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  Früher blieb der brave Normalbürger zur Weihnachtszeit am liebsten in den eigenen vier Wänden. Unter dem Tannenbaum nährte man sich im Kreise der Familie redlich mit dem obligatorischen Gänsebraten und anderen Köstlichkeiten, während draußen die Kirchenglocken feierlich läuteten und der Schnee sanft herab rieselte. Ganz anders erging es dagegen oftmals dem unsteten Weltenbummler. Trieb ihn doch der launische Wind heute hierher und morgen dorthin, sodass er nie ganz sicher sein konnte, was das Schicksal gerade an den Weihnachtstagen für ihn bereit hielt.
Als moderner Nomade im Globetrotterstand habe ich mein müdes Haupt zwischen 1960 bis 1990 in rund siebzig verschiedenen Ländern gebettet und dadurch bedingt natürlich auch das Weihnachtsfest manchmal unter den ungewöhnlichsten Bedingungen verbracht. Dabei schwankte das Stimmungsbarometer von sehr heiter bis stark besinnlich:

  Am Anfang meiner Globetrotterkarriere hatte es mich gemeinsam mit zwei Begleitern,Carmela und Bernd, als Gäste eines wohlhabenden syrischen Scheichs in ein Dorf am Euphrat, hinter Aleppo, verschlagen.
Wir erleben Heiligabend in der Wüste.
Ein völlig neues Weihnachtsgefühl: 25 Grad, strahlendblauer Himmel und weit und breit kein Grün, von Weiß gar nicht zu reden. In Aleppo hatten wir von meiner besorgten Mutter aus Deutschland ein richtig schönes Weihnachtspaket erhalten und wollen uns jetzt, endlich einmal der ständigen übergroßen Fürsorge unserer Gastgeber entkommen, ungestört daran erfreuen, denn in der Zeit um den vierundzwanzigsten Dezember herum erfasst selbst Hartgesottene ein eigenartiges Rühren.
So sind wir mit unserem V-W-Bus eine Stunde lang hinausgefahren in die unendliche weite Fläche und haben fern von jeglicher menschlicher Behausung scheinbar unentdeckt auf einem dünenartigen, festgefahrenen Sandhügel geparkt.
Die kleinen Kerzen an einem Miniaturweihnachtsbäumchen brennen, der Kaffee duftet aromatisch und der Original-Dresdener Stollen aus der Heimat mundet ganz vortrefflich. Versonnen hängen wir unseren Gedanken nach. Leider ist der Frieden jedoch nur von kurzer Dauer, weil urplötzlich wie aus dem Nichts ein syrischer Beduine aufgetaucht ist und unsere besinnliche Andacht empfindlich stört. Voller Inbrunst drückt der aufdringliche Patron die Nase an der Autoscheibe platt, worauf wir demonstrativ die Vorhänge schließen, was ihn allerdings nicht besonders beeindruckt. Mit unerschütterlicher Ausdauer beginnt er reihum an alle Fenster zu klopfen, wohl in der stillen Hoffnung, irgendwo möge sich wieder ein Spalt öffnen und den Blick freigeben auf die unbekannten Köstlichkeiten.
Wütend steigt Bernd aus dem Auto, knallt die Tür heftig hinter sich zu und beginnt gestikulierend zu schimpfen, aber an dem breit lächelnden Gesicht des Beduinen prallen seine Proteste wirkungslos ab. Stärkere Waffen müssen her! Aus einer Plastik-Puderflasche Carmelas drückt Bernd dem Störenfried eine derartige Wolke ins Gesicht, die einem Normalbürger bestimmt einen heftigen Niesreiz entlockt hätte. Dem aufdringlichen Kerl dagegen scheint es sogar noch zu gefallen, denn voller Entzücken rollt er mit den Augen.
Frustriert wirft Bernd die nutzlose Puderflasche durch das aufgeschobene Sommerdach des V-W-Busses im hohen Bogen ins Wageninnere zurück. Da geschieht völlig überraschend das weihnachtliche Wunder. Der Syrer erstarrt zur Salzsäule. Offensichtlich hat er von einer tieferen Position aus nicht bemerkt, dass das Schiebedach unseres Kleinbusses geöffnet ist, demzufolge kann er jetzt absolut nicht begreifen, wohin die verflixte Puderdose auf einmal spurlos verschwunden ist.
- Diese ungläubigen Fremdlinge müssen Zauberer sein, -
fährt ihm wahrscheinlich panikartig durch den Kopf
- am Ende lassen sie mich ebenfalls in der Luft verschwinden!! -
Von dieser Erkenntnis zu Tode erschreckt, löst er sich aus seiner Bewegungslosigkeit, rafft den Burnus hoch und läuft in einem Tempo davon, wie ich nie zuvor einen Bewohner der Wüste habe laufen sehen.
Unsere kleine Weihnachtsfeier am Euphrat ist gerettet!

Mein Freund Bernd hatte am Ende mehr ungewollt unsere besinnliche Stunde in der Syrischen Wüste gerettet. Ich dagegen verdarb um ein Haar auf einer Schiffsreise von Afrika nach Europa einem österreichischen Globetrotter, namens Harry, eine Weihnachtsparty fern der Heimat.
Unser Passagierschiff, die französische Vietnam, legte am 1. Weihnachtsfeiertag in Port Said in Ägypten an. Auf der bisherigen Überfahrt von Bombay hatte ich mich mit einigen anderen Weltenbummlern aus England, Deutschland und jenem besagten Harry angefreundet, Gemeinsam wollten wir eine zünftige Weihnachtsparty an Bord feiern, deshalb zeigte auch niemand von uns während der nur ca. zwei Stunden dauernden Aufenthaltszeit besondere Lust, an Land zu gehen, mit Ausnahme des  unternehmungslustigen Österreichers. Da mir während meiner zurückliegenden mehrmonatigen Expedition durch Indien keinerlei Nachrichten über das, was sich so in Deutschland tat, zu Ohren gekommen waren, gelüstete mich plötzlich überstark nach einer deutschen Zeitung mit den letzten Sportergebnissen und ich bat Harry, mir diesen „Weihnachtswunsch“ bei seinem Landgang zu erfüllen.
Kaum hat Harry festen Boden unter den Füßen, da pirscht sich auch schon das zerlumpteste und unrasierteste Wesen im ganzen Hafen an ihn heran, um Führerdienste anzubieten. Zwar sieht der Kerl wirklich nicht  vertrauenserweckend aus, aber er lächelt so sympathisch aufmunternd, dass der Österreicher ihm nach der Äußerung seines Zeitungswunsches zögernd folgt. Eine Irrwanderung beginnt, die nach Verlassen des Hafengeländes zunächst durch drei immer schicker werdende Souvenirgeschäfte führt. Als der absolut kaufunwillige Harry erste Konditionsmängel zeigt, stellt der unerschütterlich auf Zubringerprozente spekulierende Bursche von irgendwo her einen zur Erholung einladenden Stuhl mitten auf den Bürgersteig. Allerdings von Erholung keine Spur. Wie Heuschreckenschwärme fallen Straßenhändler aller Schattierungen über den Profit versprechenden Ausländer her. Ein riesiges Arsenal mehr unechter als echter Nilpferdpeitschen türmt sich vor ihm auf. Immer enger und zudringlicher wird der Ring der Belagerer. Von allen Seiten wird ihm das bei Fremden äußerst beliebte Souvenir zu Begutachtung in die Hände gedrückt. Am Ende bleibt nur eine Rettung:
Mit kühnem Schwung wirft Harry Nilpferdpeitschen a la Port Said aufs Straßenpflaster. Während sich die Händler schreiend um ihr Eigentum balgen, macht er sich im Laufschritt davon. Die Händler ist er aufatmend los, nicht aber seinen Schatten, der ihm leichtfüßig gefolgt ist. Freundlich mit schadhaften Zähnen grinsend heischt das Faktotum um neue Aufträge. Harry läuft krebsrot an und brüllt:
„Du blöder Hund, ich habe es gleich am Anfang ganz deutlich gesagt: Ich will nur eine deutsche Zeitung!!“
„Okay, okay“, lautet die beruhigende Antwort.
Weiter geht es im Eiltempo durch ein immer enger werdendes Gassengewirr. Völlig außer Puste machen sie vor einem dunklen Haus halt. Leise gedämpfte Musik klingt heraus.
- Hier soll es Zeitungen geben? –
fährt Harry gerade noch durch den Kopf, da hat ihn sein Peiniger auch schon durch die Tür geschoben. Der schockierte Österreicher prallt zurück, denn allzu eindeutig ist die Situation:
Leicht verhüllte üppige Frauengestalten, betrunkene Seeleute und eine fette Matrone hinter der Kasse. Unzweifelhaft ein Bordell! Harry will schleunigst entfliehen, doch zwei breitschultrige Hünen verbauen ihm den Weg. Er schiebt sie gewaltsam zur Seite und stürzt ins Freie. Doch seinen „Helfer“ schüttelt er wiederum nicht ab.
Harry resigniert:
- Zeitungen sind offensichtlich Fehlanzeige, ich muss dem Strolch irgendein kleines Geschäft zukommen lassen, sonst werde ich ihn nie wieder los! –
So gibt er lässig den Auftrag:
„Besorge mir etwas Obst.“
Blitzschnell ist der Ägypter enteilt, um im Handumdrehen mit zwei riesigen Tüten wieder aufzutauchen.
„Damit kann ich ja das ganze Schiff versorgen“, stöhnt Harry dumpf.
Als er den Preis hört, wird er blass. Der Gauner verlangt schätzungsweise das Zehnfache des üblichen Entgelts. Harry verweigert strikt die Annahme, da beginnt sein Quälgeist lauthals zu brüllen und zu schreien. Ein Menschenauflauf entsteht und schon schiebt sich ein gewichtig dreinblickender Polizist durch die Menge. Im damaligen sehr nationalbewussten Ägypten Abdel Nassers bekommt ein Ausländer grundsätzlich nie Recht. Harry muss Zähne knirschend blechen. Kaum hält der Strolch aber das Geld in den Händen, da läuft er wie von Furien getrieben davon. Ahnungsvoll öffnet Harry die verfluchten Tüten. Mehr als die Hälfte sind Verfaultes oder Schalen. Zudem ist er mittlerweile hoffnungslos von Menschenmassen eingekeilt. Ein Blick auf die Uhr:
In 30 Minuten legt das Schiff in Richtung Europa ab!
Schweißtropfen auf der Stirn versucht Harry, sich einen Weg zu bahnen, aber er kommt kaum voran. Flehende Bettler hängen an seinen Armen, deren Beweglichkeit zudem noch stark durch die Riesentüten eingeengt wird. Die Unglücksfrüchte werden zum Retter in höchster Not. Er klemmt beide Tüten unter einen Arm. Tief in das Füllhorn der Freude greifend macht er sich freie Bahn, indem er nach rechts und links Bananen und Orangen in ausgestreckte Hände stopft.
Fünf Minuten vor Abfahrt erreicht er total erschöpft die Vietnam.
Ohne Zeitung, mit einem Fehlbetrag in der Geldbörse sowie zwei Orangen und einer Banane, die wir uns auf der Weihnachtsparty redlich teilen.

Besinnlichere Eindrücke bescherte mir ein anderes Weihnachtsfest fern der Heimat.
Es war auf dem Landweg in Richtung Japan, mitten im tiefen Sibirien. Eine unendliche lange Bahnfahrt mit der Transsiberia von Moskau nach Chabarowsk.
Sieben Tage und sieben Nächte ununterbrochen auf der Schiene. Tage, die zu Ewigkeiten werden, während draußen stets die gleichen schwermütig stimmenden Bilder vorüberhuschen:
Bleigrauer, schneeschwerer Himmel, heulender Sturm. Die Tundra ist in Frost und Eis erstarrt. Vereinzelte Holzhausdörfer wirken geisterhaft leer und ausgestorben. Hin und wieder ein Fluss oder ein See, auf dem sich Eisschollen stauen. Dazu Birken, Birken, Birken, als ob überhaupt nur noch dieser eine so melancholisch machende Baum existieren würde.
Dazwischen kurze Aufenthalte auf verlorenen, tristen Bahnhöfen am Ende der Welt. In meiner Erinnerung gleicht einer dem anderen wie seinem Zwillingsbruder. Nicht einmal das Ankunftsritual unterscheidet sich. Passagiere stürzen hastig nach draußen, wo dick vermummte, mütterlich aussehend Bäuerinnen ihre bescheidenen Produkte anbieten. Jeder möchte irgendetwas Frisches erhaschen, was auch nur ein wenig Abwechslung von der seit Moskau immer eintöniger werdenden Speisewagenkost verspricht. Sei es eine saure Gurke, ein paar heiße Kartoffeln in Zeitungspapier verpackt oder ein Glas Buttermilch. Die Einheimischen dagegen haben vor eben diesem Speisewagen im Nu eine lange Schlange gebildet, um Konserven, Lebensmittel oder gar eine Flasche Wein zu erstehen, was man ansonsten nur in der fernen Hauptstadt bekommt.
In dieser eintönigen Sinfonie aus überheizten Wagen, monotonem Schienenrattern und erstarrter Winterlandschaft ist es beinahe unbemerkt Heiligabend geworden. In der damaligen Sowjetunion gehen die Uhren anders. Der Weihnachtsmann der Russen, Väterchen Frost hat seinen Auftritt erst zu Neujahr.
Zusammen mit meinem Schlafwagennachbarn, einem deutschen Touristen mit dem Allerweltsnamen Müller, den es ebenfalls auf diese ungewöhnliche Weise nach Japan zieht, sitze ich im Speisewagen und schaue auf die draußen immer dichter werdenden Schneeflocken.
„Zu dieser Tageszeit werden zu Haus bald die Kerzen angesteckt“,
bemerkt er versonnen.
„Lass’ man“, tröste ich ihn, „dafür haben die unter Garantie nicht solch’ schönes weißes Weihnachtswetter wie wir und außerdem Heiligabend mit russischem Sekt und Kaviar ist auch nicht so ohne.“
„Was anderes bekommt man ja auch für seine Rubel nicht mehr, ‚ne schöne frische Salatgurke wäre mir im Moment wesentlich lieber!“
wehrt Müller brummig ab.
Plötzlich stoppt der Transsibiria-Express mit quietschendem Bremston. Nach Stunden ununterbrochener Fahrt endlich wieder ein Bahnhof, aber er wirkt noch verlorener als alle bisherigen. Die allmählich hereinbrechende Abenddämmerung lässt die aufgetürmten Wolkenberge am Himmel über einem Inferno aus heulendem Sturm und wirbelndem Schneegestöber lastend unheilschwanger erscheinen. Gespenstische, tumultartige Szenen passen sich dieser Stimmung perfekt an.
Laut schreiend und wild gestikulierend drängen, stoßen und schieben sich Menschengruppen vor einem Zug auf dem Gegengleis, voll gepfercht mit Scharen junger Männer aus den umliegenden Dörfern. Ganz offenbar Wehrpflichtige, die der Einberufung in die Fremde folgen müssen, um irgendwo in einem anderen Teil des riesigen Landes ihre Soldatenzeit abzuleisten. Es ist als ob alle schmerzlichen Lebewohls von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf diesem kleinen Bahnhof Auferstehung feiern würden.
- Ist Sibirien nicht so unendlich weit? War ein Abschied seit Menschengedenken nicht stets ein Stück Endgültigkeit? Nur allzu oft ohne jegliche Hoffnung auf Wiederkehr? -
Heftig drängen die blutjungen Soldaten von Innen gegen verschlossene Scheiben. Schon sind einige hell klirrend zerbrochen. Hände recken sich von drinnen und draußen, Mütter schluchzen heftig, Väter versuchen letzte Ermahnungen an den Sohn zu bringen, doch sie verhallen ungehört in dem Chaos wütender Naturelemente und dem Toben menschlicher Gefühle.
Im allgemeine Durcheinander gibt es nur zwei Ruhepunkte: Am Rande des Bahnhofs friedlich wartende Pferdegespanne, mit denen die bäuerlichen Familien hierher kamen. Mitten in der Menge und doch von ihr herausgehoben wie auf einer erhöhten Insel ein Riesenkerl mit wirren blonden Haaren und Augen, die so hell sind, dass sie trotz des bleigrauen Himmels wasserblau strahlen. Eine kleine Handharmonika hängt vor seiner mächtigen Brust und pausenlos spielt er wild-lustige Volksweisen, die den heftigen Abschiedsschmerz der Menge ins Unermessliche steigern, was seiner monumentalen Ruhe aber überhaupt keinen Abbruch tut.
Dann gleich einem Todesurteil das Abfahrtssignal. Schnell wie ein Spuk leert sich der Bahnhof. Ein letztes Peitschenknallen, um die Pferde anzutreiben, hängt noch verhallend in der Luft. Nur der Handharmonikaspieler hat von all dem keine Notiz genommen. Mutterseelenallein steht er auf dem verlassenen Bahnsteig, seine Mütze ist vom Kopf gefallen, Schnee und Sturm scheinen wirkungslos an ihm abzuprallen. Versunken schaut er ins Wesenlose und spielt eine dieser wehmütigen russischen Melodien, die einem schier das Herz abdrücken…
Immer wenn ich an Sibirien denke wird jenes Bild am Heiligabend auf dem verlorenen Bahnhof in mir wieder ganz lebendig…

Unter die Haut gehende Impressionen, die unvergesslich in die Zeit der Besinnung und Stille passen, welche Weihnachten in unserer satten und materiell eingestellten Welt trotz allen Konsumterrors vielen Menschen immer noch bedeutet. Somit das perfekte Finale der „ Weihnachtserinnerungen eines Globetrotters“:

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Publication Date: 12-12-2010

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