiger Mann stand.
Das musste Mr. Palmer sein. Er lächelte uns verständnisvoll an, wobei sich tausend von kleinen Lachfältchen zeigten. Ich schätzte ihn auf Ende 40, Anfang 50.
Paul war schon am Podest angekommen und schüttelte Mr. Palmer freundlich die Hand. Da ich nicht länger, wie ein Eisblock, rum stehen wollte setzte ich einen Fuß vor den anderen und ignorierte die Blicke der anderen.
Wenn ich mit jemandem Vertraut war und ihn schon länger kannte, war ich nicht schüchtern, keines Wegs. Doch sobald ich irgendwo hinkam, wo ich niemanden kannte stellten sich Scheuklappen auf und ich ignorierte alles, was mich in eine peinliche Situation bringen konnte.
Also lief ich nach vorn und bemühte mich, nicht zu stolpern.
Als ich vor Mr. Palmer stand, entdeckte ich unzählige kleine Narben in seinem Gesicht. Ich fragte mich was mit ihm passiert war. Es sah aus, als hätten ihn unendlich viele kleine Glassplitter zerkratzt und tiefe Wunden hinterlassen. Nachdem er sich räusperte fiel mir auf, dass ich nur da stand und ihn anstarrte. Wie peinlich.
Letztendlich ergriff ich seine Hand und lächelte ihm vorsichtig zu.
„Wie schön, dass Sie unsere Schule besuchen. Ich hoffe ihr werdet ein gutes und erfolgreiches Jahr hier an Roses Castle haben.“
Wieder nickte und lächelte ich und warf einen flehenden Blick zu Paul, der sich mehr als Wohlzufühlen schien. Wie hielt er dies nur aus? Alle starrten ihn an.
Diesmal ließ ich meinen Blick über die Menge gleiten.
Alle Jungen trugen rote Sakkos und schwarze Hosen und die Mädchen einen roten Blazer mit, entweder schwarzen Röcken oder schwarzen Hosen. Auf jeder Jacke war eine blühende Rose mit zwei durchkreuzenden Schwertern und darunter waren die Initialen der Schule in filigraner Art und Wiese gestickt.
Der größte Teil der Mädchen hatte braune Haare, nur hier und da entdeckte ich rote oder blonde. Doch so weit ich das erkennen konnte, waren die meisten Mädchen schlank und sehr schön. Sofort bekam ich, ganz untypisch für mich, Minderwertigkeitskomplexe.
Und als ich dann diese eine Gruppe von Schülern sah, fühlte ich mich augenblicklich wie eine graue Maus. Sie strahlten soviel Stärke und Kraft aus, dass mir ganz schwindlig wurde. Man sah ihnen richtig an, dass sie anders waren. Niemand von ihnen sah auch nur einen Funken neugierig aus, so wie andere Schüler. Alle blickten in verschiedene Richtung. Wachsam. So als könnten sie, falls dieses Haus einstürzen würde, es schaffen, alle Menschen hier drinnen zu retten. Da mich niemand von ihnen ansah, konnte ich sie beruhigt mustern.
Ein Mädchen, dass ganz links saß, hatte große rote Locken und eine elfengleiche Haut. Ihre Augen konnte ich nicht erkennen, da sie in die linke Hälfte des Raumes geheftet waren. Sie hatte sehr weiche Züge, doch eine ziemlich große Nase, was ihr zartes Bild zerstörte.
Neben ihr saß ein ungewöhnlich kleiner Junge, er hatte sehr kurzes dunkelblondes Haar, was in Stacheln von seinem Kopf abstand. Sein Blick hing an der hintersten Ecke der Tribüne. Sein Gesicht hatte viele harte Kanten. Ein asiatisches Mädchen saß mit gefalteten Händen daneben. Sie hatte die üblichen Züge, eines Asiaten: Mandelförmige Augen, hohe Wangenknochen, reine Haut, kleiner Mund und rabenschwarzes Haar.
Das Seltsame an ihr war, dass sie auf den Boden starrte, nicht so wie ihre anderen Freunde, die den Raum beobachteten.
Auf dem nächsten Stuhl saß ein blondes Mädchen mit kurzen Haaren, sie hatte ein offenes Gesicht und erstaunlich dunkle Augen.
Ein Junge mit blonden, längeren Haare und feinen Zügen saß direkt in der Mitte und sein Blick klebte auf Mr. Palmer. Er war sehr gutaussehend. Doch erwirkte neben seinem Sitznachbar wie ein kleiner Junge. Der Nächste war sehr bullig, fast wie diese Bodybuilder die sich mit Öl beschmierten und mit ihren Muskeln spielten. Seine Haare waren schwarz und nach hinten gegellt. Es sah sehr schmierig aus.
Neben ihm saß ein sehr ruhiger Junge, man sah ihm an, dass er vollkommen entspannt war. Sogar seine Augen waren geschlossen. Seine dunklen, undefinierbaren Haare hingen ihm in die Stirn und bildeten einen starken Kontrast zu seiner hellen Haut.
Neben ihm saßen zwei Mädchen, eines davon hatte einen braunen Bob und rehbraune Augen und die andere hatte wunderschöne, lange, wallende schwarze Haare und eisblaue Augen. Ihre Züge waren Klassisch. Es war außer Frage, dass sie eine Schönheit war.
Als letzter in der Reihe saß ein Junge, welcher meine Sprache verschlag. Hatte ich die anderen noch als wunderschön empfunden, waren sie neben ihm nur ein Schatten. Um ihn schien fast goldenes Licht. Seine gerade Haltung, strahlte etwas unbenennbares aus. Die blonden Haare glänzten im Licht, wie ein Heiligenschein. Sie fielen ihm sanft in die Stirn und umspielten sein schönes Gesicht. Er hatte eine gerade, kräftige Nase und volle einladende Lippen.
Als sich plötzlich seine durchdringenden, grünen Augen auf mich richteten, schnappte ich nach Luft. Er musterte mich von oben nach unten, danach sah er mir wieder fest in die Augen. Für einen Moment sah es so aus, als weiteten sie sich, doch dann war sein Gesicht wieder ausdruckslos. Und doch so schön wie das eines Engels. Ich konnte nicht anders, als hinzusehen. Und da war noch etwas. Etwas zog mich zu ihm regelrecht hin. Nur mit Mühe konnte ich diesem Impuls widerstehen.
Mein Blick verknotete sich mit seinem.
Erst als Paul mich anstupste war dieser magische Moment vorbei.
Völlig überrumpelt wusste ich überhaupt nicht, was ich tun sollte und stand nur da. Völlig benommen und mit schnellschlagendem Herzen.
„June“, raunte Paul mir zu, „stell dich vor. Sag deinen Namen.“
Ich schüttelte den Kopf, um wieder normal denken zu können.
„Ähm“, stotterte ich los und wurde rot, weil ich immer noch seinen Blick auf mir spürte. „Ähm, ich heiße June.“ Als ich schließlich merkte, wie sich der Saal leerte, konnte ich durch atmen.
„Man June, bist du peinlich!“, schimpfte ich mit mir selbst. Wahrscheinlich hatte die ganze Schule gesehen, wie ich diesen Typen angestarrt hatte. Mein Gott, am ersten Tag. Schlimmer konnte es nicht werden.
„June, Sie können jetzt auf ihr Zimmer gehen, ich werde Ihnen den Weg zeigen. Dort wartet sicherlich Ihre Zimmerkameradin. Sie wird Sie herumführen und Ihnen den Campus zeigen. Sie beide werden für diesen Tag vom Unterricht befreit sein. Bei Ihrem Bruder wird dies genauso gehandhabt. Und fürchten Sie sich nicht, für jeden ist es Anfangs schwierig. Falls jedoch Probleme auftauchen sollten, melden Sie sich bei mir. Meine Tür steht jeder Zeit offen.“ Aufmuntern strich er mir über den Arm. Ich nickte und fing an diesen Schulleiter zu mögen.
„Na los, kommen Sie. Ihr Bruder ist schon auf den Weg.“


Kapitel 2

Während er mich zum Mädchenhaus führte, erzählte er mir die Geschichte von Roses Castle, obwohl ich ihn nicht danach gefragt hatte.
„1845 wurde diese Schule das erste Mal von einem Mönch betreten, dieser errichtete daraus eine Kloster, in dem Mönche studierten und lehrten. Einer Legende nach, schickte Gott dem Mönch eines Tages einen seiner Erzengel. Dieser sagte ihm, dass bald scharen von Satans Diener auf die Erde kommen würden, um Gottes geliebte Menschen auszurotten. Satan war eifersüchtig auf die Menschen, da er sich so sehr nach Gottes Liebe verzehrte. Der Erzengel trug dem Mönch auf, seine Lehrlinge das Wissen Camaels anzueignen, da er der Wächter der Menschen sei. Außerdem solle er die Existenz der Dämonen und Engeln behüten und keinem Außenstehendem etwas davon erzählen. Der Erzengel sagte ihm, dass der Mönch als Tarnung dieses Institut Roses Castle nennen sollte und die Rose als Wappen verwenden sollte, da sie für die Liebe Gottes steht.
Also tat der Mönch wie ihm geheißen. Er lehrte seinen Jünglingen das Kämpfen und das Wissen, was ihm der Erzengel vermacht hatte. Sie wurden allesamt stark und mutig. Und waren gegen Satans Machenschaften gewappnet. Doch als dann Satans Diener angriffen, verstarben trotz der guten Ausbildung viele Menschen.
Der Mönch betete zu dem Erzengel und flehte ihm an, ihm zusagen, was er doch falsch gemacht hätte, denn ihn plagten Ängste, dass er von Gott verstoßen wurde und seine Hüter nicht richtig ausgebildet hätte.
Nach zwei Nächten erschien der Erzengel in seiner vollen Pracht. Und sprach zu dem Mönch: ‚Habe keine Angst vor dem Fall, guter Mönch. Du hast meine Anweisungen gut befolgt und deine Jäger haben gut gekämpft. Doch es ist ihnen nicht gelungen, die Menschen zu beschützen. Du hast sie nur dazu ausgebildet zu zerstören. Lehre ihnen zu beschützen und du wirst sehen, dass ihre Herzen aufblühen werden.’ Nachdem der Erzengel verschwunden war, öffnete der Mönch die Pforten des Instituts und ließ junge Menschen Schutz und Zuflucht gewähren. Eines Tages beschloss er ihnen das lesen und schreiben zu unterrichten. So wurde aus dem Institut, was nur für die Hüter bestimmt war auch eine Lehr- und Wohnstätte für gewöhnliche Menschen. Jedoch befahl er seinen Jünglingen stets das Geheimnis zu wahren. Seit diesem Tag wurden viele Hüter in die ganze Welt ausgesandt, um Menschen vor Satans Gefolge zu schützen.
Und heutzutage dient diese Schule der Entwicklung Jugendlicher. Nun, hier sind wir.“
Er zeigte auf ein Haus, welches den Namen St. Zadkiel trug.
Mit großen Augen sah ich ihn an. „Ist dies wirklich alles passiert?“, fragte ich und kam mir unglaublich dumm vor. Es gab keine Engel. Wahrscheinlich hatte sich dass nur ein alter verwirrter Mönch ausgedacht, um seine Schule begehrter zu machen.
„Nun, es ist immerhin eine Legende. Man weiß nicht, ob sie wahr ist, oder nicht. Das liegt ganz allein, an der jeweiligen Einstellung zur Welt und Universum. Dein Zimmer ist die Nummer 5. Viel Spaß“, sagte er und ließ mich mit diesem Satz stehen.
Ich sah ihm noch hinterher, wie er mit einem leichten Gang davon schritt.
Schließlich holte ich tief Luft, trat in das Gebäude und machte mich auf die Suche nach Zimmer 5.
Im Eingangsbereich stand eine kleine Küchenzeile mit 6 kleinen, runden Tischen. Es gab einen Raum mit einer Glasscheibe davor. Dahinter saß eine gelangweilte Frau mit blondierten Haaren. Langsam trat ich vor das Fenster.
„Hallo Mrs. Hoyle“, sagte ich und wunderte mich über ihren seltsamen Nachnamen. „Ich, ähm, suche Zimmer 5.“
Nach wenigen Sekunden blickte sie auf und zeigte mit ausdruckslosem Blick in Richtung links. Anscheinend musste ich diese Treppe nehmen. Ich zwang mir ein Lächeln auf und machte mich auf den Weg. Wahrscheinlich würde es niemanden Spaß machen, stundenlang in einem Glaskasten zu sitzen.
An den Wänden neben der Treppe hingen verschiedene Bilder von Roses Castle. Manche waren Fotografien, andere alte Ölgemälde.
Auf der oberen Etage waren die Wände mit einer roten Tapete auf der goldene Sprenkel eingearbeitet waren, verkleidet. Die Türen waren dunkelbraun und sahen aus, als hätten sie schon etliche Jahre auf dem Buckel. Auf jeder Tür war in filigraner Art und Weise die jeweilige Zimmernummer draufgemalt. In Gold.
Zimmer Nummer 5 war am Ende des Flures und neben ihm war eine weitere Tür, anscheinend eine Fluchttür.
Zaghaft klopfte ich an und zählte bis 3. Nichts. Ich zuckte mit den Schultern und wollte gerade die Tür öffnen, als sie von einem zarten Mädchen mit kurzen, roten Haaren aufgerissen wurde. Vor Schreck war ich zurück gestolpert und saß nun auf meinem Hinterteil.
Ein belustigter Ausdruck trat auf ihr Gesicht und sie wurde rot. Zuerst dachte ich, dass sie aus Scham rot wurde, doch als sie in schallendes Gelächter ausbrach, wurde ich eines besseren belehrt. Schließlich lachte ich mit, weil ich einfach nicht anders konnte. Ich lachte so sehr, dass meine Augen anfingen zu tränen. Nachdem wir uns beruhigt hatten, streckte sie mir ihre Hand entgegen und half mir hoch.
„Tut mir leid, es sah nur so verdammt komisch aus. Ich wollte dich nicht auslachen“, sagte sie mit einer erstaunlich hohen Stimme. Doch irgendwie passte es zu ihr; es machte sie niedlich.
„Ist schon okay.“ Sie war fast ein Kopf kleiner als ich. Und ich war mit meinen 1, 60 auch nicht gerade groß.
„Ich bin Skye Williams, seltsamer Name, ich weiß. Und du?“
Überrascht sah ich sie an. War sie bei der Versammlung nicht dabei gewesen und hatte mich wie alle anderen angestarrt?
Und wieder einmal war ich überrascht wie gut der Name zu ihr passte.
„Ich bin June. June Fairhust. Warst du nicht bei der Versammlung dabei?“, fragte ich vorsichtig.
Sie schüttelte belegt den Kopf. „Nein, ich hatte verschlafen. Dumme Angewohnheit. Aber ich hab ja jetzt dich, damit du mich wecken kannst.“ Wieder lächelte sie.
Wahrscheinlich war sie einer dieser Menschen, die selbst bei miesester Laune noch lächelten.
„Komm doch erstmal rein – ist ja immerhin auch dein Zimmer. Dein Bett ist das hier.“ Sie zeigte auf ein gemütlichaussehendes, dunkles Holzbett, was neben einem Fenster stand. Ich sah mich im Zimmer um. Es war in einem weichen gelb gestrichen und über all an den Wänden hingen Zeichnungen. Und sie sahen fantastisch aus. Es waren verschiedene Gegenstände, Muster oder Fabelwesen.
„Hast du das gezeichnet?“. Erstaunt betrachtete ich eine besonders schöne Zeichnung von einer schwebenden Fee.
Skye wurde rot und senkte den Blick. „Ja, schon. Aber sie sind nicht ganz so gut…“
Vorwurfsvoll sah ich sie an. „Nicht ganz so gut? Sie sind fantastisch!“
Unsicher blickte sie auf. „Findest du wirklich?“
Aufmunternd nickte ich. Und sah mich weiter um. Außerdem gab es auch noch einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen und auf jeder Seite des Zimmers einen großen Schrank mit einem Spiegel. Auf Sykes Seite befand sich eine weitere Tür. Wahrscheinlich das Bad.
„Sag mal Skye, warum schläfst du nicht am Fenster?“, fragte ich neugierig. An ihrer Stelle würde ich mich darum prügeln dort zu schlafen. Nun, nicht gerade prügeln, aber alles daran setzten dieses Bett zu haben.
Ihr Blick wurde etwas ängstlich. „Na ja, nachts sind dort manchmal seltsame Geräusche, die mir Angst machen.“
Ich warf dem Fenster einen Blick zu. Dieses Internat war seltsam.
„Aber wenn du dich auch davor fürchtest, können wir uns auch ein Bett teilen.“ Vermutlich hatte sie gedacht, ich hätte ebenfalls Angst. Doch ich fürchtete mich nicht vor der Dunkelheit.
Trotzdem warf ich ihr ein dankbares Lächeln zu. Sie war wirklich nett.
Sie hatte schöne olivfarbene Augen, die wieder perfekt zu ihr passten. Ich fragte mich, ob ihre Haare gefärbt waren.
Sie trat von einem auf den anderen Fuß, anscheinend war sie auch nervös.
„Ähm, möchtest du erst auspacken oder soll ich dich jetzt schon rumführen?“ Wieder ein Lächeln.
„Wenn du mir nachher beim auspacken hilfst?“, fragte ich freundschaftlich. Ich mochte Skye. Gleich in dem Moment, als ich sie gesehen hatte, war sie mir sympathisch erschienen.
„Na klar!“ Nun strahlte ihr Gesicht wie eine kleine Sonne. Freudig hackte sie sich bei mir ein und wir liefen zusammen die Treppe hinunter.

Als wir aus dem Gebäude heraus waren zeigte sie auf das daneben stehende. „Dort schlafen die Jungs. Es ist strengstens verboten einen Jungen in sein Zimmer zu holen oder umgekehrt. Aber es machen trotzdem alle. Aber glaub mir, die Meisten hier sind eh alle total öde.“
Ich zog die Augenbrauen hoch. „Die Meisten? Wer denn nicht?“, fragte ich und musste unwillkürlich an den blonden Jungen mit den grünen Augen denken. Er war sicherlich nicht ‚total öde’.
Skye grinste kurz. „Nun ja, die Typen von der Elite sind schon ganz schnuckelig. Aber an die kommt niemand ran. Das ist so, als ob du in William Hogarth verknallt bist. Null Chance.“
Ich runzelte die Stirn. „Wer ist William Hogarth?“
Skye lachte kurz auf. „Das ist ein toter Künstler.“
Überrascht sah ich sie an. Klasse Vergleich.
Wir gingen weiter gerade aus. Skye zeigte auf ein kleines Gebäude, was mitten auf einem Rasen stand. „Dort ist die Junior School. Dahinter die Middle School und dahinter die Senior School. Unsere Schule.“
Es war wirklich schön hier. Ich sah mich weiter um und entdeckte viele Rosenbüsche. Rote, Weiße, Rosafarbene.
Skye trug ebenfalls einen roten Blazer mit weißer Bluse und einem schwarzen Rock.
Sie hatte anscheinend gemerkt, dass ich ihre Uniform angesehen hatte. Denn sie erklärte mir: „Du wirst deine Uniform auch noch bekommen. Sie sind gar nicht mal so übel. Außer du bekommst eine kratzende Bluse, aber dann musst du sie nur ein paar Mal waschen und sie ist so weich, wie Kanienchenfell. So, hier schlafen die Lehrer. Hier warst du ja heute Morgen schon. Was hältst du davon, wenn wir den Rest ausfallen lassen und ich dir meinen Lieblingsplatz hier an Roses Castle zeige?“
Ohne meine Antwort abzuwarten zog sie mich weiter und erwähnte zwischen durch, nur die Namen der Häuser, wenn wir an welche vorbei kamen.
„Woher aus Amerika kommst du eigentlich?“, fragte sie mich direkt.
„New York.“ Ein Stich ging durch meinen Körper, wenn ich an Avan und Liz dachte. Was sie wohl gerade machten? Seit meiner Ankunft hatte ich keinen einzigen Gedanken an Avan verschwendet.
Skye blieb stehen uns sah mich besorgt an. „Habe ich etwas Falsches gesagt? Tut mir leid, wenn…“
„Nein, nein“, unterbrach ich ihr stottern, „Ich habe bloß an meinen Freund gedacht.“ Ich zwang mir ein Lächeln auf.
Aufmunternd sah mich Skye an. „Du hast einen Freund? Wow. Wie heißt er?“
„Avan. Er ist toll, gutaussehend und unglaublich sanft“, schwärmte ich und merkte dass es mir Augenblicklich besser ging. Skye war unglaublich.
„Du hast ein Glück. Ich hatte noch nie einen Freund.“
Überrascht riss ich die Augen auf. „Wirklich? Noch nie? Wieso denn nicht?“
Skye eiert ein bisschen rum, während wir weiter liefen.
„Ich habe doch vorhin erwähnt, dass du keine Chance bei der Elite hast – außer du bist eine von denen.“
Ich runzelte die Stirn. Wieso sagte sie das so, als wären sie etwas, vor was man sich fürchten sollte?
„Was ist denn mit der Elite? So schlimm können sie doch gar nicht sein“, versuchte ich es runterzuspielen.
Skye lachte nur verbittert auf. „Du wirst es morgen ja merken. Sie behandeln dich wie…wie einen Käfer. In ihren Augen bist du nichts wert. Sie nennen sich selbst die Madon Gesellschaft – keine Ahnung was dass bedeuten soll. Sie bekommen eine besondere Behandlung, selbst von den Lehrern. Ihnen steht viel mehr frei als uns. Und wenn man sich bei einem Lehrer beschwert, schütteln sie dich sofort ab. Es ist schrecklich. Besonders Arwen Maddox. Würde es einen Preis für die gemeinste und fieseste Kuh geben, würde sie alle niedertrampeln. Sie ist furchtbar. Und wehe jemand sieht Alex auch nur an, du glaubst gar nicht, wie schrecklich es ist.“
Ich schluckte. So wie Skye es erzählte, wurde sie von ihr schon einmal tyrannisiert. Das durfte sie sich nicht gefallen lassen.
Ich schüttelte nur den Kopf.
Skyes Laune hatte sich wieder verbessert. „Und bist du in New York geboren?“, nahm sie das eigentliche Thema wieder auf.
Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Geboren bin ich irgendwo in Groß Britannien. Wir sind aber ständig umgezogen, bis wir dann nahm New York kamen. Da dachte ich, dass wir eigentlich nicht mehr wegziehen…Und du? Bist du hier geboren?“
„Ich bin eigentlich Schottin. Nach meiner Geburt sind sie jedoch gleich nach England in einem Vorort von London gezogen. Aber meine Granny wohnt noch in Schottland, da besuchen wir sie oft.“
Ich lächelte ihr zu. Daher also die rötlichen Haare.
Wir standen nun vor einem länglichen Gebäude mit vielen, großen gotischen Fenstern. Da sich Skye direkt vor das Schild gestellt hatte, konnte ich nicht sehen, was für ein Gebäude war.
Sie öffnete die Tür und wir traten hinein. Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen, als ich diesen wunderschönen weißen Flügel sah.
Mein Mund stand offen. Meine Finger fingen an zukribbeln. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal gespielt hatte. Ich hatte mit vier Jahren begonnen zu spielen und es war zu meiner größten Leidenschaft geworden. Ich hatte einmal ein Leben geführt, was nur aus Musik bestand. Dann sind wir immerzu umgezogen und ich musste es aufgeben.
Langsam schritt ich auf den Flügel zu. Ich wurde fast wie magisch angezogen.
„June, spielst du?“, fragte Skye und zerstörte damit den magischen Moment. Ich war ihr aber nicht böse.
„Ja, ich habe mal gespielt. Aber das ist schon ewig her. Was wolltest du mir zeigen?“
Syke sah aus, als habe sie gemerkt, dass ich über dieses Thema nicht sprechen wollte, denn schließlich zeigte sie mir eine riesengroße Staffelei mit einem halbfertigen Bild von einem Engel. Es war wunderschön. Mann konnte die zarten Züge des Engels erkennen. Der eine Flügel war schon fertig und sah aus, als wäre er echt. Der Engel stand zwar nur da und blickte auf einen hinab, aber es war mit das schönste was ich je gesehen hatte.
„Skye, hast du das gemacht?“, fragte ich zum zweiten Mal an diesem Tag.
Stolz nickte sie. „Es ist bis jetzt mein größtes Projekt. Hat Mr. Palmer dir auch die Legende erzählt? Mit dem Engel? Ich habe mir diesen Engel immer so vorgestellt.“
Sanft berührte sie den Rahmen des Bildes.
„Es ist wunderschön“, murmelte ich.
Skye lächelte nur, sie war wohl in einer anderen Welt.
„Glaubst du dass sie wahr ist?“, fragte Skye nach einer Weile.
Völlig überrascht, sah ich auf. Genau dieselbe Frage hatte ich mir vorhin auch gestellt.
„Ich glaube nicht. Es gibt so etwas wie Engel nicht.“
Skye machte ein Gesicht, als hätte sie sich eine andere Antwort gewünscht.
„Ich würde es schön finden, wenn es so etwas gäbe. Stell dir vor, sie könnten dir deinen größten Wunsch erfüllen.“
Skyes Gesicht wirkte nun entsetzlich traurig. Verständnisvoll strich ich ihr über den Arm.
„Was würdest du dir denn wünschen?“
Ohne zu lange zu überlegen antwortete Skye: „Meine Mum.“
Ich runzelte die Stirn. „Wieso? Wo ist sie denn?“
Langsam füllten sich Skyes Augen mit Tränen. Sie brauchte nicht mehr antworten, ich konnte mir denken wo ihre Mutter war. Als ihr Schluchzen immer mehr wurde, blieb mir nichts anders übrig, als sie in den Arm zu nehmen.
Ich empfand es nicht als schlimm, sie zu trösten. Irgendwie waren wir ja auch schon Freundinnen.
Nach einer Weile hatte sie sich dann endlich beruhigt. Beschämt wischte sie sich über ihre Augen. „Tu-tut mir leid. Normalerweise kann ich mich zusammen reißen.“
Ich machte eine wegwerfende Handbewegung und wollte gerade etwas sagen, als ich mehrere Stimmen hörte.
Syke schien diese Stimmen zu erkennen, denn sie wischte sich hastig über ihre Augen und schimpfte vor sich hin.
„Verdammt, warum habe ich mir bloß die Haare abgeschnitten?“
Völlig verzweifelt lief sie hin und her.
„Was ist denn, Skye?“
Plötzlich blieb sie stehen und strahlte wieder, doch ihre Augen waren noch panisch. Sie packte mein Handgelenk und wollte mich gerade weg ziehen, als ich zwei Mädchen mit Mappen hinein kamen.
Es waren die Mädchen, die bei der Zusammenkunft so seltsam gewirkt hatten. Die schwarzhaarige und die rothaarige Schöne.
Eindruckslos sah ich beide an und merkte wie Skyes Griff fester wurde. Wahrscheinlich waren es zwei von der Elite.
Die Augen der rothaarigen flatterten wie wild, als sie uns entdeckte.
„Ohh, sieh doch Arwen – Skye sieht sich wieder ihr halb fertiges Kindergekrakel an“, rief sie abschätzend aus.
Ich zuckte zusammen, Skye würde jeden Moment mein Handgelenk zerquetschen. Ich warf ihr einen Blick zu. Doch sie war vollkommen auf Arwen fixiert.
Nun standen die beiden wenige Meter vor uns.
Mein Blick blieb weiterhin unbeeindruckt. In New York hatte ich genug Auseinandersetzungen mit Mädchen wie diesen gehabt. Ich wusste wie man damit umging.
„Hallo Skye“, sagte Arwen langgezogen. Ich musste schon zugeben, ihre Stimme klang schon leicht furchteinflößend.
Skye antwortete nicht.
„Wie geht es deinem Rücken, Skye? Tut er noch weh?“
Verwirrt sah ich zu Skye und sah, wie sie mit großen Augen den Kopf schüttelte. Ich fragte mich was hier los war.
Arwen quittierte dies mit einem fiesen Grinsen. Nun wand sie sich an mich.
„Und du bist June Fairhust – die Neue. Nun, dann sollten wir dich wohl mal einweisen.“
Ich lächelte sie süßsanft an. „Ich glaube nicht, das dass nötig ist.“
Arwen lächelte ebenfalls geheuchelt. „Sehr schön. Dann solltest du dir vor allem eine Sache ganz besonders merken, June.“
Ich zog die Augenbrauen hoch. „Was? Das ich die Finger von deinem Make-up lassen soll? Keine Sorge, ich bin auch natürlich schön.“
Ich hörte Skye neben mir nach Luft schnappen und sah, dass der Mund der rothaarigen auffiel.
Arwens Augen verengten sich und ihr Blick wurde kalt. „Nein. Du lässt die Finger von Alex. Wenn auch nur dein kleiner Finger ihn zufällig streift, hast du bald nur noch neun davon.“
Okay, dieses was-auch-immer-Wesen war extrem verklemmt. Ich musste mir ein Grinsen verkneifen.
„Natürlich. Ich steh sowieso nicht auf kleine Jungs mit dominanten Freundinnen.“
Arwen schenkte mir ein letztes hochmutiges Lächeln ehe sie mit einer Drehung den Raum verlief und ich in schallendes Gelächter ausbrach.
„Mein Gott, ist die immer so drauf?“ Ich hielt mir meinen Bauch, da er vom vielen Lachen schon weh tat.
„Dieses Mädchen ist ja so was von verklemmt!“ Ich merkte erst nachdem ich mich beruhigt hatte, dass Skye nicht mitlachte.
„Skye, ist alles in Ordnung?“, fragte ich vorsichtig und hatte Angst dass ich irgendetwas Falsch gemacht hätte. Doch Syke sah mich nur mit großen Augen an.
Dann sagte sie: „Du bist völlig wahnsinnig.“ Fragend sah ich sie an.
„So hat noch niemand mit Arwen gesprochen. Sie hält sozusagen die Schule in der Hand. Wie hast du das gemacht?!“
Ich zog eine Grimasse. „Na ja, in New York gab es ähnliche Zicken, da muss man lernen mit umzugehen. Ich brauch noch meinen Stundenplan und eine Uniform. Zeigst du mir wo ich sie finde?“
Nun war Skye wieder ganz die Alte. Sie lächelte und zog mich mit.


Kapitel 3


Nachdem ich in meine Uniform geschlüpft war, eröffnete mir Skye dass ich nun richtig ins Roses Castle gehörte. Die Uniform war bequemer, als ich gedacht hatte. Außerdem hatte ich zum roten Blazer auch noch eine dünne graue Strickjacke dazu bekommen und einen grauen Pullover mit V-Ausschnitt. Die Sportsachen bestanden aus einem schwarzen T-Shirt, einem roten Rock und Kricketschläger. Mein Stundenplan sah auch aus wie jeder andere, außer ein paar neuen Fächern. Was mich natürlich sehr freute war, dass wir zwei Stunden in der Woche Musik hatten.
Als mir Skye beim Auspacken half erfuhr ich mehr über die Elite.
„Arwen ist die Anführerin der Elite und Alex ebenfalls. In Alex war schon absolut jedes Mädchen verknallt. Ja, auch ich“, sagte sie, als sie meinen Blick bemerkte.
„Was soll denn so besonders an diesem Alex sein? Du redest von ihm, als wäre er George Clooney und ihr die sabbernden Frauen über 30.“
Skye warf mir ein Grinsen zu. „Du hast ihn ja noch nicht gesehen – er ist unglaublich. Bei ihm fühlst du dich so behütet.“
Ich blieb weiterhin skeptisch. „Hat er denn auch etwas im Kopf?“
„Er ist nicht dumm. Begegne ihn erst einmal und dann wirst du sehen, wie es dich erwischt.“
Wissend sah mir Skye aus den Augenwinkeln zu, wie ich meine Unterwäsche in dem Schrank sortierte.
„Wen gibt es denn noch außer Arwen, Alex und diese Rothaarige?“, fragte ich.
„Das war Violetta, sie ist Arwens ‚beste Freundin’, obwohl ich mich frage, ob Arwen überhaupt so etwas wie Freundschaft empfindet. Außerdem gibt es noch Shane Darwin, Elinor Shawn, Heather Murray, Raphael Ashworth – er ist der Bruder von Alex, David Mistry, Elliott Parsons und Victoria Hunter.“
Ich wollte gerade eine weitere Frage stellen, als ein aufgewühlter dunkelhaariger Junge mit einer runden Harry-Potter-Brille und ein molliges Mädchen mit einem blonden Wuschelkopf hereingeplatzt kamen.
„Du glaubst ja gar nicht, was sich Miss Maddox heute erlaubt hat!“
Mit kompletter Entrüstung ließ er sich lautstark auf Skyes Bett fallen, während sich das Mädchen grazil daneben setzte. Beide hatten etwa dieselbe Größe, ich schätzte sie auf 1.70. Was für einen Jungen ganz schön klein war…
Als mich der Junge entdeckte richtete er sich sofort auf und gab mir seine Hand.
„Oh, endschuldige. Ich habe dich zuerst gar nicht bemerkt. Du bist June, richtig? Ich bin Jeremy Condon.“
Ich lächelte ihn an und sah wie sich eine leichte Röte im Gesicht verbreitete, als ihm auffiel, dass seine Hand meine eindeutig zu lange festhielt.
„Und ich bin Gill Allmond. Schön dich kennen zu lernen!“ Gill lächelte mir nur freundlich zu, aber ihre blass-blauen Augen funkelten sagenhaft.
Da sich nun alle vorgestellt hatten, mischte sich Skye wieder ein.
„Was hat Arwen denn gemacht?“
Jeremy verdrehte die Augen. „Ein Mädchen aus der Unterstufe hat Alex angelächelt und Arwen ist vollkommen ausgeflippt. Sie hat dem Mädchen gedroht! Und denkst du, ein Lehrer hat etwas unternommen? – Nein! Alex hat sie bloß weggezogen und noch getröstet! Ich kann es einfach nicht fassen, wie diese Monster behandelt werden.“
Skye sah mich mit einem siehst-du-Blick an. Ich hingegen war nur völlig perplex und konnte es nicht verstehen.
„Warum weist sie niemand in die Schranken? Sie kann doch nicht einfach herumlaufen und kleine Kinder bedrohen bloß, weil sie ihren Freund anlächeln.“
„Und genau deswegen ist diese ganz Sache ja so mies“, klärte mich Gill auf.
Ich schüttelte nur den Kopf und packte meine Sachen weiter aus.
„Wir hatten heute ebenfalls eine Begegnung mit Arwen, Freunde. Und die liebe June hat es ihr so richtig gegeben.“ Ich hielt in meiner Bewegung inne und starrte Skye an.
Wollte sie jetzt prahlen? Wie peinlich! Ich merkte schon wie ich rot wurde.
Jeremy und Gill machten große Augen.
„Ich hab es ihr nicht ‚gegeben’, ich hab ihr nur geantwortet. Mehr nicht. Macht bitte nicht so eine große Sache daraus, mir ist es jetzt schon ziemlich peinlich…“
„Das braucht es doch aber nicht! Wenn du Arwen klein kriegst, kannst du vielleicht wieder die Gerechtigkeit herstellen!“, rief Jeremy aus.
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, nein, ich werde nicht eure Friedenstaube spielen.“
Jeremy wollte gerade etwas erwidern, als ein weiteres Mal die Tür aufgestoßen wurde. Allerdings nicht von einer Gleichaltrigen, sondern von einer älteren Frau mit grauen Strähnen und goldumrahmten Brille.
Jeremy erhob sich wie ein geschlagener Tiger. „Schon gut, Mrs. Yarwood. Ich geh ja schon. Bis dann, Leute.“
Mit einem Nicken deutete sie auf Jeremy. Dann drehte sie sich zu uns um und lächelte uns an.
„Hallo Mädels. Willkommen auf Roses Castle, June“, sagte sie und verschwand wieder. Verwirrt sah ich ihr nach und fragte mich, was dass wohl sollte.
„Bist du fertig, June? Wir treffen uns immer alle nach der Schule im Gemeinschaftsraum.“
Ich nickte und ließ mich wieder einmal von Skye mitziehen.
Auf dem Weg zum Gemeinschaftsraum der Seniors wirkte nun die Schule wie eine richtige Schule. Kleine Kinder rannten auf dem Rasen hin und her oder saßen Grüppchenweise zusammen und kicherten lebhaft.
Als wir gerade das Gebäude betreten wollten, kamen Arwen und ihre Elite uns entgegen. Und der blonde Junge mit den grünen Augen. Ich versuchte mir den Schock nicht anmerken zulassen, als ich die beiden Händchen halten sah. Er war also Alex.
Dieses Gefühl, was ich heute Morgen gehabt hatte, war trotzdem da. Mein Blick blieb mit seinem verankert und wieder vorbei, als ich im Haus stand.
Ein Glück war ich nicht stehen geblieben. Es wäre sicherlich nicht besonders schmackhaft geworden, wenn Arwen etwas davon mitbekommen hätte.
Anscheinend schienen meine neuen Freunde ebenfalls nichts gemerkt haben, sodass ich mich ganz normal verhalten konnte. Außerdem hatte ich einen Freund und mit ihm war ich glücklich. Sehr glücklich. Auch wenn uns 7 Stunden trennten.
Wir steuerten auf eine kleine Gruppe von Leuten zu, die hauptsächlich aus Mädchen bestand. Ich erkannte Jeremy und Gill wieder und lächelte sie zaghaft an.
Skye stellte sie vor. „Das sind Lynn Smith und Denice Morris. Und ihr beide habt June sicherlich heute Morgen schon gesehen.“
Beide nickten und warfen mir ein „Hi“ zu. Ich setzte mich neben Skye und hörte ihnen zu. Doch da sie über gewisse Jungs redeten, die ich nicht kannte, hörte ich nicht genau hin und sah mir Denice und Lynn genauer an.
Denice hatte ein wirklich hübsches Gesicht, vor allem ihre ausgeprägten Wangenknochen machten es bei ihr sehr weiblich. Sie hatte braune große Locken und treue braune Augen. Lynn hingegen war ein ganz anderer Typ. Sie hatte schulterlange, gewellte und dunkelblonde Haare, eine Zahnspange aber dafür hinreißende braun-grüne Augen und eine unscheinbare Brille.
Skye schrieb sich noch die Unterlagen vom heutigen Schultag ab und für mich ebenfalls, wofür ich ihr dankbar zulächelte und dann wurden wir auch schon von einer kleinen Frau rausgeschmissen, da es in wenigen Minuten Abendessen gab. Um 6 Uhr! In New York hatte ich sonst immer erst um 8 oder um 9 gegessen.
Von Denice hatte ich gehört, das dass Essen ganz erträglich sei, falls ich aber Vegetarier sei, sollte ich mich lieber verstecken. Doch zum Glück war ich kein Vegetarier. Natürlich taten mir die armen Tiere leid, doch was sollte man machen?
Skye machte mich auf den kurzen Weg zur Mensa auf den Sonnenuntergang aufmerksam. Es war wirklich schön. In New York hatte ich nie einen sehen, da alles mit Gebäuden zugebaut war und die hellen Lichter der Stadt alles überstrahlten.
Die Mensa war sehr groß und hatte einen wunderschönen Mosaikboden. Ich konnte jedoch das Muster nicht erkennen, da überall Leute drauf standen.
Eine freundliche Bedienung tischte mir etwas auf, das aussah wie Schweinefleisch und etwas das Äpfeln ähnelte. Am Tisch warf ich dem Essen immer wieder einen verwirrten Blick zu.
Skye zeigte neben mir mit ihrer Gabel auf mein Fleisch.
„Das Gericht heißt English Pork. Und das sind Schweinefleischstücke in Cider-Sahnesoße mit Äpfeln, dazu Karottenstifte, Brokkoliröschen sowie New Potatoes – extrem lecker. Aber niemand kann English Pork von meiner Grandma toppen.“
Ich verzog das Gesicht. „Das hört sich extrem widerlich an.“
Skye lachte. „Probier es, es ist verdammt lecker.“
Tapfer schob ich mir etwas Schwein in dem Mund und war überrascht wie gut es schmeckte. In nur wenigen Minuten war mein Teller leer und ich war zufrieden und glücklich. So etwas Leckeres hatte ich noch nie gegessen.
Wir saßen noch lange zusammen und erzählten viel. So fand ich heraus, dass Lynn total begeistert von Science-Fiction war, Jeremy Fußball liebte, Gill Süßes vergötterte und Denice ein Bücherwurm war.
Um 9 schmissen uns dann auch hier die Erwachsenen raus, sodass wir uns nun alle von einander verabschiedeten und auf unsere Zimmer gingen.
Jeremy war im selben Haus wie mein Bruder und bestellte ihm von mir schöne Grüße. Lynn und Denice waren ein Zimmer neben uns und Gill – die arme – teilte sich mit einem nervenden Mädchen ein Zimmer am Anfang des Flures.
Skye zeigte mir noch, wie ich am besten meine schwarze Schultertasche packte und bezog mit mir noch mein Bett, als dann um 10 die Hausmutter an unsere Tür klopfte und die Nachtruhe verkündete.
Beim Zähneputzen verkündete mir Skye, dass nie alle pünktlich um 10 in den Betten lägen, sondern sich noch irgendwo herum trieben und die Hausmütter Mühe hatten, alle einzusammeln.
Als wir in unseren Betten lagen erzählten Skye und ich noch etwas.
„Und wie findest du Jeremy und die anderen?“
„Ganz nett. Ihr seit alle ziemlich anders, als andere Schüler.“
Ich hörte Skye verbittert schnaufen. „Wir sind auch nicht gerade beliebt.“
„Nein, nein. So habe ich das nicht gemeint. In New York würdet ihr zu den Coolen gehören. Anders sein ist okay, sonst wäre das Leben ja langweilig.“
„Meinst du?“
„Natürlich“, sagte ich aus ganzem Herzen.
„Du bist auch anders, June.“
Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen. „Wieso?“
Erst nach drei Schnaufern antwortete Skye. „Na ja. Als ich gehört hatte, dass jemand aus New York in mein Zimmer kommen würde, hatte ich mit einer echten super Zicke gerechnet…“
„Stattdessen bekommst du eine, die auf den Hintern landet und erst einmal von dir ausgelacht wird. Du warst sicherlich enttäuscht.“
Skye kicherte gedämpft in ihr Kissen. „Oh ja, riesen Enttäuschung. Tut mir echt leid, dass ich dich ausgelacht habe. Du hast irgendetwas, was einen fasziniert, deine Art. Ich kann das noch nicht beschreiben, dafür kenn ich dich zu kurz. Frag mich am Ende des Schuljahres noch einmal. Und jetzt schlafen wir. Ich bin extrem müde. Schlaf gut, June.“
„Du auch, Syke“, murmelte ich und schlief mit einem Lächeln ein.

Ich wurde mitten in der Nacht von einem gedämpften Geräusch wach. Zuerst wusste ich überhaupt nicht, wo ich mich befand. Erst nach wenigen Sekunden fing mein Hirn wieder an zu arbeiten. Ich richtete mich auf und sah auf Skyes leuchtenden Wecker. Halb eins. Wunderbar.
Ich sah kurz aus dem Fenster, um zu gucken was mich geweckt hatte. Als ich nichts sah, wollte ich mich wieder abwenden, doch dann sah ich einen hellen Schatten vorbeihuschen. Nun blickte ich genauer hin. Doch der Schatten war verschwunden. Es war bestimmt eine Katze gewesen. Mit diesem Gedanken versuchte ich wieder einzuschlafen, als ich jedoch ein Klirren hörte, richtete ich mich wieder auf und starrte aus dem Fenster. Und sah… nichts.
Da ich wusste, dass ich nicht wieder einschlafen konnte, stand ich aus meinem Bett auf, zog mir Schuhe an und überlegte noch, ob ich eine Jacke brauchen würde. Verwarf es jedoch, da es heute Nachmittag ziemlich warm gewesen war und tat etwas, was ich früher immer gemacht hatte, als ich nicht schlafen konnte.
Auf Zehenspitzen schlich ich mich aus dem Zimmer und hoffte, dass ich nicht erwischt wurde. Auf dem Flur war es stockdunkel und ich verfluchte mich dafür, dass ich mein Handy nicht mitgenommen hatte, um für Licht zusorgen. Doch weil ich noch so in etwa wusste, wie der Gang aussah, hatte ich keine großen Probleme.
Unten in der Eingangshalle brannte gedämpftes Licht. Langsam schlich ich auf den Glaskasten zu und sah mich um, ob davor jemand saß. Niemand.
Im Glaskasten sah es jedoch anders aus. Dort saß ein kleiner, dicker Mann mit einem wuschligen Kopf. Doch ein Glück schlief dieser. Ich verzog den Mund, als ich sah wie ihm Sabber aus dem Mundwinkel lief.
Der hat sicherlich süße Träume, dachte ich.
Schnell glitt ich zur Tür und überlegte krampfhaft, ob sie geknarrt oder gequietscht hatte, als ich das Gebäude betreten hatte. Doch mir fiel es nicht ein.
„Wahrscheinlich auch, weil sie weit offen gestanden hat, du Dumpfbacke“, schimpfte ich mit mir im Flüsterton.
Mit dem Sprichwort „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“ im Hinterkopf öffnete ich die Tür und betete, dass sie keinen Mucks von sich gab. Wie ein Wunder oder durch gutes Ölen wurden meine Gebete erhört.
Leise schloss ich die Tür wieder. Meine Armhaare stellten sich auf, als mich eine ziemlich kalte Brise erwischte. Verdammt und ich hatte meine Jacke nicht mit nehmen wollen. Doch da ich nicht noch einmal nach Oben schleichen wollte, lief ich einfach so los.
Weglaternen erleuchteten den ganzen Campus, sodass ich gut den Weg finden konnte.
Als ich vor dem Musikhaus ankam, war ich so gut wie zugefroren und hatte bedenken, dass meine Finger sich noch bewegen konnten.
Zum Glück war das Haus nicht abgeschlossen, anscheinend vertrauten sie auf ihren Zaun. Neben der Tür befand sich ein Lichtschalter, den ich zuerst betätigen wollte, als ich jedoch entdeckte, dass der Vollmond durch die großen Fenster direkt auf den weißen Flügel schien, verwarf ich diesen Gedanken sofort. Eine schönere Atmosphäre hätte es nicht geben können.
Mit dem vertrauten Kribbeln in den Fingern setzte ich mich an den Flügel.
Ich schob den Tastenschutz hoch und legte meine Finger auf das Elfenbein. Als ich den ersten Ton anschlug merkte ich, wie er durch meinen ganzen Körper vibrierte. Danach flossen ohne nachzudenken alle möglichen Melodien von meinem Kopf in meine Finger und nahmen im Klavier gestallt an. So verarbeitete ich die Verabschiedung von Avan mit einer sehr melancholischen Melodie, die Begegnung mit Skye wurde schwungvoll und lustig, so dass ich beim spielen lächelte. Dann erschein Alex’ Gesicht vor meinen Augen und die Melodie nahm neue Gestalt an. Es wurde Sehnsüchtig und ich versuchte dieses seltsame, unbeschreibliche Gefühl auszudrücken. Es entstand eine Melodie aus meinem tiefsten Herzen.
„Sollten Mädchen wie du nicht eigentlich schon schlafen?“, fragte plötzlich eine Stimme und ich brach aufgeschreckt ab.
Ich hoffte bloß, dass es kein Lehrer war. Ich wollte nicht schon an meinen ersten Tag negativ auffallen. Es war natürlich dumm, dies zu hoffen. Da sich sicherlich kein anderer Schüler nachts herumtreiben würde. Ich malte mir schon meine Bestrafung aus, als die Person aus dem Schatten kam und sich der vermeintliche Lehrer als jemand blondes mit grünen Augen entpuppte. Alex.
Wieder war da dieses Gefühl, doch ich versuchte es weitestgehend zu überspielen. Immerhin gehörte er zur Elite.
„Und brauchen Jungs wie du, nicht ihren täglichen Schönheitsschlaf?“
Ich sah wie seine Mundwinkel zuckten. Er war größer als ich gedacht hatte. Durch das weiche Licht des Mondes, konnte man schwach die Konturen seiner Muskeln durch das weiße T-Shirt erkennen. Als ich merkte, dass ich starrte, wurde ich rot und bemühte mich wo anders hinzusehen.
„Ich bin schön genug, da kann ich getrost darauf verzichten.“
Sofort sprang mein Blick, wie ein Gummiband, wieder zu ihm zurück. Abwertend zog ich meine Augenbrauen hoch. So so, arrogant war er also auch.
Er kam auf den Flügel zu und legte eine Hand darauf.
„Du spielst gut“, sagte er und legte den Kopf leicht schief.
Überrascht von dem Kompliment antwortete ich vollkommen ehrlich: „Danke. Ich habe aber schon ewig nicht mehr gespielt. Ich hatte Angst, dass ich es nicht mehr kann.“
„Ich denke du kannst es noch, keine Sorge.“
Sein Lächeln war aufrichtig und ich konnte nicht anders als zurück lächeln.
Als ich ein seltsames Geräusch hörte, zuckte ich kurz zusammen und sah wie Alex’ Kiefer sich anspannte.
„Ich bringe dich zurück zu deinem Wohnheim. Es ist schon sehr dunkel.“
Ich stand auf und stellte mich vor ihm. „Komisch, dabei dachte ich immer nachts wäre es hell.“
Er warf mir ein kurzes Grinsen zu, als er mir die Tür öffnete. Es war bestimmt noch kälter geworden, seit ich aus dem Mädchenwohnhaus rausgegangen war. Fröstelnd rieb ich mir die Arme, als mir Alex eine schwarze Jacke um die Schultern hang.
Überrascht sah ich zu ihm hoch, er war mindestens 20, wenn nicht sogar 30 Zenitmeter größer als ich. Neben ihm kam ich mir vor wie ein Zwerg.
„Sie ist zwar nicht besonders dick, aber sie hält dich wenigstens ein bisschen warm.“
Ich schlüpfte hinein, die Jacke war mir bestimmt drei Nummern zu groß. Aber sie duftete herrlich.
Immer noch perplex über sein Verhalten sah ich Alex von der Seite an.
„Was denn?“, fragte er schließlich.
„Nichts. Nur, da wo ich herkomme hätte das niemand getan.“
Ein selbstsicheres Grinsen trat in sein Gesicht. „Ich bin Brite, wir sind die Gentlemans schlecht hin.“
Ich sah ihn skeptisch an. „Und auch keinen Hauch arrogant, hab ich recht?“
„Natürlich nicht. Wir sind uns unserer Brillanz nur bewusst.“
Grinsend schüttelte ich den Kopf und sah auf den Gehweg.
„Kann ich dich was fragen?“
„Sicher.“
Ich atmete ein Mal kurz durch, als ich schließlich so nichtig wie möglich fragte: „Wieso bist du mit Arwen zusammen?“
Gelassen blickte er auf mich herab. „Wieso, bist du interessiert?“
Wütend sah ich ihn an. „Natürlich nicht. Ich meine, sie ist gemein und besitztergreifend. Ich habe mich bloß gefragt, wie du das aushältst.“
Er zuckte kurz mit den Schultern. „Sie ist ja zu mir nicht so.“
Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Das ist ziemlich oberflächlich.“
„Findest du? Und wie ist das bei dir? Du hast einen Freund und flirtest mit mir.“
Meine Augen weiteten sich. Wir waren schon fast da.
„Woher weißt du…Ich flirte überhaupt nicht mit dir. Was hätte ich für einen Grund. Denn wie du bereits sagtest, habe ich einen Freund. Und er ist der liebevollste Mensch den ich kenne.“
Sein Blick wirkte immer noch gelassen und gleichgültig, trotzdem konnte ich leicht eine unterdrückte Wut in seiner Stimme hören.
„Die Schule ist wie ein Dorf, dort spricht es sich schneller rum, als du es denken kannst. Und warum fragst du mich dann solche Sachen und siehst mich an?“
„Aus purer Neugier, Alex. Ich darf dich doch wohl ansehen!“
Ungläubig zog er eine Augenbraue hoch und sagte: „Okay. Dann, gute Nacht, June. Und geh nicht noch einmal nachts raus. Hier laufen mehr als nur Katzen herum.“
Er wartete noch, bis ich im Haus war, dann verschwand er. Ich sah ihm noch nach. Es sah unglaublich elegant und lässig aus, wie er seine Schultern schwang und wie sich seine Schulterblätter bewegten. Nach dem ihn die Schatten der Nacht verschluckt hatten, ging ich hinauf in mein Zimmer und schlief mit seiner Jacke ein.


Kapitel 4

Am nächsten Morgen wurde ich von einem nervtötenden Piepen geweckt. Es war Skyes Wecker, doch als sie sich nicht rührte und wie ein Stein weiter schlief, wusste ich was sie damit meinte, dass ich ihr Wecker sein würde.
Zuerst maulte ich nur lauthals ihren Namen und reihte mehrere unverständliche Wörter an einander. Doch nachdem ich merkte, dass Skye sich immer noch nicht rührte, stand ich mit einem Knurren aus dem Bett und tapste hinüber zu Skye.
Zuerst rüttelte ich sie sachte an der Schulter. Nichts.
„Mein Gott, Skye du schläfst ja wie ein Murmeltier im Winterschlaf.“
Dann fiel mir etwas ein. Gestern hatte Jeremy Skye ausgekitzelt und uns gezeigt, wo auch wirklich nur sie kitzelig war. Mit einem gemeinen Grinsen legte ich meine Hände unter ihr Kinn und begann mit dem Wecken.
Am Anfang drehte sich Skye nur auf die andere Seite und knurrte vor sich hin, dann aber schlug sie die Augen auf und begann zuzappeln. Plötzlich zuckte ein kurzer Schmerz durch meinen Finger.
„Du hast mich gebissen!“, rief ich empört aus.
Mit kleinen Augen sah sich mich böse an. „Du hast mich wach gemacht!“
„Oh, entschuldige, bitte. Aber wir müssen nun mal aufstehen, weil wir seltsamerweise zur Schule müssen.“
Skye klatschte die Hand gegen ihre Stirn und ließ sich zurück fallen.
„Schule, stimmt. Tut mir leid, June. Habe ich dir wehgetan?“
Langsam erhob sie sich von ihrem Bett.
„Du hast mich gebissen. Ist aber nicht schlimm, blutete nicht.“
Ich wollte gerade ins Bad gehen, als mich Skye am Arm fest hielt.
„Ähm June, was ist das für eine Jacke?“
Ich sah an mir runter. Oh verdammt! Die Jacke. Ich hatte gestern vergessen, sie Alex wieder zu geben. Die Erinnerung an gestern Nacht durchzuckte meinen Körper, wie ein angenehm warmer Blitz. Ich fuhr mit beiden Händen übers Gesicht. Warum hatte ich ihm seine Jacke nicht zurück gegeben?
„Ähm…ich…“ Ich kam in Erklärungsnot.
„Die Jacke hattest du gestern Abend aber noch nicht an, oder?“
Ich musste ihr die Wahrheit erzählen, sonst würde ich gleich platzten. Doch ich hatte Angst, dass sie ebenfalls platzten würde. Jedoch aus einen anderen Grund als ich.
„Genau genommen, habe ich diese Jacke seit gestern Nacht…“
Sykes Augen wurden größer. Sie setzte sich wieder aufs Bett und deutete mir, mich neben ihr zu setzten.
Nach dem ich mich im Schneidersitz auf ihr Bett gesetzt hatte, sah sie mich fragend an.
„Und was hast du gestern Nacht gemacht?“
Ich holte tief Luft und begann zu erzählen, jedoch blieb mein Blick die ganze Zeit auf meine Hände fixiert.
„Ich habe irgendwelche komischen Geräusche gehört, dann konnte ich nicht mehr einschlafen. Also bin ich aufgestanden und hab meine Jacke vergessen. Ich bin zum Musikhaus gegangen, um dort wieder Klavier zu spielen. Plötzlich tauchte Alex mitten in dem Raum auf. Er hat mir gesagt, dass ich gut spiele, dann war wieder irgend so ein komisches Geräusch und Alex ist dann so ernst geworden, wollte mich zurück bringen und meinte dann so ein wirres Zeug wie: ‚Es ist schon sehr dunkel.’ Ganz unheimlich. Es war noch kälter geworden, also fing ich an zufrieren, da gibt er mir plötzlich seine Jacke. Er war wirklich nett, bis ich ihn dann gefragte habe, warum er mit Arwen zusammen ist…“
„Das hast du nicht!“, entsetzt sah Syke mich an.
„Was ist denn daran so schlimm? Er klang auch so merkwürdig…“
Skyes Augen wurden noch größer.
„Im Ernst? Was hat er denn gesagt?“
„Er fragte ob ich interessiert wäre; so ein Unsinn. Danach hab ich ihm gesagt, dass es oberflächlich von ihm ist, weil er gesagt hatte, dass sie zu ihm ja nicht so fies und gemein ist. Dann hat er mich beschuldigt, dass ich selber nicht besser wäre und dass ich mit ihm geflirtet habe. So ein mist, das habe ich absolut nicht. Nur, weil ich ihn angesehen habe – oh mein Gott!“
Wütend sprang ich auf. Nun regte ich mich schon so auf wie gestern. Grr.
„Es kommt drauf an, wie du ihn angesehen hast“, klärte mich Skye auf.
Wütend funkelte ich sie an. „Ich hab ihn ganz normal angesehen und nicht so, als würde ich ihm in der nächstbesten Sekunde die Kleider vom Leib reißen!“
Sie presste die Lippen auf einander und zog die Stirn kraus.
„Ich hab’s!“, rief sie aus.
„Was? Das er völlig überreagiert hat, ja das hab ich auch gemerkt.“
Heftig schüttelte sie den Kopf. „Nein, nein. Wie wir wissen, wie du ihn angesehen hast. Blicke spielen bei so etwas immer eine ganz wichtige Rolle und werden auf die Goldwaage gelegt. Schaust du Böse aus der Wäsche, meinen alle du hasst sie. So ist das eben. Denk an ihn und dann sieh ich, wie du guckst.“
Ich verdrehte die Augen, aber tat was sie mir sagte.
Ich dachte an die letzte Nacht zurück und merkte wie sich mein Blick verfinsterte.
„Okay, ich denke das wird nichts“, sagte Skye und brach die ganze Sache ab.
„Du bist einfach noch etwas wütend. Wenn du ihn siehst, sehen wir vielleicht am besten wie dein Blick ist.“
Ich sah auf die Uhr und zog die Augenbrauen zusammen.
„Skye, wann fängt der Unterricht an?“
„Um neun. Aber um acht ist immer noch Frühstück, man sollte pünktlich sein, um noch etwas Genießbares abzubekommen.“
„Dann müssen wir sicherlich Dreck essen.“
Überrascht sah sie auf ihren Wecker. „Oh nein!“
Hektisch sprang sie auf rannte zum Bad und ich mit. Wie im Zeitraffer zogen wir uns an und erledigten alle anderen Sachen die man Frühmorgens tat.
Für alles brauchten wir eine erstaunliche halbe Stunde. Dann eilten wir auch schon im schnellen Laufschritt zur Mensa.
Als wir kurz vor der Mensa waren viel mir siedendheiß ein, dass ich Alex’ Jacke und meine Tasche vergessen hatte.
„Geh du schon mal vor, Skye. Ich hab etwas vergessen.“
„Soll ich mit kommen?“
„Nein, nein. Ich komme schon klar.“
Mit einem Lächeln ließ sie mich stehen und betrat das Gebäude.
Da ich nicht noch mehr Zeit verschwenden wollte, rannte ich zum Wohnheim zurück und stand nach nur wenigen Minuten wieder in der Mensa mit Alex’ Jacke und meiner Tasche.
Plötzlich ging die Tür auf und ich sah wie Arwen mit Alex eintrat. Die beiden sahen nicht gerade glücklich aus und weil ich nicht dazwischen treten wollte, huschte ich in die nächstbeste Ecke.
Arwen hielt Alex am Arm fest und drehte ihn in eine, für mich, sehr ungünstige Position. Ich hatte Bedenken, dass er mich vielleicht sehen könnte. Arwen sah einmal kurz nach links und rechts. Dann verschränkte sie die Arme vor der Brust und stellte sich herausfordernd vor Alex.
„Du hast ihr deine Jacke gegeben?“
Ich machte ein erschrockenes Geräusch, hielt mir im selben Moment jedoch den Mund zu. Arwen drehte sich kurz um, sah mich aber nicht. Wieso sprach sie ihn auf letzte Nacht an? Hatte er etwas davon gesagt?
Alex sah aus, als hätte er dieses ganze Theater gestrichen voll.
„Ihr war kalt, Arwen“, sagte er mit bemüht ruhiger Stimme.
„Wir sollen die Leute hier vor anderen Dingen beschützen, als vor der Kälte! Was hat sie überhaupt nach der Ausgangssperre gemacht?“
Beschützten? Was sollte das heißen? Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen und lauschte nun umso mehr.
„Sie hat Klavier gespielt. Ja, mitten in der Nacht, frag bitte nicht wieso, denn ich weiß es auch nicht. Sie ist sowieso anders, als ich gedacht hatte. Warum musst du dich immer so aufregen?“
Anscheinend zog Arwen eine Schnute, da Alex ihr behutsam über die Wange strich. Ein plötzlicher Stich ging durch meinen Magen. Ich fragte mich, was das sollte. Was meinte er mit anders? War ich schlecht anders oder gut anders? Doch darüber wollte ich mir zuerst mein Hirn nicht zermattern. Es gab eindeutig Dinge, die interessanter waren als meine Persönlichkeit.
„Ich hab bloß Angst, dass ich die verliere, Alex. Die anderen Mädchen sind viel besser als ich.“
Bah. Würde ich mich nicht versteckt halten, hätte ich mich vermutlich auf ihre Füße übergeben, so schlecht war das geheuchelt.
Alex lächelte, als habe er diese Tatsache auch schon durchschaut. Trotzdem nahm er sie in den Arm und beruhigte sie.
„Das wirst du nicht, Arwen. Es gibt kein anderes Mädchen, was ich lieber habe als dich.“
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, was theoretisch gar nicht nötig gewesen wäre, da sie auch so an seinen Mund rangekommen wäre, und gab ihm ein Kuss.
„Ich liebe dich“, sagte sie lang und gedehnt.
Alex lächelte nur und strich ihr über den Rücken.
„Geh schon mal vor, ich hab etwas vergessen.“
Arwen nickte und tänzelte wie eine betrunkene Fee davon.
Er wand sich zuerst dem Ausgang zu und ich atmete schon auf, da ich endlich aus meinem Versteck herauskommen würde. Doch dann drehte er sich abrupt in meine Richtung und kam auf mich zu. Er hatte mich als doch gesehen. Verdammt.
„Was machst du hier, June?“
Langsam zwängte ich mich aus der kleinen Nische, um Zeit zu schinden. Unglücklicherweise stand ich so direkt vor ihm.
„Ich wollte etwas essen. Dafür sind doch Mensen da.“
Er verdrehte die Augen und machte einen Schritt auf mich zu, so dass ich wieder in die Nische gezwängt wurde. Um mir eine Flucht zu ersparen, drückte er seinen ausgestreckten Arm gegen die Wand und beugte sich zu mir runter.
„Die Mensa ist ein Raum weiter. Ich meinte mit hier diese kleine, dunkle Nische in der wir uns jetzt beide befinden.“
„Nun, eigentlich, befinde nur ich mich in der Nische da sie für uns beide eindeutig zu klein wäre.“
Um mir zu demonstrieren, dass hier auch zwei Leute ‚Platz’ hatten, drückte er sich noch mehr an mich, sodass wir uns nun beide in der Nische befanden.
„Okay, wir passen beide doch…“
Mit einer geschmeidigen und schnellen Bewegung legte er zwei Finger auf meinem Mund.
„June, du redest zu viel. Sag mir jetzt warum du dich hier verschanzt hast und mit hier meine ich genau diese Position. Kein weiteres drum rum reden.“
Mit meiner freien Hand, leider wurde die andere von seiner gegen die Wand gedrückt, nahm ich seine Finger von meinem Mund. In diesem Moment wurde mir erst bewusst, wie nah wir uns waren. Ich schätzte den Abstand unserer Nasenspitzen auf etwa fünf Millimeter. Davon mal abgesehen, bildete der Rest seines Körpers einen Käfig um meinen.
In dieser Position fiel es mir unglaublich schwer ihn nicht anzusehen. Wie seine grünen Augen selbst im dämmrigen Licht schimmerten, seine blonden Haare, die an den spitzen leicht gelockt waren, die hohen Wangenknochen, die sehnigen Muskeln seiner Arme, die man auch nur erkennen konnte, weil er die Jacke und das Hemd hochgekrempelt hatte und die Tatsache, dass diese hässliche rote Jacke bei ihm einfach nur umwerfend aussah.
Als mir auffiel, dass mein Mund offen stand schloss ich ihn ärgerlich.
„Also?“, fragte er leise.
„Also was?“ Ich hatte vollkommen vergessen, was er mich gefragt hatte.
„Warum warst du hier?“
„Warum interessiert dich das?“
Als habe er diese Frage erwartet blieb er ganz gelassen. Natürlich war mir nicht entfallen, dass ein überraschtes Zucken über sein Gesicht gehuscht war.
„Normale Leute hocken nicht in Nischen und belauschen andere“, antwortete er
Ich verkniff mir die bissige Antwort und beantwortete ihm seine Frage.
„Ich habe gesehen wie du mit Arwen herein kamst, da ich nicht riskieren wollte, mit Kleidern beworfen zu werden, da ich annahm, dass ihr beide sie euch jede Sekunde vom Leibe reißen würdet, beschloss ich, mich zu meinem eigenen Schutz hier zu verstecken.“
Alex lachte kurz auf und ich funkelte ihn an.
„Okay. Und jetzt die wahre Version.“
„Na gut, ich gebe mich geschlagen. Ich wollte Arwen nicht begegnen, da hab ich mich versteckt. Ich wollte euch wirklich nicht belauschen, aber als ich dann hörte, wie sie von gestern Nacht anfing…nun ja, da hat sie mich neugierig gemacht.“
Da ich ihn anscheinend an seine Freundin erinnert hatte, trat er einen Schritt zurück ins Freie und zog mich mit. Wir standen nun so da, als wäre in dieser Nische nichts Ungewöhnliches passiert. War es ja auch nicht.
Mit ausgestrecktem Arm hielt ich ihm seine Jacke hin. Nach wenigen Sekunden nahm er sie und durch Zufall streiften sich unsere kleinen Finger und ein angenehmer kleiner Stromschlag durchzuckte meinen Körper.
„Alex, was meinte Arwen damit, dass ihr die anderen Leute nur beschützen sollt?“
Anscheinend war es ein sehr unbequemes Thema, denn Alex wurde sofort wieder der abweisende Typ, der zu den Beliebten gehörte.
„Das geht dich überhaupt nichts an.“
Abwehrend hob ich die Hände. „Ist schon okay, ich habe ja nur gefragt.“
Gerade als ich mich umdrehen und in die Mensa spazieren wollte, um nun endlich frühstücken zu können, rief Alex noch einmal meinen Namen. Langsam drehte ich mich um.
„Danke.“
Fragend zog ich meine Augenbrauen zusammen. „Für was?“
„Für die Jacke. Es ist meine Lieblingsjacke.“
Mit einem letzten Lächeln drehte er sich dann auch um und verschwand aus dem Vorraum der Mensa. Es war auch meine Lieblingsjacke, aber dass brauchte er ja nicht wissen.
Nun war ich es die Grinste und mich mit knurrendem Magen auf dem Weg nach Essen machte.


Kapitel 5


Die Mensa hatte sich schon zur Hälfte geleert, es waren nur noch wenige Tische besetzt. Skye und die anderen saßen wieder an dem Tisch von Gestern. Als ich saß wurde ich gleich von Skye mit Neuigkeiten bombardiert.
„Arwen kam heute ohne Alex in den Speisesaal. Ich hoffe, dass sie sich gestritten haben. Das würde der Guten gewaltig gut tun. Wo warst du eigentlich so lang?“
„Genau. Hier, wir konnten dir etwas Essen retten“, warf Jeremy ein.
Ich stopfte mir etwas Speck in den Mund und nuschelte ein „Danke.“
Dann war ich Skye einen vielsagenden Blick zu und sagte: „Ich wurde aufgehalten.“
Gill schien zu bemerken, dass es sich um etwas Männliches handelt, denn es erschien ein wissendes Grinsen auf ihrem Gesicht.
„Kann es sein, dass du von jemandem aufgehalten wurdest, der zur Gattung der männlichen Spezies gehört?“
Ich konnte nicht anders als Grinsen und verriet mich damit sofort. Doch mein Grinse verblasste schlagartig, als Denice einwarf: „Aber sie hat doch einen Freund.“
Ich hörte noch wie Jeremy ihr etwas ganz langsam klar machte, dann verschwand ich jedoch in Gedanken.
Ich hatte seit Gestern Abend keinen einzigen Gedanken an Avan verschwendet. Stattdessen schwirrt Alex in meinem Kopf herum, dabei sollte es vollkommen anders sein. Ich sollte keinen Gedanken an Alex verschwenden, dafür sollte mir aber Avan im Kopf herum schwirren. Ich sollte ihn schrecklich vermissen und es vor Sehnsucht gar nicht mehr aushalten und nicht mit einem anderen Jungen in einer Nische stehen und mich so verhalten, als hätte ich keinen Freund.
Gleich heute würde ich ihn anrufen und mit ihm reden. Wenn ich seine Stimme hören würde, würde es mir sofort anders gehen. Dann würde ich keinen Gedanken mehr an Alex verschwenden. Er hatte doch auch eine Freundin, doch wahrscheinlich war ihm das egal. Oder er sah das alles nicht so eng wie ich. Er nahm es bestimmt genauso wenig wahr, wie ich. Vielleicht nahm er es überhaupt nicht wahr.
Ich musste damit aufhören, mir mein Gehirn darüber zu zermattern. Immerhin hatte ich andere Sorgen.
„June, kommst du? Der Unterricht fängt gleich an“, riss mich Skye aus meinen Gedanken. Ich kramte noch meinen Stundenplan aus der Tasche, um zu sehen was ich als erstes hatte.
Musik. Ich lächelte. Hoffentlich würde hier richtiger Musikunterricht durchgeführt werden, in dem man auch Musik machte und nicht über irgendwelche toten Musiker grübelte.
Plötzlich hörte ich irgendwoher meinen Namen und drehte mich um.
Paul kam auf mich zu gerannt. Er sah völlig panisch aus; seine Haare waren nicht wie gewohnt lässig gegellt sondern hingen nur schlaff herunter, sein Hemd war geknorkelt und hing auf 0-8-15 aus seiner Hose. In seinem Gesicht spiegelte sich Erleichterung. Ich machte mir Sorgen, dass irgendetwas passiert war. Immerhin hatte ich ihn seit unserer Ankunft nicht mehr gesehen. Behutsam legte ich ihm eine Hand an die Schulter.
„Paul, ist alles okay? Geht’s dir gut?“
Entgeistert starrte er mich an. „Mir? Ob es mir gut geht? Die Frage sollte ich wohl anders herum sein. Geht es dir gut?“
Völlig verwirrt starrte ich ihn an. Hatte man ihm Pillen untergejubelt?
„Ja, natürlich geht es mir gut. Warum denn auch nicht?“
Paul hatte sich wieder etwas gefangen und sah mir ganz ernst in die Augen.
„Weil in deinem Wohnheim ein Mädchen gefunden wurde – tot.“
Die Worte sickerten erst langsam durch, doch dann rasten sie wie Gepard auf der Jagd durch mein Hirn.
Ich warf Skye einen Blick zu und dann rannten wir los zu unserem Wohnheim, dicht gefolgt von den anderen.
Der Weg zog sich endlos hin, bis wir endlich das Wohnheim erreichten. Theoretisch hätte ich vollkommen außer Atem sein müssen, doch das Adrenalin rauschte nur so durch meinen Körper. Auf der Treppe nahm ich immer zwei Stufen gleichzeitig und wäre beinahe ausgerutscht, doch das Geländer gab mir halt.
Im Flur war hatte sich fast die gesamte Schule versammelt. Mit rasselndem Atem blieb ich stehen. Skye neben mir blieb ebenfalls stehen.
„Siehst du, vor welchem Zimmer sie stehen?“
Hilflos schüttelte ich den Kopf und versuchte mir einen Weg durch die Masse zu bahnen.
„Alle Jungs raus!“, schrie die Hausmutter hilflos. „Wo bleibt nur Mr. Palmer, wenn man ihn braucht? Jungen RAUS!“
Als ich schließlich sah, vor welchem Zimmer alle standen, blieb mir die Luft weg.
Mitten auf dem Teppich, lag ein Mädchen mit erschrockenem Gesicht und aufgeschnitzer Brust. Und neben ihr lad Skyes Wecker. Warum lag ein totes Mädchen in unserem Zimmer? Was hatte das zu bedeuten?
Plötzlich packte mich jemand an der Schulter und drehte mich um. Fast hätte ich geschrien, doch dann sah ich, dass es Alex war. Mein Blick war immer noch erschrocken.
In seinem Gesicht spiegelte sich Sorge, aber auch Erleichterung.
Langsam zog er mich in eine dunkle Ecke und stellte mich gegen die Wand. Wahrscheinlich hatte er Angst, ich könnte jeden Moment umfallen.
Tatsächlich war ich kurz davor gewesen, als ich das tote Mädchen gesehen habe. Doch dann zog Alex mich davon und der Gedanke wurde verscheucht.
Einen Moment lang sahen wir uns nur an, nichts weiter.
Bis er schließlich fragte: „June, alles okay?“
„Warum fragen mich das alle? Ich liege dort nicht tot auf dem Boden.“
‚Alle’ war wohl ein bisschen übertrieben, aber in so einer Situation war es ja wohl erlaubt, zu übertreiben.
Alex hob eine Augenbraue und schien über meine Überreaktion nur im Maße Amüsiert.
„Du darfst nicht hier sein“, platzte es aus mir heraus. Ein kurzes Zucken glitt über sein Gesicht.
„Du hast Recht. Ich sollte wohl besser gehen…“
„Nein, so meinte ich das nicht.“ Als er sich umdrehen wollte, wollte ich ihm am Arm festhalten, doch unglücklicherweise, erwischte ich seine Hand.
„Ich meinte eigentlich, dass dich die Hausmutter killen wird, falls sie dich hier noch entdecken sollte. Sie wäre vorhin den anderen Jungs schon fast an die Gurgel gegangen.“
„Darüber mach dir mal keine Sorgen.“
Meine Hand lag immer noch in seiner. Es sah nicht so aus, als ob er daran dachte, sie loszulassen. Doch ich hatte mir etwas vorgenommen. Also entzog ich ihm meine Hand.
„Ich mach mir über dich schon gar keine Sorgen“, giftete ich ihn an.
Herausfordernd zog er eine Augenbraue hoch.
„Warst du kurz bevor das Unglück passiert ist, in deinem Zimmer?“
Ich war über den schnellen Themenwechsel überrascht, sodass ich etwas Zeit brauchte, ehe ich antwortete.
„Ja, ich hatte meine Tasche und deine Jacke vergessen, also bin ich noch einmal zurück gegangen.“ Mit dem Gedanken, an die Nische wurde ich rot und sah auf den Fußboden.
„Ist dir dort irgendetwas aufgefallen?“, fragte Alex unberührt weiter.
„Nein. Warum fragst du mich das alles? Arbeitest du für das MI6, oder was?“
Alex’ Blick wurde düster. „Nein, tue ich nicht.“
Ich verfinsterte meinen Blick ebenfalls und wir beide lieferten uns ein Blickduell.
Was leider frühzeitig beendet wurde, da Paul schon wieder besorgt meinen Namen rief.
Ich verdrehte die Augen. „Er kann manchmal eine echte Mutti sein.“
Dann fand er mich und starrte von Alex auf mich und wieder zurück. Ich fragte mich was er hatte, bis er sich zwischen uns quetschte. Erst dann wurde mir bewusst, wie nah wir aneinander standen.
„Was ist los, Paul?“
Paul streckte seine Brust raus, um etwas größer neben Alex zu wirken. Denn auch mit seinen stolzen 1.79 sah er neben Alex eher klein aus. Alex beachtete ihn gar nicht, er starrte ins Nichts.
„Ich muss mit dir reden, June.“
Ich warf Alex einen fragenden Blick zu. Es hätte ja sein können, dass er mir noch etwas sagen wollte. Er nickte meinem Bruder zu und verschwand ohne mich noch einmal anzusehen. Es hätte mich nicht stören dürfen, tat es ja auch nicht.
„Was läuft da zwischen dir und dem Schönling?“, maulte Paul mich an.
Völlig verdattert über seine Reaktion sah ich ihn an.
„Was? Wie meinst du das?“
Wütend zeigte er in die Richtung, in der Alex verschwunden war.
„Ich meine dass genauso, wie ich das gesagt habe. Du hast einen Freund, June. Falls es dir entfallen sein sollte. Und deswegen verstehe ich nicht, was du mit ihm in eine dunkle Ecke zusuchen hast.“
Mir viel der Mund auf. Was sollte das denn jetzt werden? Was dachte er sich dabei?
Wütend stemmte ich die Hände in die Hüften.
„Er hat mich etwas gefragt. Außerdem, weiß ich nicht, was dich das angeht.“
„Ich bin dein Bruder.“
In geheuchelter Überraschung riss ich die Augen auf. „Ach, und dass gibt dir das Recht mein Leben zu kontrollieren?“
Ich wusste, wie sehr ich ihm damit weh tat. Vor allem, weil er es nur gut meinte. Aber ich war schon so aufgewühlt, da konnte ich mich nicht beherrschen.
Gerade wollte er etwas erwidern, da kam Skye angerannt.
„June, ich habe dich schon überall gesucht. Das Mädchen ist aus unserem Zimmer. Aber wir bekommen ein Neues, das gegenüber. Wir müssen jetzt aber zur Versammlung, die Mr. Palmer eingerufen hat. Komm.“
Dann zog sie mich mit und ich ließ Paul stehen.
„Es ist einfach schrecklich“, sagte Syke auf dem Weg zum Haupthaus.
Neben mir stöhnte Jeremy auf. „Ja, ich kann es nicht fassen, dass Mrs. Yarwood uns rausgeworfen hat.“
Lynn warf Jeremy einen bösen Blick zu. „Und genau deswegen wirst du nie eine Freundin bekommen.“
„Genau“, stimmte ihr Gill zu „Es ist ein Mädchen gestorben. Ich kannte noch nicht einmal ihren Namen…Ist es nicht traurig?“
Wir alle stimmten nur mit einem Nicken oder Murmeln zu.
Da wir fast die Letzten waren, die die Halle betraten, waren nur noch wenige Plätze in der Ersten und Zweiten Reihe frei.
Jeremy saß ganz außen, neben ihn Denice, daneben Gill und ich saß zwischen Lynn und Skye.
Ich sah mich im Saal um. Es sah aus, als wären alle Schüler da. Sogar die Kleinen aus der Middle School. Die konnten es wohl eher verstehen, als die ganz Kleinen.
Als ich meinen nach vorne wand, schnappte ich erschrocken nach Luft. Die vordere Bank war nun gefüllt. Mit der Elite.
Und direkt vor mir saßen Alex und Arwen Händchen haltend. Aber das machte nichts, da ich selber einen Freund zum Händchen halten hatte. Avan. Und ihn würde ich heute Abend anrufen.
„Nun. Da alle Schüler jetzt da sind, wäre es an der Zeit, an zu fangen“, erhob Mr. Palmer seine Stimme.
„Es wäre eine Dummheit von mir und der gesamten Lehrerschaft, dies zu leugnen. Heute Morgen wurde im Zimmer von June Fairhust und Skye Williams, Schülerinnen der Seniorstufe, ein totes Mädchen gefunden.“
Ein Raunen ging durch die Menge. Hier und da hörte ich Mädchen erschrocken aufkeuchen.
„Ihr Name war Debby Forest. Ihre Eltern sowie Mr. Ashworth wurden sofort benachrichtigt.“
Fragend sah ich zu Skye. „Warum wurde Alex’ Vater benachrichtig?“
„Er ist für die Sicherheit der Schulen verantwortlich und reist durch das ganze Land.“, klärte mich Skye im Flüsterton auf. Plötzlich erhoben sich Arwen und Alex und gingen nach vorn, zu Mr. Palmer.
„Da ich mich um weitere Angelegenheiten kümmern muss, werden nun unsere Schulsprecher weiteres übernehmen.“
Arwen nickte Mr. Palmer zu und lächelte betrübt in die Runde.
„Liebe Mitschüler, es ist das erste Mal, dass ein Mord an Roses Castle passiert. Alle Lehrer sowie wir, die Schulsprecher, sind in Alarmbereitschaft. Von nun an ist die größte Vorsicht geboten, da wir davon ausgehen, dass der Mörder weiterhin frei herumläuft. Leider konnten die Sicherheitsleute niemanden auf den Kameras entdecken, da sie von dem Mörder zerstört wurden. Falls doch jemand etwas gesehen haben sollte, muss er sich dringend bei uns melden. Es werden den beiden Mädchen die das Zimmer bewohnten nun zwei aus der Madon Gesellschaft zugeteilt, die sie am Tage bewachen werden, da die Örtliche Polizei zu so etwas nicht im Stande ist. Doch ich denke Shane und Raphael werden gute Arbeit leisten. Bis auf Weiteres wird der Unterricht für diesen Tag ausfallen. Ihr werdet von den Hausmüttern beschäftigt werden. Es werden jedoch alle Aktivitäten entweder von Lehrer oder von Mitgliedern der Madon Gesellschaft überwacht. Geht nun bitte alle in eure Wohnhäuser oder die zugewiesenen Aufenthaltsräume. Skye und June, könntet ihr bitte kurz nach vorn kommen?“
Skye und ich waren schon halb vorn, als Gill uns zurief, sie würden im Aufenthaltsraum auf uns warten.
Skye war richtig blass geworden. Wahrscheinlich nahm sie das ziemlich mit, dass Debby Forest gestorben war.
Bevor wir die Bühne betraten, berührte ich ihren Arm.
„Alles okay, Skye?“
„Ja, geht schon.“
Ich wusste, dass sie sich sehr vor der Elite fürchtete und nun würden zwei von ihnen auf uns aufpassen. Es würde Skyes persönliche Hölle werden.
Ich fragte mich, warum wir auf sie zugehen sollten.
Arwen stellte sich wie eine Prima Donna vor uns und legte ihren Hintern bestimmte alle zwei Sekunden in eine andere Richtung. Wahrscheinlich dachte sie, dass es Attraktiv war.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Arwen weiter.
Ich verstand wirklich nicht, was an ihr so toll war.
Klar, sie sah gut aus. Ihre blauen Augen strahlten Tatendrang aus und ihre schwarzen, langen Haare lagen perfekt. Außerdem hatte sie eine gerade, kleine Stupsnase und eine Figur die selbst Tyra Banks neidisch machen würde. Doch wenn man ihren Charakter betrachtete, fand ich nur wenig positives. Natürlich kannte ich sie nicht gut. Aber schon allein, wie sie sich gab, sprach deutlich dafür.
„Raphael wird June begleiten und Shane Skye. Das gefällt dir doch sicher, oder Skye?“
Aus Skyes Gesicht wich noch mehr Blut. Die Blässe ihrer Haut stellte einen starken Kontrast zu ihren roten Haaren her, so dass es kaum zu vertuschen war.
„Ich glaube Skye könnte sich etwas Besseres vorstellen, als mit jemandem von euch ‚bewacht’ zu werden, wie ihr es nennt“, verteidigte ich sie.
„June, nicht…“
Ich achtete nicht auf Skye, sondern fuhr fort und etwas in mir riss.
„Warum macht ihr das überhaupt? Ihr seid doch genauso Schüler wie wir. Aber ihr wollt euch sicherlich aufspielen, um zu zeigen, dass eure Mummies und Daddys allesamt viel, viel Geld haben. Ihr denkt, nur weil ihr vielleicht gut ausseht oder das nötige Geld habt, um gut auszusehen, seit ihr mehr Wert, als andere Menschen? Und euer ach so wertvoller Club? Oder wie ihr es nennt: Gesellschaft. Was ist das? Ein Zusammentreff von schnöseligen, verwöhnten Kindern, die nichts Besseres zu tun haben, als andere fertig zumachen? Ihr seid nicht besser, als alle anderen hier. Vielleicht seid ihr sogar noch schlechter. Aber das macht euch ja nichts aus, weil euch wahre Freundschaft nichts bedeutet. Gar nichts. Ihr seid nur oberflächige Superreiche, die von zu Hause abgeschoben wurden. Wir brauchen euren Schutz nicht und wir wollen ihn auch nicht. Ich zumindest nicht. Denn ich möchte weder etwas mit unehrlichen Menschen zu tun haben, noch mit Schnöseln.“
Heftig atmend starrte ich die ganze Gruppe entsetzter Gesichter an. Plötzlich kam Alex mit einem so wütenden Gesicht auf mich zu, dass ich es mit der Angst zu tun bekam.
Er packte mich schmerzhaft am Oberarm und zerschmetterte mich mit einem Blick vor dem mit sicher auch Silvester Stallone in die Knie gegangen wäre.
„Und du? Was ist mit dir? Bist du auch so ehrlich, wie du tust? Du weißt gar nichts. Und bilde dir bloß nicht ein, dass wir uns von einem kleinen Mädchen wie dir etwas sagen lassen. Das Beste für dich wäre, deinen Mund in Zukunft nicht so voll zu nehmen, June. Wenn du wüsstest, wie…“
Plötzlich legte Raphael, der Alex erstaunlich ähnlich sah, seine Hand auf Alex’ Schulter.
„Komm, Bruder. Wir gehen.“
Mit diesen Worten nahm Alex seine Hand von meinem Arm und verschwand mit einem Blick voller Wut. Mein Arm schmerzte, als das Blut endlich wieder problemlos durch die Adern fließen konnte. Morgen würde ich dort einen ultragroßen Blauenfleck haben.
Arwen tätschelte Alex beruhigend die Schulter und warf mir einen arroganten Blick zu.
Die Anderen warfen mir ebenfalls wütende Blicke zu und wandten sich dann ab.
Nur Raphael blieb noch stehen. Langsam kam er auf mich zu und ich rechnete mit einem weiteren körperlichen Schmerz. Doch er blieb nur kurz vor mir stehen und sah mir fest in die Augen.
„Entschuldige, wenn mein Bruder dir wehgetan hat, aber deine Worte waren…nun ja, ziemlich dumm. Ich hoffe wir können diesen Vorfall irgendwie verdrängen, damit es nicht zu weiteren Eskapaden kommt. Geht beide auf eure Zimmer, Shane und ich kommen sobald wie möglich nach. Und bleibt dort.
Skye, kümmere du dich bitte um Junes Arm.“
Mit einem kurzen, aufgezwungenen Lächeln ließ er uns stehen.
Behutsam tätschelte ich meinen Oberarm.
Skye starrte mich an, als wäre ich ein Geist.
„Oh großer Gott, June. Weißt du, was du eben getan hast?“
„Ja, ich war dabei, Skye.“
Sie schüttelte benommen den Kopf.
„Tut mir leid, ich war ein bisschen geschockt. Wie geht es deinem Arm?“
Ich verzog das Gesicht. „Tut weh. Alex hat einen sehr festen Griff.“
„Wir gehen zur Krankenschwester ein Kühlakku holen, komm.“
Behutsam führte sie mich aus der Halle. Es wäre nicht nötig gewesen, immerhin war es nichts Dramatisches. Aber ich war ihr dankbar dafür. Denn ich selbst stand irgendwie noch unter Schock.
Ich hatte noch nie jemanden gesehen, der so schrecklich wütend werden konnte. Alex hatte nicht geschrien, er hatte noch nicht einmal sonderlich Laut gesprochen und seine Worte waren nicht böse oder bedrohlich gewesen, so dass man sich vor Angst in die Hose machen würde. Doch dieser Blick…Er saß mir immer noch wie ein kalter Stein in der Magengrube.
Was meinte er bloß damit, ich wüsste überhaupt nichts?
Klar, es war vielleicht ein bisschen naiv gewesen, sie alle zu verurteilen. Aber es hatte sich plötzlich alles so aufgestaut. Der Streit mit Paul, das tote Mädchen und die ganze bescheuerte Situation mit Alex.
Es war einfach alles zu kompliziert und alles zu intensiv, um dies unterdrücken zu können.
Um zu der Krankenstation zu gelangen musste wir an den Unterrichtsräumen und der zweiten Sporthalle vorbei.
Die Krankenstation hatte zwei Etagen. Unten befanden sich die Anmeldung und die Untersuchungsräume und in der Oberen Etage, waren Krankenzimmer für Schwerverletzte.
Als wir das Gebäude betraten wurden wir von einer Masse an Schülern überrascht, die anscheinend alle anstanden.
„Was ist hier los?“, raunte ich Skye zu.
„Keinen Schimmer. Komm, wir drängeln uns vor. Wir wollen immerhin nur ein Kühlakku.“
Doch dies könnte schwieriger werden, als wir gedacht hatten. Skye versuchte sich so gut wie möglich vorzudrängeln, doch wir wurden immer weiter nach Hinten geschoben, als ich sah, wie eine Tür mit dem Schild „Versorgungsraum“ einen Spalt offen stand.
„Skye, sieh mal“, flüsterte ich ihr zu und zeigte auf meine Entdeckung.
Sie lächelte mir zu und wir liefen unauffällig zur Tür und stahlen uns in den Raum.
Er war sehr steril. Es stand ein Krankenbett an einer Wand mit Poster von Regenbögen, ein Kühlschrank und eine Theke befanden sich gegenüber.
Plötzlich kam eine mollige Frau in den Raum und erschrak dermaßen, dass sie ihr leeres Tablett fallen ließ.
„Heiliger Camael, habt ihr mich erschreckt, Kinder!“
Entschuldigend sahen Skye und ich sie an.
„Tut mir leid, Mrs. Green. Wir brauchen nur ein Kühlakku, June hat sich gestoßen.”
„Oh, ja, natürlich. Einen Moment, Kinder. Hier ist die Hölle los, alle haben Angst und brauchen irgendetwas zum Beruhigen. Hier, ihr Lieben.“
Vorsichtig nahm ich meine Hand vom Arm. Er war immer noch ganz rot. Ich würde einen mächtigen Blauenfleck bekommen.
„Oje, das sieht ja schlimm aus, Liebes. Wo hast du dich denn gestoßen?“
Ratlos sah ich Skye an, der anscheinend auch keine passende Antwort einfiel.
Mrs. Green sah mich fragend an, schließlich schien sie dahinter zukommen, dass ich mich nicht gestoßen hatte.
„Mit wem hattest du Streit? So etwas muss gemeldet werden, das ist dir hoffentlich bewusst“, ermahnte sie mich.
Hilflos starrte ich Skye an. Ich konnte doch Alex nicht verraten. Obwohl er mit Sicherheit etwas von seinem hohen Ross runterkommen müsste.
„Alexander Ashworth hatte sich nicht im Griff gehabt.“
Plötzlich schien es Mrs. Green fürchterlich eilig zuhaben.
„Nun ja, die Pubertät. Da kann so etwas schon einmal passieren. Ich muss mich jetzt um die anderen kümmern. Wenn ihr mich entschuldigt, Kinder.“
Mit diesen Worten huschte sie aus dem Raum und ließ Skye und mich stehen.
„Was ist denn mit ihr los?“, fragte ich und starrte ihr immer noch hinterher.
Syke seufzte genervt und setzte sich in Bewegung.
„Das ist es, was ich dir gesagt habe. Die Elite bekommt eine Sonderbehandlung.“
Ich zog die Augenbrauen zusammen. So konnte es definitiv nicht weitergehen. Irgendetwas war an der ganzen Sache gewaltig faul. Und ich würde herausfinden, was.
„Sag mal, Skye. Haben die auch so etwas wie ein Versammlungsraum?“
Skye nickte, während wir wieder aus der Krankenstation heraus traten.
Sie zeigte Quer über das ganze Gelände auf ein schlichtes Gebäude, von dem ich leider nur die obere Hälfte sehen konnte.
„Dort hinten, neben unserem Aufenthaltsraum. Das Haus heißt St. Camael.“
Ich zog die Stirn kraus. „Das ist doch der Name des Engels aus der Legende…“
„Jedes Haus hier trägt den Namen eines Engels. Manche Häuser tragen sogar denselben Namen. Es heißt, dass dort die Engel darüber wachen. Aber das ist wahrscheinlich auch so wahr, wie die Legende. Also kein bisschen. Als ich hier zum ersten Mal ankam, war ich in der Annahme, dass es Engel wirklich gibt. Heute beziehe ich diese Gedanken nur noch im malen. Wieso fragst du?“
„Irgendetwas stimmt hier nicht, Skye. Weißt du auch, wann sie diese Versammlungen haben?“
Skye weitete ihre Augen und schüttelte heftig mit dem Kopf.
„Oh June, mach das bitte, bitte nicht. Arwen wird dich köpfen. Ich dachte, du wolltest dich nicht einmischen.“
Ich starrte das Haus an. „Dann habe ich eben meine Meinung geändert. Du willst doch selber, dass es so nicht weiter geht. Also hilf mir, bitte.“
Skye schüttelte wieder den Kopf. „Das wird nicht gut gehen, June. Aber ich werde dir helfen. Nach der Ausgangssperre werden wir uns rausschleichen müssen. Ich weiß von Sybille, dass Heather nach der Ausgangssperre immer rausgeht.“
Deswegen war Alex also ebenfalls draußen gewesen, schoss es mir durch den Kopf.
„Wir werden keinen Ärger bekommen, Skye. Das verspreche ich dir.“
Sie lächelte hoffnungslos. „Tu’s lieber nicht, es wird sowieso nicht klappen.“
Ich verdrehte dich Augen und zog sie mit.


Kapitel 6


Der große Mob von Schülern war aus unserem Wohnhaus verschwunden, sodass wir getrost die restlichen Sachen aus unserem alten Zimmer, in das Neue chauffieren konnten.
Das Mädchen war zwar aus dem Zimmer verschwunden, doch die Blutflecken waren noch nicht beseitigt wurden.
Gedankenverloren starrte ich auf das Blut. Es war entsetzlich viel Blut. Ich fragte mich, wie all das Blut aus einem Menschen kommen konnte.
Plötzlich wurde mir schlecht und die Wände fingen an, sich zu drehen und ich versuchte irgendetwas zu greifen, was mir Halt bot. Doch ich griff ins Leere.
Dann wurde ich von zwei Armen aufgefangen, die meinem Hinterteil vor Schmerzen bewahrten.
Als ich hoch sah, dachte ich zuerst, es wäre Alex und mein Herz schlug schneller – was mich ziemlich ärgerlich stimmte. Beim genaueren Hinsehen, erkannte ich Raphael, der besorgt auf mich herab sah.
„Alles okay bei dir?“
Ich nickte und versuchte mich auf meine eigenen Beine zustellen, vorsichtshalber hielt mich Raphael noch mehrere Sekunden länger fest.
„Ja, schon okay. Mir war nur kurz schwindelig…“
„Du hast ja heute Morgen auch so gut, wie nichts gegessen.“, warf Skye ein, die mich ebenfalls besorgt musterte.
Genervt riss ich die Hände hoch. Ich hatte nur kurz gewankt, und schon rechneten alle im Augenblick mit dem schlimmsten.
„Mir geht es gut. Keine Sorge.“
Wütend stapfte ich in den gegenüberliegenden Raum und Schwindel und Übelkeit waren verflogen.
Doch mein Herz hatte sich noch nicht beruhigt. Was sollte das? Ich reagierte ja wie eine Maus, wenn sie Käse sieht. Dabei durfte doch gar nichts passieren. Er müsste mir egal sein. Und das war er auch, dafür würde ich sorgen.
Ich ging heute Abend auch nur zu ihrem Versammlungshaus, weil ich wollte, dass sich etwas ändern würden. Nicht wegen Alex.
Während ich meine Sachen in den Schrank legte, sah ich wie sich Raphael mit Shane, dem Bulligem, an den kleinen Schreibtisch setzte.
„Es tut mir leid, dass ich euch alle so verurteilt habe.“
Raphael machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Mach dir nichts draus. Mein Bruder nimmt manche Sachen einfach zu ernst.“
Ich runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“
„So wie ich es sage.“
Enttäuscht wandte ich den Blick ab, ich hatte mir wirklich erhofft etwas mehr über Alex zu erfahren. Was für ein dummes Schaf ich doch war.
„Die beiden sind Zwillinge. Die geben nichts von dem anderen Preis. Noch nicht mal von sich selber“, sagte Shane mit erstaunlich tiefer Stimme.
Ich drehte mich wieder um und warf einen erstaunten Blick auf Raphael. Es hätte eigentlich klar sein müssen. Sie sahen sich wirklich erstaunlich ähnlich.
Die Zeit schien sich nur so hinzuziehen, bis Raphael und Shane sich endlich verabschiedeten.
„Lass uns noch ein wenig warten, bis wir los gehen“, sagte Skye, als ich mich aufmachen wollte.
Geschlagen nickte ich. „Was meinst du, wird uns dort erwarten?“
Sie zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Ich möchte es lieber schnell hinter mir haben…“
„Uns wird schon nichts passieren. Wir werden auf keinen Fall entdeckt werden.“
Skye sah mich zweifelnd an. „Ich weiß nicht, ich hab da kein so gutes Gefühl, June.“
„Es wird schon alles gut gehen, wir wollen ja bloß sehen, was sie machen.“ Aufmunternd lächelte ich ihr zu.
Nach einer halben Stunde beschlossen wir uns auf den Weg zu machen. Wie letzte Nacht war der Flur komplett dunkel. Nur am Ende des Gangs leuchtet eine gedämmte Lampe.
Wie erwartet saß der dicke Mann im separaten Raum und schnarchte ahnungslos vor sich hin. Diesmal hatten wir Jacken mit, Skye hatte erklärt, dass die Nächte hier immer deutlicher kühler waren, als die Tage.
Obwohl ich wusste, dass die Tür nicht quietschen würde, hatte ich einen kurzen Moment den Zweifel, dass sie doch Geräusche von sich geben könnte.
Nachdem alles reibungslos geklappt hatte und wir vor dem Mädchenwohnhaus standen, liefen Skye und ich samt Taschenlampe los. Die wir noch nicht benötigten, da die Wege gut beleuchtet waren.
Wir nahmen den kürzeren Weg bis zum Haus St. Camael. So mussten wir an dem Sekretariat vorbei und dann noch an zwei weiteren Häusern, die wohl seit geraumer Zeit leer standen.
„Früher wurden die beiden Häuser in Musikhaus und Kunsthaus unterschieden. Irgendwann in den 80ern wurde alles zusammen in einem Haus gesteckt“, erklärte Skye mit verhaltener Stimme.
Als wir vor dem Haus standen, mussten wir enttäuscht feststellen, dass nirgendwo ein Licht brannte. Doch so schnell wollte ich nicht aufgeben, wenn sie nicht da waren, konnten wir uns mit Sicherheit auch allein ein Einblick in ihre Sachen werfen.
Skye war von der Idee sichtlich wenig begeistert.
„Lass uns gehen, June. Es ist niemand da. Mir ist ganz komisch hier, bitte.“
Stur schüttelte ich den Kopf. „Ich will wissen, was da vor sich geht. Und wenn wir schon einmal hier sind…Komm schon.“
Widerwillig lies sie sich mit ziehen.
Die Tür war anders als die anderen Türen auf dem Campusgelände. Sie war schwarz und mit goldenem Lack verziert. Über dem Türrahmen war in einer fremden Sprache ein Satz eingraviert.
„Adaperiat cor vestrum. Was das wohl heißt?“, fragte ich Skye.
Sie ignorierte die Frage und sah immer wieder über die Schulter.
„Alles okay, Skye?“
Sie schüttelte den Kopf und wandte sich zu mir um. „Ja, ich bin einfach nur müde.“
Ich nickte und drückte vorsichtig die Klinke runter.
Zu meinem Erstaunen ließ sie sich ohne ein Geräusch öffnen. Vorsichtig schlichen wir uns in das Haus hinein. Ich wollte mir nicht zu sicher sein, dass wirklich niemand da war.
Im schalen Licht der Taschenlampe konnten wir viele verschiedene Gemälde im Flur erkennen und eine wirklich alte Tapete mit eingestampften Rosen.
„Die Gemälde sind der Wahnsinn. Ein wahres Meisterwerk. Schau dir die Genauigkeit der einzelnen Pinselstriche an.“ Ehrfürchtig strich Skye über das eingerahmte Bild.
Auf dem Bild waren verschiedene Szenarien dargestellt, von Engel, die durch einen Lichtschein auf die Erde hinunter glitten. Ein Mönch, der sie empfang. Er ist im Nachhinein, erkannte ich, dass es sich hierbei um die Legende von Roses Castle handelte.
Skye hätte sicherlich noch Stunden vor alle diesen Gemälden stehen können und ich mit ihr, aber wir hatten etwas anderes vor.
„Komm, Skye.“ Ich zog sie mit mir.
Wir drückten an jede Tür unsere Ohren und lauschten, ob wer drinnen war.
Jedes Zimmer war leer. Nur ein einzelner Altar mit Rosen befand sich in jedem.
Es blieb nur noch eine Tür übrig. Durch den Türschlitz schien schwaches Licht. Ein Blick zu Skye, sagte mir, dass sie nicht dasselbe dachte wie ich.
„Lass uns verschwinden, June!“, flüsterte sie mir zu.
Hartnäckig schüttelte ich den Kopf. „Nein, wir sind schon ziemlich weit gekommen. Ich will wissen, was da drinnen vorgeht.“
Unwohl nickte sie mit dem Kopf. „Na gut. Aber falls Arwen uns fertig macht, bist allein du Schuld!“
Ich grinste und presste mein Ohr gegen die Tür. Gedämpfte Stimmen drangen durch und ich vermutete, dass Arwen gerade einen Vortrag hielt.
„Wir wissen nicht, was das zu bedeuten hat. Zumindest stellt sie vorerst keine Gefahr dar. Sie scheint von all dem nichts zu wissen, ihre Eltern müssen es ihr verheimlicht haben.“
Über wen redeten sie? Fragend sah ich Skye an, sie zuckte nur mit den Schultern.
„Sie ist eine von uns, Arwen. Wir müssen es ihr sagen!“, riet ihr jemand. Ich konnte die Stimme nicht genau einordnen, auf jeden Fall gehörte sie zu einem der Mädchen.
„Nein, wir wissen es nicht genau. Wir werden nichts überstürzen. Alex, wo willst du hin?“
„Nur auf die Toilette, Arwen.“ Alex klang definitiv genervt. Und dennoch schlug mein Herz schneller. Das musste aufhören.
Zuspät erkannten wir, dass die Toilette nur durch die Tür zu erreichen war, an der wir beide unsere Köpfe platt quetschten.
Skye konnte sich im letzten Moment noch in eine dunkle Nische verstecken, doch ich stand erschrocken, ertappt und in voller Blüte vor Alex, der ein Glück zuerst die Tür schloss, bevor er sich mir widmete. Vielleicht hatte er mich auch nicht sofort erkannt. Denn zuerst zuckte seine Hand zu seinem Gürtel und seine Augen weiteten sich.
„Was zum…Was hast du hier zu suchen?“, fauchte er mich an.
Warum musste immer ich ihm in die Arme laufen? Ich wich einen Schritt zurück und suchte nach einer passenden Ausrede.
Zuerst wollte ich ihm auftischen, dass ich schlafwandle, doch für so dumm hielt ich ihn dann doch nicht. Schließlich antwortete ich ihm einfach nicht und hoffte, er würde so auf eine Antwort verzichten. Da lag ich jedoch falsch.
„June, was machst du hier? Verfolgst du mich etwa?“
Diese letzte Frage hatte ausgereicht, um mich wütend zu machen.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Nein, tue ich nicht.“
Im geheuchelten Verständnis zog er die Augenbrauen hoch. „Ah, natürlich. Und was hast du dann hier zu suchen?“
„Ich…ich wollte zu dir“, log ich.
Verwirrt sah er mich an. „Und was wolltest du von mir?“
Ich holte tief Luft. „Ich wollte mich entschuldigen. Wegen heute Morgen. Ich hätte nicht einfach über euch urteilen dürfen.“ Was redete ich da?
Anscheinend fragte Alex sich das auch gerade. Und zu meinem Unglück konnte er wieder einmal meine Lüge entlarven.
„Du solltest das mit dem Lügen lassen, ich glaube nicht, dass du darin sehr begabt bist.“
Langsam trat er an mich heran.
Ohne zu überlegen wirbelte ich herum und versuchte zu flüchten. In einem Tempo, dass ich von mir nicht kannte, stürmte ich zu Tür.
Ich konnte mein Glück kaum fassen, als ich draußen war. Doch es schien nur von kurzer Dauer zu sein, denn als ich weiter laufen wollte, schmiss sich Alex auf mich und schaffte es, mein Gesicht nicht in den Dreck zu drücken, sondern mich auf den Rücken zu drehen. Nun lag ich auf der kalten Erde und wurde von einem wirklich wütenden Jungen niedergedrückt.
„Bist du jetzt völlig übergeschnappt?“, fauchte er mir schwer atmend ins Gesicht.
Völlig erschrocken starrte ich ihn an und genoss widerwillig die Intensität zwischen uns.
Wir sahen uns nur an. Ich konnte spüren, wie er sich langsam wieder beruhigte und sehen, wie die Wut aus seinen Augen verschwand. Ein Kribbeln setzte in meinem Magen ein, als mir bewusst wurde, wie nah wir uns waren. In diesem Moment vergaß ich alles, jede Erinnerung an Avan war verschwunden, jeder Gewissensbiss, jedes noch so kleine Unwohlsein, bei dem Gedanken, dass ich immer noch mit ihm zusammen war.
Ich roch seinen Atem und spürte jeden noch so winzigen Hauch auf meinem Gesicht.
Seine Nase strich langsam über meine Wange und immer wieder flüsterte er irgendetwas, was sich anhörte wie: „Was hast du dir dabei gedacht?“
Nur im Hintergrund merkte ich, wie sich meine Hände in seine Haare vergruben und ihn näher zu mir heran zogen.
Das Kribbeln im Magen wurde stärker und hatte sich binnen weniger Sekunden zu einem flammenden Inferno auf meine ganze Haut übertragen.
Nun schwebten seine Lippen über meine und es war schier unmöglich der Versuchung nicht zu widerstehen. Ich schloss die Augen und genoss diese Nähe. Als dann seine Lippen meine berührten, stand nicht nur meine Haut in Flammen, sondern jeder noch so kleine Teil von meinem Körper.
Als er sich von mir viel zu schnell löste, entstand ein Grinsen auf seinem Gesicht, dass ich noch nie gesehen hatte, und lies seine Augen nur so funkeln. Doch meine Gedanken schnappten augenblicklich in die Realität zurück. Und die war nun mehr als kompliziert.
Ich stieß Alex von mir runter und sah, wie das Grinsen aus seinem Gesicht verschwand. Meins hingegen glühte. Was hatte ich getan?
Alex fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und sein Gesicht blieb unergründlich. Mein Kopf war völlig leer gefegt.
„Ich sollte jetzt wohl besser gehen“, murmelte ich und stand langsam auf.
„Solltest du“, sagte er kühl und erschreckend gleichgültig.
Ich nickte beiläufig und versuchte ihn nicht anzusehen.
„Und vergiss Skye nicht.“
Verwirrt zuckte mein Blick zu ihm. „Woher…?“
Er schnitt mir mit einer Handbewegung das Wort ab.
„Geh einfach!“, schoss es aus ihm heraus.
Völlig eingeschüchtert schnappte ich Skye die schon in der Tür mit offenem Mund stand und floh regelrecht vor Alex, der, als ich mich ein letztes Mal umdrehte immer noch wie versteinert da stand. Seine blonden Haare schimmerten im schwachen Licht der Laterne wie ein Heiligenschein und seine schwarzen Sachen verschmolzen mit der Nacht. Er sah unheimlich und gleichzeitig wunderschön aus.
„June, was ist da eben passiert?“, riss Skye mich aus den Gedanken.
„Nichts, Skye. Lauf einfach weiter.“
Es tat mit leid, dass ich in diesem Moment so grob und kalt zu ihr war. Doch ich musste es selbst erst einmal verdauen.
Ich kannte diese Gefühle nicht von mir. Aber vor allem kannte ich nicht von mir, dass ich Avan so hintergehen konnte. Ich hätte es nicht zulassen dürfen, dass wir uns so nah kommen konnten. Ich hätte es nicht so genießen dürfen.
Ich würde ihm in Zukunft aus dem Weg gehen und ihn lernen zu vergessen. Avan bedeutete mir so unendlich viel; das würde ich nicht wegwerfen. Ich würde ihn anrufen, heute noch. Egal wie spät es bei ihm war. Ich würde ihn anrufen.
Wenn ich seine Stimme hören würde, wäre Alex vergessen.
Nur nebenbei bemerkte ich, wie Skye mich immer wieder besorgt musterte. Ich ignorierte sie weitestgehend und bekam immer mehr ein schlechtes Gewissen.
Wir schlichen uns in unser Wohnheim ohne irgendwelche Komplikationen.
Auf Skyes Wecker erkannte ich, dass es bereits nach um 12 war. Skye streckte sich und lies sich auf ihr Bett fallen.
„Ich bin hundmüde“, versuchte sie die Situation aufzulockern.
„Ich muss noch mal ins Bad…“, erläuterte ich ihr.
Verständnisvoll nickte sie und kuschelte sich in ihr Bett.
Ich hatte unauffällig mein Handy in meine schwarze Schlafhose gesteckt und hoffte, dass ich im Bad Empfang hatte. Ich hatte Glück.
Ich wählte seine Nummer aus dem Kopf und lies es Klingeln. Schon beim zweiten Mal ging er ran.
„Ja?“, ertönte seine müde Stimme aus dem anderen Ende.
Tränen stiegen in meine Augen und ich bekam einen Kloß im Hals.
„Avan“, hauchte ich mit erstickter Stimme.
„June, Babe. Was ist denn los?“
„Nichts“, ich versuchte mich zu beruhigen. „Ich vermisse dich einfach schrecklich.“ Es war nicht der wahre Grund, doch ich konnte ihm ja schlecht sagen, dass ich ihn hintergangen hatte.
„Ich dich auch.“
„Wie läuft es in New York? Hatte deine Band schon einen neuen Auftritt?“
„Ja! Du glaubst es kaum. Es waren 400 Leute da!“, rief er freudig ins Telefon.
Ich lächelte und konnte mir genau vorstellen, wie sehr sein Gesicht jetzt strahlte.
„Das freut mich für euch.“ Da kam mir ein Gedanke. Avans Vater hatte seine eigene Fluglinie und konnte seine Familienmitglieder individuell irgendwo hinfliegen. Wenn ich ihn sehen würde, würde ich Alex sicherlich vergessen.
„Avan, kannst du am Wochenende nicht herkommen?“
„Natürlich. Ich denke, dass Dad Zeit hat. Darfst du denn überhaupt Besuch empfangen?“
Ich verdrehte die Augen und grinste. „Ich bin in einem Internat, nicht im Gefängnis.“
„Dann werde ich am Wochenende kommen.“
So würde ich Alex mit Sicherheit vergessen!
„Es ist schon spät. Ich sollte wohl auflegen. Ich liebe dich, Avan.“
„Ich liebe dich auch.“ Ich hörte noch wie er ein Kussgeräusch machte und legte dann auf.
Avan würde am Wochenende kommen! Sofort war ich besserer Laune, doch immer noch saß der Klumpen in meinem Magen, an den Gedanken an Alex und den Kuss.
Als ich wieder ins Zimmer kam, lag Skye noch wach. Anscheinend konnte sie doch nicht schlafen.
Teilweise zufrieden legte ich mich in mein Bett und schlug die Augen zu.
„Bist du sicher, dass es eine gute Idee ist, wenn dein Freund kommt?“
Sofort schlug ich meine Augen wieder auf.
„Woher weißt du davon?“
Skye seufzte und ich hörte wie sie sich aufsetzte. „Die Wände in den einzelnen Räumen sind nicht besonders dick. Außerdem habe ich Augen im Kopf, June. Ich habe gesehen, was passiert ist. Und ich habe auch gesehen, wie du danach aussahst.“
Heftig schüttelte ich den Kopf. „Wenn Avan kommt, wird alles wieder gut.“
„Ich glaube nicht, June“, murmelte Skye leise.
Nun wurde ich wütend. „Du weißt doch gar nicht was vorgefallen ist, also misch dich da nicht ein!“
Sofort bereute ich, was ich gesagt hatte. Skye war von Anfang an nett zu mir gewesen und hatte mir geholfen, mich schon innerhalb eines Tages komplett wohl zufühlen und nun war ich so gemein zu ihr. Und warum? Weil ich mich immer noch an New York festklammert.
„Nein, ich weiß nicht alles was vorgefallen ist. Aber ich habe dein Gesicht gesehen“, sagte sie gekränkt und traurig.
„Tut mir leid, Skye…“
Danach entstand ein lang hingezogenes Schweigen und ich dachte schon, Skye wäre eingeschlafen, als sie plötzlich vor meinem Bett, samt ihrem Kissen, stand und grinste.
„Rutsch beiseite und erzähl mir endlich was passiert ist!“
Ich grinste ebenfalls, hob meine Decke und lies Skye neben mich legen, wie Liz und ich es nie gemacht hatten.
Skye und ich erzählten bis tief in die Nacht und schliefen dann völlig erschöpft ein.


Kapitel 7


Am nächsten Morgen wachte ich mit üblen Rückenschmerzen auf, denn ich hatte die ganze Nacht auf Skyes Minni-Kissen geschlafen.
Als ich auf die Uhr sah, erkannte ich, dass ich eine Stunde vor dem Wecker klingen wach geworden war.
Ich kletterte aus dem Bett raus und kuschelte mich in Skyes Bett. Nach einer Weile fiel mir jedoch auf, dass ich nicht einschlafen konnte. Zuerst gedachte ich, einfach liegen zu bleiben, doch dann, knurrte mein Magen und ich bekam um 6 Uhr Morgen einen Heißhunger auf Schokoladeneis.
Skye hatte mir, als sie mir das Mädchenwohnhaus gezeigt hatte, erklärt, dass es eine kleine Küche in jedem Wohnhaus gäbe und einem dort rund um die Uhr Essen freistand.
In der Hoffnung Eis zu finden, tapste ich Barfuss durch das Haus zur Küche.
Da ich zur Küche durch den Eingangsbereich musste, kam ich an dem Glaskasten vorbei. Doch diesmal war dieser leer. Vermutlich vertrauten sie darauf, dass niemand um 6 Uhr morgens wieder kam oder abhaute. Oder die dort drinnen sitzende Person, war einfach kurz auf Toilette gegangen.
Die Küche bestand aus zwei kleinen Tischen mit je 4 Stühlen, einer kleinen dunkelbraunen Kochzeile mit Mikrowelle, Herd und Wasserkocher und einem großem Kühlschrank mit Eisfach.
Zuerst durchstöberte ich die Schränke nach Löffeln, bis ich auf einen schönen großen stieß und mich an das Eisfach heranmachte. Zu meinem Glück gab es sogar Schokoeis mit Schokoladensplitter.
Voller Vorfreude riss ich den Deckel ab und schaufelte mir das Eis in meinen Mund.
Plötzlich hörte ich ein Knurren aus der Ecke. Erschrocken fuhr ich herum. Ich starrte in die Dunkelheit. Nichts. Ich musste mich geirrt haben. Doch dann stachen zwei grelle, gelbe Punke heraus. Ich kniff die Augen zusammen, um vielleicht besser erkennen zu können, was das war. Vorsichtig stellte ich die Eispackung ab und ging auf die leuchtenden Punkte drauf zu.
Ich hatte keine Angst. Doch dann wurden die Punkte größer und glühten immer mehr auf. Ein weiteres Knurren. Und dieses Knurren verursachte mir eine Gänsehaut. Ich wich einen Schritt zurück, dann sah ich die Umrisse eines Kopfes und ich bekam es mit der Angst zu tun. Der Kopf wurde immer deutlicher und gelbe Zähne kamen zum Vorschein.
Ich kniff die Augen zusammen und hoffte, dass, wenn ich sie wieder öffnen würde, ich in meinem Bett liegen würde.
Plötzlich wurde ich von einem Licht angestrahlt und öffnete wieder meine Augen.
Der Kopf war weg. Ich atmete aus, es war also doch nur ein Hirngespinst. Ich sollte wohl auf Eis am Morgen in Zukunft verzichten.
Ich drehte mich um und sah, was mich anstrahlte. Es war gerade Sonnenaufgang und es war wunderschön. In New York hatte ich niemals so einen Sonnenaufgang gesehen. Nachdem ich mich satt gesehen hatte, räumte ich das Eis wieder in das Gefrierfach und schlich mich zurück in mein Zimmer.
Nun war auch wieder eine Person im Glaskasten. Es war jedoch die Frau, die mich am Ersten Tag „empfangen“ hatte. Sie war so mit ihren Fingernägeln beschäftigt, dass ich ungehindert an ihr vorbei schleichen konnte.
Als ich wieder im Zimmer ankam, war Skye bereits wach und rieb sich die Augen.
„Guten Morgen“, grinste ich sie an. Ihre Haare standen in alle Richtungen ab und das im Zusammenhang mit ihrer Größe machte diesen Anblick mehr als amüsant.
„Morgen“, nuschelte sie. „Wann warst du wach?“
Ich schnappte mir zwei Handtücher. „Um 6. Ich hatte wahnsinnig Appetit auf Eis, also bin ich in die Küche gegangen. Aber ich glaube, dass ich das in Zukunft lassen sollte.“
„Warum das denn? Eis am Morgen ist wundervoll, außer wenn das Gehirn einfriert. Das passiert mir ständig, aber ich bin immer so gierig. Ich meine, dass Eis könnte ja weg schmelzen, bevor ich es gegessen habe…“
„Skye!“, unterbrach ich sie lachend. „Redest du morgens eigentlich immer so wirres Zeug?“
Sie zog kurz eine gespielte beleidigte Schnute, dann wandte ich mich dem Bad zu und ging endlich Duschen.
In der Dusche befang mich ein beklemmendes Gefühl. Wenn heute wieder Unterricht stattfinden sollte, was ich stark annahm, würde ich vermutlich des Öfteren Alex begegnen. Ich würde ihn ignorieren müssen, so viel stand fest. Der Kuss war völlig unnötig gewesen und falsch. Komplett falsch. Ich musste nach vorn sehen, denn wenn Avan am Wochenende kommen würde, dürfte ich definitiv nicht in Erinnerung schwelgen. Und dennoch. Die Bilder drängten sich immer wieder in den Vordergrund. Aber dieses Gefühl, wenn ich auch nur daran einen kleinen Gedanken verschwendete, machten mir am Meisten zuschaffen. Doch ich würde garantiert nicht zulassen, dass es Besitz über mich ergriff.
Erst als mir auffiel, dass ich durch den Dunst gegen die weisen Fliesen starrte und Skye von draußen schon gegen die Tür hämmerte, stellte ich das Wasser ab und verbannte die Gedanken für den Rest des Tages.
Skye scheuchte mich aus dem Bad mit den Worten: „Ich mach mir gleich in die Hosen!“
Ich rubbelte meine Haare trocken und zog mir die Schuluniform an. Es war immer noch ungewohnt, sie zu tragen.
Skye brauchte deutlich weniger Zeit als ich im Bad, aber nur, weil wir wieder unter Zeitdruck standen.
Wir hasteten als die Letzten aus dem Wohnhaus zum Haupthaus zur morgendlichen Zusammenkunft.
Wie erwartet war der große Saal komplett gefüllt und die vorderen 10 Plätze waren allesamt besetzt. Ich ignoriert das unangenehme Bauchkribbeln und gesellte mich mit Skye zu den anderen, die uns freundlicherweise zwei Plätze freigehalten hatten.
Mr. Palmer nickte uns mit einem Lächeln zu, als habe er nur auf uns gewartet.
„Nun, da wir uns alle an diesem herrlichen Morgen zusammen gefunden haben, wäre es an der Zeit mit dem üblichen Geschwafel anzufangen, doch ich nehme an, es ist auch in Ihrem Interesse, wenn wir dies diesen Morgen einmal ausfallen lassen. Der Unterricht wird heute wieder wie gewohnt stattfinden…“ Ein enttäuschtes aufstöhnen ging durch den Saal.
„Ja, auch ich habe diesen freien Tag genossen. Auch wenn eines unserer Schülerinnen verstorben ist, Gott habe sie selig. Dennoch dürfen wir, trotz des Verlustes nicht stehen beleiben, sondern müssen uns fortbewegen, auch wenn die Wunden nicht zu heilen scheinen. Für alle Schüler findet heute um 16 Uhr ein Gedenkgottesdienst statt, um noch einmal Abschied zunehmen. Vor allem aber, um die Trauer jener besser verarbeiten zu können, die im engen Kontakt mit Debby standen. Und um Eurer Sicherheit wegen, wird die Ausgangssperre um eine Stunde verkürzt und strengstens Eingehalten, da es immer noch keine Ergebnisse zur Aufklärung der Todesursache und dem Täter gibt, sind bis zu einem unbestimmten Zeitpunkt alle Arbeitsgemeinschaften und Außenaktivitäten gestrichen. Nun“, fuhr Mr. Palmer nach einer Pause fort, „wünsche ich euch einen erfolgreichen Tag und eine guten Appetit beim Frühstück.“
Nachdem der Direktor verschwunden war, herrschte sofort ein Aufgeregtes Geschnatter.
„Das können sie doch nicht machen!“, schimpfte Jeremy neben mir. „Unsere Freizeit nach dem Unterricht ist schon so beschränkt. Wenn mein Gehirn wegen zu großen Sauerstoffmangel eingeht, werde ich sie verklagen!“
„Das wirst du aus genau zwei Gründen nicht tun“, antwortete Denice gleichgültig, während Jeremy verdutzt drein sah.
„Erstens,“ fuhr sie fort, „bist du bereits tot, wenn dein Gehirn eingeht und Zweitens, hast du viel zu viel Angst davor, dich Mr. Palmer gegenüber zustellen.“
Jeremy zog eine Miene, als würde es nie wieder Schokolade für ihn geben und hielt von diesem Zeitpunkt an, endgültig den Mund.
Während des Frühstücks hatte unsere ganze Truppe schlechte Laune. Ich persönlich fand es ein wenig übertrieben, nur weil die Ausgangssperre verkürzt war, musste man sich doch nicht benehmen, als würde die Welt untergehen. Selbst Skye schaffte es nicht, irgendwie gute Laune zu verbreiten.
Irgendwann schmiss ich dann entnervt mein halbaufgegessenes Toast mit Marmelade auf meinen Teller und stierte alles böse an.
„Was ist denn daran so furchtbar, dass die Ausgangsperre um eine Stunde verkürzt wird, dass ihr jetzt alle eure Köpfe hängen lasst?“
Lynn warf mir einen niedergeschlagenen Blick zu. „Die Elite wird und braucht sich daran nicht halten, dass heißt, sie werden schon wieder bevorzugt und wir müssen darunter leiden…“
Plötzlich stand Arwen mit dem gesamten Rest vor unserem Tisch.
„Guten Morgen, Kinder“, sagte sie zuckersüß. Neben ihr stand Alex und sah ausdruckslos über all hin, nur nicht in meine Richtung. Es war auch gut so, ich wollte ja nicht, dass er mich ansah. Darum konzentrierte ich mich voll und ganz auf Arwen, die sich gerade Jeremys Nachtisch schnappte und ihn süßsanft angrinste.
„Du hast doch damit sicherlich kein Problem, denn ich frage bevor ich mir etwas nehme, was nicht mir gehört. Nicht wahr, June?“
Völlig überrascht starrten mich alle an und ich wurde rot. Wusste sie etwas davon?
Ich versuchte meinen gleichgültigen Gesichtsausdruck stand zu halten und ging nicht weiter auf ihre Anspielung ein.
„Musst du nicht Kalorien zählen gehen? Verschwinde, Arwen.“
Ihr Blick wurde düster und sie beugte sich zu mir vor. Gerade als sie etwas sagen wollte, hielt Alex sie an der Schulter fest.
„Arwen“, sagte er bestimmend und zog sie zurück. Sein Blick huschte kurz zu mir und er war kalt. Kalt und abwertend, so dass ich schnell meine Augen niederschlug und die Bilder in meinem Kopf verscheuchte.
„Eines noch, June. Entfernt am Besten eure Namen von den Taschenlampen, bevor ihr sie in unserem Haus vergesst.“
Oh verdammt! Ich warf Skye einen erschrockenen Blick zu, nachdem Arwen verschwunden war.
„Du hast deinen Namen auf deine Taschenlampe geschrieben?!“, fuhr ich sie an.
„Ich verlier immer meine Sachen. Mit meinem Namen drauf, find ich sie schneller“, murmelte sie entschuldigend. Doch dann brach ich in Gelächter aus und Skye mit mir. Es war so verrückt. Kein normaler Mensch schreibt auf seine Taschenlampe seinen Namen.
Nachdem wir uns beruhigt hatten, merkten wir die verwirrten Blicke der anderen.
„Würdet ihr uns mal aufklären?“, fragte Jeremy, während Lynn, Denice und Gill und neugierig ansahen.
„Wir waren gestern Nacht im Versammlungshaus der Elite, um endlich zu erfahren was dort vor sich geht. Leider wurden wir erwischt“, antwortete ich teilweise Wahrheitsgetreu. Ich konnte ihnen einfach noch nicht erzählen, was eigentlich vorgefallen war.
Kurz bevor es zum Frühstückende klingelte, brachten wir unsere Teller zur Ausgabe und machten uns auf den Weg.
Heute würde mein erster richtiger Schultag an Roses Castle sein, ohne Komplikationen.
Skye hatte mir versichert, dass sie in jedem Fach neben mir sitzen würde, da sie so wieso allein saß.
Der Weg von der Mensa bis zu den Schulgebäuden war nicht lang, also hatte ich noch einige Minuten mehr Zeit, um auf Toilette zu gehen.
In jeder Etage des Schulgebäudes gab es welche, was für mich ziemlich praktisch war, außerdem befanden sie sich in den 3 Stockigem Gebäude immer am Ende eines Ganges. So konnte ich mich nicht verlaufen.
Alle Türen hatten auch, wie im Mädchenwohnhaus, goldenen Nummern. Unsere erste Stunde hatten wir im Raum 11.16. Also in der ersten Etage.
In den Klos war es überraschend sauber, ich musste an die Räume in meiner alten Schule denken und war, von der Sauberkeit her, ziemlich froh hier gelandet zu sein.
Es gab einem langen, großen und durchgehenden Spiegel an der Wand, vier Waschbecken und 4 Kabinen. Die Kabinen waren aus dunklem Kastanienholz.
Ich schloss gerade die Tür hinter mir, als ich hörte wie jemand den Raum betrat. Anscheinend waren es zwei Mädchen.
„Alex ist immer noch merkwürdig, ich weiß nicht was mit ihm los ist. Ich kann nichts falsch gemacht haben“, hörte ich Arwens durchdringende Stimme. Sofort wurde ich wachsam und drückte vorsichtig mein Ohr gegen die Kabinentür.
„Er hat sich bestimmt mit Raphael in die Haare gekriegt, du weißt doch, wie die beiden manchmal sind“, antwortete ihr Violetta zustimmend.
„Aber er ist so distanziert, irgendetwas beschäftigt ihn. Bestimmt wegen der Neuen.“
Ich zog die Augenbrauen hoch. Alex benahm sich also merkwürdig… Hatte es vielleicht etwas mit dem Kuss zutun? Bestimmt nicht! Es war ihm sicher gleichgültig, so wie alles.
Was interessierte mich das auch? Er war mir sowieso egal. Trotzdem konnte ich nicht anders, als weiter zu lauschen. Vielleicht würden sie ja noch etwas über ihren Club sagen.
„Was soll denn diese June damit zutun haben? Du bist tausendmal hübscher. Und außerdem, seid ihr beide so lang zusammen, dass euch keiner trennen wird“, versuchte sie Arwen aufzumuntern.
Ich hörte, wie Arwen seufzte und ihre Absatzschuhe auf den Fliesen klackerten.
„Du hast ja Recht. Trotzdem will ich kein Risiko eingehen; ich muss etwas unternehmen, um sie loszuwerden…“
Überrascht riss ich die Augen auf. Um mich loszuwerden?
Nervös fummelte ich an den Träger meiner Tasche herum und hatte nun Angst entdeckt zu werden.
Plötzlich rutschte der Riemen von meiner Schulter, doch ein Glück konnte ich ihn noch rechtzeitig aufhalten. Allerdings hatte ich mich durch den kurzen Schreck verschlugt, und bemühte mich nun ein Husten zu unterdrücken.
Dann wurde die Kabinentür aufgerissen und Arwen stand mit einem erwartungsvollen Blick vor mir.
Ich schluckte schwer. Jetzt war ich dran.
„Wenn man vom Teufel spricht, kommt er gleich vor die Füße gerutscht. - Hallo, June“, murmelte sie lieblich. Plötzlich packte sie mich am Kragen und donnerte mich gegen die Holzwand der Kabine. Ein schmerzhafter Stich ging durch meinen Rücken. Mit ängstlichen Augen starrte ich sie an.
Ein erschrockenes „Arwen“ hörte ich von Violetta, doch Arwen interessierte sich im Moment für andere Dinge.
„Nun, June. Da du schon unser Gespräch belauscht hast, weißt du sicher was auf dich zukommt, nicht?“
Ich quetschte ein ängstliches: „Nein“ aus meinen Mund und hoffte bloß, dass ich mir nicht einpinkeln würde.
„Hör zu, Schätzen. Dies wird die letzte Warnung sein, bevor es für dich Schmerzhaft wird. Lass deine schmierigen Hände von Alex. Sieh ihn noch nicht einmal mehr an, und sieh zu, dass du von meiner Schule schnellstmöglich verschwindest. Haben wir uns verstanden?“ Sie donnerte mich ein weiteres Mal an die Wand, anscheinend war ihr meine Antwort nicht schnell genug.
„Ich habe nicht das geringste Interesse an deinem Alex“, antwortete ich mit bemüht starker Stimme.
„Dann haben wir uns also verstanden. Und denk dran, ich werde dein Leben schneller zerstören, als du auch nur seinen Namen denken kannst.“
Ihr Blick bohrte sich unverhohlen feindlich in meinen; ich versuchte so standhaft wie möglich zu bleiben.
Nachdem sie mich ein letztes Mal gegen die Kabinenwand gestoßen hatte, zischten sie und ihre Freundin von dannen.
Mit schlotternden Knien rutschte ich auf den Boden und stütze mich mit den Händen am Toilettenrand ab.
Dieses Mädchen war vollkommen durchgedreht! Sie gehörte in eine Irrenanstalt. Am Besten alle aus der Elite.
Mein Herz schlug mir immer noch bis zum Hals, als wartete es nur darauf heraus springen zu können.
Nachdem ich mich teilweise beruhigt hatte, hatte es bereits geklingelt. Vorsichtig stand ich auf, stützte mich vorsichtshalber immer noch an der Kabine ab.
Vor dem Spiegel brachte ich mein Kragen wieder in die richtige Position und strich durch meine Haare.
„Du sahst aber auch schon mal besser aus, June“, sagte ich zu meinem Spiegelbild.
Unter meinen Augen waren tiefe Ringe zu erkennen, meine Haut sah bleich aus, richtig ungesund. Das Grau in meinen Augen war matt und ausdruckslos. Diese Schule machte mich krank, jedenfalls einige bestimmte Leute.
Ich spritze mir noch etwas kaltes Wasser ins Gesicht und machte mich dann auf zum Unterricht…der bereits seit 15 Minuten lief. Oh verdammt! Ich beschleunigte meine Schritte und erreichte in Rekordzeit den Raum.
Von Außen hörte ich schon die laute Stimme der unterrichtenden Lehrerin. Krampfhaft überlegte ich, was ich nun für einen Unterricht hatte. Doch es fiel mir nicht ein.
Vorsichtig betrat ich den Raum und sofort richteten sich alle Augen auf mich. Sogar die wenigen Leute die von der Elite anwesend waren, sahen mich an. Nur Alex nicht. Es war auch gut so.
„Entschuldigung“, murmelte ich und setzte mich auf den Platz am Fenster.
„Schlagen sie ihr Buch auf und folgen sie dem Unterricht, dann vergessen wir, dass Sie zu spät kamen. Mein Name ist Miss Builly – Herzlich Willkommen.“
Ich lächelte ihr schüchtern zu und schlug die Seite auf, die Skye mir sagte.
„Warum warst du so lange weg? Ich dachte, du wolltest nur kurz auf Toilette“, flüsterte mir Skye zu, als Miss Builly der Tafel zugewandt war.
„Es gab einen kleinen Zwischenfall mit Arwen…“
Skye sah mich geschockt an. „Oh mein Gott!“
„Miss Williams, Miss Fairhust – ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit!“
Entschuldigend starrten wir auf unsere Bücher. Ich riss ein Stück Papier von meinen Block und schrieb eine Nachricht für Skye darauf.
Ich hab Arwen auf Toilette mit Violetta belauscht. Sie hat mich entdeckt und dann wurde ich von ihr gegen die Kabinenwand gedrückt. Sie hat mir gedroht, sie würde mir das Leben zur Hölle machen, wenn ich Alex nicht in Ruhe lassen würde. Sie gehört in die Irrenanstalt!
Vorsichtig schob ich den Zettel zu Skye und beobachtete ihre Mimik beim lesen. Ihr Gesicht blieb während der ganzen Zeit völlig geschockt.
„Wirklich?“, flüsterte sie mir zu.
Ich nickte und versuchte es runterzuspielen. So viel Sorge konnte ich nicht ab.
Skye blies ihre Wangen auf um dann wieder Geräuschvoll die Luft hinauszulassen.
Während des Unterrichts schweiften meine Gedanken immer wieder ab.
Ich versuchte mir vorzustellen, wie die Begegnung mit Avan werden würde. Es würde bestimmt Vertraut werden, ich hoffte jedoch nicht, dass etwas zwischen uns stehen würde. Meine größte Sorge war, dass er bemerkte, dass etwas anders war. War es ja nicht. Ich bildete mir eindeutig viel zu viel ein und machte mir Gedanken über ein unwichtiges Thema.
Nachdem es endlich zur Mittagspause klingelte, schnappte ich alle meine Sachen in Höchstgeschwindigkeit zusammen. Ich wollte nur noch raus.
Durch meine Hektik geblendet, prallte ich an der Tür mit jemandem zusammen und ließ vor lauter Schreck meine Sachen fallen.
„Oh verdammt - “, setzte ich an bis ich sah, mit wem ich zusammen geprallt war. Alex.
Er sagte nichts, sondern bückte sich nur und hob mir die Sachen auf.
„Pass in Zukunft auf, wo du hinläufst“, sagte er gelassen. Sofort kamen die Bilder wieder vor mein Inneres Auge. Das musste aufhören!
Und obwohl ich mir vornahm, ihm aus dem Weg zu gehen, begegnete ich ihm trotzdem immer wieder und die Gefühle blieben jedes Mal gleich. Ich blickte in seine Augen und versank darin, so sehr ich mich auch bemühte zu widerstehen, konnte ich nicht anders.
Erst als sich jemand hinter uns räusperte, tickte die Zeit weiter. Und meine schlimmsten Befürchtungen wurden wahr. Mein Herz schnellte wieder hinauf in meinen Hals und hallte unerträglich laut in meinem Kopf wieder.
Arwen stand mit wutentbranntem Gesicht direkt vor mir.
Sie stieß mich zur Seite, so dass ich auf mein Hinterteil landete und Skye mich erschrocken ansah. Arwen beugte sich zu mir runter und sprach mit einer so leisen und gefährlichen Stimme, dass nur ich sie verstehen konnte.
„Ich hab dich gewarnt, June. Du bist…“
Plötzlich wurde sie zurück gerissen und landete mit den Rücken gegen Alex’ Brust.
„Arwen, lass uns gehen.“
Anscheinend wollte sie weiter protestieren, doch Alex zog sie regelrecht gewaltsam mit sich.
„Oh mein Gott!“, kam Skye auf mich zu. „Ist alles okay bei dir? Ich dachte schon…sie reißt dir deinen Kopf ab und isst ihn dann zum Mittag!“
Ich zog die Stirn kraus. „Das ist widerlich, Skye.“
„Ich weiß, aber zu ihr würde das passen. Kannst du aufstehen?“
Ich funkelte sie an. „Natürlich kann ich aufstehen, sie hat mir ja nicht irgendetwas abgerissen.“ Es tat mir leid, dass ich sie so anfuhr, doch meine Nerven lagen blank.
Normalerweise konnte ich mich gegen so etwas währen. Vielleicht lag es daran, dass sie Alex’ Freundin war oder dass sie einfach diesen Blick aufsetzten konnte und ihre Stimme in einer Tonlage kriegen konnte, die einem Gänsehaut verursachte.
Skye half mir hoch und verscheuchte die Gaffer die sich alle um mich versammelte hatten, wie ausgezehrte Hyänen um ein Stück Fleisch.
Schweigend liefen wir zur Cafeteria.
„Tut mir leid, Skye“, murmelte ich vor dem Eingang. Ich hoffte, sie wüsste was ich meinte.
„Schon gut. Ich versteh dich, mir würde es mit dieser chronisch eifersüchtigen, mordlustigen Kuh nicht anders gehen, nachdem ich Alex geküsst hätte…“
„Sch-sch! Bist du wahnsinnig? Hier laufen Leute rum – mit Ohren und Mündern!“ Vorsichtig schaute ich nach links und rechts und hoffte, dass niemand etwas bemerkte.
„Oh 'tschuldige, ich …“, wurde sie plötzlich von einem Lauten rufen unterbrochen. Fast gleichzeitig drehten wir uns um und sahen, wer auf uns zu gerannt kam. Paul.
Das letzte Mal als ich Paul gesehen und gehört hatte, war vor einem Tag und da waren wir im Streit auseinander gegangen. Hoffentlich war er nicht mehr böse auf mich.
„Endlich hab ich dich gefunden, June. Ich bin schon über den ganzen Campus gelaufen – das ist aber auch ein riesen Gelände.“
Ich war unglaublich froh Paul zu sehen und zu wissen, dass er nicht mehr sauer auf mich war.
„Wie geht’s dir Paul? Haben Mum und Dad schon mal was von sich hören lassen?“
Traurig schüttelte er den Kopf. „Nein. Ich hab selber schon probiert, sie anzurufen, aber es hebt niemand ab. Wahrscheinlich ist das Telefon noch nicht angeschlossen, mach dir keine Gedanken. Ich hab gehört, dass du Ärger mit einer Mitschülerin hattest?“
Entnervt warf ich Skye einen Blick zu. Wie lang war es her? 10 Minuten? Das war ja furchtbar.
Paul schien zu merken, dass etwas nicht stimmte.
„June, ich bin dein Bruder, ich mache mir bloß Sorgen. Du weißt doch, falls dir jemand Stress macht, bin ich dafür da.“ Aufmunternd legte er mir eine Hand auf die Schulter.
„Ist schon gut, Paul. Kommst du mit in die Cafeteria?“, fragte ich ausweichend.
Er runzelte die Stirn und nickte.
„Ich bin Skye!“, warf Skye noch schnell ein und streckte Paul ihre Hand entgegen, leicht überrascht nahm er sie entgegen und setzte sein ich-kann-für-dich-alles-sein-Blick auf. Skye wurde rot und entzog ihm die Hand. Anscheinend hatte sie damit nicht gerechnet, ich verkniff mir ein grinsen und zog beide mit in die Cafeteria.
Wie auch beim Frühstück war sie proppenvoll und das gute Essen bereits vergeben. Die Ausgabefrau klatschte mir etwas auf meinen Teller, was aussah, wie zermatschte Lasagne.
Angewidert verzog ich mein Gesicht.
Als wir an unserem Tisch saßen, entdeckte ich, dass alle anderen ebenfalls vom Essen nicht sehr angetan waren.
„Meintet ihr nicht, dass hier das Essen erträglich sei?“, fragte ich in die Runde.
„War es auch, bis die Köchin ersetzt wurde. Es ist einfach grauenhaft!“, rief Jeremy aus, schmiss sein Besteck auf den Teller und verschränkte die Arme vor der Brust.
Die letzten Stunden zogen sich hin, wie ein alter zäher Kaugummi. Jeder Lehrer war nett zu mir gewesen und einen erneuten Zwischenfall mit Arwen hatte es glücklicherweise ebenfalls nicht gegeben. Ich hatte größtenteils versucht, ihr, Alex und der restlichen Elite aus dem Weg zugehen. Dieser Plan war auch gut aufgegangen, bis auf diese winzig kleinen Momente, als sich unsere Blicke gekreuzt hatten und Arwen mit ihrem Finger an der Kehle entlang fuhr. Von diesem Moment an hatte ich Scheuklappen angelegt und alles ignoriert. Nur Skye nicht, die mir ab und zu einen Blick zuwarf, als wüsste sie genau, was ich dachte.
Nachdem wir alle im Aufenthaltsraum saßen und uns mit einer Stundenlangen Diskussion über die neue Köchin beschäftigt hatten, schleppten Skye und ich uns träge ins Wohnheim, wo wir dann auch völlig müde ins Bett fielen.
In unserem Zimmer drehte ich mich auf die Seite und wollte Skye gerade etwas fragen, als ich ein leises Schnarchen vernahm. Ich seufzte. Wie konnte man in einer Minute einschlafen?
Skye lag immer noch schräg auf ihrer Bettdecke, also machte ich mir, wie bei Paul frührer, die Mühe und schob sie richtig ins Bett, um dann ihre Decke über sie zu legen.
Ich entschied mich, noch einmal ins Bad zugehen.
Als ich in den Spiegel blickte, erschrak ich so heftig, dass ich all die Sachen die auf dem Waschbecken standen mit einem mal umschmiss.
Ich drehte mich um und suchte verzweifelt nach dem, was ich eben im Spiegel gesehen hatte. Zwei grelle, gelbe Augen.
„Ich werde hier noch verrückt“, murmelte ich verstört. Vorsichtig spähte ich um die Ecke, um zu sehen ob Skye immer noch schlief.
Nachdem ich meinen Herzschlag einigermaßen wieder unter Kontrolle hatte, konnte ich mich wieder in mein Bett begeben. Jedoch mit einem Kribbeln im Nacken.
Ich hatte mir diese Augen mit Sicherheit nur eingebildet, es war der Stress, die Aufregung und die vielen neuen Eindrücke die ich heute erlebt hatte. Da spielte einem das Gehirn schon mal Streiche. Es gab für all dies einfache Erklärungen, ganz unkompliziert.
Ich redete mir diesen Satz geschätzte 10 Mal ein, bis ich endlich einschlief und mir keinen Kopf mehr darum machte, was ich nun gesehen hatte oder nicht.


Kapitel 8


Tausend grelle Lichter schossen auf mich zu. Sausten mit einem leisen Kichern an meinem Kopf vorbei. Ich drehte mich um und versuchte herauszufinden, wo sie hinflogen. Es schien, als würden sie sich zu einem hellen Ball zusammen finden. Ich zog die Augenbrauen zusammen, als ich einen Schatten hinter der leuchtenden Kugel entdeckte.
Langsam schritt ich auf ihn zu.
Als ich unmittelbar davor stand, erkannte ich auch, wer dieser Schatten war. Alex.
Zuerst wollte ich mich wieder abwenden und rechnete damit, dass er sich distanziert verhalten würde, doch dann lächelte er mir zu. Ich lächelte zurück.
Alex streckte mir seine Hand entgegen, vorsichtig legte ich meine hinein. Er zog mich durch die Kugel zu sich. Ich hatte Angst, dass ich abprallen würde, doch ich glitt durch sie hindurch, als wäre sie Luft. Ich stand nun ganz nah vor ihm.
Als er mit seiner Hand mein Gesicht zu sich heran zog, wurde mir mulmig. Ich durfte ihn nicht noch einmal küssen. Ich war mit Avan zusammen – ich liebte ihn! Aber warum setzte bei Alex schon wieder dieses Kribbeln in meinem Magen ein und ließ mein Herz schneller schlagen? Müsste es nicht bei Avan so sein?
Alex lächelte immer noch. Langsam wurde dieses Lächeln unheimlich, es sah unnatürlich aus.
Nur noch wenige Sekunden und er würde mich küssen. Und ich würde es so sehr genießen, danach würde ich mich schuldig fühlen und alles würde nur noch schlimmer und schlimmer werden. Dennoch verzehrte ich mich so sehr danach.
Kurz bevor sich unsere Lippen finden sollten, flüsterte ich seinen Namen. Ich wollte wissen, ob er wirklich bei mir war.
Plötzlich sackte er zusammen und aus seinen Augen wich jedes Leben. Ich fing ihn auf, bis ich etwas Spitzes an meinem Bauch spürte.
Ich fing an zu schreien. Ein Schwert spießte aus seinem Bauch. Blut floss unaufhörlich aus der Wunde. Ich rief seinen Namen, als sein Atem erlosch. Nein, nein, nein! Ich schrie weiter nach Alex und hoffte vergeblichst, er würde wieder Atmen. Dann hörte ich ein Kichern, das mir eine eisige Gänsehaut verursachte, ich sah in alle möglichen Richtungen. Warum half ihm denn niemand?!
Ich schrie noch einmal seinen Namen. Er musste aufwachen!
Sein Blut klebte an meinen Hände, am Oberteil. Ich war voller Blut. Warmes klebriges Blut. Skyes Gesicht erschien vor meinen Augen. Hatte sie Alex umgebracht? Was hatte sie für einen Grund? Was redete sie da? Wir brauchten einen Krankenwagen!
„June, wach auf! Wach auf!“
Was? Ich war doch wach. Was redete sie schon wieder für ein Unsinn!
„June! Wach doch endlich auf, du machst mir Angst! June!“
Plötzlich wurde wieder alles klar. Skye saß halb auf mir drauf, ich befand mich in meinem Bett, völlig verschwitzt.
„Alles gut, June. Es war nur ein böser Traum“, flüsterte Skye beruhigend.
Ich schnappte nach Luft, als wäre ich hundertfünfzig Mal um das Mädchenwohnhaus gerannt.
Es war nur ein Traum. Nichts Schlimmes. Ein schlimmer Traum, aber eben nur ein Traum. Alles war okay.
Skye sah besorgt auf mich hinab.
„Mein Gott, June. Du hast mich vielleicht erschreckt! Ich bin aus dem Bett gefallen, als du anfingst zu schreien. Ich hab schon damit gerechnet, dass ich jemanden mit meinem Wecker erschlagen muss, um dich zu retten. Obwohl ich mir mit Sicherheit in die Hose gemacht hätte, wenn der Einbrecher mich nur angesehen hätte. Da hatten wir aber tierisch Glück, dass es nur ein Traum war.“
Ich fing an zu Grinsen. Anscheinend war Syke ziemlich müde.
Aber sie hatte Recht: Es war zum Glück nur ein Traum.
Nachdem ich mich endlich beruhigt hatte, setzte Skye sich im Schneidersitz mir gegenüber und sah mich neugierig an.
„Was hast du denn geträumt? Als du deine Augen geöffnet hast, sahst du aus, als hättest du einen Toten gesehen.“
Ich nickte. „Alex…“
Skye sah mich mit großen Augen an. „Darum hast du seinen Namen gerufen. Was ist denn mit ihm passiert? Manchmal…träumt man etwas aus bestimmten Gründen. Meine Granny ist Wahrsagerin, glaubt sie zumindest. Jedenfalls hat sie mir einmal erklärt, wie das mit dem Traumdeuten geht. Ich habe noch ein Buch von ihr, wir könnten es mal probieren. Vielleicht ist dein Traum auch ziemlich eindeutig.“
„Wirklich?“, fragte ich hoffnungsvoll.
Skye nickte völlig überzeugt ehe sie aufstand und ein dickes blaues Buch aus ihrem Regal zog.
Sie schlug die erste Seite auf, erwatungsvoll sah ich sie an.
„Du musst mir jetzt deinen Traum erzählen, damit ich weiß, was ich nachschlagen soll.“
„Oh ja, richtig“, ich nickte bemüht, den aufkommenden Schauer zu unterdrücken.
„Irgendwelche Lichter sind an mir vorbeigerauscht und haben gekichert, sie sind zu einer Kugel formatiert. Hinter dieser Kugel, stand ein Schatten. Es war Alex. Ich bin zu ihm hin gegangen und…und wir haben uns berührt, er wollte mich küssen. Als plötzlich…ein Schwert durch seinen Bauch gestoßen wurde. Ich war überall voll mit Blut, an meinen Händen, meiner Kleidung. Und dann…dann war da dieses fiese Lachen…“ Ich spürte wie meine Hände zu zittern begannen. Ich presste sie auf die Matratze.
Skye blickte mitgenommen auf ihr Buch und dann auf meine Hände.
„Ich seh mal nach.“
Nachdem Skye eine Weile in dem Traumbuch geblättert hatte, sah sie mich mit großen Augen an.
„Oh Gott, June“, murmelte sie.
„Was? Was steht denn da?“ Aufgeregt versuchte ich einen Blick ins Buch zu werfen.
„Seltsame und unheimliche Lichter, deuten auf große Enttäuschungen und Fehlschläge.“
Ich schluckte. Skye schlug die nächste Seite auf und las vor.
„Tod bringt gute Veränderungen und einen Abschluss einer bestimmten Sache, bei berühren oder küssen eines Sterbenden, wird man eine traurige Nachricht erhalten.“
„Na das hört sich ja mehr als großartig an“, murmelte ich sarkastisch.
„Es wird noch besser. Hier: Mit Blut befleckt sein deutet oft auf Schuld- und Schamgefühle hin. Blut sehen, bedeutet um einen nahestehenden Menschen bangen, schwere Enttäuschungen erleben und mahnt vor Vorsicht. Wenn andere bluten folgen Tod und Unfälle. Blutgetränkte Hände und Kleider verweist auf Unglück und Feinde.“
„Und was bedeutet dieses Lachen?“, fragte ich.
„Dass du eine Demütigung zu erwarten hast“, schoss es aus Skye wie aus der Pistole.
„Ich träume oft, dass andere mich auslachen. Daher weiß ich es.“
Ich ließ mich nach hinten fallen.
„Ich glaube nicht an so etwas. Wenn man sich zu sehr an solche Sachen klammert, verliert man den Hang zur Realität“, sagte ich nüchtern.
„Ich mache mir trotzdem Sorgen, June. Ich weiß selber nicht wieso, aber irgendetwas liegt in der Luft.“
„Das ist doch völliger Schwachsinn. Es ist doch alles okay. Du brauchst dir um mich schon gar keine Sorgen machen, Skye. Lass uns weiter schlafen.“
Ich warf ihr ein aufmunterndes Lächeln zu, was sogleich verblasste, als das Licht erlosch.
Ich wusste selbst, dass irgendetwas seltsam war. Die Augen im Spiegel, der Kopf am Morgen und nun der Traum. Doch ich ließ nicht zu, dass es mich vereinnahmte. Für all dies gab es hundertprozentig eine vollkommen nachvollziehbare und logische Erklärung.


Bis zum Weckerklingeln hatte ich kein Auge zugemacht, die ganze Nacht hatte ich die dunkle Wand angestarrte. Gesehen wie sich ein regelrechtes Schattenspiel auf ihr abspielte. Ich hatte Angst davor, noch einmal ein zu schlafen und diesen selben schrecklichen Traum zu erleben. Normalerweise beschäftigte mich so etwas nicht. Ich machte mir keine Gedanken darüber, was es zu bedeuten hatte. Doch hier war so vieles anders. In New York hatte ich nie seltsame Gestalten oder leuchtend gelbe Augen gesehen weder geträumt, wie jemand in meinen Armen stirbt. Es war alles so absurd. Fürs erste musste ich mich damit abfinden, dass es noch keine logische und vollkommen einleuchtende Erklärung für das gab.
Nachdem Skyes Wecker lauthals geklingelt hatte, konnte ich auch endlich mit ruhigen Gewissen aufstehen, um zu duschen.
Als ich aus dem Bad kam, sah ich, dass Skye sich ein Kissen auf den Kopf presste und mehrmals lautstark aufstöhnte.
„Skye, ist alles okay?“, fragte ich vorsichtig und beugte mich über ihr Bett.
„Entweder sitzt ein kleines grünes Männchen in meinem Kopf und hämmert sich gerade einen Weg nach draußen oder mich hat ein Zug überfahren.“
Sie richtete sich kurz auf, um sich dann gleich wieder zurückfallen zulassen.
„Eindeutig ein Zug.“
Ich sah sie besorgt an. „Kann ich irgendetwas für dich tun?“
Schwach nickte sie. „In meinem Schrank ganz oben sind Tabletten. Kannst du sie mir holen und ein Glas Wasser?“
Ich bejahte und machte mich, nachdem ich die Tabletten gefunden hatte, auf die Suche nach einem Glas. Da sich in unserem Zimmer keins befand, tapste ich, immer noch im Handtuch gewickelt hinunter in die kleine Küche. Dort wurde ich fündig und machte mich sofort wieder auf den Weg zurück.
Ich war auf der Hälfte der Treppe, als ich beinahe gegen Alex rannte, der gerade von Oben kam mit nix weiter bekleidet als einer Boxershorts und einem grauen T-Shirt.
Mitten in der Bewegung hielt ich an. Ob er bei Arwen gewesen war? Die ganze Nacht? Plötzlich entstanden Bilder in meinem Kopf, die ich so schnell nicht wieder los werden würde.
Klasse. Jetzt war nicht nur die Nacht im Eimer gewesen sondern auch noch der ganze Tag mit.
„Was machst du hier? Es ist doch verboten im Mädchenwohnhaus zu sein“, fragte ich und kam mir unglaublich dumm vor.
„Dasselbe könnte ich dich Fragen“, antwortete er gelassen.
Ich zog die Augenbrauen herausfordernd hoch. „Ich wohne hier, denn falls es dir entfallen sein sollte bin ich ein Mädchen.“
Er zog eine Augenbraue hoch. „Wirklich? Und ich lebte jahrelang in der Annahme ihr wärt Außerirdische, nun ist mein komplettes Weltbild zerstört. - Einen schönen Tag noch.“ Gerade wollte er sich an mir vorbei drängen, da vertrat ich ihm den Weg. Und war völlig von mir selbst verblüfft. Seit wann tat ich denn so etwas?
„Was soll das, June?“, fragte er genervt.
„Warum tust du das?“
„Warum tu ich was?“, konterte er sofort.
Ich geriet ins Stottern. „Warum bist du ständig so kaltherzig?“ Und wieder einmal fühlte ich mich hilflos wie ein kleines Kind.
„Ich bin kaltherzig, damit ich nicht noch einmal einen Fehler begehe“, zischte er bitter, stieß mich zur Seite und verschwand dann mit einem unglaublich wütenden Gang.
Ich lehnte mich gegen die Wand, da ich Angst hatte, meine Knie würden einknicken. Ich hatte absolut nicht damit gerechnet, dass mir seine Worte so wehtaten. Mein Atem kam nur stoßweise aus meinem Mund gezischt und meine Beine fühlten sich nicht nur so an wie Gummi, sondern so als würden sie überhaupt nicht existieren. Und dennoch zwang ich mich, mich zu bewegen. Immerhin wartete Skye auf ihre Tablette.
Vor der Tür wischte ich die lästigen Tränen weg, die sich unglücklicherweise auf dem Weg bis zu unserem Zimmer gebildet hatten. Skye hatte, während meiner Abwesenheit, die Vorhänge zugezogen, so dass es jetzt dunkel im Zimmer war. Nur meine kleine Nachttischlampe, erzeugte schwaches Licht.
„Tut mir leid, dass es so lang gedauert hat“, murmelte ich und hielt ihr das volle Glas mit der Tablette hin.
„Schon okay. Ich werde wohl den ganzen Tag heute im Bett verbringen, schaffst du es ohne mich?“
Ich setzte ein Lächeln auf und nickte. „Die anderen sind ja auch noch da.“
Skye grinste mich an und schluckte die Tablette hinunter. Befangen stand ich vor ihrem Bett und wusste nicht, was ich als nächstes tun sollte.
„Willst du dich nicht anziehen, June?“, fragte Skye mit einem grinsen.
„Oh. Ja, richtig.“ Ich fuhr mir durch meine, bereits trocknen Haare und drehte mich schwungvoll um. Vielleicht etwas zu schwungvoll, denn ich begann leicht zu wanken, fing mich aber schnell wieder.
Nachdem ich mich angezogen hatte fragte Skye:„Ist bei dir alles okay, June? Du benimmst dich merkwürdig.“
Ich lachte mit einem hysterischen Unterton auf. „Also Skye, mein Tag ist gerade mal ein paar Minuten alt, da kann ich doch nicht merkwürdig sein. Dir muss es wirklich nicht gut gehen - was du schon wieder für wirres Zeug redest. Mir geht es blendend. Warum auch nicht? Es ist ein wunderschöner, frischer und junger Tag!“
Bevor Skye etwas sagen konnte, war ich auch schon aus dem Raum verschwunden und stand schwer atmend vor der Tür.
„Guten Morgen, June“, kam es von der gegenüberliegenden Seite. Ich hatte mich so sehr erschrocken, dass ich meine Sachen fallen ließ.
„Alles okay?“, fragte mich Denice. Ich atmete erleichtert auf, dass es nur Denice war.
„Nein, nein. Du hast mich nur erschrocken.“
Sie lächelte mir freundlich zu. „Wo ist Skye? Hat sie wieder verschlafen?“
Ich sammelte meine Sachen auf und lief mit ihr die Treppe hinunter. Sofort wurde ich an heute Morgen erinnert. Ich hoffte so sehr, dass ich Alex so wenig wie möglich über den Weg lief. Doch höchstwahrscheinlich war es auch gut so. Ich wollte ihn ja vergessen. Morgen würde Avan kommen und alles wäre gut.
„June? Wo ist Skye?“, fragte Denice noch einmal.
„Entschuldige. Ähm, Skye hat Migräne, sie sagte, sie wird heute den ganzen Tag im Bett bleiben.“
Denice sagte noch irgendetwas, doch dies bekam ich nicht mehr mit.
Meine Gedanken drifteten ab, ohne dass ich etwas dagegen unternehmen konnte.
Immer wieder setzten der Traum und all die Ungewöhnlichen Dinge sich in meinem Kopf durch und beschäftigten mich während des ganzen Tages.
Fragte mich jemand etwas, antwortete ich nur knapp oder überhaupt nicht. Im Unterricht schrieb ich so gut wie nicht mit und ließ diesen auch nur an mich vorbei gleiten. Und dennoch kam ich nicht drum rum, Alex zu sehen. Immerhin hatten wir die meisten Kurse zusammen und er war in meiner Jahrgangsstufe. Doch ich versuchte immer wieder ihn auszublenden, auch wenn es mir so unglaublich schwer fiel.
Er sah diesen Kuss als Fehler. Theoretisch war es auch ein Fehler gewesen und hätte nie passieren dürfen. Aber es hatte mich ungemein verletzt, dies zu hören. Ich fragte mich was das sollte. Jedoch setzte ich immer noch all meine Hoffnung auf Samstag, wenn Avan kommen würde. Es würde dadurch besser werden.
Den ganzen Schultag schleppte ich mich regelrecht wie durch zähflüssige Masse. Beim Frühstück sowie beim Mittagsessen hatte ich so gut wie nichts gegessen und fiel komplett ermattet ins Bett, während Skye mich die ganze Zeit beobachtete. Damit machte sie mich extrem nervös.
Wir beide hatten nicht miteinander gesprochen, als ich in unser Zimmer herein kam. Ich hatte jedoch bemerkt, dass es Skye besser ging. Sie konnte schon wieder Licht vertragen.
„Du machst mich nervös, wenn du mich die ganze Zeit anstarrst“, durchbrach ich die Stille.
Doch anstatt auf meine Anklage einzugehen, starrte sie weiter und weiter. Ich setzte mich auf.
„Was ist los, June?“
Ich verdrehte gekünstelt die Augen. „Nichts. Aber das sagte ich dir bereits heute Morgen.“
Skye schüttelte hartnäckig den Kopf. „Ich würde dir eher glauben, dass deine Mutter ein Auerhahn wäre, als das nichts los ist.“
Anscheinend war es sinnlos etwas vor Skye zu verbergen. Doch ich wusste selbst nicht was los war.
Unbewusst entkam mir ein schweres seufzen.
„Ich weiß es selbst nicht, Skye. Ich weiß selbst nicht, was nicht stimmt. Irgendetwas…ich kann es noch nicht einmal beschreiben“, gab ich mich geschlagen.
Skye erhob sich von ihrem Bett und kam auf mich zu. Vorsichtig setzte sie sich neben mich.
„Ich hab so eine Ahnung, was es sein könnte.“
Fragend und gleichzeitig gespannt sah ich sie an.
Sie holte tief Luft und sah mich ernst an, bevor sie weiter sprach.
„Ich glaube, du bist verliebt…“
Dann begann ich zu grinsen und kicherte leise vor mich hin.
„Aber Skye, dass weiß ich doch selbst. Immerhin bin ich mit Avan zusammen“, klärte ich sie auf.
Skye aber schüttelte den Kopf. „Ich meinte nicht Avan.“ Sofort verstummte ich. „Wa- ?“
„Ich meinte Alex“, unterbrach sie mich.
Wütend und aufgeschreckt sprang ich auf.
„So ein Schwachsinn! Du hast anscheinend zu starke Tabletten genommen. Ich bin nicht in Alex verliebt, denn ich liebe Avan. Ich könnte mich nie in Alex verlieben. Dieser Kuss war ein Fehler, dass hat er selbst gesagt…“
„Ehrlich, June. Ich habe doch selbst gesehen, wie du ihn ansiehst, wie sehr du seitdem durcheinander bist. Du träumst von ihm, du hast ihn geküsst. Dein Blick danach war unverkennbar. Und damit kenne ich mich aus. Vertrau mir, du bist nicht in deinen Freund verliebt, sondern in Alex. Und er auch in dich. Alex küsst niemanden ohne Gefühle.“
„Das ist nicht wahr!“, brüllte ich Skye an und war erschrocken über mich selbst. Seit wann wurde ich so schrecklich laut? Skye wurde immer leiser und ruhiger, ich hingegen immer lauter und wütender.
Das durfte nicht wahr sein! Das konnte nicht wahr sein! Ich kannte diesen Jungen überhaupt nicht, wie sollte ich mich da verlieben. Es war nichts Besonderes.
Aber Skye hatte recht. Denn nachdem ich mich beruhigt hatte, wurden auch meine Gedanken ruhiger und geordneter.
Sie hatte recht. Die nachdenkliche June war erst nach dem Kuss zum Vorschein gekommen und nachdem ich all diese merkwürdigen Dinge gesehen hatte. Diese konnte ich Skye noch nicht eröffnen.
Dennoch bezweifelte ich, dass ich in Alex verliebt war. So schnell konnte man sich nicht verlieben.
„Manchmal…muss man sich eben dazu durchringen, dass zu lieben, was gut für einen ist“, murmelte ich.
Skye sagte nichts, sondern nahm mich in den Arm.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, von so einer kleinen Person getröstet zu werden und trotzdem ging es mir danach gleich besser. Ich weinte nicht, ich jammerte noch nicht einmal um mein schreckliches Leben. Stattdessen beschloss ich, heraus zu finden, was ich noch für Avan empfand. Skye war von dieser Idee begeistert.
Was würde ich bloß ohne Skye machen, dachte ich.


Kapitel 9


Am Samstagmorgen wurde von einem hellen Licht wach, das mir direkt ins Gesicht schien.
Mürrisch kniff ich die Augen zusammen. Ich wollte noch nicht aufstehen.
Doch das Licht wollte einfach nicht verschwinden, also öffnete ich widerwillig meine Augen.
Die Sonne schien direkt in mein Gesicht und strahlte so kräftig, als würde sie mich zwingen aufzustehen. Warum hatten wir nicht einfach die Vorhänge zugezogen?
Verschlafen drehte ich mich auf die Seite und blickte auf Skyes Wecker.
10 Uhr. Ich konnte mich also noch einmal umdrehen…
„Scheiße!“, entfuhr es mir. Hastig sprang ich auf, stolperte zu Skyes Bett und rüttelte an ihrer Schulter.
„Skye, wach auf! Beweg dich!“
Ich rannte wie ein wildgewordenes Etwas durch das gesamte Zimmer und sammelte alle herumliegenden Sachen auf.
In einer Stunde würde Avan kommen!
„Skye, steh endlich auf!“ Ich war mit meinem Schuh nach ihr, damit sie sich endlich bewegte.
Skye rieb sich übers Gesicht und folgte mit ihren ganzen Kopf jeder meiner Bewegungen.
„Warum machst du denn so ein Krach? Es ist doch Wochenende…“, säuselte sie immer noch schlaftrunken vor sich hin.
„Avan kommt in einer Stunde und hier liegen Sachen herum, die er lieber nicht sehen sollte. Außerdem muss ich mich noch duschen und anziehen. Und frühstücken. Steh doch jetzt endlich auf und hilf mir!“, fuhr ich sie an.
„Schon gut“, gab sie sich geschlagen.
Nachdem wir beide das ganze Zimmer auf Hochglanz aufgeräumt, geduscht und angezogen hatten, gingen wir endlich etwas frühstücken. Skye hatte mir noch gesagt, dass am Wochenende das Frühstück von um 9 bis um 11 Uhr gehen würde – zum Wohl der Schüler.
Es war das erste Mal, dass ich Skye in etwas anderem sah, als in der Schuluniform und Schlafzeug.
Sie trug eine locker sitzende, schwarze Dreiviertelhose und ein schlichtes Schwarzes T-Shirt. Ich hätte eher damit gerechnet, sie in farbenfroheren Sachen zu sehen.
Meine Freizeitbekleidung bestand aus einem luftigen weißen Top und einer Röhrenjeans. Beim Frühstück war ich so durcheinander, dass ich meinen Tee auf mein Toast kippte und beinahe gestürzt wäre. Immer wieder starrte ich auf die große Uhr und die Zeit schien immer schneller zu laufen. Skye und ich waren allein am Tisch, da die anderen bereits heute Morgen zu sich nach Hause gefahren waren. Sie hatte mir erklärt, dass es bei den Schülern, die in der Umgebung wohnten, so gehandhabt wurde.
Unwillkürlich fragte ich mich wo Alex wohnte, verwarf diesen Gedanken jedoch sofort. Ich würde mich heute auf Avan konzentrieren.
Nachdem es endlich soweit war, dass ich ruhigen Gewissens zum Empfangstor gehen konnte, zupfte ich vor Aufregung ständig an mir herum.
Als dann endlich ein schwarzes Auto auf dem Besucherparkplatz parkte und Avan ausstieg lief ich im bemüht ruhigen Schritt auf ihn zu.
Er lächelte mich auf die Weise an, wobei mir sonst die Knie weich wurden, doch dies blieb heute aus. Es verunsicherte mich umso mehr.
Stürmisch zog er mich an sich heran und küsste mich. Mit einem unwohlen Gefühl drückte ich mich sanft von ihm weg.
Avan hatte sich nicht verändert. Seine längeren dunklen Haare hatte er nach hinten gestreift und seine bräunliche Haut verlor auch bei dem grauen Wetter nicht die Farbe. Er sah gut aus, so wie ich ihn in New York immer vergöttert hatte.
„Hallo June“, hauchte er.
Ich lächelte ihn zurückhaltend an und drückte ihn an mich, damit er meinen Gesichtsausdruck nicht deuten konnte.
„Zeigst du mir endlich dein Gefängnis?“
Ich lachte auf und zog ihn mit.
Zuerst stellte ich ihm Skye vor, die anfing wirres Zeug zubrabbeln und ihr Gesicht allmählich die Farbe einer überreifen Tomate annahm. Nachdem ich Skye erlöst hatte, unternahm ich mit Avan einen Rundgang.
Doch beim 5. Haus hatte er keine Lust mehr.
„Und wo sind jetzt die coolen Leute? Denn mit diesem stotternden Tomatengesicht wirst du ja wohl kaum die Zeit verbringen“, sagte er so herablassend und dümmlich, dass ich seine Hand losließ und ihn wütend anstarrte.
„Was denn? Wenn du ehrlich bist, siehst du doch, was sie für ein Snob ist.“
Zornig stieß ich Luft aus meinem Mund.
„Ich frage mich langsam, wer hier der Snob ist. Skye ist weder ein Snob noch ein Tomatengesicht, Avan.“
Ich sah noch wie Alex aus der Tür des Haupthauses kam, Avans Worte wurden zu einem Summen und dann wurde mir Schwarz vor Augen.


Es drangen gedämpfte Stimmen an mein Ohr, als ich langsam wieder zu mir kam.
„In New York ist sie nie einfach umgekippt. Das liegt bestimmt an dem Wetter hier“, hörte ich Avan. Sofort entstand ein wütender Klumpen in meiner Magengegend.
„Wenn du dort auch so dümmliches Zeug von dir gegeben hast, ist es erstaunlich, dass sie erst jetzt in Ohnmacht gefallen ist“, gab Alex genervt von sich und mein Herz begann wie wild zu schlagen.
Langsam öffnete ich meine Augen und wurde von einem hellen Licht angestrahlt. Verschwommen zeichneten sich die Umrisse von Skye, Avan und Alex ab.
„Seht doch, sie wacht endlich auf!“, rief Skye aus.
Die Umrisse wurden deutlicher und ich erkannte Skyes besorgten Blick.
„Wo bin ich?“, murmelte ich und fasst mir an die Stirn. Warum tat mein Kopf so weh?
„In der Krankenstation. Ich bin so froh, dass du wach bist, June. Du warst schrecklich blass, als Alex dich hineingetragen hat.“ Alex hatte mich getragen? Sofort wurde ich rot und sah in seine Richtung. Avan warf ihm einen giftigen Blick zu. Jemand zerquetschte meine Hand.
„Autsch“, entfuhr es mir und zog meine Hand zurück. Augenblicklich huschten alle Blicke wieder zu mir, Avan machte ein entschuldigendes Gesicht.
Ich ignorierte ihn und fragte stattdessen: „Was ist denn passiert? Wieso liege ich hier?“
„Du bist mit dem Kopf hart aufgekommen, nachdem du zusammengebrochen bist. Dein Freund“, kam es von Alex mit einem vielsagenden Blick in Avans Richtung, „ hat es nicht zustande gebracht, dich rechtzeitig aufzufangen.“
„Es tut mir leid, June“, murmelte Avan und ich wusste das er mehr meinte, als nur, dass er mich nicht aufgefangen hat.
Als mir bewusst wurde, dass ich kein Verständnis für Avan aufbringen konnte und auch keine sonstigen liebevollen Gefühle mehr für ihn empfand, setzte ich einen Entschluss. Er war nicht mehr der, in den ich mich verliebt hatte. Er war zu eines dieser oberflächlichen Arschlöcher mutiert, die ich sonst nur verachtete. Vielleicht war er die ganze Zeit so gewesen und ich war nur geblendet, aber das, was war zählte nicht mehr.
„Ich möchte, das du gehst, Avan“; sagte ich möglichst kalt.
Auf seinem Gesicht spiegelte sich ein regelrechtes Schauspiel von Gefühlen. Entsetzen, Kränkung und dann Wut.
Er sprang auf stieß dabei den Stuhl um. Dieses Geräusch dröhnte tief in meinem Schädel.
„Das ist nicht dein Ernst! Ich fliege keine 7 Stunden zu diesem kleinen Kaff, damit du mich Abservieren kannst. Nicht mit mir, du kleines Flittchen. Und du bist Schuld!“, wutentbrannt zeigte er mit dem Finger auf Alex, der ihn unbeeindruckt musterte.
„Ich habe gesehen, wie sie dich ansieht. Du hast sie mit diesem feinen englischen Gehabe völlig verdorben. Aber nicht mit Avan Legrand.“
Mit puterrotem Gesicht huschten meine Augen immer wieder zwischen Alex und Avan hin und her.
Alex hatte einen Ausdruck angenommen, als würde er Avan liebend gern nicht nur ein Schimpfwort an den Kopf knallen. Als Avan auf mich zukam und mich an den Armen greifen wollte, rechnete jeden Augenblick damit, dass Alex ihn umnieten würde, doch er stand gelassen auf, packte Avan mit einer harten, aber geschmeidigen Bewegung am Oberarm, bevor auch nur ein Hautpartikel mich berührte und schleifte ihn aus dem Raum.
Als die Tür ins Schloss fiel, hörte man einen durchdringenden Aufschrei von Avan.
Skye sah mich mit großen Augen an.
„Du hast deinen Freund in die Wüste geschickt und gleich bluten lassen“, äußerte sie sich erstaunt.
Mit einem leichten Gewissensbiss sah ich zur Tür.
„Glaubst du wirklich, dass er blutet?“
Immer noch völlig baff nickte sie.


Nachdem mich eine Krankenschwester untersucht und mir versichert hatte, dass es mir wieder gut ginge, mit den dringenden Worten, mich nicht unnötig aufzuregen aus der Krankenstation entlassen hatte, kam Paul völlig panisch auf mich zu gerannt.
„Großer Gott, June. Ich dachte, du liegst auf der Krankenstation.“
Völlig stürmisch presste er sich an mich und rubbelte wie verrückt über meinen Rücken.
„Es ist alles okay, mir war nur schwindelig“, beruhigte ich ihn. Es machte mich verrückt, wenn sich Paul um mich sorgte.
Er drückte sich von mir weg und begutachtete mich höchst kritisch.
„Okay, Schwesterchen. Was machst du heute noch? Ist Avan noch da?“
Skye warf mir einen vorsichtigen Blick zu und lief mit mir und Paul los.
„June?“, hackte Paul nach.
„Avan ist wieder zurück geflogen und wird auch nicht mehr her kommen“, gab ich leise zu.
Anstatt mich vollkommen entgeistert anzusehen und mir vorzuwerfen, dass ich den Verstand verloren hätte, nickte er und wuschelte mir durchs Haar.
Ich starrte ihn nur völlig überrascht an und wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Natürlich war ich auch tierisch froh, dass Paul es verstand. Oder zumindest versuchte es zu verstehen.
„Du wirst schon das machen, was du für richtig hältst“, sagte er und strich mir noch einmal über den Rücken.
Völlig erleichtert viel ich ihm um den Hals und war in diesem Augenblick so unglaublich froh, dass Paul mein Bruder war.
Gemeinsam gingen wir zum Aufenthaltsraum und genossen noch den Rest des Tages.
Wir lachten unglaublich viel und hörten uns die absurdesten Geschichten über Skyes verrückte Grandma an.
Einmal habe sie Skyes Vater mit Kuchenteig bespritzt, um die vielen unheimlichen Hausgeister von ihm zu verscheuchen.
Skye selbst war 10 Jahre alt gewesen und hatte ihren Vater mitbespritzt und so sehr gelacht, dass sie Bauchschmerzen bekam.
Schon allein die Vorstellung wie Skye ihren Vater mit Kuchenteig bespritzte, brachte ich mich zum lachen.
An Avan verschwendete ich keinen Gedanken mehr, ich hatte mit ihm abgeschlossen. Natürlich würde ich die letzten Monate mit ihm nicht vergessen, dort war ich glücklich gewesen. Dennoch würde ich mich an nichts festklammern, was vorbei war.
Alex bekam ich jedoch bis zum Abendbrot nicht zu Gesicht. Ich hatte das dringende Gefühl, mich bei ihm zu bedanken. Eine leise Furcht war trotzdem dabei. Seine Worte entsprachen nicht seinen Taten und diese Tatsache verwirrte mich unglaublich.
Die Mensa war beim Abendessen erstaunlich leer. Es wunderte mich, wie viele Schüler in der Nähe wohnten.
Arwen, sowie der komplette Rest der Elite waren jedoch da. Und so schwanden die Hoffnungen, auf ein Gespräch mit Alex.
Immer wieder warf ich verstohlene Blicke zu ihren Tisch herüber. Mir entfiel nicht, dass Arwen ein erstaunlich mies gelauntes Gesicht zog und Alex sich nur mit seinem Bruder unterhielt, jedoch auch ohne irgendwelche besonders glücklichen Gestiken. Vielleicht hatten sie sich ja gestritten…
„Noch eine Minute länger und es wird auffällig“, unterbrach Skye meine Gedanken. Erschrocken fuhr ich zusammen.
„Was wird auffällig?“, fragte ich möglichst Ahnungslos.
Skye zog überlegen ihre Augenbrauen hoch. „Dass du in eine Richtung starrst, für die Arwen dich liebend gern häuten würde, falls sie aus ihrer beleidigten Leberwursthaltung erwachen sollte.“
„Ich glaube, sie haben sich gestritten“, überging ihre Antwort.
„Dann solltest du jetzt hinüber sprinten und ihn dir krallen.“
Perplex starrte ich sie an. „Das werde ich mit Sicherheit nicht tun.“
Gleichgültig ließ Skye Luft aus ihren Mund entweichen.
„Warum denn nicht? Das wäre die Gelegenheit!“
Ich schüttelte hartnäckig den Kopf.
„Es wäre die Gelegenheit, dir diesen Pudding ins Gesicht zu drücken, aber da ich ihn noch essen möchte, werde ich es nicht tun. Und aus diesem Grund werde ich auch nicht zu Alex stürmen und ihn mir ‚krallen’.“
Verwirrt zog Skye die Augenbrauen zusammen.
„Wieso willst du Alex essen?“
Ich prustete los und verschluckte mich so sehr, dass Skye mir wie verrückt auf den Rücken klopfte. Ehe ich mich beruhigt hatte, waren so ziemlich alle Blicke auf mich gerichtet.
Ich grinste Skye an und sagte nichts mehr, was Skye noch sichtlich mehr verwirrte.
Nachdem wir unsere Teller abgeräumt hatten, fragte mich Skye, ob ich etwas dagegen hätte, wenn sie an ihrem Bild weiter arbeiten würde. Natürlich hatte ich nichts dagegen, so konnte ich die Gelegenheit nutzen, um wieder zu spielen.
„An den Wochenenden ist hier immer alles schön leer, da hat man seine Ruhe“, erklärte sie mir.
Nachdem eine halbe Stunde vergangen war, machte Skye eine Pause und setzte sich zu mir an den Flügel und hörte mir zu.
Bis plötzlich die Tür aufgestoßen wurde und ein Mädchen mit vollgepackten Händen herein kam. Es war ein Wunder, dass sie überhaupt noch etwas sah.
Sofort sprangen Skye und ich auf, um ihr zu helfen.
„Oh je, danke“, sagte sie, als sie endlich wieder sehen konnte.
„Wo willst du mit den ganzen Sachen hin?“ Neugierig sah ich sie an.
„Das ist erst der Anfang! Ich soll die neuen Zeichensachen hierher bringen, die Schwimmutensilien in die Schwimmhalle und die neuen Boxhandschuhe in die Sporthalle. Ich weiß gar nicht, womit zuerst anfangen soll.“
Völlig verzweifelt fuhr sie sich übers Gesicht.
„Wir können dir doch helfen“, schlug ich vor und sah Skye fragend an. Sie nickte und lächelte.
„Wirklich? Das würdet ihr tun?“
Gleichzeitig nickten wir.
Ich nahm die Boxhandschuhe und machte mich auf den Weg zu Sporthalle. Skye erklärte mir nur kurz wo ich lang musste, ehe sie sich auf aufmachte.
Sie hatte den deutlich kürzeren Weg, ich musste allerdings bis zum anderen Ende des Geländes. Aber ich tat es für das Mädchen, also machte ich mich mit aufsteigendem Tatendrang.
Ich war circa in 10 Minuten da.
Der Eingang der Sporthalle war unscheinbar. Eine braune Doppeltür mit abgenutzten Klingen.
Mit der freien Hand drückte ich die Klinke herunter und war erstaunt, wie schwer sich die Tür öffnete.
„Ölen wäre nicht schlecht“, murmelte ich und betrat das Gebäude.
Als erstes schlug mir der Gestank von verbrauchter Luft und Schweiß ins Gesicht, so dass ich für einen kurzen Moment die Augen schloss.
Auch hier gab es eine Art Eingangshalle. Der Fußboden war mit schiefergrauen Fliesen ausgelegt und an den Wänden waren unzählige Auszeichnungen ungeordnet geheftet.
Ich hielt mich dort nicht lange auf und wollte gar nicht wissen, wie es wohl in den Umkleidekabinen roch.
Ich machte mich also auf die Suche nach den Unterbringungen für die Handschuhe. Da es mir logisch erschien, dass sie sich vielleicht in der Hauptturnhalle befanden, lief ich gerade aus.
Vor der eigentlichen Turnhalle, befand sich eine kleine Nische die mit einer Gitterwand zur Halle abgetrennt war. Dort befanden sich Bälle jeglicher Art, Ersatzkricketschläger und eine Kiste mit Handschuhen. Zufrieden lächelte ich. Plötzlich hörte ich dumpfe Schläge und immer wieder keuchte jemand angestrengt auf.
Vorsichtig lugte ich um die Ecke, sah aber nichts. Ich lief durch die Halle, bis ich an einer weiteren Ecke ankam. Es war wie ein kleiner offener Raum. In der Mitte hing ein Boxsack auf den Alex wie verrückt einschlug.
Wie gebannt starrte ich auf das absurde und gleichzeitig schöne Szenario.
Gedämpftes Licht fiel auf seinen schweißnassen Rücken, der im Sonnenlicht, wie ein Teppich aus Diamanten glänzte. Die sehnigen, kräftigen Muskeln seiner Arme spannten sich immer wieder aufs Neue an. In seinen Schlägen lag so viel Feuer und Kraft, das mir ganz anders wurde.
Würde ich dieses Bild, was sich vor meinen Augen bot, auf dem Flügel versuchen wieder zu geben, würde es wahrscheinlich mit tiefen, lauten Tönen beginnen, die sich dann in einer fließenden Melodie verlieren würden.
Jedes mal, wenn er auf den Sack einschlug, gab er ein wütendes Geräusch von sich.
Es war so unglaublich schön und elektrisierend, wie er da stand. Spärlich bekleidet in einer langen, blaukarrierten Boxershorts.
Dafür, dass er so schlank erschien, hatte er erstaunlich viele Muskeln.
Ich konnte nicht weg sehen, so sehr war ich von dem gefesselt, was sich vor mir abspielte.
Abrupt brach er in der Bewegung ab und sah mich an.
Und dieser Blick ging mir unter die Haut. In seinen Augen funkelte eine mir unbekannte Wildheit, die nicht nur mein Herz in Wallung brachte.
Ertappt und unüberlegt wirbelte ich zurück und wollte mich gerade aus dem Staub machen, doch ehe ich mich versah, hielt mich Alex auch schon am Oberarm fest. Zwar nicht so fest, dass es wehtat, doch fest genug, damit ich stehen blieb.
Wie, zum Teufel, konnte er sich so schnell bewegen und gleichzeitig noch seine Boxhandschuhe ablegen?
Er starrte mich auf eine Weise an, für die ich keine Worte fand. Sein Atem ging noch schnell und stoßweise, trotzdem wirkte er entspannter als sonst.
„Warum kreuzt du ständig auf, wenn ich meine Ruhe haben will?“
Völlig perplex über die Feindseligkeit in seiner Stimme, fand ich erst nach wenigen Sekunden wieder den Mut zu sprechen.
„Ich wusste nicht, dass du hier bist. Und erst recht nicht, dass du deine Ruhe haben willst.“
Ohne ein weiteres Wort ließ er meinen Arm los und wendete sich ab.
„Ich wollte mich bedanken“, setzte ich an.
Ungerührt sammelte er seine Sachen auf.
Nervös plapperte ich weiter. „Ich wollte mich bedanken…“
„Das sagtest du bereits“, kam es gleichgültig von ihm, während er die Fenster öffnete.
„Dafür“, fuhr ich unbeirrt fort, „dass du da warst, als Avan die Kontrolle verloren hat.“
Stille. Verwundert zog ich die Augenbrauen zusammen.
„Müsste jetzt nicht so etwas kommen wie: ‚Kein Problem’ oder ‚Schon gut’?“ Noch bevor ich geendet hatte, kam ich mir unglaublich dumm vor.
Als Alex wieder vor mir stand, entdeckte ich ein kurzes belustigtes Zucken um seine Mundwinkel, dennoch blieb er ernst.
„Sonst noch was?“
Ich sagte nichts und fragte mich, was er mit dieser ablehnenden Haltung erreichen wollte.
„Gut, dann solltest du jetzt wohl besser gehen.“ Mit seiner ausgestreckten Hand, wies er in Richtung Ausgang.
Hartnäckig schüttelte ich den Kopf.
„Nein. Eine Sache möchte ich noch wissen.“
Gelassen sah er mich an, sagte aber weiter nichts.
„Warum hast du mich geküsst?“
Langsam bröckelte seine ablehnende und arrogante Fassade. Er wirkte irgendwie…verletzlich.
„Ich…“, setzte er an. Ruckartig fuhr er sich regelrecht verzweifelt durch die Haare, wandte sich ab und sah sich hilfesuchend mit Raum um.
„Gott June, du bringst alles durcheinander!“, entfuhr es ihm und sah mich wieder an.
„Denkst du, du nicht?“, murmelte ich leise.
Wie vom Blitz getroffen, blieb er stehen.
Für einen kurzen Moment wurde sein Blick weich, doch dann drang erneut dieses kalte Unnahbare an die Oberfläche.
„Bleib mir einfach vom Leib.“
Dann verschwand er ohne ein weiteres Wort und lies mich völlig verwirrt zurück.
Du bringst alles durcheinander, hatte er gesagt.
Benommen schüttelte ich den Kopf. Ich würde mir darüber keine Gedanken mehr machen. Es würde mich eh nur zu weiteren Tagen Grübelei verleiten, letztendlich würde ich auf keinen nachvollziehbaren Grund stoßen und mich darüber nur unnötig ärgern.

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Publication Date: 10-29-2011

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