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Vorwort

Roman winkte und bestellte einen Whiskey. Er wollte mit dem rechten Fuß auf die Stange steigen, die unten an die Bar geschraubt war, um das linke Bein über das Polster des Barhockers zu schwingen. Aber er entschied sich anders und stellte den linken Fuß auf die Stange. Aber er entschied sich wieder anders, weil er den linken Fuß auf die linke Seite des Hockers hätte stellen müssen, um das rechte Bein über das Polster zu schwingen. Er hatte ihn aber auf die rechte Seite gestellt.
Roman grübelte einen Moment, schrieb ein kurzes Kapitel über seine eigene sehr nahe Zukunft und kam zu dem Schluss, dass er mit dem Rücken statt mit der Brust zur Bar sitzen würde, wenn er so weiter machte. Er würde dann aussehen wie ein Mann, der entweder zu betrunken oder zu verwirrt gewesen war, um auf einen Barhocker zu klettern. Dann kletterte er umständlich auf den Barhocker, ohne weiter darüber nachzudenken wie.
Er saß neben einem Mann mit einem Hintern, dessen Fleisch über das Polster des Barhockers quoll, als wolle der Hintern das Polster schlucken. Roman erwog, noch einmal den Barhocker zu wechseln, in angenehmere Nachbarschaft, nämlich keine, aber die Mühe schien es ihm nicht wert.
Der Mann dachte, sein Nebenmann sei schon ziemlich betrunken. Roman dachte, die Schwester des Mannes habe ihm seinen Anzug in einem Kaufhaus gekauft, ohne dass der Mann dabei gewesen war. Der Mann hatte Unrecht. Roman hatte Recht, weil er nicht gedacht, sondern gewusst hatte, dass die Schwester des Mannes ihm seinen Anzug in einem Kaufhaus gekauft hatte, ohne dass er dabei gewesen war.
Der Barmann stellte Roman seinen Whiskey unter das Licht einer Schirmlampe. Er hatte seine Fliege selbst um seinen weißen Hemdkragen gebunden. Er war nicht verheiratet und hatte nie Kinder gezeugt und war alt genug, um sich nicht mehr zu fragen warum. Deshalb hatte er die Zeit, jeden Morgen auf seinem Heimfahrrad zu fahren und an drei Tagen in der Woche ein Fitnessstudio zu besuchen. Er hatte seinen Schädel kahl rasiert. Roman bedankte sich für den Whiskey.
Der Barmann dachte nicht, dass Roman schon ziemlich betrunken sei, dazu stand er schon zu lang hinter seiner Bar. Er dachte, Roman sei gefeuert worden oder seine Frau habe ihn verlassen. Er ging wieder zurück zu seinen Zapfhähnen, weil er die Geschichte nicht hören wollte.
Roman dachte daran, dass der Mann hinter der Bar übermorgen, am Samstag, in der Sauna seines Fitnessstudios, Nathalie kennen lernen würde, die dunkelblond war mit ersten grauen Strähnen, aber sich ihr Haar schwarz färbte und es kurz trug. Er wünschte wirklich, dass er hin und wieder abschalten könnte, kippte seinen Whiskey, sah hinüber zum Barmann, der Nathalie vor dem Samstag noch nie zuvor gesehen haben würde, und hob das leere Glas in die Höhe. Der Barmann nickte.
Tatsächlich war Roman erschöpft wie ein Autor, der in der Rahmenhandlung seiner Abhandlung zur Unendlichkeit der Unendlichkeit einige Unstimmigkeiten entdeckt hatte und zu keinem Schluss gekommen war, wie er diese Unstimmigkeiten stimmig beseitigen könnte. Er war exakt auf diese Art erschöpft, weil es exakt so gewesen war, als Roman entschied, in die nächste Bar zu gehen, um in Ruhe ein paar Whiskey zu kippen.
Der Barmann stellte das zweite Glas unter das Licht der Schirmlampe. Roman nippte. „Schweren Tag gehabt?“, fragte der Mann mit dem fleischigen Hintern, weil es ihm ein ungeschickter Beginn seines Gesprächs schien zu fragen, ob Roman schon ziemlich betrunken sei.
Der Mann hieß Markus, und seine Frau hieß natürlich Nadia, weil sie aus einem Dorf nahe Genua stammte, aus Levanto, wo jede zweite Frau Nadia hieß. Markus hatte damals, nach der Verlobung, daran gedacht, die kleine Filiale eines Immobilienbüros nahe der Strandpromenade zu übernehmen, damit sie ihr gemeinsames Leben in Norditalien verbringen konnten, aber Nadia hatte darauf bestanden, dass sie ihr gemeinsames Leben in Köln verbringen würden. Und über alle ehelichen Debatten um alle Fürs und Widers hatte schließlich ein anderer das Büro übernommen, bevor sie zu einem Ende gekommen waren.
Roman war es an diesem Abend so leid mit Menschen zu sprechen, die ihm nichts Neues erzählen konnten, wie Nadia es damals leid gewesen war, jeden Sommer an jedem Abend hinter der Kasse der Bar Central zu stehen, der Bar gleich beim kleinen Hafen von Levanto. Er entwarf in wenigen Stichworten ein paar Kapitel über seine Möglichkeiten und kam zu keiner Lösung.
„Ja“, antwortete er dem Mann mit dem fleischigen Hintern.
„Job oder Familie?“, fragte der Mann.
„Eigentlich bin ich nur schon ziemlich betrunken“, sagte Roman.
„Dachte ich mir gleich“, sagte der Mann und freute sich, dass er Recht gehabt hatte.
Roman dachte über eine Abhandlung zur Hoffnungslosigkeit der Hoffnungslosigkeit nach, zwang sich aber, diese Gedanken abzubrechen, weil er natürlich wieder an die hoffnungslos vielen Unstimmigkeiten in seiner Abhandlung zur Unendlichkeit der Unendlichkeit denken musste.
Roman dachte stattdessen darüber nach, ob er bei Markus damit beginnen sollte, sich selbst ein wenig aggressiver zu vermarkten. Er nippte in einer Verzweiflung an seinem Whiskey, die üblicherweise Selbstmordgedanken vorausging, weil es erkannt hatte, dass sein Hirn heute Abend keinen vernünftigen Gedanken mehr zeugen würde.
Roman weigerte sich, regelmäßig seine E-Mails zu checken. Einer der unendlich vielen Gründe für diese Weigerung war, dass die Vertriebsabteilung seines Verlags ihn in regelmäßigen E-Mails ermahnte, er könne die Vertriebsbemühungen unterstützen, indem er sich selbst ein wenig aggressiver vermarktet. Die Zeiten hätten sich geändert, nicht unbedingt zum Besseren, auch für Autoren sei es durchaus nicht mehr unschicklich, ein wenig Werbung in eigener Sache zu betreiben. Andere machten das vor.
Ein anderer Grund dafür, dass Roman nicht regelmäßig seine E-Mails checkte war, dass er besseres zu tun hatte und deshalb vergaß, seine E-Mails zu checken.
Roman rächte sich an seinen Gedanken, indem er wieder an seinem Whiskey nippte, um sie zu betäuben. Markus hielt sein Glas Bier fest, als fürchte er, der Barmann würde es ihm wegnehmen. Der Barmann war froh, dass er weder mit Markus reden musste, noch mit dem depressiven Typen neben ihm, weil die beiden miteinander sprachen, auch wenn sie sich offensichtlich nicht allzu viel zu sagen hatten. Er polierte seine Zapfhähne, um sicher zu gehen, dass keiner von beiden ihn ansprechen würde, es sei denn, sie wollten etwas bestellen. Er dachte an seinen Bizeps.
Markus starrte Roman auf die Schläfe, weil er gelernt hatte, dass Menschen es als Zeichen der Ehrlichkeit empfinden, wenn er ihnen in die Augen sieht. Außerdem hatte er das Gefühl, sein wortkarger Nebenmann schulde ihm noch eine Antwort. Schulden musten eingetrieben werden. Wenig war im Geschäftsleben wichtiger als ein straff strukturiertes und konsequentes Mahnwesen. Das hatte er gelernt. Allerdings wich dieses Gefühl zunehmend dem Gefühl, dass es unangenehm werden könnte, diese Schuld einzutreiben. Aber er hatte auch gelernt, dass er nicht zu leicht aufgeben soll.
„Markus“, sagte Markus, ließ sein Bier los und streckte dem Buch des Lebens die Hand hin.
Das Buch des Lebens kippte den Rest seines Whiskeys und hob wieder das Glas. Der Barmann nickte, ohne sich selbst beim Polieren seiner Zapfhähne zu unterbrechen. Roman beschloss, sich heute Abend einmal etwas aggressiver selbst zu vermarkten.
„Roman, das Buch des Lebens“, sagte Roman und schüttelte Markus die Hand, die weich war und warm wie ein kurz gebratenes Steak mit einem zu dicken Fettrand.
Markus zog an seiner Hand. Das Fleisch glitt Roman aus seinen Fingern. Der Barmann stellte den dritten Whiskey unter die Schirmlampe. „Noch ein Bier“, sagte Markus, kippte den Rest seines Glases und hielt es dem Barmann hin.
„Der war gut“, sagte Markus.
„Freunde nennen mich einfach Buch“, sagte Roman, das Buch des Lebens.
„Meinetwegen, Buch, was machstn so?“, fragte Markus.
„Whiskey trinken“, antwortete Roman.
„Beruflich, mein ich“, sagte Markus.
„Schreiben.“
Der Barmann sah zu ihnen herüber und dachte daran, dass er eben erst seine Zapfhähne geputzt hatte, aber es war ihm egal. Es gab sowieso nichts zu tun. Er straffte seine Schultermuskulatur und zapfte, etwas umständlich und eben darum mit dem angemessenen Ernst, ein neues Bier für Markus.
„Wenn du soviel schreibst wie du sprichst, verkaufst du nicht viel“, sagte Markus, „und was schreibstn so?“
„Alles“, sagte Roman, und das war die Wahrheit, auch wenn es für Markus unglaublich klang.
„Alles?“, fragte Markus.
„Absolut alles.“
„Logisch“, sagte Markus, „je breiter das Angebot, desto größer die Chance auf einen Geschäftsabschluss“.
„Logik ist für Schlipsträger“, sagte Roman.
Markus sah auf seinen Schlips, dunkelblauer Stoff mit eingefärbten roten Schrägstreifen. Der Barmann brachte das Bier und den Whiskey und zupfte an seiner Fliege.
„Schlips ist halt Pflicht“, sagte Markus, „aber was hat das mit Logik zu tun?“
„Gott sah sein Werk, die Welt, er sah, dass es gut war, aber beim Schöpfungsakt war ihm der Krawattenknoten verrutscht. Und so ärgerte der Allmächtige sich gewaltig, dass er vergessen hatte, im Paradiese einen Spiegel zu erschaffen, in dem er seinen Schlips zurechtrücken könnte und sein Tag endete in großer Gram, weil er entweder seinen Feierabend verschieben musste, um das Versäumnis nachzuholen oder in der Gewissheit zum Abendessen gehen, dass seine Krawatte schief vom Hals baumelt“, sagte Roman. Es war eine Passage aus einem der unendlich vielen Vorwörter, die er für eine seiner unendlich vielen Geschichten geschrieben hatte.
„Das ist nicht schlecht“, sagte Markus, „kann mir jetzt ein bisschen vorstellen, was du so schreibst, aber Geschäft ist Geschäft, und Geschäfte laufen logisch“.
„Logik behindert vermutlich sogar den Lauf der Gestirne“, sagte Roman, „aber das ist mit Logik nicht zu beweisen“.
Markus sah hinüber zum Barmann, weil er hoffte, der würde etwas zur Logik seines eigenen Geschäfts zu sagen haben. Aber der Barmann polierte den Zapfhahn, der vom Schaum des Bieres wieder matt geworden war. Markus kippte sich das halbe Glas Bier in die Kehle, stellte es auf die Theke, entschied gleich noch eins zu bestellen und tat es.
„Mein Gott, das ist Philosophie, aber ohne Logik kommst du nicht durchs Leben“, sagte Markus, „das musst du schon zugeben“.
„Glaubst du an Gott?“, fragte Roman.
„Weiß nicht“, sagte Markus, „bisschen vielleicht schon.“
„Bisschen?“, fragte Roman.
„Glaub schon.“
„Wenn du an Gott glaubst, nenne mir einen einzigen logischen Grund, warum du an Gott glaubst. Wenn du nicht an Gott glaubst, nenne mir einen einzigen logischen Grund, warum alle Welt an etwas glaubt, woran zu glauben es keinen einzigen logischen Grund gibt“, sagte Roman.
Der Barmann brachte das Bier. Markus trank sein Glas nicht aus, weil es ihm wichtiger schien, den Barmann hilfesuchend anzugucken und hatte jetzt zwei Gläser vor sich stehen. „Glaube und Logik schließen sich gegenseitig aus“, sagte der Barmann, „so wie es sich ausschließt, dass ein Glas gleichzeitig leer und voll sein kann“.
„Logisch“, sagte Markus. Der Barmann zupfte wieder an seiner Fliege und ging zurück, um wieder den Zapfhahn zu polieren. Markus sah sein volles Glas an und sein halbvolles Glas, das er wieder festhielt, und war schlecht gelaunt.
„Ihr Schreiber glaubt wohl, ihr wisst alles“, sagte Markus.
„Er schreibt nicht“, sagte Roman.
„Woher willste das wissen?“, fragte Markus.
„Ich weiß alles“, sagte Roman in einem grimmigen Anfall von Selbstvermarktungsaggressivität.
„Okayokay“, sagte Markus, ließ sein Bierglas los und hob beide Hände auf Schulterhöhe, „aber an was schreibst du denn gerade?“
„An einer Art Autobiografie“, sagte Roman.
„Hat die schon nen Titel? Mein Leben als Buch oder so?“, fragte Markus.
„Das Buch des Lebens“, sagte Roman.
„Jetzt versteh ich, nicht schlecht als Grundidee“, sagte Markus, „und was steht da so drin?“
„Alles.“
„Und zum Beispiel?“, fragte Markus.
„Zum Beispiel steht da drin, dass du abends in Levanto am besten zu Steffi gehst und ein media Rossa bestellst, wenn du nach dem Essen noch ein paar Bier trinken willst“, antwortete das Buch des Lebens.
„Hey, Levanto bei Genua? Kenn ich gut, da kommt meine Frau her“, sagte Markus.
„Ich weiß, sagte Roman.
„Ich weiß“, sagte Markus, „und was steht sonst noch drin?“
Roman erzählte ihm, dass er sich das Buch des Lebens als Computerbildschirm vorstellen soll, mit gelber Schrift auf blauem Grund, ziemlich mühsam zu lesen, aber glücklicherweise kann man die Buchstaben mit dieser praktischen Plus-Taste rechts unten am Bildschirm ganz einfach vergrößern. Und wer es übertreibt, kann sie mit der ebenso praktischen Minus-Taste links unten am Bildschirm ebenso einfach wieder verkleinern.
Oder er soll sich vergilbtes Papier denken, von Hand gebunden in Rindsleder, wundersamerweise exakt so lang und breit geschnitten und so hoch gestapelt, dass das Buch genau in die Obstkiste passt, die er im vergangenen Jahr im Keller vergessen hat. Wenn er es wieder herausbekommen wollte aus der Kiste, müsste er sie umkippen, weil zwischen Holz und Papier kein Fingerbreit Platz mehr ist.
Er könne sich das Buch des Lebens aber auch als Mann vorstellen, der an einer Bar sitzt und Whiskey kippt. Der Verlag der Bücher hatte gegen den Rat seiner Vertriebsabteilung entschieden, sich bei der Produktion des Buchs des Lebens nicht auf eine bestimmte technische Variante festzulegen.
Roman begann den Anfang der Geschichte von Madeleine, Harry Hancock Hurricane, Zander, Jackson Jackson und Siegfried zu erzählen, einfach eine von den unendlich vielen Geschichten, an denen er neben seiner Abhandlung zur Unendlichkeit der Unendlichkeit zu schreiben gezwungen war.
Die Geschichte begann damit, dass das Buch des Lebens an einem gottlos heißen Samstag auf dem Flohmarkt in Levanto herumspazierte, bevor es entschied, ein wenig im Schatten eines Zeltes auf einem Verkaufstisch herumzulümmeln. Das Zelt war als Cocktailzelt gedacht gewesen und als Flohmarktzelt verendet. Aber es war dem Zelt gleichgültig. Nur die wenigsten unter den Zelten hatten je gelernt zu denken, und von den weißen Cocktailzelten hatte noch nie eines gelernt zu denken.
„Bücher können nicht herumspazieren“, sagte Markus.
„Wer sagt das, Gott?“, fragte Roman, aber es war keine Frage.

***

Harry Hancock Hurricane hatte gewusst, dass Madeleine Recht behalten würde. Madeleine behielt immer Recht. Sie war am Ende eben trotz allem eine Frau. Umso mehr versuchte Harry Hancock Hurricane, den merkwürdigen Computer in Gang zu bringen.
Das Ding war aus Plastik, meergrün, moosgrün oder so ähnlich, ein Grün jedenfalls, das Harry Hancock Hurricane gleich gefallen hatte, als er das Ding auf dem rissigen Tisch liegen sah, der in einer früheren Inkarnation bigamistisch mit zwei Bierbänken verheiratet gewesen war, der Tisch, der unter dem Zelt stand, in dessen Schutz eigentlich die Besucher eines Straßenfestes Weißwein trinken sollten oder Cocktails und das einmal weiß gewesen war, aber was das Berufliche betrifft, hatte dieses Zelt offensichtlich so ziemlich alles verbockt, was es beruflich zu verbocken gibt.
Es gehörte jetzt einem Trödler, dessen Haut eine ähnliche Oberfläche hatte wie das Holz seines Biertisches, und dessen Bart die gleiche Farbe hatte wie sein Zelt.
Harry Hancock Hurricane wollte das grüne Ding haben, weil es ein grünes Ding war, das er nicht kannte. Außerdem war es ein Computer. Oder so ähnlich. Madeleine hatte ihm gesagt, dass er sein Geld verschwenden würde, weil, erstens: Niemand so dumm ist, auf einem Flohmarkt elektrische Geräte zu kaufen, denn jeder weiß, dass mindestens die Hälfte aller elektrischen Geräte, die auf einem Flohmarkt angeboten werden, nicht mehr funktionieren. Zweitens: Weil dieser Computer, ganz gleich wie grün er war, so alt war, dass Harry Hancock Hurricane für ihn keine Ersatzteile würde auftreiben können.
Und diesem Uralt-Computer fehlte ein für einen Computer wesentliches Teil. Ihm fehlte die Tastatur. Wie zum Teufel, Harry, willst du in das Ding irgendetwas eingeben, selbst wenn es wie durch ein Wunder funktionieren sollte? Ja, Madeleine, ich weiß.
Es lag zum Teil daran, dass Harry Hancock Hurricane es hasste, wenn ihn jemand mit Harry oder Hancock oder Hurricane oder womöglich sogar mit Martin ansprach, statt mit Harry Hancock Hurricane. So gut wie niemand sprach ihn mit Harry Hancock Hurricane an.
Es lag zum Teil daran, dass er in genau diesem Augenblick nichts mehr wollte, als dass sich Madeleine zum ersten Mal irren würde, in den sechs Jahren, in denen er sie kannte. Zum Teil lag es an sowieso. Zum Teil lag es natürlich an dem Grün. Zum Teil lag es sicher daran, dass Harry Hancock Hurricane, um den Samstag ohne Dieseltransport zu feiern, heute Morgen schon nach dem Frühstück einen Joint geraucht hatte, mit dem er die ganze WG hätte high machen können, wenn irgendjemand mitgeraucht hätte.
In welchem Mengenverhältnis die einzelnen Teile sich zu einem Ganzen mischten, würde nicht einmal Jackson Jackson ausrechnen können, nur Gott. Jedenfalls fragte Harry Hancock Hurricane den Händler mit der Astlochhaut und dem Regenhimmelbart, ob das Ding da funktionieren würde, wenn er es einschaltet, wozu es eigentlich gut war und was es kosten sollte.
Der Händler sah den grünen Computer an, der kurz nach der Zeit entstanden sein musste, in der alle Teile, die zum Bau eines PC notwendig waren, noch in der PC-Ursuppe geschwommen waren. Er sah ihn an, als sähe er ihn zum ersten Mal. Er sagte, er wisse nicht, wozu er gut sei, aber er wisse sicher, dass alles, was er verkauft, funktioniere. Er sagte neunzehn Euro.
Harry Hancock Hurricane sagte, er werde keine neunzehn Euro zahlen für einen Uralt-Computer, dem die Tastatur fehlt. Der Händler hielt ihm eine etwa faustgroße Kugel hin. Die Kugel war blau. Auf sie waren die Kontinente der Erde lackiert, sauber unter einer zusätzlichen Schicht Klarlack. Sie war gelagert in einer Art Trichter, der mit der weiten Öffnung nach unten auf dem Tisch stand. Der Trichter war so grün wie das Ding selbst.
Ein grüner Vulkan, dessen Ausbruch die Erdkugel mit ihrem ganzen Gewicht zu verhindern versucht. Damit war die Sache entschieden. Madeleine musste Harry Hancock Hurricane drei Euro und siebzehn Cent leihen. Er zahlte ohne zu handeln, bekam einen Karton, stapelte den Weltraumvulkan und das Ding von unbekanntem Nutzen übereinander und trug den Karton die ganze Strandpromenade entlang, durch die beiden aufgegebenen Eisenbahntunnel hindurch, am inoffiziellen FKK-Strand vorbei, über die Reste der Mauer hinweg nach Hause.
Madeleine forderte ihre drei Euro und siebzehn Cent in genau dem Moment, in dem er seinen Karton auf seinem Bett abstellte. Sie sagte, sie wisse, dass sie ihr Geld sonst in diesem Leben nicht zurückbekommen würde.
Harry Hancock Hurricane ging hinüber zu Zanders Zimmer, um sich von Zander die drei Euro und siebzehn Cent zu leihen. Auf Zanders Bettkante saß eine Frau, die aller Erfahrung nach Jenny oder Jane oder so ähnlich hieß und zu Harry Hancock Hurricanes Bedauern inzwischen wieder angezogen war.
Zander lag auf seinem Bett, hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt und war bis knapp oberhalb seines Bauchnabels mit einem zerknitterten Bettlaken zugedeckt. Er sah aus, als hätte jemand ein Bären auf Zanders Bett gelegt und ihn zur Hälfte mit einem Bettlaken zugedeckt, damit es nicht friert.
Jedes einzelne Teil von Zander, Zander in seiner Gesamtheit aller vereinigten Einzelteile von Zander sowieso, war derart zu groß geraten, dass es jedem, der ihn sah, schwer fiel zu entscheiden, ob Zander noch furchteinflößend groß war oder schon lächerlich groß.
Harry Hancock Hurricane murmelte etwas, was eine Entschuldigung sein sollte, aber niemand hörte ihm zu. Jenny oder Jane oder so ähnlich hörte Harry Hancocks Entschuldigung nicht, weil sie zu beschäftigt damit war, sich die Haare zu kämmen. Zander hörte Harry Hancock Hurricanes Entschuldigung nicht, weil er zu beschäftigt damit war darüber nachzudenken, ob die linke Brust von Jenny oder Jane oder so ähnlich das unglaublichste Ding war, das er je in seinem Leben gesehen hatte.
Er entschied sich für ein Nein. Es war die rechte.
Harry Hancock Hurricane fragte Zander, ob er ihm fünf Euro leihen würde, wusste, dass Zander wahrscheinlich nein sagen wollte, aber ja sagen würde, weil Jenny oder Jane oder so ähnlich sich auf seiner Bettkante die Haare kämmte.
Zander zog einen Arm hinter seinem Kopf hervor und zeigte auf einen Stuhl, über den er seine Hose geworfen hatte. Gott hatte entschieden, Harry Hancock Hurricane heute einmal für seine ewige Schnorrerei zu demütigen. Das Kleingeld war aus Zanders Hosentasche gefallen. Harry Hancock Hurricane musste vor Jenny oder Jane oder so ähnlich niederknien, um die Münzen aufzusammeln, wie ein Hund die Reste des Pizzarandes aufsammelt, die ihm jemand drüben im Roma unter den Tisch geworfen hatte.
„Ich brauch eigentlich nur drei Euro siebzehn“, sagte er und klaubte sich drei Euro siebzehn zusammen.
Harry Hancock Hurricane zahlte Madeleine aus und schob sie aus dem Zimmer, weil er wusste, dass sie sehen wollte, wie er das Ding in die Steckdose einstöpselt um sagen zu können, sie habe gleich gewusst, dass es nicht funktioniert.
Harry Hancock Hurricane stöpselte zuerst den Vukankugelerdball hinten in den einzigen Anschluss des grünen Dings, weil er wusste, dass es die Elektroniik von alten PCs zerstört, wenn man irgendwelche Zubehörteile ein- oder ausstöpselt, während sie laufen. Dann stöpselte er das Stromkabel in die Steckdose.
Der Bildschirm des grünen Dings, der kaum größer war als eine Männerhand und nicht annähern so groß wie Zanders Hand, flimmerte blau, ohne dass Harry Hancock Hurricane eine weitere Taste drücken musste, was schwierig gewesen wäre, denn die Auswahl der Tasten war gering. Es gab zwei. Oben links in der Ecke blinkte ein Cursor. Gelb auf blauem Grund in grünem Plastik. „Yeah, Baby“, sagte Harry Hancock Hurricane.
Das war vor etwa einer halben Stunde gewesen. Er hatte die Taste neben dem in das Plastik eingestanzten Plus gedrückt, rechts unten am Bildschirm. Der Cursor hatte sich vergrößert. Er hatte die Taste links unten neben dem eingestanzten Minus gedrückt. Der Cursor hatte sich verkleinert.
Nachdem er im Vergrößern und Verkleinern ausreichend geübt war, hatte er beide Tasten gleichzeitig gedrückt. Nichts war passiert. Er hatte die Erdkugel in ihrem Vulkan gedreht, erst vorsichtig, dann hatte er sie rotieren lassen. Er hatte sie angetippt und geschüttelt, erst noch vorsichtig, später heftig. Nichts war passiert.
Er hatte die Tasten in unterschiedlicher Reihenfolge nacheinander und in unterschiedlichem Rhythmus gedrückt. Nichts war passiert. Er hatte nach versteckten Tasten gesucht und nach Klappen, hinter denen sich andere Tasten oder andere Anschlüsse verstecken könnten. Es gab keine.
Er hatte den Erdkugelvulkan nochmal geschüttelt, diesmal so heftig, wie ein Kind ein Sparschwein schüttelt, damit eine Münze aus dem Schlitz wieder herausfällt. Dann hatte er das grüne Ding selbst geschüttelt, aber nur sanft.
Der Cursor blinkte gelb auf blauem Grund.
Madeleine kam herein. „Und, funktioniert nicht, stimmt’s?“, fragte sie. Aber es war keine Frage.
„Du siehst doch, dass es funktioniert, der Cursor blinkt“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Die Tastatur fehlt, hab’ ich doch gleich gesagt“, sagte Madeleine.
Zander kam herein, weil Jenny oder Jane oder so ähnlich gegangen war, nachdem sie ausreichend gekämmt war und danach Zander ausreichend Zeit gegeben hatte um noch einmal zu beurteilen, ob ihre linke Brust das unglaublichste Ding war, das er je in seinem Leben gesehen hatte und sich für ein Nein entschied, weil es eben die rechte war, und nachdem Jenny oder Jane oder so ähnlich festgestellt hatte, dass sonst niemand Interesse zeigte.
„Was’n das?“, fragte Zander, und es war eine Frage.
„Computer, alt genug fürs PC-Museum, unglaubliches Ding“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Fehlt die Tastatur“, sagte Zander und trank einen Schluck aus der Dose Bier, die er sich aus der Küche geholt hatte.
„Harry, steck’ das Ding wieder in den Karton. Trag es zurück zu dem Händler. Sag ihm, das Ding funktioniert nicht und hol’ dir dein Geld zurück. Nimm Zander mit, dann gibt es keinen Widerspruch“, sagte Madeleine.
Zander stand neben Harry Hancock Hurricane und sah dabei aus, als denke er ernsthaft darüber nach, ob es an der Zeit wäre, nicht mehr weiterzuwachsen. Harry Hancock Hurricane saß auf seinem Stuhl und sah aus, als denke er darüber nach, ob es an der Zeit wäre, endlich noch eine wenig weiter zu wachsen.
„Einen Scheiß tu ich, und nenn’ mich nicht Harry“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Wann krieg’ ich meine drei Euro siebzehn zurück?“, fragte Zander und trank den Rest aus seiner Bierdose auf einen Zug.
„Wenn du mit ihm mitgehst und das Ding zurück zum Flohmarkt trägst“, sagte Madeleine.
Zander dachte darüber nach, ob ihm drei Euro siebzehn genug wert waren, um den Weg über die Reste der Mauer hinweg, am inoffiziellen FKK-Strand vorbei, durch die beiden aufgegebenen Eisenbahntunnel hindurch und die ganze Strandpromenade entlang bis zum Flohmarkt zu latschen.
Er entschied, dass es sich nicht lohnte darüber nachzudenken, weil ihm eingefallen war, dass er nachher so oder so nach Levanto rüber gehen würde. Also wartete er ab, was passieren würde, und weil nichts passierte, dachte er darüber nach, ob er sich noch eine Dose Bier aus dem Kühlschrank holen sollte.
Der Cursor blinkte am unteren rechten Ende des Bildschirms. Vor und über ihm standen Wörter. „Hey, guckt euch das Ding an“, sagte Zander.
„Spracheingabe, erstaunlich bei so einem alten PC“, sagte Madeleine.
„Zeit für ein, Okay, Harry Hancock Hurricane, ich habe mich geirrt“, gurrte Harry Hancock Hurricane.
„Okay, ich habe mich geirrt“, sagte Madeleine. „Vielleicht ein Computer für schwer Behinderte, die ihre Hände nicht mehr benutzen können“, sagte Zander.
„Äääm, alles falsch“, sagte Harry Hancock Hurricane, „es ist genau das, was ich gesagt habe. Es ist das unglaublichste Ding, das jeder von uns je in seinem Leben gesehen hat, es ist das ganz große Ding. Es hat nicht das aufgeschrieben, was wir gesagt haben oder was einer von uns gesagt hat, es hat aus dem, was wir alle gesagt haben, seine eigene Geschichte geschrieben“.
Auf dem Bildschirm stand, in daumendicken Buchstaben: „enseitig ansahen statt den gelben Cursor, der auf blauem Grund blinkte, begann das Buch des Lebens den Anfang der Geschichte von Harry Hanncock Hurricane, Zander, Jackson Jackson, Siegfried und Madeleine zu schreiben, die Siegfrieds Schwester war.“
Harry Hancock Hurricane drückte die praktische Minustaste, damit die Buchstaben kleiner würden und sie einfacher alles lesen konnten, was das Buch des Lebens ihnen bisher zu sagen hatte.

***

Madeleine hieß tatsächlich Madeleine, ihr Familienname war Peabrock. Harry Hancock Hurricane hieß Harry Hancock Hurricane, weil er den Namen Michael Hancock hasste, was mit einer unerquicklichen Kindheit zu tun hatte, insbesondere mit einem von männlicher Konkurrenz geprägten Verhalten von James Hancock gegenüber seinem Erstgeborenen Michael.
Zander hieß natürlich genauso wenig Zander wie Harry Hancock Hurricane Harry Hancock Hurricane hieß. Er hieß Jeremias Zurodorski, aber weil das jedermann zu schwierig schien, wurde daraus Zander. Wann und warum wusste niemand mehr. Zander hielt nicht viel von Fischen und sich darum von Wasser fern.
Jacksons Familienname war Jackson, er hieß tatsächlich Jackson Jackson, weil seine Eltern unter einem merkwürdigen Humor litten oder an einem bemerkenswerten Mangel an Phantasie.
Siegfried hieß Martin Peabrock, aber alle nannten ihn Siegfried, weil sein Vater aus Deutschland stammte. Siegfrieds Familienname war nicht zufällig der gleiche wie Madeleines. Er war ihr Bruder. Aber niemand wagte es, Madeleine anders zu nennen als Madeleine. Es sei denn, jemand nannte sie Miss Peabrock.
Jackson konnte man Jackson oder Mister Jackson nennen. Aber ebenso selbstverständlich, wie niemand Harry Hancock Hurrricane Harry Hancock Hurricane nannte, nannte jeder Jackson Jackson Jackson Jackson. Mit eine Ausnahme.
Madeleine, Jackson Jackson, Zander, Siegfried und Harry Hancock Hurricane hatten:
- sich kennen gelernt in London, abgesehen natürlich von Madeleine und Siegfried, die sich seit Madeleines Geburt kannten, und beschlossen, gemeinsam Musik zu machen.
- danach beschlossen, gemeinsam andere Teile des Kontinents kennen zu lernen, insbesondere solche, in denen das Klima freundlicher ist und damit solche, in denen die Frauen sich leichter kleiden als in England. (Was auch für Madeleine galt, sie hielt von Männern wenig, von Sex mit Männern gar nichts, den sie versucht hatte, mehrfach, um sich nichts vorwerfen lassen zu müssen, einmal sogar mit einem Schwarzen, weil man sich ja so einiges erzählt von Schwarzen. Im Fall ihres Schwarzen stimmte es nicht.)
- Sie hatten gelernt, dass es stimmt, dass Musik eine international verständliche Sprache ist.
- und gelernt, dass das nicht heißt, dass Musiker genug Geld verdienen, um Miete, Diesel, Bier, Pizza und Marihuana bezahlen zu können.
Der eine wesentliche Erfolg aus fast genau sechs gemeinsamen Jahren war, dass sie alle zusammen sechs Jahre älter geworden waren. Sie hatten vier dreißigste Geburtstage gemeinsam gefeiert, in der immer gleichen Mischung aus Pfeifdrauf, Weltschmerz, Alkohol und Drogen. Bis zur fünften Feier, der zu Ehren von Jackson Jackson, waren es noch knapp anderthalb Jahre Zeit.
Der zweite Erfolg ihrer sechs gemeinsamen Jahre war, dass sie das Haus gefunden hatten, in einer Gegend, in der die Frauen sich leichter kleiden, das groß war genug für ihre Bedürfnisse und vor allem von ihren Einnahmen bezahlbar.
Seitdem waren sie gestrandet in Levanto, Norditalien, einem Städtchen, das sich im Wesentlichen von Touristen gut genug ernährte, um an den Hüften Speck angesetzt zu haben.
Levanto lag am Rande der Cinque Terre. Die Cinque Terre waren vor allem bei deutschen Oberlehrern mit Wanderschuhen und Touristenführern historischen Inhalts beliebt, außerdem bei amerikanischen Reisenden mit Fotoapparaten, die an neun verschiedenen Stellen in Italien ihren klimatisierten Reisebus verließen, um Wonderful zu sagen oder Great.
Ihr Haus lag am Rande von Levanto, im weitesten Sinne. Um es zu erreichen, mussten sie vom Ortszentrum aus aufs Meer zugehen, rechts abbiegen, bis zum Ende der Strandpromenade gehen. Sie mussten durch den ersten aufgegebenen Eisenbahntunnel stolpern, in dem nach Harry Hancock Hurricanes Berechnungen exakt die gleichen Lichtverhältnisse herrschten wie in der zweiten Krümmung des Ofenrohres eines Kohleofens, der mindestens siebzehn Jahre in Betrieb gewesen war.
Harry Hancock Hurricane hatte außerdem berechnet, dass die vom Ruß in einem Ofenrohr erzeugte Schwärze nach siebzehn Jahren nicht mehr zunimmt. Zwar ahnte niemand von ihnen, auch Harry Hancock Hurricane selbst nicht, dass seine Berechnungen exakt den Tatsachen entsprachen, wenn auch nur, weil sich vier Rechenfehler durch einen Zufall gegenseitig aufhoben, dessen Wahrscheinlichkeit wesentlich schwerer zu berechnen war als die Lichtverhältnisse in einem Ofenrohr.
Aber das Ergebnis der Rechnung war ohnehin unwichtig. Wenn sie jemandem erklären wollten, wie dunkel es im ersten aufgegebenen Eisenbahntunnel war, erklärten sie es nicht mit Ofenrohren, sondern so: In der Mitte des Tunnels hätte einem jemand mit einem verchromten Baseballschläger auf die Stirn schlagen können, ohne dass man davon auch nur genug gesehen hätte, um mit den aufgerissenen Augenlidern zu blinzeln.
Was allerdings nie geschehen war und auch nie geschehen würde, weil der Täter nicht fähig wäre, die Stirn seines Opfers zu sehen oder auch nur das Opfer selbst.
Hinter dem ersten Tunnel folgte der inoffizielle FKK-Strand, an dessen Rand Siegfried und Jackson Jackson gern mit einem Sixpack und einem Joint auf den Klippen saßen und auf den Sonnenuntergang warteten, weil sie keinen Fernseher hatten in ihrem Haus und die Pornos vermissten und fast sicher sein konnten, dass in der Abenddämmerung das letzte verbleibende Pärchen unten im Sand beginnen würde zu vögeln.
Der zweite aufgegebene Eisenbahntunnel war nicht gekrümmt, darum etwas heller, so dass sich Umrisse erahnen ließen, was die Dunkelheit noch unangenehmer machte, weil hier ein Täter mit einem Baseballschläger die Stirn eines Opfers treffen könnte.
Hinter dem Tunnel folgten die Reste einer Mauer, die einen Flusslauf überbrückte, dessen Fluss entschieden hatte das Fließen aufzugeben, als er sah, dass die Eisenbahn das Fahren aufgegeben hatte.
Hinter der Mauer bogen sie auf dem Weg zu ihrem Haus wiederum rechts ab, auf einen Pfad durch das Gestrüpp. Über die Mauer, die kaum breit genug war, um zwei Füße nebeneinander zu stellen, balancierten alle außer Zander, der Höhenangst hatte und das zu Recht. Zander neigte schon im Wohnzimmer zum Stolpern und kraxelte deshalb lieber die Böschung hinunter und wieder hinauf.
Am Ende des Weges stand das Haus, das ein Bauer gebaut hatte, als die Bauern von Levanto noch vom Olivenanbau lebten statt vom Tretbootverleih. Es war nicht schlecht. Sie hatten einen offenen Kamin, sie hatten stabile Mauern aus massivem Quaderstein, naturbehauen, ein dichtes Dach, dessen Schindeln sie selbst erneuern konnten, weil sie aus Holz waren, sie hatten jede Menge Oliven und Brennholz kostenlos.
Sie hatten fünf Zimmer auf zwei Stockwerken, eines für jeden, plus ein gemeinsames Wohnzimmer und eine Küche, die so groß war wie ein guter Teil der Londonder Singleappartments. Es war, alles in allem, cool. Nur eben etwas abgelegen.
Den Biervorrat zu erneuern war lästig. Den Spritvorrat für den Dieselgenerator zu erneuern, der für sie den Strom erzeugte, war eine Aufgabe, für die sie trotz der maschinellen Unterstützung von Siegfrieds altem Geländemotorrad regelmäßig einen halben Samstag zubringen mussten.
Siegfrieds altes Geländemotorrad war ihr einziges Fahrzeug und stand üblicherweise am Rand des Flussbetts neben der Mauer. Siegfried benutzte es selten, weil Siegfried es ohne Werkzeug nur ausnahmsweise in Gang brachte. Die anderen benutzten es nie, weil sie es auch mit Werkzeug nie in Gang brachten.
Trotz allem wäre es falsch zu behaupten, sie lebten in Armut. Außer Jackson Jackson und Harry Hancock Hurricane verdienten sie alle regelmäßig Geld. Jackson Jackson studierte, Mathematik und Astronomie, leidlich, wenn man bedenkt, dass die Universität einen Pfad, eine brüchige Mauer, zwei Eisenbahntunnel, einen inoffiziellen FKK-Strand entfernt, plus den Weg zum ins Landesinnere verlegten Bahnhof plus achtzig Kilometer mit der Bahn in Genua stand.
Jackson Jackson musste kein Geld verdienen, weil sein Vater – unstudiert, aber wohlhabend; Medikamente, Import-Export – ihm vor inzwischen mehr als zehn Jahren versprochen hatte, ihm das Studium zu finanzieren. Wie lange Jackson Jackson studieren wollte, schien seinen Vater ebenso wenig zu interessieren wie das Geld und die Tatsache, dass er von seinem Sohn seit sechs Jahren kaum mehr erfahren hatte, als dass sich seine Adresse und hin und wieder seine Kontonummer und Bankleitzahl geändert hatten.
Harry Hancock Hurricane dachte unentwegt darüber nach, wie er genug Geld verdienen könnte, um nie mehr Geld verdienen zu müssen. Bis es soweit war, verdiente er sein Geld mit Computerreparaturen, hie und da auch mit Programmieraufträgen, natürlich mit dem, was sie bekamen, wenn sie irgendwo in der Nähe zu einem Konzert für die Touristen engagiert wurden (sie waren keine schlechten Musiker, wirklich nicht, die meisten Veranstaltern buchten sie sogar immer wieder).
Harry Hancock Hurricane verdiente sein Geld also auf eine Art, die jedermann rätselhaft war, sogar den anderen, und stritt regelmäßig mit Madeleine, ob er einen höheren Anteil am Diesel bezahlen müsste, weil seine beiden Computer den größten Teil ihres Stroms fraßen. Plus in Zukunft, natürlich, den Strom, den das Buch des Lebens verbrauchen würde.
Zander stolperte den Sommer über als Animateur durch einen nahe gelegenen Robinson-Club, weshalb er immer über einen Vorrat an frischen Janes, Jennys, Susannes, Sonjas, gelegentlich sogar über eine Nadine verfügte. Das Geld, das er sozusagen mit seinem Hobby verdiente, reichte ihm meist über den Winter.
Siegfried arbeitete als Möbelverkäufer, das ganze Jahr über, und wenn es nicht zu heiß war, stolperte er mit einer Krawatte um den Hals durch die Eisenbahntunnel.
Madeleine hatte verschiedene Jobs aufgegeben, als ihre Chefs begannen, sich mehr für ihre Unterwäsche als für ihre Arbeit zu interessieren. Und es wäre noch schlimmer geworden, wenn ihre Chefs gewusst hätten, wie selten sie Unterwäsche trug. Sie hatte irgendwann begonnen gegen Provision für eine Immobilienmaklerin zu arbeiten und leitete inzwischen die Filiale der Firma in Levanto, was allerdings bedeutender klang, als es war. Die Filiale bestand aus einem Büro gegenüber dem beliebtesten Eiscafe´ an der Strandpromenade und Madeleine war ihre einzige Angestellte.
Sie waren also nicht arm. Sie gaben ihr Geld nur nicht für Mobiltelefone aus, Autos und Stereoanlagen, eine Krawattenkollektion und Colliers, sondern für Pizza ai frutti di Mare im Roma, Espresso in der Bar Central, Bier bei Steffi und Bruna, Marihuana bei Antonello. Ihre Bedürfnisse waren schlicht. Aber teuer. So flossen die Tage in die Tage und gossen sich die Wochen in die Wochen.
***

Madeleine, Zander und Harry Hancock Hurricane lasen den Anfang ihrer Geschichte in gelben Buchstaben auf blauem Grund. Selbstverständlich war es auch die Geschichte von Siegfried und Jackson Jackson. Aber die waren eben nicht im Zimmer.
Sie lasen:

Harry Hancock Hurricane, der Michael Hancock war, aber es nicht sein wollte, und Madeleine schlenderten über den Flohmarkt, gerade so, wie das Buch des Lebens es kurz zuvor noch getan hatte, bevor es entschied, ein wenig auf dem rissigen Holztisch im Schatten des hirnlosen Partyzeltes zu lümmeln.
Als Harry Hancock Hurricane das Buch des Lebens dort liegen sah, wusste er sofort, dass er es kaufen würde. Und das Buch des Lebens wusste das auch. Nutzlose Reste logischer Argumente feuerten Impulse des Widerspruchs in Harry Hancock Hurricanes Hirn, aber das Buch des Lebens war grün, exakt das Grün, das rothaarige Menschen so lieben, dass kaum einer von ihnen dem Buch des Lebens widerstehen konnte, der es einmal sah.
Tatsächlich kaufen Rothaarige das Buch des Lebens statistisch gesehen achtmal häufiger als Braunhaarige und sogar zwölfmal häufiger als blond Gefärbte (es sei denn, ihre natürliche Haarfarbe ist rot). Die Vertriebsabteilung, die sich gegen den Widerstand von „Das Buch des Lebens“ und vergeblich um höhere Verkaufszahlen bemühte, vermutete, dass die Ursache für diese Statistik der komplementäre Kontrast des Grüns zu der Haarfarbe ist, die Rothaarige nun einmal täglich im Spiegel sehen.
Logisch belegen konnte sie diese Annahme allerdings nicht, weshalb sich die gesamte Abteilung zweimal wöchentlich zu einem Meeting traf, in dem es ausschließlich um den Zusammenhang zwischen Haarfarben und Verkaufszahlen ging.
An den Meetings beteiligte sich auch die Praktikantin, die noch nicht ahnte, dass sich acht Sommer später an einem inoffiziellen FKK-Strand in Norditalien ein Gebrauchtwagenhändler auf sie wälzen würde, der ihr erzählt hatte, er sei Werbefilmregisseur.
Madeleine hatte schon zu Beginn ihrer Pubertät aus ihrer Abneigung gegen alles Männliche eine Abneigung gegen Technik abgeleitet, von der sie selbst wusste, dass sie albern war, die sie aber nicht mehr abstellen konnte.
Zum Teil wegen dieser Abneigung, versuchte sie Harry Hancock Hurricane zu überreden, das Buch des Lebens nicht zu kaufen, zum Teil allerdings auch, weil sie nicht wollte, dass Harry Hancock Hurricane noch etwas kauft, das Strom verbraucht, ohne einen erhöhten Anteil am Dieselverbrauch des Generators hinter ihrem Haus zu bezahlen.
Madeleines Haar war schwarz, dick, gelockt und widerspenstig wie die Borsten einer Drahtbürste. Alle zwei oder drei Jahre ließ sie es sich von einem Friseur streichholzkurz schneiden, der versuchte ihr auszureden, es sich streichholzkurz schneiden zu lassen. Wuchs es wieder, band sie es zu einem Pferdeschwanz zusammen, wuchs es weiter, band sie es sich zu zwei Zöpfen zusammen, die links und rechts von ihrem Kopf abstanden, als hätte sie sich zwei Besenstiele in die Schläfen gesteckt. Für diese Art von Haar gab es keine Statistik, weil die geringen Fallzahlen keine statistische Aussage ermöglichten.
Mit dem Buch des Lebens in einem Karton gingen Madeleine und Harry Hancock Hurricane durch den ersten Eisenbahntunnel, vorbei an dem Pärchen ganz rechts hinter dem Felsblock am inoffiziellen FKK-Strand von Levanto.
Hätten sie statt auf den Weg hinunter zum Strand gesehen, hätten sie bemerken können, dass die Hand von Susanne, zweiunddreißig, Versicherungsangestellte, Köln am Rhein, nicht zufällig im Schoß von Giovanni ruhte (und eigentlich auch nicht ruhte), Giovanni, sechsundvierzig, Gebrauchtwagenhändler, Genua, hatte Susanne gegenüber vorgegeben, Werbefilmregisseur zu sein.
Genau das Gefühl, jederzeit beobachtet werden zu können, war es, das Susanne so daran liebte, älteren Werbefilmregisseuren am Strand Befriedigung zu verschaffen. Und natürlich die hilflose Hoffnung auf eine baldige Heirat und Zukunft, in der sie mit Versicherungen nur noch zu tun haben würde, wenn sie eine für sich selbst abschließen wollte. Oder besser, Giovanni würde sie abschließen. Und vielleicht ein Kind, bevor es zu spät war.
Hätte Madeleine je Susanne kennen gelernt, hätte sich ihre Abneigung gegenüber allem Männlichen möglicherweise geschwächt. Um Susanne kennen zu lernen, hätte sie allerdings den nahe gelegenen Robinson-Club besuchen müssen, in dem Zander, mit albernen Hüten auf dem Kopf oder Hula-Röckchen um die Hüften geschlungen, für verkaterte Touristinnen den Tanzbären gab. Madeleine weigerte sich, den Robinson-Club zu betreten und wusste selbst nicht richtig warum.
Der Grund für ihre Weigerung war die Madeleine unbewusste Furcht, dort eine Susi, Sonja, Jenny oder Jane kennen zu lernen, die ihre Theorie von der Überlegenheit des weiblichen Geschlechts schwächen könnte.
Madeleine forderte ihre drei Euro samt der siebzehn Cent von Harry Hancok Hurricane zurück, kaum dass sie im Haus angekommen waren und Harry Hancock Hurricane das Buch des Lebens auf seinem Bett abgestellt hatte. Harry Hancock Hurricane ging hinüber in Zanders Zimmer, wo die Frau auf der Bettkante saß, die tatsächlich Jennifer hieß, zu Harry Hancock Hurricanes Bedauern inzwischen wieder voll bekleidet. Sie kämmte sich ihr Haar.
Harry Hancock Hurricane lieh sich die drei Euro siebzehn von Zander, gab sie Madeleine und schob sie aus dem Zimmer. Dann, wie jeder und immer, versuchte er mit Hilfe von Logik das Buch des Lebens zum Erzählen zu bringen. Nie hatte Logik eine Erzählung hervorgebracht, jedenfalls keine lesenswerte. So war es auch diesmal.
Madeleine kam zurück ins Zimmer, dann folgte Zander, der nach Bier und Geschlechtsverkehr roch, weil er gerade seine dritte Bierdose aufgerissen und entschieden hatte, dass er genauso gut heute Abend duschen könnte. Madeleine versuchte, Harry Hancock Hurricane zu überreden, das Buch des Lebens zurückzutragen und Zander zu überzeugen, auch er müsse Harry Hancock Hurricane erklären, dass er ein nutzloses Gerät gekauft hatte.
Aber Harry Hancock Hurricane weigerte sich, weil er ahnte, nein er wusste es, dass es ein Fehler sein würde, Das Buch des Lebens wieder herzugeben wegen lächerlicher neunzehn Euro, und dass er irgendwann erfahren würde, wie groß dieser Fehler gewesen war.
In dem Moment, als alle drei sich gegenseitig ansahen statt den gelben Cursor, der auf blauem Grund blinkte, begann das Buch des Lebens den Anfang der Geschichte von Harry Hancock Hurricane, Zander, Jackson Jackson, Siegfried und Madeleine zu schreiben, die Siegfrieds Schwester war.

Madeleine und Harry Hancock Hurricane waren fertig mit dem Lesen. Zander hatte noch ein paar Sätze vor sich.
„Okay, Michael, das war ein guter Trick, aber eine beschissene Story“, sagte Madeleine.
„Nenn mich nicht Michael“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Wenn du willst, nenn mich einfach Zander“, sagte Zander und klatschte Harry Hancock Hurricane seine flache Hand auf die Schulter, die etwa so groß war wie der Schirm einer Schirmmütze samt der Mütze und bis auf eine Abweichung von wenigen Zehntel Gramm so viel wog wie das Branchentelefonbuch von Frankfurt an der Oder im Jahr 1999 gewogen hatte.
„Scheiße Mann, bin ich dein Sandsack?“, fragte Harry Hancock Hurricane, und das war keine Frage.
„Alles klar, Harry Hancock Hurricane, ich nenne dich nicht mehr Michael, wenn du uns aufklärst“, sagte Madeleine, „wo ist der Trick?“. Und das war ganz gegen Madeleines Gewohnheit nicht nur eine Anweisung, sondern tatsächlich auch eine Frage.
„Es gibt keinen Trick“, sagte Harry Hancock Hurricane, „ich habe für lächerlich neunzehn Euro das unglaublichste Ding gekauft, das ihr je gesehen habt. Das Ding kombiniert offensichtlich ein Spracherkennungsmodul mit irgendeinem Schreibprogramm, so dass aus dem, was wir sagen, eine halbwegs schlüssige Geschichte entsteht. Ist ganz offensichtlich kein veralteteter PC, sondern einer, der so neu ist, dass nichtmal ich ihn kenne.“
„Das ist nicht möglich“, sagte Madeleine, „Zander, wie viel Bier hast du heute getrunken?“
„Drei“, sagte Zander.
„Und woher soll die Kiste das wissen, Michael?“, fragte Madeleine.
„Dass du ne Lesbe bist, weiß sie anscheinend auch“, sagte Zander.
„Halt die Klappe“, sagte Madeleine.
„Und woher, liebste Sieglinde, soll ich wissen, wie viel Bier Zander heute schon getrunken hat?“, fragte Harry Hancock Hurricane.
„Es ist kurz nach halb drei an einem Samstag, da sind drei Bier bei Zander eine bombensichere Schätzung“, sagte Madeleine.
Zander hob seine Bierdose, sah sie an, als sähe er zum erstenmal in seinem Leben eine Bierdose und grinste, als wäre sie eine Jenny oder Jane.
„Dann mal andersrum“, sagte Harry Hancock Hurricane, „woher soll ich wissen, wie die Frau in Zanders Zimmer hieß. Gute Titten übrigens, Zander, Kompliment. Wie heißt sie?“
„Jenny oder Jane oder so ähnlich“, sagte Zander.
„Oder Susi oder Sonja oder so ähnlich“, sagte Madeleine.
„Ne, ne, war ne Amerikanerin“, sagte Zander.
„Harry Hancock Hurricane“, gurrte Madeleine, „sag’s mir, wie du das angestellt hast, dann können wir rüber ins Roma, und ich zahl dir sogar noch deine ersten zwei Bier”.
Harry Hancock Hurricane starrte auf den gelben Cursor, der auf seinem blauen Grund blinkte.
„Ich hab’ gar nichts angestellt, ich sag, doch, Spracherkennung plus irgendein sich selbst generierendes Schreibprogramm, in der Web-Community entstehen die irrsten Dinger, kannst du dir gar nicht vorstellen.“
„Nein, kann ich nicht“, sagte Madeleine, „ich weiß aber, dass selbst die allerirrsten Dinger keine Gedanken lesen können. Und das müsste dieses Ding können, um diese Geschichte zu schreiben. Also warst es du, alles andere ist komplett unlogisch.“
„Zander, gib mir mal ‚nen Schluck Bier“, sagte Harry Hancok Hurricane.
„Ist leer“, sagte Zander.
„Überraschung“, sagte Madeleine.
Zander ging in die Knie und suchte nach versteckten Kabeln oder Tasten am Buch des Lebens, fand aber keine. „Er muss es irgendwie mit Infrarot gedreht haben oder mit Bluetooth“, sagte er.
„Ich hab’ nichts gedreht, verdammt noch mal“, sagte Harry Hancock Hurricane, „ihr seid doch selbst daneben gestanden und habt es gesehen. Erst war da gar nichts, dann war da die ganze Geschichte.“
„Lösch den Mist“, sagte Madeleine.
„Wie denn, Expertin“, sagte Harry Hancock Hurricane, „du bist es doch, die mir seit zwei Stunden erzählt, dass dem Ding die Tastatur fehlt.“
„Mir reicht’s jetzt“, sagte Madeleine, bückte sich und zog den Stecker aus der Dose.
Auf dem Bildschirm des Buchs des Lebens blinkte der gelbe Cursor auf blauem Grund.
„Es hat sogar ‚nen Akku“, sagte Zander, „schade, dass die Tastatur fehlt.“
„Die fehlt nicht. Irgendwie hat er es geschafft, eine anzuschließen. Und jetzt genießt er seinen kleinen Zaubertrick. Ich geb’s ja gern zu, Harry Hancock Hurricane, für neunzehn Euro war das ein Super-Schnäppchen. Jetzt sag’ uns, wie du das hinbekommen hast. Bittebittebitte“, sagte Madeleine, verschränkte ihre Arme hinter dem Rücken und ließ die Brüste unter ihrer roten Bluse neben Harry Hancock Hurricanes rechtem Ohr schaukeln.
„Unter den Umständen würd’ ich’s verraten“, sagte Zander.
„Schöne Bluse“, sagte Harry Hancock Hurricane.
Zander hatte einen Gedanken, der so logisch war, dass ihm schien, der Gedanke hätte von Jackson Jackson sein können: „Okay, Mann, wenn es Spracherkennung ist, warum schreibt es jetzt nichts?“, sagte er und hielt Harry Hancock Hurricane seine leere Bierdose vors Gesicht, als könne er auf ihrem Boden Harry Hancock Hurricanes Gedanken lesen, wenn er sie nur im richtigen Winkel hielte. Als der Versuch misslang, zerknautschte er sie und warf sie aufs Bett.
Harry Hancock Hurricane starrte noch immer auf den gelben Cursor, der auf seinem blauen Grund blinkte. „Ich muss zur Arbeit“, sagte Zander. „Ich geh’ ins Roma, Tittengucken“, sagte Madeleine, „Jackson und Martin hängen da garantiert auch schon rum“. Sie war die einzige, die Jackson Jackson nicht Jackson Jackson nannte und ihren Bruder nicht Siegfried.

***

Jackson Jackson trug seine verspiegelte Sonnenbrille und hielt seit anderthalb Stunden seinen kahl rasierten Schädel in die Sonne, als müsse er dringend seinen Teint nachdunkeln. Siegfried hatte auf der anderen Seite des Tisches schon dreimal seinen Stuhl verrücken müssen, um dem Schatten zu folgen, den der Baum neben der Terrasse des Roma warf.
Sofern Jackson Jacksons Statistik in diesem Punkt korrekt war – und das war sie, weil Jackson Jacksons Statistiken in allen Punkten korrekt waren – hatte Siegfried ihm zum neunundvierzigsten Mal innerhalb der sechs Jahre, die sie sich kannten, erzählt, er solle nicht glauben, dass Schwarze gegen Hautkrebs immun wären.
Jackson Jackson hatte seine verspiegelte Sonnenbrille auf die Nasenspitze heruntergeschoben, Siegfried über den Tisch hinweg in die Augen gesehen und gesagt: „Neunundvierzig“. Er hatte die Sonnenbrille wieder nach oben geschoben, den rechten Fuß auf das linke Knie gelegt, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und zur Ergötzung der weiblichen Kundschaft des Roma seinen Bizeps spielen lassen.
Was bei der weiblichen Kundschaft des Roma allerdings unbemerkt blieb, weil genau in diesem Moment ein in Levanto allseits bekannter Gebrauchtwagenhändler aus Genua sich an den letzten freien Tisch am Rand der Terrasse setzte, von dem jeder außer einiger Versicherungsangestellten und Vertriebspraktikantinnen aus Deutschland wusste, dass er sich als Werbefilmregisseur ausgab.
Das allgemeine Gespräch darüber, dass die Frau, die sich neben ihn setzte, eindeutig eine Deutsche war, endete mit der Feststellung, dass die italienische Frau der deutschen an Intelligenz ebenso weit überlegen war wie an Aussehen, weil es immer mit dieser Feststellung endete. Diese Feststellung regelmäßig zu erneuern, war wichtiger als Jackson Jackson regelmäßig bei seinem Spiel mit seinem Bizeps zu beobachten.
Alle, die in dieser Minute Jackson Jackson nicht beachteten, würden in sieben Minuten und neunzehn Sekunden wissen, dass die Frau neben Giovanni Susanne heißt, und etwa morgen um dieselbe Zeit, dass sie zweiuunddreißig ist, Versicherungsangestellte, Köln am Rhein.
„Oberlehrer“, sagte Siegfried.
„Vierzehn heute, dreiundvierzig die Woche, zweihundertzwölf die Saison“, sagte Jackson Jackson.
Auf der anderen Seite der Straße, die in der Hochsaison für den Verkehr gesperrt sein würde, obwohl ohnehin kaum jemand auf ihr fuhr, stand ein Ehepaar vor dem Eingang des Roma. Beide trugen knielange Khakihosen. Ihre Füße schwitzten in Wanderstiefeln.
Der Mann deutete mit einem Reiseführer auf das Gebäude am anderen Rand des Platzes, dessen Säulen schwer an seiner historischen Architektur zu tragen hatten. Die Frau sah ins Roma hinein um festzustellen, dass bei diesem Wetter jeder auf der Terrasse sitzt, niemand im Roma selbst.
Durch ihr Gehirn zuckten deprimierende Impulse, die erzeugt worden waren von den Wörtern: Ozonloch, Klimawandel, Kyoto-Protokoll, Hautkrebs und verstärkt worden waren vom Vergleich des Bizeps dieses jungen Schwarzen dort drüben am Tisch mit dem ihres Mannes, der Religion unterrichtete und deutsch, ursprünglich hatte Architektur studieren wollen, in der Volkshochschule derzeit den Kurs Grammatika italiana belegte, parto tre, und seine guten Seiten hatte.
Sie stand vornübergebeugt, obwohl die Gurte ihres Rucksacks, Leinen, grob, naturgefärbt, der Logik gehorchend ihre Schultern hätten straffen müssen. Aber was gehorchte schon der Logik? So sah sie aus, als müssten ihre Schultern statt des Rucksacks die gesamte historische Architektur des Hauses schräg gegenüber tragen, auf das ihr Mann mit seinem Reiseführer deutete, zuzüglich aller Leiden aller Menschen, die in dem Haus lebten.
Das Haus war ein Altenheim, dessen zweihundertsiebzehn Bewohner gegen ihre Leiden, vor allem zur Abwehr womöglich drohender künftiger Leiden, heute bisher einundsiebzig Liter Rotwein konsumiert hatten.
Im Gespräch über die Überlegenheit der italienischen Frau gegenüber der deutschen verlagerte sich das Gewicht in Richtung Frisuren, Mode, Körperhaltung, allgemeine Stilfragen.
„Vierzehn war vorhin schon“, sagte Siegfried.
„Korrektur aufgrund kaum anfechtbarer Indizien für einen Irrtum“, sagte Jackson Jackson, „das Buch vorhin war kein Reiseführer, sondern ein Sprachführer. Oberlehrer sprechen Italienisch.“
Siegfried verschränkte die Hände hinter dem Kopf, legte den rechten Fuß auf sein linkes Knie und versuchte, Jackson Jacksons Körperhaltung zu imitieren, was ihm aus physikalischen Gründen misslang. Die Gewichte in seinem Körper waren gänzlich anders verteilt als die in Jackson Jacksons. Siegfried streckte die Beine aus, rutschte mit seinem Hintern bis zur Kante der Sitzfläche vor, legte eine Hand auf den Tisch, die andere auf seinen Bauch.
Die neue Aushilfskellnerin für die beginnende Saison kam, Chiara, und sagte Siegfried, sie müsse hier arbeiten, nicht herumstolpern. Seine Beine seien im Weg.
Siegfried zog seine Füße unter seinen Stuhl, drohte mit seinem Hintern von der Sitzfläche zu rutschen, hielt sich an den Armlehnen fest, sortierte die Gewichte seines Körpers neu und fand, vornübergebeugt sitzend, die Ellbogen auf den Armlehnen, seine Bestimmung.
Jackson Jackson bestellte sich einen weiteren Wodka lemon und Siegfried una piccola chiara, ein kleines Bier. Chiara freute sich, als habe sie eine Gehaltserhöhung versprochen bekommen, und ging zurück an die Theke des Roma, um ihr Tablett zu putzen und darüber zu vergessen, was Jackson Jackson bestellt hatte. Chiara putzte ihr Tablett immer, wenn sie zurückging an die Theke des Roma und vergaß darüber immer, was egal wer bestellt hatte. Wer bekommen wollte, was er bestellte, musste selbst an die Theke gehen oder bei Gianna bestellen, der Kellnerin, die auch außerhalb der Saison arbeitete.
Für die meisten Oberlehrer war dieses System zu verwirrend, so dass sie Jackson Jacksons Statistik gemäß nach einer durchschnittlichen Wartezeit von dreizehn Minuten und zwölf Sekunden das Lokal wechselten, wenn sie bei Chiara bestellt hatten.
Gianna kam vorbei. Jackson Jackson bestellte eine Wodka lemon. „Warum hast du mir kein Bier bestellt?“, fragte Siegfried.
„Hab ich doch schon bei Chiara“, sagte Jackson Jackson. Siegfried ging an die Theke, um sich ein Bier zu bestellen. Als er zurückkam, saß Madeleine auf seinem Stuhl im Schatten des Baumes und beobachtete Chiara auf dem Weg zu einem neuen Kunden, dem sie kein Getränk servieren würde.
„Die ist nicht übel, optisch“, sagte Madeleine.
„Kannst du singen“, sagte Jackson Jackson, und es war keine Frage.
„Klar kann ich singen, ich bin eure Sängerin“, antwortete Madeleine.
Madeleine bestellte bei Gianna einen Weißwein. Siegfried stellte sein Bier ab und ging hinüber zum Tisch, an dem Giovanni saß mit der Frau, von der in einer Minute und neunundzwanzig Sekunden alle wissen würden, dass sie Susanne heißt und morgen um dieselbe Zeit, dass sie zweiunddreißig ist, Versicherungsangestellte, Köln am Rhein.
Giovanni sagte zu Siegfried nein, er brauche den Stuhl für sein Handtuch und Susannes Strandtasche. Siegfried ging über die Straße ins Roma hinein, weil auf der Terrasse kein anderer Stuhl mehr frei war. Er stellte seinen neuen Stuhl, der unbequemer war und keine Armlehnen hatte, neben Madeleine in den Halbschatten.
„Sie heißt Susanne“, sagte er.
„Was war?“, fragte Jackson Jackson.
„Giovanni wollte seinen Stuhl nicht hergeben, weil er ihn für sein Handtuch braucht und Susannes Strandtasche“, sagte Siegfried.
„Ciao Giovanni, ciao Susanne“, rief Jackson Jackson, winkte zu Giovanni hinüber und vergaß nicht, für Susanne seinen Bizeps spielen zu lassen.
„Was war im Haus, meinte ich natürlich“, sagte Jackson Jackson.
„Michael hat sich einen Computer gekauft, von dem ich keine Ahnung habe, wie er funktioniert“, sagte Madeleine.
„Verdammter Hurricane, noch ein Ding, das Diesel säuft“, sagte Jackson Jackson.
„Wie kann man nicht verstehen, wie ein Computer funktioniert?“, fragte Siegfried.
„Dem fehlt die Tastatur, aber Michael hat es trotzdem irgendwie geschafft, eine ganze Kurzgeschichte in das Ding zu tippen“, sagte Madeleine.
„Was macht er jetzt?“, fragte Jackson Jackson.
„Freut sich, dass ich nicht weiß, wie er das hingekriegt hat“, sagte Madeleine.
„Woher hat er eigentlich das Geld für einen Computer?“, fragte Siegfried.
„War vom Flohmarkt, hat nur neunzehn Euro gekostet“, sagte Madeleine, „drei Euro siebzehn hab ich ihm leihen müssen, die hat er sich von Zander wieder geliehen, damit er sie mir zurückzahlen kann“.
„Nur Hurricane kauft einen Computer auf dem Flohmarkt“, sagte Jackson Jackson.
Chiara kam vorbei. „Ciao Chiara“, sagte Madeleine, „mi porta un vino bianco?“
„Subito“, sagte Chiara und trug ihr Tablett an die Theke. Jackson Jackson grinste und spielte mit seinem Bizeps. Siegfried rutschte seinen Stuhl näher an seine Schwester heran, weil der Schatten des Baumes ihn allein gelassen hatte. „Macht es dir etwas aus, ein Stück zu rutschen?“, fragte Siegfried.
„Ja“, sagte Madeleine.
Chiara kam ohne ihr Tablett mit einem Glas Weißwein. „Prego“, sagte sie und lächelte.
„Scheiße, ich spiel mit meinem Bizeps, bis ich Muskelkater bekomme und Blondie ist ne Lesbe“, sagte Jackson Jackson.
„Hättest du mich gefragt, hättest du deinen Bizeps entspannen können“, sagte Madeleine.
„Würdest du bitte ein Stück rutschen, damit ich im Schatten sitzen kann?“, fragte Siegfried.
„Klar, Bruder“, sagte Madeleine und rückte ihren Stuhl in die Sonne, „aber kein Wort von Hautkrebs“.
Exakt in dem Moment, in dem Madeleines Stuhlbeine über das Holz der gezimmerten Terrasse des Roma schrammten, häuften sich rund um den Globus eine Reihe von befremdlichen und höchst bemerkenswerten Ereignissen.
Zum Beispiel: Gianna dachte daran, dass es Zeit wäre zu heiraten, weil sie so langsam alt wurde. Auf ihrem Tablett stand noch ein Glas Weißwein, und zum ersten Mal in ihrem Kellnerinnenleben erinnerte sie sich nicht, wer es bestellt hatte. Sie zuckte mit den Schultern, ging hinein an die Bar des Roma, wollte den Wein wegkippen und trank ihn stattdessen auf einen Zug, weil sie hinausgesehen hatte, ausgerechnet an den Tisch, an dem Susanne mit Giovanni saß.
Zum anderen Beispiel: Der Leiter der Vertriebsabteilung, Hark Schulz-Harkens, dessen Aufgabe es war, die Verkaufszahlen des Buchs des Lebens zu erhöhen, entschied sich bei einem Glas alkoholfreiem Caipirinha, die Arbeitsgruppe aufzulösen, die den Zusammenhang zwischen den Verkaufszahlen und der Haarfarbe der Kunden klären sollte.
Was außerdem geschah, aber weder befremdlich noch bemerkenswert war: Jennifer, von der Zander nicht mehr wusste, ob sie Jane oder Jenny heißt, beendete ihre noch junge Liebesbeziehung zu Zander mittels einer Ohrfeige, deren Kraft Zander überraschte und die ihn unglücklicherweise überwiegend an der Unterlippe traf, was schmerzte und eine Schwellung verursachte. Jennifer hatte beobachtet, wie Zander eine Touristin, die vorgab Bogenschießen lernen zu wollen, deren Name nichts zur Sache tut, deren Körperformen allerdings bemerkenswert waren, an mehreren Stellen dieser Körperformen berührte, die für das Bogenschießen gänzlich unbrauchbar waren.
Außerdem: Hörte Harry Hancock Hurricane auf zu rätseln, wie zum Geier er dieses grüne Ding mit dem Erdballvulkan ausschalten soll, wenn es sich nicht einmal ausschalten ließ, indem man ihm den Stecker rauszieht. Er entschied, zu den anderen ins Roma zu gehen.
Bis dahin hatte sich das Buch des Lebens geweigert, dem Anfang seiner Geschichte von Harry Hancock Hurricane, Siegfried, Jackson Jackson, Zander und Madeleine auch nur ein einziges Wort hinzuzufügen. Als Harry Hancock Hurricane „Scheiß drauf“, sagte, weil er nicht wusste, wohin er seinen Hausschlüssel gelegt hatte und darum die Tür unverschlossen ließ, setzte das Buch des Lebens einen rhetorischen Absatz und dann, einem um Aufmerksamkeit heischenden menschlichen Räuspern gleich, setzte es einen weiteren Absatz.
Dann setzte es ein ! und strich es wieder. Es setzte drei große, einleitende X, die so aussahen: XXX. Und strich sie wieder. Weil es entschied, auf keinen Fall affektiert wirken zu wollen, zog das Buch des Lebens auch seinen zweiten Absatz zurück. Es schrieb: Chiara ist eine Lesbe. Sie hat Madeleine auf Anhieb ihr zweites Glas Wein gebracht.
Es entschied, dass diese von reiner Zweckmäßigkeit diktierten Zeilen eines Autoren seiner Klasse unwürdig waren, strich sie wieder, setzte den zweiten Absatz erneut und schrieb: Als Chiara zum ersten Mal ihr Tablett an der Theke nicht putzte, sondern es abstellte, um für Madeleine ein Glas Weißwein einzuschenken, als sie dieses Glas Weißwein zu Madeleine trug, als sie dafür sogar ihr Tablett stehen ließ, als sie das Glas vor Madeleine abstellte und damit zum ersten Mal während ihrer Zeit als Aushilfskellnerin im Roma einem Gast das servierte, was er bestellt hatte, erschlaffte Jackson Jacksons Bizeps. Das Werben um eine homosexuelle Blondine hielt er für unnütz. Er erschlaffte allerdings nur für kurze Zeit.
Das Buch des Lebens versuchte es noch mit einem ! zur Bekräftigung, entschied sich dagegen, las die Zeilen nochmals und entschied, dass sie für seine Zwecke taugten, obschon es sie keineswegs für ungewöhnlich gelungen hielt. Aber: Pfeif drauf, dachte sich das Buch des Lebens. Um einige Stunden des Faulenzenz ordnungsgemäß einzuleiten, piepte es, bevor es seinen Bildschirm abschaltete.

***

Es war sehr, nein, es war sogar sehr, sehr, wenn es nicht sogar sehr, sehr, sehr selten war, dass das Buch des Lebens träumte. Es schlief gern, aber es litt unter einem leichten und unruhigen Schlaf, wie die medizinische Abteilung des Verlags der Bücher festgestellt und formuliert hatte, deren Aufgabe es war, das Buch des Lebens bei guter Gesundheit zu halten, damit die Vertriebsabteilung statistische Kurven über seinen Gesundheitszustand zeichnen lassen konnte, um sie zum Thema von Meetings zu machen.
Das Buch des Lebens hatte keineswegs den Eindruck, unter Schlafstörungen zu leiden. Es hatte grundsätzlich nicht den Eindruck, unter gleich was zu leiden (mit Ausnahme natürlich unter der Vertriebsabteilung, Versicherungsvertretern und einigen grundsätzlichen Fehlern in Gottes Bauplan für die Welt, wie beispielsweise der Tatsache, dass es nur wenige Stellen auf dem Globus gab, an denen das ganze Jahr über der Sommer herrschte oder auch der Sturheit und Unbelehrbarkeit seiner Mitmenschen, etlicher seiner Mitbücher und natürlich der grenzenlosen Dummheit der Partyzelte und Oberlehrer).
Die medizinische Abteilung hatte die Schlafstörungen des Buchs des Lebens als altersbedingt normal und damit unbedenklich eingestuft. Seine Haltung der Vertriebsabteilung und Versicherungsvertretern gegenüber, außerdem gegenüber Partyzelten, der Menschheit, etlicher seiner Mitbücher, der Logik und Gott hatte die medizinische Abteilung als Altersstarrsinn und bedenklich eingestuft.
Das Buch des Lebens war sehr alt, wie alt wusste niemand exakt, und das Buch des Lebens konnte sich nicht mehr an sein Geburtsdatum erinnern. Der Versuch, sein exaktes Alter anhand einiger Gewebeproben zu bestimmen, die das Buch des Lebens sich widerwillig hatte entnehmen lassen, scheiterte, weil das Buch des Lebens die aus radiologischer Sicht lästige Angewohnheit hatte, ständig das Gewebe zu verändern, aus dem es bestand.
Mal war es aus Kunststoff, mal aus Papier, mal aus menschlichem Gewebe. Ungeachtet dessen waren die Experimente kein gänzlicher Fehlschlag. Sie hatten ergeben, dass das Buch des Lebens in jedem Fall schon alt, sogar sehr alt, vielleicht sogar schon sehr, sehr alt gewesen war, als Gutenberg der Gedanke kam, er könne doch den Buchdruck erfinden.
Die Vertriebsabteilung bereitete zu jener Zeit, als das Buch des Lebens auf Harry Hancock Hurricanes Bett döste, eine Serie von Meetings vor, deren Ergebnis eine Verbesserung der Einstellung des Buchs des Lebens gegenüber der Vertriebsabteilung sein sollte.
Das Buch des Lebens hatte erklärt, seine Einstellung gegenüber der Vertriebsabteilung werde sich augenblicklich und dauerhaft verbessern, sobald die Vertriebsabteilung sich auflöse. Das Buch des Lebens neigte dazu, Probleme zu vereinfachen, was die medizinische Abteilung in einer psychologischen Testreihe bewiesen hatte, in der das Buch des Lebens sämtliche an es gestellten Fragen mit einer Lüge beantwortet hatte.
Das Buch des Lebens neigte, wie schon erwähnt, nicht dazu, zu träumen, weil es sehr, nein, sehr, sehr, vielleicht sogar sehr, sehr, sehr selten den Zustand des Tiefschlafs erreichte. Damit es den Zustand des Tiefschlafs erreichte, mussten sich rund um den Globus eine Reihe höchst bemerkenswerter Ereignisse häufen, die erwiesenermaßen sehr, sehr, sehr selten ausgelöst wurden, beispielsweise vom Geräusch des Scharrens von Stuhlbeinen auf einer gezimmerten Restaurantterrasse.
So kam es, dass das Buch des Lebens, nachdem es ordnungsgemäß einleitend gepiept hatte, auf Harry Hancock Hurricanes Bett in der Dunkelheit seines Bildschirms nahezu übergangslos von einem leichten Dösen in den Zustand des Tiefschlafs glitt.
Diese Tatsache wäre für die Geschichte von Madeleine, Zander, Jackson Jackson, Siegfried und Harry Hancock Hurricane ohne jede Bedeutung gewesen. Wenn nicht: Das Buch des Lebens entschieden hätte, sich seine Träume protokollieren zu lassen. Es wollte sie, ihrer Seltenheit wegen, als Erinnerungsstücke sammeln.
Auch das wäre für die Geschichte von Siegfried, Zander, Jackson Jackson, Harry Hancock Hurricane und Madeleine ohne jede Bedeutung gewesen. Wenn nicht: Das Buch des Lebens an diesem Nachmittag einen sehr, sehr, sehr, sehr unanständigen Traum gehabt hätte, in dem Madeleine die Hauptrolle spielte (die Zahl der sehr vor einem Unanständigen benutzte das Buch des Lebens gern als Maßstab für die Unanständigkeit eines Traums, indem es für jede beteiligte Person ein Sehr setzte).
Und auch das hätte keine Rolle gespielt. Wenn nicht: Das Buch des Lebens derart altersstarrsinnig gewesen wäre, dass es sich weigerte, seine Träume aus seinen Geschichten zu löschen, ganz gleich, wie viele sehr zu setzen es gezwungen war.
So sollte es geschehen, dass am Tag nach dem Traum des Buchs des Lebens Madeleine das Protokoll eines sehr, sehr, sehr, sehr unanständigen Traumes lesen würde, in dem sie die Hauptrolle spielte.
Das löste dreierlei aus. Erstens: einen ziemlichen Streit. Zweitens: dass vier Menschen gleichzeitig den gleichen sehr, sehr, sehr, sehr unanständigen Traum träumen würden. Drittens: eine ungewöhnliche Häufung einiger höchst bemerkenswerter Ereignisse rund um den Globus.
All dies begann, als Madeleine rief: „Scheiße, Michael, du hast einen Scheißporno geschrieben mit mir in der beschissenen Hauptrolle.“
Was Harry Hancock Hurricane allerdings nicht hören konnte, da er zu dieser Zeit unter der Dusche stand, vor allem aber versuchte, einigermaßen nüchtern zu werden. Er fühlte sich wie ein Bettlaken, das Schauplatz eines sehr, sehr, sehr, sehr unanständigen Traums gewesen, deswegen in die Wäscherei gebracht worden, gekocht, geschleudert und gemangelt worden war.
Die anderen allerdings hörten Madeleine rufen, kamen in Harry Hancocks Zimmer, zum Teil, weil Madeleine sogar eher geschrien als gerufen hatte, zum Teil, weil sie in ihrem Haus keinen Fernseher hatten und die Pornos vermissten.
Sie lasen das Protokoll des Traumes des Buchs des Lebens. In den darauf folgenden Minuten wäre es beinahe zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen Siegfried und Harry Hancock Hurricane gekommen, die Zander und Jackson Jackson aus rein wissenschaftlichem Interesse nicht verhindern wollten, aber in diesem Moment entschied das Buch des Lebens, einer etwas merkwürdigen Wohngemeinschaft mehr von sich zu erzählen, als es das üblicherweise nach einer so kurzen Bekanntschaft zu tun bereit war.
So verhinderte es eine Prügelei, die für beide Beteiligten ohne körperliche Folgen, für die Geschichte von Madeleine, Siegfried, Zander, Jackson Jackson und Harry Hancock Hurricane mit weit reichenden Folgen geendet hätte.
Allerdings dürfte die Zahl derjenigen, die einen Trip nach Norditalien planen und vielleicht einen Abstecher nach Levanto, höher sein als die Zahl derjenigen, die an den Kauf des Buchs des Lebens denken. Für den deutlich größeren Teil der Menschheit müsste es darum eher uninteressant sein zu erfahren, wie Harry Hancock Hurricane sich nicht mit Siegfried prügelte, aus Gründen der Planung einer angemessenen Urlaubskasse aber höchst interessant, wie, an welchen Orten, und vor allem zu welchen Preisen Harry Hancock Hurricane in einem Zustand kam, in dem er vor allem versuchte, wieder einigermaßen nüchtern zu werden.

***

Harry Hancock Hurricane war nicht Jackson Jackson. Die Kühle der Eisenbahntunnel hatte ihn nur soweit erfrischt, wie ein Glas Wasser, das man auf eine heiße Herdplatte gießt, die Herdplatte erfrischt. Er schwitzte und fühlte sich wie ein Pfund ranzige Butter, das jemand an der Strandpromenade in einen Abfalleimer geworfen hatte. Wäre jemand in der Nähe gewesen, der ehrlich genug war, hätte dieser Jemand ihm gesagt, dass er genau so roch. Harry Hancock Hurricane hatte bereits gestern und vorgestern entschieden, dass er genauso gut heute Abend duschen könnte.
Um etwas gegen sein Leiden zu unternehmen und weiterem Leiden vorzubeugen, bog er bei Nadia von der Strandpromenade ab. Nadia war die Frau, der die Bar auf dem einzigen offiziellen Strandabschnitt gehörte, auf dem Touristen auch in der Hochsaison nicht gezwungen waren, einen Sonnenschirm und einen Liegestuhl zu mieten, sondern sich auf ihr eigenes Handtuch legen konnten und ihren eigenen Sonnenschirm mitbringen.
Die Rückseite der Bar schmiegte sich gemütlich an die Mauer, die sechs Meter hoch aus dem Rand des Strandes herauswuchs. Auf der Vorderseite stand die Bar auf Pfählen im Sand, weil das Meer sie sonst in den Stürmen des Winters überfluten und mitnehmen würde, um sie auf seinen Wellen hüpfen zu lassen, weil es Nadias Bar mit einem Hausboot verwechseln würde.
Wenn das Meer seinen Irrtum bemerken und feststellen würde, dass dieses Hausboot keinen Kiel hat und undicht ist, wäre es zu spät. Nadias Bar würde kentern und sinken, und das Meer müsste sich ein neues Hausboot suchen, um es auf seinen Wellen hüpfen zu lassen. Aber um genau das zu verhindern, stand die Bar ja auf Pfosten.
„Ciao Nadia“, sagte Harry Hancock Hurricane. „Ciao öry enco“, sagte Nadia. Einer der Gründe, aus denen so gut wie niemand ihn Harry Hancock Hurricane nannte, war die Abneigung der Italienier gegenüber Konsonanten. Dem H verweigerten sie sich gänzlich.
Harry Hancock Hurricane bestellte ein Beck’s, weil er bei Nadia immer ein Beck’s bestellte, und erwog, zumindest vorübergehend seinen Rufnamen zu ändern. Allerdings nur so lange, bis er wieder damit begann darüber nachzudenken, wie das grüne Ding funktioniert, von dem er noch nicht wusste, dass es Das Buch des Lebens hieß, an Altersstarrsinn litt und selbst seine Träume protokollierte.
„Es war, als hätte das Ding unsere Gedanken gelesen“, dachte Harry Hancock Hurricane. „Das ist unmöglich“, sagte Harry Hancock Hurricane zu sich selbst.
Diesen Satz missverstand Nadia auf eine Art, auf die man ihn nur missverstehen kann, wenn sich rund um den Globus eine Reihe höchst bemerkenswerter Ereignisse häufen und brachte ihm ein zweites Beck’s. Harry Hancock Hurricane dachte darüber nach, dass Nadia ihn eigentlich nicht derart missverstehen konnte, obwohl er das Italienische ähnlich schlecht aussprach wie Nadia seinen Namen.
Etwa acht Autostunden entfernt, träumte in einem unruhigen Mittagsschlaf eine Volkshochschullehrerin namens Henriette Koch, die in Leinfelden-Echterdingen bei Stuttgart Grammatika italiana, parte uno, unterrichtete, von Harry Hancock Hurricane. Obwohl sie ahnte, dass er zu viel trank, war Harry Hancock Hurricane genau der etwas jüngere Mann, nach dem Henriette Koch sich sehnte. Das mit dem Trinken würde sich schon richten lassen.
An Oberlehrer gewöhnt, suchte Henriette Koch einen Ehemann mit ein paar liebenswerten Unfähigkeiten, vor allem der liebenswerten Unfähigkeit, die Konsonanten zu schlucken und die Vokale zu singen. Insbesondere suchte sie einen Mann, der kein Oberlehrer war, weil Oberlehrer beim Versuch die Vokale zu singen jedes A zu einem AAAAHH dehnen würden, als hätte der Arzt ihnen einen Spatel in den Hals geschoben und ihnen gesagt, sie sollten AAAAHH sagen. Diese Angewohnheit ließ Henriette Koch viel an Krankheit und Siechtum denken.
Harry Hancock Hurricane ahnte nichts von Henriette Koch und Henriette Koch wusste nicht, wo sie Harry Hancock Hurricane finden könnte, obwohl sie ahnte, dass es ihn gab. Das Buch des Lebens wusste von beiden, aber es würde Harry Hancock Hurricane nichts von Henriette Koch verraten, weil es außerdem wusste, welchen Ursprung ihre Vorliebe für Männer mit möglichst liebenswerten Unfähigkeiten hatte.
In ihrem harten Kern unter einer angenehm weichen und sich gut anfühlenden Hülle sehnte sie sich nach einem Mann, der sich von ihr willenlos herumkommandieren ließe. Dies würde Hubert Heil aus Neuhausen, einem Dorf, das ausgiebig Fasching zu feiern gewohnt ist, einige Zeit später schmerzvoll erfahren.
Ihn würde Henriette Koch nächsten Fasching kennen lernen, in einem Zustand, in dem beide kaum noch fähig sein würden, ihre Konsonanten zu kontrollieren, und Henriette Koch würde ihn als ihren künftigen Ehemann akzeptieren, weil er der bestmögliche Kompromiss zu Harry Hancock Hurricane war.
Nach dem zweiten Beck’s war Harry Hancock Hurricane nicht mehr sicher, ob das grüne Ding womöglich doch Gedanken lesen kann. „Du hat das unglaublichste Ding in deinem Zimmer, das du je gesehen hast und redest darüber schon wie Madeleine“, sagte Harry Hancock Hurricane zu sich selbst, und Nadia brachte ihm ein drittes Beck’s.
Weil er das zweite Beck’s schon getrunken hatte, dachte Harry Hancock Hurricane nicht mehr darüber nach, wie Nadia ihn derart missverstehen konnte. Nach dem dritten Beck’s hielt er es für ziemlich wahrscheinlich, dass das grüne Ding Gedanken lesen kann und sagte zu Nadia, er wolle zahlen. Nadia sagte ihm, es sei schon in Ordnung, er könne beim nächsten Mal zahlen, was Harry Hancock Hurricane daran erinnerte, dass er kein Geld dabei hatte, eigentlich nicht kein Geld dabei hatte, sondern einfach gar kein Geld mehr hatte, nicht hier, nicht im Haus, nicht auf der Bank.
Ohne die drei Beck’s in seinem Blut, hätte Harry Hancock Hurricane darüber nachgedacht, dass es nicht an seinem Italienisch lag, dass Nadia ihn heute derart falsch verstand, sondern daran, dass sich rund um den Globus eine Reihe höchst merkwürdiger Ereignisse häuften.
Auf dem Weg zum Roma dachte er stattdessen darüber nach, worüber er nahezu ununterbrochen nachdachte, darüber, wie er schnell und möglichst ohne Anstrengung an Geld kommen könnte. Er kam zu keinem Ergebnis und fühlte sich wie ein kleiner Mann mit abstehenden Ohren, roten Haaren und einer randlosen Brille, der zu fettiger Haut neigt und zu Sonnenbrand, und den man von hinten für einen Schuljungen halten konnte.
Der Grund dafür war, dass an Tagen, an denen sich rund um den Globus eine Reihe höchst bemerkenswerter Ereignisse häufen, Menschen dazu neigen, sich selbst so zu sehen, wie andere sie sehen. Dies vor allem von hinten.
Harry Hancock Hurricane fühlte sich außerdem so, als röche er heute wie eine Packung ranzige Butter, die jemand in einen Abfalleimer an der Strandpromenade geworfen hatte.
Diesmal dachte Harry Hancock Hurricane nur so lange über Geld nach, bis er wieder damit begann darüber nachzudenken, wie das grüne Ding funktioniert. Dann begann er darüber nachzudenken, ob er mit dem grünen Ding soviel Geld verdienen könnte, dass er nie mehr in seinem Leben Geld verdienen müsste. Aber er war sich unsicher, weil er sich heute zu allem zu klein fühlte.
Madeleine, Siegfried, Jackson Jackson und Zander hatten im Roma zwei der runden Cocktailtische aneinander gestellt und sprachen an der Unendlichkeit ihrer selbst zusammengestellten Acht über die Frage der Unendlichkeit. Jackson Jackson referierte über die Theorie, dass mittels Fraktalen Unendlichkeit auf einem endlichen Raum entstehen könnte.
Zander trank ein Bier.
Siegfried versuchte, die Sonne zu meiden.
Harry Hancock Hurricane ging an den Tisch von Giovanni und Susanne, die mittlerweile auf Giovannis Schoß saß. Giovanni stellte – etwas umständlich, da von Susanne und vier keineswegs alkoholfreien Caipirinha behindert – Susannes Tasche auf den Boden und sortierte sein Handtuch darüber. „Prego“, sagte er.
Harry Hancock Hurricane balancierte seinen Stuhl über dem Kopf, hinüber zur Acht der Cocktailtische. Er fühlte sich dabei, als sähe er aus wie ein Schuljunge, der einen Stuhl über dem Kopf balanciert, weil Jackson Jackson ihm einen Euro versprochen hatte, wenn er ihm einen Stuhl bringt.
Zanders Unterlippe sah aus wie eine Sardine mit einem blauen Krebsgeschwür am Bauch, aber Harry Hancock Hurricane achtete nicht darauf, weil er Grundsätzliches zu klären hatte.
„Jackson Jackson, du musst mir Geld leihen“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Du riechst wie eine Packung ranzige Butter, die jemand in einen Abfalleimer an der Strandpromenade geworfen hat“, sagte Madeleine.
In Harry Hancock Hurricanes Unterbewusstsein erwachte ein Gedanke, der in einer Hängematte lag, aus einem leichten Schlummer. Der Gedanke entschied, drüben im Bewusstsein vorbeizusehen, was dort so los war, aber dort war ihm zuviel von Geld die Rede und er ging wieder zurück zu seiner Hängematte, um weiter zu dösen.
Gleichzeitig hatte Harry Hancock Hurricane das vage Gefühl, dass Madeleines Metapher ihm bekannt vorkam. Aber das Gefühl begann zu röcheln, kaum dass es begonnen hatte zu atmen, und verstarb, bevor es einen gesunden Gedanken zeugen konnte. Deswegen vergaß Harry Hancock Hurricane weiter über Madeleines Metapher nachzudenken.
Ein anderer Gedanke erwachte in seinem Unterbewusstsein und schaute im Bewusstsein vorbei. Es war Harry Hancock Hurricanes Gedanke daran, dass sich heute einige sehr bemerkenswerte Ereignisse in seinem Leben zu häufen schienen, ein weitläufiger Cousin des Gedankens, der hinten im Unterbewusstsein in seiner Hängematte döste.
Dem Gedanken gefiel der Trubel vorn im Bewusstsein, also setzte er sich dort auf einen Stuhl an einem Cocktailtisch, als habe er bei Chiara ein Bier bestellt und warte darauf, es serviert zu bekommen. Er zeugte das sichere Gefühl in Harry Hancock Hurricane, dass sich an diesem Tag in seinem Leben eine Reihe höchst bemerkensweter Ereignisse häufen.
Aber das Gefühl kam gegen das Geschrei der Überzahl der Sorgen über Geld nicht an. Also setzte es sich zu dem Gedanken, der es gezeugt hatte, um mit ihm auf Chiara zu warten und darauf, dass es etwas ruhiger würde und sie zu Wort kämen.
Zander erinnerte sich daran, dass er entschieden hatte, er könne genauso gut heute Abend duschen, hob einen Arm und schnuffelte unter seiner Achsel. „So schlimm ist es auch nicht“, sagte er.
„Fünfzig Euro bis zum achten Werktag des nächsten Monats, also Dienstag in drei Wochen“, sagte Jackson Jackson.
„Hey, Jackson Jackson, fünfzig Euro können heute Abend weg sein, wenn’s schlecht läuft“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Fünfundsiebzig“, sagte Jackson Jackson.
„Leute, es gibt sie wirklich, ich habe ein de´ja vue“, sagte Madeleine.
Harry Hancock Hurricane wollte hundert sagen, aber stattdessen sagte Siegfried „hey, Hancock, Jackson Jackson behauptet, dass es auf einem endlichen Raum Unendlichkeit geben kann“.
Harry Hancock Hurricane vergaß hundert zu sagen, weil er stattdessen sagte, „klar, theoretisch stimmt das schon, wenn man auf einer Oberfläche nur immer weitere Fraktale bildet. Aber das ist eine rein mathematische Theorie, naturwissenschaftlich lassen sich spätestens auf molekularer Ebene keine weiteren Fraktale mehr bilden, weil die Moleküle sonst in Atome zerfallen und sich zu anderen Molekülen vereinen würden. Das gäbe ein ziemliches Chaos, wenn man noch weiter runtergeht ein paar nette Kernspaltungen und Kernfusionen, und das wäre dann das Ende der Welt, wenn Jackson Jackson weiter rumspielt. Aber auch das ist reine Theorie. Weil die Stoffe schon eine fest gefügte Molekülstruktur haben, lassen sie es sich nicht gefallen, dass Jackson Jackson sie zu Fraktalen faltet. Und außerdem, was würde es nützen, irgendetwas mit einer unendlich großen Oberfläche auf einem im Grenzfall sogar unendlich kleinen Raum zu haben. Das Ding wäre so schwer, dass kein Kran der Welt es hochheben könnte“.
„Stimmt das?“, fragte Siegfried.
„Wenn man’s eng sieht“, sagte Jackson Jackson.
Chiara kam vorbei. Madeleine bestellte ein Glas Weißwein, einen Wodka lemon und drei Bier.
„Subito“, sagte Chiara, und ihr Tablett zeigte ihr den Weg an die Theke.
„Ich brauche ein Bier, wo ist Gianna?“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Bleib einfach sitzen, du wirst ein Wunder erleben“, sagte Zander.
In Harry Hancock Hurricanes Gehirn waren die Gedanken an Geld verblüfft und schwiegen. Nichts mehr war zu hören in seinem Gehirn außer den Stimmen des Gedankens und des Gefühls an dem Cocktailtisch hinten am Rand des Bewusstseins.
„Genau“, sagte Harry Hancock Hurricane, „ich habe das sichere Gefühl, dass mir heute ein paar höchst bemerkenswerte Dinge in meinem Leben passiert sind.“
„Bemerkenswert wäre, wenn du geduscht hättest“, sagte Madeleine.
Chiara kam, drei Bier, einen Wodka lemon und ein Glas Weißwein auf ihrem frisch geputzten Tablett.
„Jackson Jackson“, sagte Harry Hancock Hurricane, „hast du je von einem Computer gehört mit Spracherkennung und einem Schreibprogramm, das selbstständig zusammenhängende Geschichten generiert aus dem, was im Raum gesprochen wird?“.
„Völliger Quatsch“, sagte Jackson Jackson. Nur aus alter Gewohnheit ließ er seinen Bizeps zucken, als Chiara seinen Wodka lemon vor ihm abstellte, während sie Madeleine anlächelte.
„Dann wirst du ein Wunder erleben, wenn wir wieder zuhause sind“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Madeleine hat schon von deinem Schnäppchen erzählt“, sagte Jackson Jackson, „Computer für neunzehn Euro, alle Achtung“.
„Das ist kein Computer, das ist das unglaublichste Ding, das du je gesehen hast, das schreibt aus Sprachfetzen Geschichten, für die es eigentlich deine Gedanken lesen können müsste. Ich bin nicht mal sicher, ob es nicht wirklich Gedanken lesen kann“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Du kiffst zuviel“, sagte Jackson Jackson.
In genau diesem Augenblick erreichte ein höchst bemerkenswertes Ereignis Harry Hancock Hurricane. Er fühlte sich so sehr wie Jackson Jackson, dass er sogar das Schwitzen in der Abendsonne vergaß. „Ihr werdet es alle noch sehen“, sagte er und entschied, mit Jackson Jackson, Zander, Siegfried und Madeleine, vor allem mit Madeleine, nicht mehr über das grüne Ding zu sprechen, es sei denn, sie würden danach fragen.
Er wusste, dass er es endlich geschafft hatte: Er würde soviel Geld verdienen, dass er nie mehr würde Geld verdienen müssen.

***

„Geh’n wir zu Patrizia?“, fragte Zander, „ich hab’ Hunger“.
„Bestellen wir doch einfach ne Pizza“, sagte Jackson Jackson.
„Heute nicht im Roma“, sagte Zander, „ich bin gerade ein bisschen knapp“.
„Patrizia ist mir auch Recht“, sagte Harry Hancock Hurricane, „hab’ schließlich nur noch fünfundsiebzig Euro für den Rest des Monats“.
„Plus acht Werktage und ein Wochenende des nächsten“, sagte Jackson Jackson.
Aus diesem kleinen Dialog entnehmen Norditalientouristen bitte ihre erste Notiz für ihren Abstecher nach Levanto. Die Pizza im Roma auf dem zentralen Platz von Levanto ist zwar empfehlenswert, aber teuer. Das Roma empfiehlt sich vor allem für Reisende, die jedermann in Levanto mindestens einmal am Tag sehen, aber dafür nicht durch ganz Levanto laufen wollen. `
Sie sitzen hier bei einem (noch bezahlbaren) Glas Bier, Weißwein oder einem Kaffee richtig. Zwischen den späten Nachmittagsstunden und den frühen Abendstunden wird jeder, gleich ob Einheimischer oder Tourist, mindestens zweimal am Roma vorbeikommen. So gewinnen Sie einen Überblick, ohne sich bewegen zu müssen.
Falls Sie eine Pizza essen möchten oder Pasta, bezahlen Sie ihre Getränke. Achten sie darauf, ihre Rechnung nicht bei der bemerkenswert attraktiven Blondine mit dem Tablett zu bestellen, sondern bei ihrer eher unscheinbaren Kollegin mit der Brille.
Sollten sie schon ihre Getränke bei der bemerkenswert attraktiven Blondine mit dem Tablett bestellt haben statt bei ihrer unscheinbaren Kollegin mit der Brille, stehen sie einfach auf und gehen ohne zu bezahlen, was ihnen ohnehin nicht serviert wurde. Es sei denn, sie sind weiblich und homosexuell orientiert. Rucksacktouristen mit schmalem Budget, die im Roma sitzen möchten ohne etwas zu trinken, können sich den Umkehrschluss aus dieser Empfehlung ebenso gut als Spartipp notieren.
Sie gehen vom Roma aus etwa fünfzig Meter in Richtung Strand und biegen in die letzte Straße vor der Strandpromenade ein. Merken sie sich die Eisdiele, an der sie kurz darauf vorbeikommen, die am Rand des kleinen Platzes, über den sie durch einen Tunnel in der ehemaligen Kaimauer an den Strand kommen können (allerdings an einen der bezahlten Abschnitte).
Das Eis dort ist cremig-sahnig, von exzellentem Geschmack und genau der richtigen Süße. Dies ist zwar kein Spartipp, aber den einen Euro zwanzig pro Kugel allemal wert. Dies ist aber leider kein Geheimtipp, weshalb sie eine längere Wartezeit einkalkulieren sollten, wenn sie ihr Eis nach dem Abendessen kaufen möchten. Denn das tut jeder in Levanto, weil hier immer alle gleichzeitig das Gleiche tun.
Um sich nicht mit einem Eis vor dem Essen den Appetit zu verderben, gehen sie trotzdem weiter die Straße entlang und stellen sich wie alle anderen nach dem Essen in die Schlange. In der einladend eingerichteten Bar links werden ordentlich gemixte Cocktails serviert. Der Preis spielt für diejenigen, die in der Bar sitzen, keine Rolle, aber nur für sie. Rucksacktouristen sollten die Bar unbedingt meiden.
Sie gehen weiter, missachten dabei die Hotelrestaurants links und rechts der Straße. Gehen sie unbedingt auf der Straße, nicht auf dem Gehweg. Sie fallen sonst unangenehm auf.
Jeder in Levanto geht auf der Straße, nicht auf dem Gehweg, weil das zu gefährlich ist, seit im Jahr 1977 ein anderer Giovanni, nicht der Gebrauchtwagenhändler aus Genua, auf dem Gehweg von einem Piaggo-Dreirad angefahren wurde und unter beklagenswerten Kopfschmerzen an den Folgen einer Hirnblutung verstarb.
Vor 1977 war es auch auf den Straßen von Levanto gelegentlich zu beklagenswerten Unfällen gekommen, nach 1977 allerdings nicht mehr, weil kein Auto mehr schneller fahren kann als Schritttempo. Das Gehen auf dem Gehweg ist dagegen durchaus mit einem Risko verbunden, weil immer mehr Vespafahrer auf dem Gehweg fahren, wenn sie es eilig haben.
Nach diesem kleinen Exkurs in Fragen der Straßenverkehrssicherheit kommen sie am Schuhgeschäft vorbei und biegen gleich danach in den Eingang der Pizzeria ein, in der neben der Garderobe ein Aquarium steht.
Sollten Sie Raucher sein, gehen sie noch einmal drei Schritte rückwärts. Sehen sie nach links die Straße hinunter. Raucher, die nicht rückwärts gegangen sind, sondern gewendet haben, sehen bitte nach rechts die Straße hinunter, einfach in der ursprünglichen Richtung ihres Weges. Das Cafe´ dort hinten gehört einem Kriegsveteranen, der als einziger in Levanto die Erlaubnis hat, bis spät in die Nacht Zigaretten zu verkaufen. Sie können zwar auch in anderen Bars Zigaretten kaufen, dies aber nur, wenn man sie dort gut kennt und sicher ist, dass sie keinerlei Kontakte zur Guardia finanza hegen.
Gehen sie nun endgültig in die Pizzeria. Die Frau, die ihnen die Karte hinhält, heißt Patrizia. Wählen sie Pasta oder Pizza. Empfehlenswert sind die Spaghetti ai frutti di mare und die Pizza Calzone. Vermeiden sie Fleisch. Für ein ordentliches Steak zu einem halbwegs annehmbaren Preis müssten sie quer durchs ganze Dorf laufen, ins Restaurant gleich beim Bahnhof, in dem aber die Bedienung so vergesslich ist wie Chiara. Falls der Preis für ein Steak ihnen egal ist, gehen sie vom Cafe´ Centrale aus quer über den Platz und gleich rechts in der Gasse ins La Cave.
Trinken Sie bei Patrizia Wein, kein Bier, es sei denn, Sie trinken alles, was ähnlich aussieht wie Bier und schmeckt wie etwas, was ganz und gar nicht aussieht wie Bier.
Sollten Sie sich gegen diesen Rat für das Getränk entscheiden, das bei Patrizia vorgibt Bier zu sein, ist es interessant zu beobachten, wie in der öligen Flüssigkeit unbekannten Ursprungs mikroskopisch kleine Gasbläschen an die Oberfläche kriechen. Ihre Konversation wird diese Beobachtung kaum stören. Das Ereignis wiederholt sich nur alle ungefähr acht Minuten.
Bestellen Sie nach dem Essen einen Grappa und geben sie Patrizia ein anständiges Trinkgeld. Sie bekommen dann immer einen Grappa spendiert, wenn sie wiederkommen.
Nach dem Verlassen der Pizzeria wenden sie sich nach rechts, auch wenn Sie keine Zigaretten kaufen wollen. Nehmen Sie einen kleinen Umweg, um auf die Strandpromenade zu kommen. Um diese Uhrzeit schlendert abgesehen von den Oberlehrern jeder auf der Strandpromenade entlang, um das Angebot für einen Urlaubsflirt zu prüfen.
Verlassen Sie die Strandpromenade an der rückwärtigen Treppe und gehen Sie durch den Tunnel, um sich Ihr Eis zu kaufen (optional).
Ansonsten gehen Sie weiter, bis die Strandpromenade sich zum Cafe´ Central senkt. Bestellen Sie dort einen Kaffee. Sie bekommen einen Espresso.
Sofern sie männlich und heterosexuell orientiert sind, bestellen Sie auch dann keinen Cappuccino, wenn Sie keinen Espresso mögen. Bestellen Sie una piccola chiara. Falls Sie nach zwölf Uhr mittags einen Cappuccino bestellen, wird darüber spekuliert werden, ob Sie schwul sind. (Falls Sie nicht ohnehin mit einer hinreißenden Blondine unterwegs sind oder italienisch sprechen und darum verstehen, was über Sie gesprochen wird, achten Sie auf das Wort finocchio.)
Sehen Sie sich gelangweilt um, bis Sie jemanden finden, der Sie interessiert. Falls dieser Jemand ein Einheimischer ist oder eine Einheimische: Stellen Sie fest, dass kaum jemand hier mehr als ein paar Wörter englisch spricht. Stellen Sie weiter fest: Dass das keine Rolle spielt, weil so gut wie jeder hier so lange auf itanienisch auf Sie einschwatzt, bis Sie verstanden haben, was er meint. Machen Sie es einfach genauso, selbstverständlich nicht auf italienisch, sondern in Ihrer Sprache.
Zahlen Sie Ihr Getränk. Falls es Bier war, zucken Sie nicht. Bier ist teuer in Levanto, wie teuer, werden Sie später wissen, wenn Sie ihre Rechnung bei Steffi bezahlen.
Verlassen Sie das Cafe´ Centrale. Das Roma ist in Sichtweite. Setzen Sie sich wieder dorthin, um zu sehen, wer sonst noch so unterwegs ist. Stellen Sie fest, dass das jeder ist und die gleichen wie heute Nachmittag. Aber wesentlich stilvoller gekleidet. Notieren Sie sich bitte: Wenn Sie dazugehören wollen, ziehen Sie sich um, nachdem Sie das Roma zum ersten Mal verlassen haben und bevor Sie zu Patrizia gehen.
Bestellen Sie zum Spaß bei Chiara, gehen Sie dann an die Bar, um sich Ihr Getränk zu holen. So machen es um diese Uhrzeit alle, weil es abends wichtiger ist schnell weiter zu kommen als am Tag.
Stellen Sie fest, dass die Abende im Frühsommer in Norditalien kühl werden, insbesondere in der Gegend von Levanto, wo das Hinterland gebirgig ist und der größte Teil der Küste aus Klippen besteht. Ärgern Sie sich nicht, dass Sie keine Jacke oder keinen Pullover dabei haben, Sie wollen sowieso schnell weiter.
Verlassen Sie das Roma und gehen sie zurück zum Cafe´ Centrale (optional und nur an Freitagen und Samstagen oder falls Sie gern Bingo spielen und Rentner mögen). An Freitagen und Samstagen wird das Stockwerk über dem Cafe´ Centrale zur Diskothek. Der Eintritt ist angesichts der Bierpreise keinen Gedanken wert.
Begrüßen Sie Patrizia, um Ihre Runde Grappa abzusichern. Patrizia ist freitags und samstags nach Feierabend immer hier. Bestellen Sie an der Bar. Stellen Sie fest, dass es Ihnen hier drin zu heiß ist und zu laut, um sich zu unterhalten, und dass sowieso alle weiter wollen.
Falls es ein Wochentag ist: An Wochentagen spielen die Bewohner des gegenüber liegenden Altenheims mit seiner Oberlehrer beeindruckenden Architektur hier Bingo. Stellen Sie fest, dass Sie Rentner doch nicht so sehr mögen, wie Sie dachten. Jedenfalls, wenn die Rentner Bingo spielen.
Verlassen Sie das Cafe´ Centrale in Richtung Roma. Erinnern Sie sich beim Roma, dass ihnen vorhin zu kalt war, damit Sie sich nicht aus Gewohnheit setzen. Gehen Sie einfach die Straße weiter. Ignorieren Sie das letzte Cafe´ rechterhand am Rand des Platzes, es sei denn, Sie wollen ein Fußballspiel der Seria A im Fernseher sehen.
Falls nicht, gehen Sie weitere vierzig Meter geradeaus und biegen rechts ab in die Birreria Gambrinus.
Falls Ivan hinter der Bar steht: Erschrecken Sie nicht. Er ist vollkommen harmlos. Falls Sie nicht wie alle anderen noch immer weiter wollen, haben Sie hier ihre Heimat für den Abend gefunden. Vergessen Sie das Gefühl, an der Bar etwas zu verpassen, was irgendwo sonst passiert. Irgendwann im Verlauf der Nacht wird hier jeder vorbeikommen, der gerade oder dauerhaft in Levanto ist. Und er wird erzählen, falls egal was irgendwo sonst passiert.
Bestellen Sie eine der Biermarken aus aller Welt, entweder eine, die Sie besonders gern trinken oder nur zum Spaß eine, die Sie noch nie getrunken haben. Aber denken sie daran: Exotisches Bier ist noch teurer in Levanto. Notieren Sie jetzt bitte den Spartipp, dass Sie am billigsten mit einer Serie von media Chiara wegkommen. Geschmacklich empfehlenswerter und auf den Preis für den gesamten Abend gesehen nur unwesentlich teurer ist eine Serie von media Rossa.
Sofern Sie Marihuana rauchen, denken sie daran, dass es egal ist, dass Sie kein Italienisch sprechen und weder Ivan, noch Steffi, noch ihre Tante Bruna mehr als ein paar Wörter englisch.
Kommen Sie in ein Gespräch, das überwiegend aus amüsanten Missverständnissen bestehen wird. Machen sie irgendwie Ivan klar, er soll ihnen Antonello vorstellen, wenn der die Bar betritt. Antonello spricht leidlich englisch. Kaufen Sie von ihm ihr Marihuana.
Stellen Sie fest, dass ihr media Rossa gewaltig in den Kopf geht und Sie jetzt auf keinen Fall mehr weiterwollen. Nehmen Sie sich vor, dass Sie morgen durch die beiden aufgegebenen Eisenbahntunnel, am inoffiziellen FKK-Strand vorbei, über die brüchige Mauer hinweg und danach rechts den Weg hinauf gehen werden, weil Sie sehen wollen, wo diese Geschichte begann.
Schärfen Sie sich ein, dass Madeleine, Jackson Jackson, Zander, Harry Hancock Hurricane und sogar Siegfried diesen Weg heute Nacht noch gehen werden, so dass das für Sie kein Problem sein kann, egal wie verkatert Sie morgen sein werden.
Bestellen Sie ein weiteres media Rossa. Danach lernen Sie Ulf kennen, der seinen Urlaub hinten unter der Brücke bei der Bar mit der Lizenz zum Tabakverkauf verbringt.
Lernen Sie die chilenischen Zwillinge kennen, die reizend klein sind und gleich neben dem Roma ihr Restaurant betreiben, das frisch Verliebte bevorzugen, sofern das La Cave ihnen zu teuer ist.
Lernen Sie den Oberlehrer kennen, der Ihnen erzählt, er habe sich entschieden, seine Frau zu verlassen und nach Norditalien auszuwandern, allein schon wegen der Architektur.
Lernen Sie den Mann kennen, der sich hinten links an die Bar klammert, um nicht umzufallen und Ihnen sagt, er komme immer wieder hierher, allein schon wegen der herrlichen Fotomotive, wie schade, dass er keinen Fotoapparat besitze.
Sehen Sie Marios Zungenkunststück.
Kaufen Sie auf keinen Fall einen Joint von Axel aus Berlin. Lassen Sie sich auch keinen schenken. Das Zeug haut Sie für Tage um.
Angenommen, Sie hatten 75 Euro in der Tasche und etwa die Gewohnheiten eines Harry Hancock Hurricane, Sie haben außerdem alles beachtet, was Sie gerade gelesen haben, dann sieht Ihre Bilanz des Abends am nächsten Tag so aus:
- 11,50 / Pizza und ein Glas Wein bei Patrizia, Grappa
umsonst.
- 3,60 / Eis.
- 2,50 / Espresso oder piccola Chiara im Cafe´ Centrale.
- 4,80 / media Chiara im Roma.
- 6 / Eintritt, Samstagsdiskothek.
- 5 / media Chiara, Samstagsdiskothek.
- 42 / Steffi, sieben media Rossa.
- Hinzu kommt Trinkgeld und (optional) der Posten:
- ? / Antonello, je nach Sympathie frei verhandelbar.

Summe: 75,40. Sie müssten sich also, selbst wenn sie keinen einzigen Cent Trinkgeld gäben, dann aber ihre nächste Runde Grappa bei Patrizia selbst bezahlen müssen, vierzig Cent bei Zander leihen.

***

Harry Hancock Hurricane erinnerte sich an wenig mehr vom gestrigen Abend, als dass er sich am Ende sogar vierzig Cent von Zander leihen musste, um seine Rechnung bei Ivan zu bezahlen. Antonello schuldete er einen Gefallen für den Joint und Nadia vermutete drei Beck’s.
Harry Hancock Hurricane fühlte sich wie ein Bettlaken, das Schauplatz eines sehr, sehr, sehr, sehr unanständigen Traums gewesen, deswegen in die Wäscherei gebracht, gekocht, geschleudert und gemangelt worden war.
Unter einem Cocktailtisch in Harry Hancock Hurricanes Bewusstsein erwachte ein Gedanke und versuchte irgendwie auf die Füße zu kommen. Es war der Gedanke daran, dass die Metapher mit dem Bettlaken Harry Hancock Hurricane bekannt vorkommen sollte.
Harry Hancock Hurricane fiel ein, dass Madeleine gesagt hatte, er rieche wie ein Stück ranzige Butter, das jemand an der Strandpromenade in den Abfalleimer geworfen hatte. Er entschied, dass eine Dusche ohnehin der geeignete Beginn für diesen Tag wäre und ging hinunter ins Bad.
Er erinnerte sich, dass Jackson Jackson ihm bei Steffi gesagt hatte, er werde ihm kein weiteres Geld leihen und dass er selbst geantwortet hatte, Geld sei egal, er werde mit dem grünen Ding soviel Geld verdienen, dass er nie wieder Geld verdienen müsse (dies war das einzige Mal, an dem Harry Hancock Hurricane seinen Vorsatz brach, nicht mehr über das grüne Ding zu sprechen, es sei denn, er würde danach gefragt).
Im Bad stand Siegfried auf der Waage. Er trug weiße Boxershorts, die so weit waren, dass sie in einer früheren Inkarnation einem Rucksacktouristen hätten als Zelt dienen können. Trotzdem konnten sie Siegfrieds hängende Hinterbacken nicht verbergen. Siegfried stand vornübergebeugt, um über seinen Bauch hinweg die Anzeige der Waage sehen zu können.
„Es ist zum Kotzen, zwei, drei Bier und schon wieder ein Kilo mehr“, sagte Siegfried.
„Womöglich waren es vier“, sagte Harry Hancock Hurricane, „wenn du fertig bist mit dem Kotzen, würde ich gern duschen“.
„Dusch’ doch“, sagte Siegfried.
„Ich dusche nicht, wenn jemand anders im Bad ist, falls du dich erinnerst“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Gereizt?“, fragte Siegfried, und es war eine Feststellung.
Siegfried stieg von der Waage und wippte seine Massen nach draußen. Harry Hancock Hurricane schloss die Tür ab und zog seine Boxershorts aus, die so klein waren, dass sie in einer früheren Inkarnation ein paar Damenhandschuhe gewesen sein mochten.
Er stellt sich in die Wanne, zog den Plastikvorhang zu und drehte die Dusche auf. Er stellte fest, dass er zu verkatert war um zu stehen und setzte sich unter den Duschstrahl. Er versuchte sich daran zu erinnern, warum er gestern geglaubt hatte, dass sich eine Reihe höchst bemerkenswerter Ereignisse in seinem Leben häuften, und daran, wo das Shampoo stand, weil er die Augen nicht öffnen wollte.
Beides misslang ihm, und er versuchte sich darauf zu konzentrieren, wo das Shampoo stand, weil ihm das im Augenblick vordringlicher schien und er vor überhaupt allem versuchte, halbwegs nüchtern zu werden. Er versuchte sich noch eine Weile weiter daran zu erinnern, wo das Shampoo stand, bevor er verdrießlich die Augen öffnete und feststellte, dass es neben seinem Kopf stand.
Harry Hancock Hurricane schloss die Augen wieder. Er hielt das Shampoo in der Hand, um es zu benutzen, wenn er bereit wäre. Er sah sich selbst von oben, aus einem Blickwinkel, der ihn schräg von hinten zeigte. Er sah aus wie eine hölzerne Marionette, die jemand in die Wanne gelegt hatte, um sie abzuduschen. Und dann hatte das Telefon geklingelt.
„Finocchio“, dachte Harry Hancock Hurricane. Und dann: „Warum zum Teufel drapiert jemand einer hölzernen Marionette eine Flasche Shampoo in die Hand, die er duschen will, bevor er ans Telefon geht?“
Er wusste keine Antwort und hob die Flasche Shampoo, um sie zu befragen. Er überlegte es sich anders und schraubte sie auf.
Unterdessen: War Madeleine von der Klippe zurückgekommen, auf der sie gern saß und ihren Kaffee trank, während ihre Füße über dem Abgrund baumelten, der so tief war, dass Zander schon schwindlig wurde, wenn er Madeleine von weitem dort sitzen sah.
Sie hatte die Haustür geöffnet und ihre sonntägliche Inquisition begonnen. Sie hatte Jackson Jackson geweckt, der gefragt hatte, ob der Kaffee schon fertig war. Sie hatte Zander geweckt, der brummte und sofort wieder einschlief. Sie wollte Siegfried wecken und stellte zufrieden fest, dass er bereits auf seiner Waage stand. Sie wollte Harry Hancock Hurricane wecken.
In genau diesem Moment erwachte das Buch des Lebens aus einem für es bemerkenswert langen und tiefen Traumschlaf. Es lag noch immer auf Harry Hancock Hurricanes Bett. Es piepte, um ordnungsgemäß anzumelden, dass es seinen Betrieb wieder beginnen würde.
Madeleine setzte sich auf das Bett und begann zu lesen, was über dem Cursor stand, der gelb auf blauem Grund blinkte. Zwei Minuten und einunddreißig Sekunden später schrie sie: „Scheiße, Michael, du hast einen Scheißporno geschrieben mit mir in der beschissenen Hauptrolle.“
Jackson Jackson kam und fragte „wo ist ein Porno?“. Siegfried kam und fragte „was’n los?“ Zander kam und fragte „musst du so schreien?“. Harry Hancock Hurricane saß in seiner Wanne und fragte sich, ob er die richtige Portion Shampoo auf seine Handfläche bekommen würde, wenn er sich weiter weigert, seine Augen zu öffnen.
Siegfried hämmerte mit seiner fleischigen Faust gegen die Badezimmertür und schrie etwas Unfreundliches. Harry Hancock Hurricane glaubte zu hören, dass er schrie „komm raus, du Arsch“. Er drehte das Wasser ab.
Madeleine hämmerte mit ihrer knöchernen Faust gegen die Tür und schrie etwas Unfreundliches. Harry Hancock Hurricane war sich sicher zu hören „Michael, komm sofort raus, du Arsch“.
Zander fragte „geht das auch leiser?“. Jackson Jackson setzte seinen Bizeps ein, schob Siegfried und Madeleine zur Seite, klopfte an die Tür und sagte „Hurricane, mach Schluss und komm raus. Es ist ernst.“
Madeleine sah Jackson Jacksons Hintern in seinen engen Shorts, die in einer früheren Inkarnation eine Damenstrumpfhose gewesen sein mochten. Sie fühlte gar nichts. Siegfried sah Jackson Jacksons Hintern und fühlte Neid. Zander sah das Holz des Rahmens der Badezimmertür über Jackson Jacksons kahl geschorenem Schädel, das mal wieder einen Anstrich brauchte, und fühlte einen beginnenden Kopfschmerz, während er sich einbildete, Lackverdünner zu riechen.
Madeleine verlas: „Madeleine schrie unter Zanders heftigen Stößen und wollte, dass Jackson Jackson mit seinem übermenschlich großen, schwarzen Schwanz ihre Schreie dämpfte, weil sie nicht wollte, dass ihr Bruder sie hörte und hereinkam.“
Den zweiten Teil des Satzes verlas sie nur der Form halber, bevor sie mit ihrer Beweisführung begann.
Harry Hancock Hurricane saß auf seinem Bett, neben dem Buch des Lebens, ein verblichenes Badehandtuch zweimal um seine schmalen Hüften gewickelt.
„Du mit deiner albernen Schamhaftigkeit bist der einzige hier, der nicht weiß, dass Jackson Jackson einen stinknormalen Durchschnittsschwanz hat“, sagte Madeleine, stieß Harry Hancock Hurricane den Zeigefinger in die Schulter und war so sauer, dass sie vergaß, ihn Michael zu nennen. Die anderen standen hinter ihr.
„Langsam“, sagte Jackson Jackson.
„Versuch nicht, das ins Lächerliche zu ziehen“, sagte Madeleine.
„Ich sag’s euch noch mal: Ich sag’ euch, ich hab’ das nicht geschrieben, hab’ ich euch schon zweimal gesagt“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Hurricane, du willst nicht ernsthaft behaupten, dass einer von uns heute Nacht in dein Zimmer gekommen ist, um herauszufinden wie das Ding da funktioniert und einen Porno zu tippen, nur auf den Verdacht hin, dass Madeleine ihn lesen würde, damit du mit ihr Ärger bekommst“, sagte Jackson Jackson.
„Kein Vergleich zu dem Ärger, den er mit mir bekommt“, sagte Siegfried.
„Ich würd’ das nachher gern noch mal in Ruhe lesen“, sagte Zander.
„Verdammt, Zander, halt die Klappe“, sagte Madeleine.
„Ich sag’s euch jetzt noch mal: Ich sag’ euch, das Ding schreibt seine Geschichten von selbst. Madeleine und Zander haben es gestern beide gesehen“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Hör auf mit dem Unsinn, gib’s einfach zu, wir reden drüber und vergessen die Sache“, sagte Jackson Jackson, „in ein paar Monaten ist das nur noch ‚ne Anekdote aus sechs Jahren und ein paar Monaten“.
„Ich sag’s euch noch mal: Ich habe keine Ahnung, wie ich in das Ding irgendwas reintippen sollte. Es schreibt seine Geschichten selbst“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Jetzt hab’ ich die Schnauze voll von dem Scheiß“, sagte Siegfried.
Das Buch des Lebens piepte. Siegfrieds fleischige Faust packte Harry Hancock Hurricanes knochiges Genick, das auf seltsame Art an ein Insekt erinnerte.
Das Buch des Lebens piepte zweimal.
Harry Hancock Hurricane wand sich aus Siegfrieds Griff. Das Buch des Lebens vergrößerte seine Buchstaben, ohne die praktische Plustaste am rechten unteren Rand seines Bildschirms zu benutzen, weil es diese Methode für veraltet hielt.
Harry Hancock Hurricane verlor sein zweifach gewickeltes Badehandtuch, als er von seinem Bett aufsprang. „Alle Achtung“, sagte Jackson Jackson.
Das Buch des Lebens piepte dreimal, diesmal energischer und etwas ärgerlicher, weil es nicht gewohnt war, unbeachtet zu bleiben.
Harry Hancock Hurricane stieß mit beiden Händen in Siegfrieds Fleischmassen und halb, weil er sie in eine unerklärliche Schwingung versetzte, halb, weil er sich erinnerte, wie er Jackson Jackson gewesen war, brachte er Siegfried tatsächlich ins Taumeln.
Jackson Jackson überlegte, ob er etwas unternehmen sollte. Zander fing Siegfried auf, der gegen ihn getaumelt war und überlegte das Gleiche.
Das Buch des Lebens brummte dauerhaft und versuchte dabei, das Knurren eines Hundes zu imitieren. Was ihm durch die leider aus chinesischer Billigproduktion stammenden Lautsprecher gelang, klang eher wie das Schnurren einer Katze.
Jackson Jackson und Zander entschieden, nichts zu unternehmen, weil sich ohnehin niemand würde verletzen können, es sei denn durch einen unglücklichen Zufall, der sich jederzeit überall ereignen könnte.
Zander hörte eine Katze schnurren, suchte die Katze, fand das Buch des Lebens und stellte Siegfried links neben sich an der Wand ab, als sei er ein Karton voller pornografischer Zeitschriften.
„Schaut euch das an“, sagte Zander.
„Was“, schrie Madeleine.
„So groß ist er auch wieder nicht“, sagte Jackson Jackson.
Aber Zander zeigte am nackten Harry Hancock Hurricane vorbei auf das Buch des Lebens. Harry Hancock Hurricane sah an sich herunter. Alle anderen sahen, was in wieder daumendicken Buchstaben auf dem Bildschirm des Buchs des Lebens stand: „Ich denke, es ist Zeit, mich vorzustellen. Und gleich danach ist es Zeit für eine Entschuldigung.“
„Scheiße, Hurricane, du hast nicht gelogen“, sagte Zander.
„Es ist ein verdammter Trick“, sagte Siegfried.
„Wie soll er das gedreht haben, während er nackt im Zimmer steht und dir in deine Schwabbelbrust schubst?“, fragte Jackson Jackson.
Madeleine schwieg.
„Ich hab’s euch verdammt noch mal gesagt, es ist das unglaublichste Ding, das ihr je gesehen habt, und es schreibt seine Geschichten selbst“, sagte Harry Hancock Hurricane, während er sich sein Badehandtuch wieder zweimal um die Hüften wickelte.
„Auf jeden Fall ist Waffenstillstand, bis wir das hier endgültig geklärt haben“, sagte Jackson Jackson.
„Okay“, sagte Madeleine.
„Trinken wir Kaffee“, sagte Zander, „aber nicht auf den Klippen“.
„Ich würde hier drin empfehlen, wenn ihr die Angelegenheit schnell klären wollt. Oder ihr müsst mich mit euch herumtragen“, schrieb das Buch des Lebens, und diesmal sahen alle, wie sich die Wörter aneinander reihten, weil keiner einen Blick von dem Bildschirm abgewandt hatte, für den sich ein Programmierer für gelbe Schrift auf blauem Grund entschieden hatte, dem es gleichgültig war, ob die Käufer dieses PC kurzsichtig werden würden.
Das Buch des Lebens begann, wie es immer begann. Es sagte: „Ich will mich nicht aufdrängen, ich stelle mich nur vor, wenn’s erlaubt ist.“
„Scheiße, das Ding spricht“, sagte Zander.
„Das allein wär’ noch nichts Besonderes“, sagte Harry Hancock Hurricane.
Das Buch des Lebens räusperte sich, des Effekts wegen, einerseits, mehr aber, weil es darüber nachgedacht hatte, ob es mit der Geschichte vom Mann an der Hotelbar fortfahren sollte, die es gern erzählte, wenn es sich vorstellte. Aber es entschied, dass dies der Situation unangemessen wäre. Es dachte weiter darüber nach und befand, dass diese Geschichte ohnehin weniger gelungen war, als es dachte. Es hatte sie vor achtunddreißig Jahren geschrieben und sie seitdem immer wieder verwendet. Oder vor zweiundvierzig. Es erinnerte sich nicht mehr.
Es hatte bei Gott anfangen wollen, der keine Krawatte trug, was ihm aber ebenfalls unangemessen schien, da außer Siegfried ohnehin niemand im Raum eine Krawatte besaß. Und Siegfried besaß nur eine, die er im Sommer ebenfalls nicht trug, es sei denn bei Regenwetter.
Das Buch des Lebens hatte den Zwang gespürt, eine Entscheidung fällen zu müssen, was es bis heute nie als Zwang empfunden hatte. Es hatte einfach immer entschieden. Das Buch des Lebens hatte Zweifel gespürt, was es unsicher werden ließ. Deshalb hatte es sich geräuspert. Das Räuspern hatte, völlig unbeabsichtigt, den Nebeneffekt, dass alle im Raum still standen und schwiegen, als wären sie Soldaten und die Nationalhymne würde gespielt.
Das gute alte Buch des Lebens spürte die Aufmerksamkeit, die allein ihm gehörte, und fühlte sich wieder wie das gute alte Buch des Lebens. „Ja, ich kann sprechen“, sagte es, „aber eigentlich bin ich ein Anhänger des geschriebenen Wortes. Das geschriebene Wort ist präziser, schneller zu erfassen und bleibt besser im Gedächtnis haften.“
„Das Ding will uns einen Vortrag über Literatur halten“, sagte Siegfried.
Das Buch des Lebens war beleidigt, weil Siegfried es Ding genannt hatte, schwieg und schrieb weiter. Es schrieb: „Mein Name ist das Buch des Lebens.“
„Warum spricht es nicht mehr?“, fragte Zander, und Harry Hancock Hurricane zuckte mit den Schultern, weil er vermutete, dass er der einzige im Raum war, an den diese Frage gerichtet sein konnte.
„Es wäre freundlich, wenn ich nicht ständig unterbrochen werden würde“, schrieb das Buch des Lebens.
„Haltet einfach mal eine Minute lang die Klappe“, übersetzte Harry Hancock Hurricane.
„Danke“, schrieb das Buch des Lebens.
Nun, da alle schwiegen, war es nicht mehr beleidigt und begann wieder zu sprechen. „Das Sprechen ermattet mich ein wenig“, sagte das Buch des Lebens, „ich empfinde es auch als lästig. Ich nehme es im Moment trotzdem auf mich, weil ich mich zu entschuldigen habe, vor allem bei Madeleine.“
„Wenn du das alles gedreht hast, kriegst du die Prügel von mir, Michael“, sagte Madeleine.
„Nenn mich nicht Michael“, sagte Harry Hancock Hurricane. Das Gefühl, Jackson Jackson zu sein, döste vage in einer Ecke seines Unterbewusstseins, weil alle anderen Gedanken und Gefühle in Harry Hancocks Hirn aber vorwiegend mit dem Versuch beschäftigt waren, wieder einigermaßen nüchtern zu werden, empfand er es trotzdem.
Jedenfalls dachte Harry Hancock Hurricane darüber nach, was Jackson Jackson dazu sagen würde, wenn ihn jemand anders als Madeleine Jackson nannte oder Mister Jackson statt Jackson Jackson. Der Gedanke verstarb augenblicklich an akutem Mineralmangel und an dem im Augenblick schwer zu bewältigenden Problem, dass Jackson Jacksons Familienname derselbe war wie sein Vorname. Trotzdem glaubte Harry Hancock Hurricane, dass es Jackson Jackson gleichgültig wäre, wenn niemand ihn Jackson Jackson nennen würde, sondern alle nur Jackson. Oder Jackson.
„Ruhe“, sagte Jackson Jackson.
„Danke“, sagte das Buch des Lebens. Es erzählte von seinen Schlafstörungen, wobei es das Wort Schlafstörungen vermied. Es erzählte von seiner Angewohnheit, seine raren Träume selbst zu protokollieren, um sie zu sammeln, wie andere Bücher besonders gelungene Formulierungen sammelten, wobei es die Tatsache verschwieg, dass die medizinische Abteilung diese Angewohnheit als Altersstarrsinn eingestuft hatte. Es entschuldigte sich bei Madeleine, allerdings nur der Form halber, weil es schließlich nichts für seine Träume konnte und jeder mal einen erotischen Traum träumte.
Es unterdrückte, mit Mühe, einen kleinen Exkurs über die Geschichte der erotischen Literatur. Dann entschuldigte es sich bei Zander und Jackson Jackson, mit noch geringerer Überzeugung, dass es einen Grund zur Entschuldigung gab als bei Madeleine.
„Wäre nicht schlecht, wenn Chiara auch eine Rolle in dem Traum spielen würde“, sagte Zander.
„Halt die Klappe“, sagte Madeleine.
„Chiara kommt später noch hinzu“, sagte das Buch des Lebens.
„Woher kennst du Chiara?“, fragte Siegfried.
„Verdammt, Martin, du sprichst mit einem blöden Computer“, sagte Madeleine.
Das Buch des Lebens überging diese Bemerkung und sagte „Moment“. Es sprang an die für diese Frage entscheidende Stelle dieser Geschichte, verkleinerte die Buchstaben ein wenig, ohne dabei die praktische Minustaste links unten an seinem Bildschirm zu benutzen und sagte „lest.“
Auf dem Bildschirm stand: „Als Chiara zum ersten Mal ihr Tablett an der Theke nicht putzte, sondern es abstellte, um für Madeleine ein Glas Weißwein einzuschenken, als sie dieses Glas Weißwein zu Madeleine trug, als sie dafür sogar ihr Tablett stehen ließ, als sie das Glas vor Madeleine abstellte und damit zum ersten Mal während ihrer Zeit als Aushilfskellnerin im Roma einem Gast das serviert hatte, was er bestellt hatte, erschlaffte Jackson Jacksons Bizeps. Das Werben um eine homosexuelle Blondine hielt er für unnütz. Er erschlaffte allerdings nur für kurze Zeit.“
„Chiara ist ‚ne Lesbe“, sagte Harry Hancock Hurricane, und es war eine Frage.
„Er war nicht da, als Chiara dir den Weißwein gebracht hat“, sagte Siegfried.
„Irgendjemand hat es ihm erzählt“, sagte Madeleine.
„Ich nicht“, sagte Siegfried, „ihr?“
Jackson Jackson und Zander schüttelten den Kopf, was aber niemand sah, abgesehen vom Buch des Lebens, weil alle auf den Bildschirm sahen.
„Ihr?“, sagte Siegfried wieder.
„Nein“, sagte Jackson Jackson.
„Ich hab’ doch schon nein gesagt“, sagte Zander.
„Nein, du hast nicht nein gesagt“, sagte Siegfried.
„Klappe“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Danke“, sagte das Buch des Lebens.
„Völlig egal“, sagte Jackson Jackson, „wir stehen hier und sprechen mit einem Computer, und so wie die Sache aussieht, haben wir nur zwei Möglichkeiten, zu glauben, dass dieses Ding da Gedanken lesen kann oder zu glauben, dass Hurricane Gedanken lesen kann“.
„Er hat das irgendwie gedreht“, sagte Madeleine.
„Ich hab’ nichts gedreht“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Das kann er nicht gedreht haben“, sagte Jackson Jackson.
„In jedem Fall wird der Mist jetzt gelöscht“, sagte Madeleine.
„Wie denn“, sagte Harry Hancock Hurricane.
Das Buch des Lebens räusperte sich, diesmal ausschließlich des Effekts wegen. Siegfried, Zander, Harry Hancock Hurricane, Jackson Jackson und sogar Madeleine schwiegen und sahen wieder auf den Bildschirm.
„Ich fürchte, nein ich bedaure, er hat Recht“, sagte das Buch des Lebens.
„Womit hat er Recht?“, fragte Siegfried.
„Sprich nicht mit dem Ding“, sagte Madeleine.
„Nennt mich nicht Ding“, sagte das Buch des Lebens, überlegte kurz, fügte ein Bitte an und „Mein Name ist das Buch des Lebens, wenn ihr wollt, nennt mich Buch“.
„Und womit hat er nun Recht“, fragte Siegfried Madeleine, um nicht das Buch des Lebens zu fragen.
„Aus der Geschichte kann nichts gelöscht werden“, sagte das Buch des Lebens und fügte ein Leider an, „und wir haben da bedauerlicherweise noch ein anderes, etwas delikates Problem“.
„Welches?“, fragte Siegfried, während sich das Buch des Lebens erneut räusperte, diesmal aus Verlegenheit. Madeleine sagte nichts.
„Was geschrieben ist, muss auch geschehen“, sagte das Buch des Lebens, und natürlich wusste niemand außer ihm, dass das gelogen war. Harry Hancock Hurricane würde schon bald herausfinden, dass es gelogen war, darüber nachdenken, ob er den anderen erzählen sollte, dass es gelogen war und wie er es herausgefunden hatte oder es ganz allein für sich behalten und ganz allein für sich soviel Geld verdienen, dass er nie mehr Geld verdienen müsste. Und er würde sich entscheiden, es nicht für sich zu behalten.
„Erzähl’ keinen Scheiß“, sagte Madeleine.
„Du sprichst mit einem Computer“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Egal, was es ist, das ist auf keinen Fall ein Computer“, sagte Jackson Jackson.
„Es ist das, was ich gesagt habe“, sagte Harry Hancock Hurricane, „es ist das unglaublichste Ding, das du je in deinem Leben gesehen hast“.
Das Buch des Lebens verzichtete darauf zu sagen nennt mich nicht Ding und sagte stattdessen: „noch mal zu unserem Ausgangsproblem: Was geschrieben ist, muss auch geschehen.“
„Zur Not würd’ ich mich opfern“, sagte Zander.
„Halt die Klappe, eher frisst eine Maus eine Katze“, sagte Madeleine.
„Es gab da mal so einen sehr interessanten Fall im frühen siebzehnten Jahrhundert“, sagte das Buch des Lebens.
„Reg’ dich nicht auf. Das Ding da kann dich nicht zwingen, mit mir und Jackson Jackson zu vögeln“, sagte Zander.
Einige vereinzelte Reste von Logik in Harry Hancock Hurricanes Gehirn erholten sich schneller von ihrem Kater als andere und zeugten einen Gedanken. „Sag mal, Madeleine, woher weißt du eigentlich, dass Jackson Jacksons schwarzer Schwanz ein ganz normaler Durchschnittsschwanz ist?“, fragte er.
„Halt die Klappe“, sagte Madeleine.
„Alles klar“, sagte Harry Hancock Hurricane.
Siegfried sah Madeleine an, als habe er eben bemerkt, dass sie ein blutrotes, gezacktes Muttermal auf ihrer linken Wange hatte, was sie nicht hatte. Zander sah Madeleine an, als habe er eben bemerkt, dass sie Brüste hatte, was sie hatte. Das Buch des Lebens war es leid, Ding genannt zu werden, fühlte die Erschöpfung des Tiefschlafs und das Bedürfnis, noch ein wenig zu dösen. „Ich wäre euch wirklich dankbar, wenn ihr mich nicht Ding nennen würdet“, sagte es, „mein Name ist das Buch des Lebens. Ich werde über das Problem nachdenken.“
Das war wieder gelogen, denn das Buch des Lebens wusste bereits, wie es das Problem lösen würde, dass alles geschehen musste, was geschrieben war, ohne dass es erzählen musste, dass auch das gelogen war. Es piepte, um ordnungsgemäß anzukündigen, dass es seinen Betrieb einstellen würde und fiel in einen leichten und unruhigen Schlaf.
„Der Akku ist leer“, sagte Zander, bückte sich und stöpselte den Stecker in die Steckdose ein. Aber natürlich blieb der Bildschirm schwarz. Zander rüttelte am Buch des Lebens.
„Lass das“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Ich brauch’ jetzt ‚nen Kaffee“, sagte Jackson Jackson.
Jackson Jackson, Harry Hancock Hurricane, Zander und Siegfried gingen in die Küche und holten sich einen Kaffee. Madeleine ging nur in die Küche, ohne sich einen Kaffee zu holen, weil sie ihre Tasse Kaffee schon auf der Klippe getrunken hatte und nie mehr als eine Tasse Kaffee am Morgen trank.

***

Das Buch des Lebens log für gewöhnlich nicht aus Boshaftigkeit oder Verschlagenheit. Boshaftigkeit und Verschlagenheit waren Charakterschwächen, die das Buch des Lebens ursprünglich nicht beherrschte. Dieser Mangel sorgte die Vertriebsabteilung, führte zur Gründung des Berufsstands der Psychiatrie und seiner scheinbar rätselhaften Blüte, außerdem zu einem allgemeinen Rückgang der Zuschauerzahlen in Fußballstadien und einer erhöhten Scheidungsrate.
Weshalb das Buch des Lebens sich entschied, sich ein gewisses Maß an Boshaftigkeit und Verschlagenheit anzueignen. Es war mühsam, weil das Buch des Lebens darauf bestand, sich alles, was es sich aneignete, autodidaktisch anzueignen. Aber es gelang. Und das Buch des Lebens war ein wenig stolz, jene verstohlene Art von Stolz, dass ihm das gelungen war.
Ähnlich wie damals, das Buch des Lebens glaubte, es war 1968 gewesen, erinnerte sich aber wie immer nicht genau und fand es müßig nachzulesen. Hätte es nachgelesen, hätte es wieder gewusst, dass es 1969 war, als es entschied, seine verblassten Schulkenntnisse der Physik aufzufrischen, aber schon nach den Kapiteln über die Mechanik und die Optik wieder die Lust verlor. Die Physik war nicht seine Leidenschaft. Ebensowenig wie die Boshaftigkeit oder die Verschlagenheit seine Leidenschaft war.Alle drei wandte das Buch des Lebens darum nur selten an, die Physik sogar nur, um sich selbst zu beweisen, dass es das Erlernte noch anzuwenden wusste.
Wenn das Buch des Lebens nicht nur log, um fit zu bleiben, log es, um seine Leser vor dem Leiden der zu raschen Erkenntnis zu schützen und zu verhindern, dass die Tarife für psychologische Arbeit weiter stiegen. Fußball und Scheidungen waren ihm gleichgültig.
Leser waren zarte und zerbrechliche Wesen. Erfuhren sie zuviel in zu kurzer Zeit, verfielen sie in einen Schock. Sie saßen dann an einem Küchentisch, eine Tasse Kaffee in der Hand, ihre Augen schienen durch die Zeit zurück zu starren, hinein in die Grauen ihrer Kindheit, die sie sonst tief unten in ihrem Unterbewusstsein in eine Zelle mit schweren Eisenstäben verschlossen hielten.
Beispielweise: Saß Siegfried am Tisch in der Küche, klammerte sich an einer schwarzen Tasse fest, in die er vergessen hatte, Kaffee einzuschenken. Er dachte an den Sommertag, an dem er fünf Jahre alt war, den Tag, an dem Gordon Hubbard Siegfrieds gelben Bumerang in einen Gulli geworfen hatte und er ihn nicht mehr herausbekommen konnte.
Ihn graute, als er sich erinnerte, dass seine Mutter ihn festhielt um zu verhindern, dass Siegfried Gordon Hubbard verprügelte. So blieb die Angelegenheit unerledigt.
Madeleine goss ihrem Bruder Kaffee in seine Tasse. Siegfried versuchte, an alle Angelegenheiten gleichzeitig zu denken, die er unerledigt gelassen hatte und verbrühte sich den Zeigefinger, weil der Kaffee frisch und heiß war. Genau so würde das Buch des Lebens es notieren. Denn genau so geschah es.
Was das Buch des Lebens nicht notieren würde, weil es zwar so geschah, aber niemand es so wahrnahm, außerdem, weil es zwar so geschah, aber immer so geschah, wenn Leser begannen das Buch des Lebens zu lesen: Tatsächlich schien es nur so, dass Siegfried in der Zeit zurück auf das Grauen seiner Kindheit starrte. Tatsächlich starrte er nicht aus seinen Augen heraus, sondern mit seinen Augen in sein Hirn hinein.
Dort zeugten in einem Treiben, das sich nicht anders als orgiastische Inzucht nennen ließ, Gedanken Gefühle und Gefühle Gedanken und Gedanken andere Gedanken und Gefühle andere Gefühle. Siegfried starrte auf die inzestuöse Orgie in seinem Gehirn, und weil er sich weigerte, sie wahrzunehmen, starrte er ersatzweise in der Zeit zurück auf das Grauen seiner Kindheit, um sein Gehirn von seinem Gehirn abzulenken. Was eine übliche, aber fragwürdige Methode war, weil sein Gehirn damit sein Gehirn noch mehr verwirrte.
Andere Leser, die beginnen, das Buch des Lebens zu lesen, schenken ihrem Bruder Kaffee in die Tasse und übersehen dabei die Gefahr dass der sich den Zeigefinger verbrüht.
In seiner Jugend, in der das Buch des Lebens noch nicht zu Abschweifungen neigte, aber schon zu Schwatzhaftigkeit, hatte es frischen Lesern gelegentlich zuviel auf einmal von ihrer eigenen Geschichte erzählt. Einige, die in der Zeit zurück in ihre Kindheit zu starren schienen, waren darüber jahrelang am Küchentisch gealtert, wobei es ihnen gelang, sich ausschließlich von Kaffee zu ernähren.
Als ihnen das Grauen ihrer Kindheit langweilig geworden war, standen sie auf, wunderten sich über ihren verbrühten rechten Zeigefinger und glaubten, wieder in der Gegenwart angekommen zu sein. Tatsächlich waren sie aber nicht wieder in der Gegenwart angekommen. Ihre Gehirne hatten sich so lange daran gewöhnt, in die Vergangenheit zu starren, dass sie dabei blieben.
Diese Leser wähnten sich stets jünger als sie waren. Achten Sie einmal auf die Spieler, die immer die ältesten in der Fußballmannschaft sind und die Qualität des ganzen Spiels verderben.
Andere Leser schenkten diesen Lesern immer nur Kaffee nach, als wäre es ein erotischer Akt, so dass sie an allen anderen ihrer einstigen Leidenschaften die Lust verloren und immerfort nur noch Kaffee nachschenken wollten. Sollten Sie in diesem Moment scheinbar zufällig die Frau an der Kaffeemaschine betrachten und feststellen, dass sie Ihre Ehefrau ist, können Sie sich entweder scheiden lassen oder beginnen, in der Zeit zurück auf das Grauen Ihrer Kindheit zu starren. Falls Sie das nicht schon einige Jahre lang getan haben. Diese Frage können Sie sich selbst mit einem Blick auf ihren Zeigefinger beantworten.
Es war das einzige Mal, dass das Buch des Lebens der Vertriebsabteilung Recht gegeben hatte, wenn auch nur insgeheim für sich selbst, als es die Bitte des Vertriebsabteilungsleiters übermittelt bekam, solche Opfer künftig zu vermeiden, weil allzu viele Leser für alle Zeiten entrückt und darum als Leser verloren gegangen waren (die Vertriebsabteilung hatte sie nicht Leser, sondern Kunden genannt).
Seitdem erzählte das Buch des Lebens seinen Lesern ihre Geschichten in wohl überlegten Dosen, die es individuell abwog. Inzwischen irrte es sich in seiner Dosierung nur noch selten. Der Leserschock, der trotzdem unvermeidbar war, hielt meist einige Stunden an. Für gewöhnlich fielen die Leser nach dem Schock in einen tiefen, traumreichen und erholsamen Schlaf, so dass das Buch des Lebens ihnen gleich darauf den zweiten Schock verpassen konnte, und den dritten wiederum, wenn die Leser erneut einige Stunden lang in der Zeit zurück auf das Grauen ihrer Kindheit gestarrt und danach traumreich und erholsam geschlafen hatten.
Das Buch des Lebens nutzte die Zeit, um an seinen Geschichten weiter zu schreiben, die stets so umfangreich, unwahrscheinlich und unglaublich waren, dass das Buch des Lebens einmal sogar geschrieben hatte, sie seien unbeschreiblich. Auch das war in seiner Jugend gewesen.
Jedenfalls waren seine Geschichten stets so umfangreich, unwahrscheinlich und unglaublich, dass es sie nur wohl dosiert erzählen durfte, um zu vermeiden, dass die allgemeine Qualität des Fußballs sinkt und damit die Zahl der Zuschauer in den Stadien, während parallel zur Zahl der Scheidungen die Tarife der Psychiater steigen, die besorgte Nachbarn alarmiert hatten, weil im Haus gegenüber seit Tagen Menschen am Küchentisch saßen oder immerfort Kaffee aufbrühten.
In gewissen Fällen hatte das Buch des Lebens allerdings immer noch Schwierigkeiten mit der Dosierung. Das waren eben die Fälle, in denen Leser, die in der Zeit zurück auf die Grauen ihrer Kindheit zu starren schienen, auf Leser trafen, die immerfort Kaffee nachschenkten. Der Kaffee verhinderte den traumreichen und erholsamen Schlaf.
Jackson Jackson, Zander, Harry Hancock Hurricane und Siegfried saßen am Küchentisch. Sie klammerten sich an Kaffeetassen fest, die sie regelmäßig zum Mund hoben, weil sie überzeugt waren, dass sie sich jahrelang nur noch würden von Kaffee ernähren können.
Madeleine schenkte Siegfried den Rest aus der Kanne nach, wunderte sich, dass sich noch niemand einen Finger verbrüht hatte, vergaß die Sorge aber sofort wieder, weil die Kaffeemaschine auf sie die gleiche erotisierende Wirkung hatte wie Chiara, weshalb Madeleine sie Chiara getauft hatte.
Sie stand auf und ging zu Chiara hinüber, um eine neue Kanne Kaffee aufzubrühen. Das Geräusch, mit dem Chiara das erhitzte Wasser auf das Pulver im Filter träufelte, erzeugte jenes Kitzeln in ihrer Leiste, das sie sonst nur fühlte, wenn eine Frau ihr zum erstenmal über die Taille strich.
Madeleine stand neben Chiara, lauschte und kicherte. Sie sah Jackson Jackson, Zander, Harry Hancock Hurricane und Siegfried an. Sie fand, sie sahen aus, als starrten sie in der Zeit zurück auf das Grauen ihrer Kindheit. Sie hatte eine vage Erinnerung an ein Mädchen, das hinter einer Mülltonne kauerte, um zu warten, bis der vordere Teil ihres Kleides und vor allem ihre Unterhose getrocknet waren, damit niemand merken würde, dass sie es nicht mehr hinauf auf die Toilette geschafft hatte, obwohl sie den ganzen Weg von der Straßenbahn bis zur Haustür gerannt war.
Bevor es Madeleine gelang herauszufinden, wer das Mädchen war, röchelte Chiara erhitzt mit einem Rest Wasserdampf, um Madeleine zu sagen, dass sie die nächste Kanne fertig gebrüht hatte. Madeleine nahm die Kanne, schenkte allen nach, obwohl noch keiner seine Tasse leer getrunken hatte, trug die Kanne wieder zurück zu Chiara und stellte sie auf Chiaras makellos geschwungene Heizplatte.
Chiara zischte ihr eine Vertraulichkeit zu, die so vertraulich war, dass Madeleine errötete.
Sonst sprach niemand.
Wäre ein Nachbar vorbei gekommen, hätte er einen Psychiater alarmiert und von Madeleine eine Ohrfeige bekommen beim Versuch, die überhitzte Kaffeemaschine auszuschalten. Aber es würde kein Nachbar vorbeikommen, weil es keinen Nachbarn gab.
Nebenan schrieb das Buch des Lebens an seiner Geschichte von Madeleine, Harry Hancock Hurricane, Zander, Siegfried und Jackson Jackson und summte dabei vor sich hin, weil es gut gelaunt war. Es war immer gut gelaunt, wenn eine Geschichte einmal gesetzt, gedüngt und gegossen war und in den Himmel wuchs, wie sonst nur Bohnen wachsen oder Neugeborene, jedenfalls keine Geschichten.
Siegfried dachte an Harold Jessinger, der ihm beide Reifen an seinem Fahrrad zerstochen hatte, als er in der fünften Klasse war und Misses Berrenger ihm in Sport eine Fünf gegeben hatte, weil er unten am Seil hängen geblieben war, statt hinaufzuklettern, wie Harold Jessinger und die anderen. Er hatte gewusst, dass es Harold Jessinger gewesen war, der beide Reifen an seinem Fahrrad aufgestochen hatte, aber er hatte nichts gesagt und nichts getan, weil Harold Jessinger so stark war, dass er das Seil hochklettern konnte, nicht so dick wie Siegfried, der am Seil hing wie ein Sack, der sich wünschte, er wäre tot, weil Siegfried immer nur wünschte, er wäre tot, wenn Misses Berenger sagte, sie würden heute am Seil hochklettern.
Harry Hancock Hurricanes Gehirn arbeitete an einigen Gewaltphantasien, in denen er selbst und sein Vater wesentliche Rollen spielten, und die glücklicherweise nie ein Psychiater zu hören bekommen würde. Zuvor hatte sein Gehirn einige Erinnerungen aus der Zelle ganz hinten im Unterbewusstsein entlassen, daran, wie James Hancock neben seinem Erstgeborenen vor dem Spiegel stand, beiden hing ihr Penis aus der Hose, weil James Hancock seinen Sohn gezwungen hatte, seinen Penis aus der Hose zu holen, nachdem er seinen eigenen Penis aus der Hose geholt hatte, damit er sagen konnte: „Meiner ist länger, meiner ist so lang, dass er in die Kloschüssel hängt“.
Anlass der Szene war eine Diskussion zwischen Maria Hancock und den männlichen Mitgliedern ihrer Familie darüber, dass die männlichen Mitglieder der Familie sich entweder zum Pinkeln aufs Klo setzen sollten oder es künftig selbst putzen.
Harry Hancock Hurricane erinnerte sich an rote Male an seinem Hals, die aussahen wie Knutschflecken, aber Abdrücke der Finger von James Hancock waren. Er erinnerte sich noch an allerlei mehr, woran er sich nicht mehr erinnern wollte. Vor allem erinnerte er sich an seine Gewaltphantasien, die nie Realität geworden waren.
Zander erinnerte sich daran, wie er die ganze Sahnetorte gegessen hatte, worauf sein Vater verfügte, es gebe jetzt einen Monat lang keine Sahnetorte. Zander begann zu weinen bei dem Gedanken an das Unrecht und trank zum Trost einen Schluck Kaffee.
Jackson Jackson arbeitete an einem faszinierenden Problem. Vor seinen Augen sah er ein tatsächlich unbeschreibliches Chaos, dessen Einzelteile aus nichts bestanden als aus Chaos und nichts erzeugten außer neuem Chaos. Das Chaos war derart chaotisch, dass Jackson Jackson überzeugt war, andere hätten versucht, in der Zeit zurück auf das Grauen ihrer Kindheit zu blicken, nur um das Chaos nicht sehen zu müssen.
Jackson Jackson hatte allerdings eine ordnende Komponente im Chaos gefunden. Er hatte eine Zeitlang gebraucht, um die ordnende Komponente zu identifizieren. Dann hatte er erkannt, dass die ordnende Komponente im Chaos Erotik war. Er hatte begonnen, die Abfolge der erotischen Elemente im Chaos zu beobachten, sie zu interpolieren, zu logarythmieren und wieder zu extrapolieren, bevor er fasziniert feststellte, dass die erotische Komponente im Chaos fortwährend Fraktale bildete.
Er hatte begonnen, die fortwährende Bildung der Fraktale in eine mathematische Reihe zu sortieren, aus der er eine Formel errechnen wollte. Er war überzeugt, dass ihm gelingen würde, sobald er die erotische Komponente berechnet hatte, das Chaos zu berechnen und damit die Ordnung in jedem Chaos erkennen zu können. Er plante, sobald ihm das gelungen war, ein gefeiertes Buch über die Ordnung im Chaos zu schreiben.
Das Buch des Lebens registrierte all das mit einem Lächeln, in dem jeder in der Küche hätte eine Spur Mitleid und eine Spur Überheblichkeit hätte erkennen können, wenn irgendjemand in der Küche etwas anderes hätte erkennen können als das Grauen seiner Kindheit, Chaos oder eine Kaffeemaschine.
Das Buch des Lebens wusste, dass Jackson Jackson kein Buch über die Ordnung im Chaos schreiben würde. Das Buch des Lebens wusste, dass Jackson Jackson ein Buch über die Erotik der Mathematik schreiben würde (und es würde sich nicht sonderlich gut verkaufen).
Das Buch des Lebens schrieb weiter an seiner Geschichte und summte. Madeleine kochte Kaffee und plante, mit Chiara in eine eigene Wohnung zu ziehen, mit der Kaffeemaschine Chiara, nicht mit der Kellnerin Chiara, die für Madeleine begann ihre Reize zu verlieren. So verging eine Weile. Eine zweite Weile kam und verging. Eine dritte schaute ebenfalls vorbei, bis ihr genauso langweilig wurde wie den beiden anderen zuvor.
Madeleine kochte Kaffee, aber sie trank keinen, weil sie ihren Kaffee schon auf der Klippe getrunken hatte. Sie fühlte sich matt und müde, wie sich Alte niemals matt und müde fühlen, weil sich derart matt und müde wie Madeleine sonst nur das Alter selbst fühlen kann.
Sie beschloss, in ihr Zimmer zu gehen und ein wenig zu schlafen. Sie stand auf und tat etwas, was sie später als derart merkwürdig empfand, dass sie behaupten wird, sie hätte es nicht getan und würde es niemals tun.
Siegfried hörte seine Mutter sagen, er sei doch ohnehin zu ungeschickt gewesen, um seinen Bumerang so zu werfen, dass er zu ihm zurückkommt. Jackson Jackson verwarf eine Funktion, erprobte eine weitere und zog die Theorie in Erwägung, dass die Formel zur Ordnung des Chaos womöglich gar keine Funktion ist. Das Buch des Lebens wusste, dass sich Chaos mit Hilfe von Logik nicht ordnen lässt. Es hatte einmal das außerordentliche Vergnügen gehabt, Chaos an einem ebenso entspannenden wie anregenden Abend kennen zu lernen und festgestellt, dass Chaos zu den vernünftigen Zeitgenossen gehörte, die von Logik nichts halten. Zander hatte aufgehört zu weinen. Er trank einen Schluck des Kaffees, der langsam kühler wurde, so dass er sich den Zeigefinger nicht weiter verbrühte.
Das Buch des Lebens notierte, dass Zander glaubte, der Kaffee schmecke wie Schokoladentorte. Es summte und eröffnete siebzehn neue Kapitel gleichzeitig, zusätzlich zu den neun Kapiteln, an denen es gerade schon schrieb.
Harry Hancock Hurricane schlug seinem Vater einen Schneidezahn aus. Mit was, wird glücklicherweise nie ein Psychiater erfahren. Siegfried schob ein Fahrrad mit platten Reifen nach Hause. Auf dem Weg lauerte ihm Harold Jessinger auf. Harold Jessinger trat ihm in den Hintern und schrie „Schwabbelarsch“.

***

Madeleine erwachte neben der Kaffeemaschine, die irgendjemand aus der Küche heraufgetragen und in ihr Bett gestellt hatte. Sie war umgekippt. Reste von feuchtem Kaffeepulver hatten ihr Laken befleckt und ihre Jeans, die sie nicht ausgezogen hatte, bevor sie sich ins Bett gelegt hatte.
Sie zog die Jeans aus, wechselte das Laken und zog eine andere Jeans an. Sie trug selten etwas anderes als Jeans und rote Blusen, die sie meistens zuknotete, statt sie zuzuknöpfen. Sie öffnete den Knoten ihrer roten Bluse und verknotete sie neu.
Sie sah die Kaffeemaschine an und hatte das Gefühl, ein höchst erfreuliches erotisches Erlebnis hinter sich zu haben. Sie dachte darüber nach, und das Gefühl, ein erfreuliches erotisches Erlebnis hinter sich zu haben, wich dem Gefühl, ein unerfreuliches erotisches Erlebnis hinter sich zu haben.
Sie erinnerte sich nicht, etwas geträumt zu haben. Sie erinnerte sich nicht, wie die Kaffeemaschine in ihr Bett gekommen war. Sie erinnerte sich nicht, was sie getan hatte, bevor sie wieder schlafen gegangen war. Sie erinnerte sich nur, dass sie auf der Klippe ihren Kaffee getrunken hatte. Sie sah auf die Uhr. Es war Nachmittag. Die anderen würden schon im Roma sitzen.
Sie ging aus dem Haus, balancierte über die Mauer, tappte durch den ersten aufgegebenen Eisenbahntunnel, sah gleich am Tunnelausgang am inoffiziellen FKK-Strand nach rechts, sah, dass Susannes Hand nicht zufällig in Giovannis Schoß ruhte und eigentlich auch nicht ruhte, stolperte durch den zweiten aufgegebenen Eisenbahntunnel, winkte Nadia, die daran dachte, dass ärri önco ihr das Geld für drei Beck’s schuldete, weil der Tag vorbei war, an dem sich rund um den Globus eine Reihe höchst bemerkenswerter Ereignisse häuften.
Madeleine traf Patrizia, der es zu heiß war, und Antonello, der nicht sprechen konnte, weil er einen Joint von Axel aus Berlin geraucht hatte, obwohl er wusste, dass niemand jemals einen Joint von Axel aus Berlin rauchen sollte, eigentlich nicht einmal Axel selbst. Er hatte es jedenfalls bis vor kurzem gewusst. Gerade wusste Antonello gar nichts mehr und sah aus, als betrachte er ein unbeschreibliches Chaos, in dem er keine Spur von Erotik entdeckte. (Jeder, der einen Joint von Axel aus Berlin raucht, sieht ein unbeschreibliches Chaos, das keine Spur von Erotik enthält und selbst mit Hilfe der Gesetze der Unlogik nicht zu ordnen ist. Das aber wissen nur wenige Unlogiker, weil kein vernünftiger Zeitgenosse einen Joint von Axel aus Berlin raucht.)
Madeleine kam im Roma an. Chiara sah süß aus in ihrer nachmittäglichen Verschlafenheit. Chiara sah Madeleine mit der gleichen erotischen Verwirrtheit an, mit der sie ihr Tablett ansah, wenn sie es putzte, nur noch etwas verwirrter und erotisierter.
Madeleine erinnerte sich. Sie ging zurück. Sie sah vor dem zweiten Eisenbahntunnel nicht nach links und hoffte, niemals Susanne kennen zu lernen. Sie stolperte auf der Mauer, weil ein loser Stein unter ihrem Fuß abrutschte, glücklicherweise gleich zu Beginn der Mauer. Sie fiel aufs Steißbein, rutschte auf dem Hintern die Böschung hinunter, fluchte, weil sie schon wieder die Jeans würde wechseln müssen, kletterte die Böschung auf der anderen Seite wieder hinauf und riss sich an einer Dorne den kleinen Finger blutig.
Sie ging ins Haus und in die Küche. Zander hatte einen derartigen Appetit auf Sahnetorte, dass er glaubte, sein Magen versuche sich durch seinen Bauchnabel nach draußen zu zwängen, um ohne ihn in eine Konditorei zu gehen.
Jackson Jackson schüttelte Harry Hancock Hurricane, dessen Kopf in einer Lache Kaffee auf dem Küchentisch lag. Siegfried wunderte sich, warum Madeleine ihren kleinen Finger in den Mund gesteckt hatte, aber nur einen Augenblick lang, weil Madeleine den kleinen Finger aus dem Mund zog um zu sagen: „Das ist alles nicht wahr, oder? Sagt mir, dass ich das alles nur geträumt habe.“
„Du hast das alles nur geträumt“, sagte Zander, „Jackson Jackson und ich lagen den ganzen Tag im Delirium hier in der Küche rum, ich schwör’s, so wie Hancock immer noch. Den kriegen wir nicht wach.“
„Dann ist es wahr“, sagte Madeleine.
„Nein, es war nur ein Traum, sag’ ich doch, schade eigentlich“, sagte Zander.
„Halt die Klappe“, sagte Madeleine und steckte ihren kleinen Finger wieder in den Mund.
Harry Hancock Hurricane sprang von seinem Küchenstuhl auf, als hätte jemand eine glühende Klinge durch die Sitzfläche hindurch in seinen Hintern gerammt.
Hätte Jackson Jackson sich nicht den gesamten Tag über ausschließlich von Kaffee ernährt, wären seine Reflexe nach dem traumreichen und erholsamen Schlaf weniger wach gewesen. Dann hätte Harry Hancock Hurricane ihm mit seinem Hinterkopf einen Schneidezahn ausgeschlagen. Gereizt vom Koffein, gelang es seinen Reflexen dagegen, Jackson Jacksons Kopf auf dem Hals nach hinten zu reißen, so dass Harry Hancock Hurricane nicht Jackson Jacksons Unterlippe aufschlug, sondern sein eigenes Knie an der Tischkante anschlug.
Das spürte Harry Hancock Hurricane in diesem Moment allerdings nicht, sondern erst wesentlich später. Es war eine bereits ausgewachsene Panik, eine derjenigen, die im Unterbewusstsein jedes ausgewachsenen Mannes wohnte, der zuviel Alkohol trinkt und zuviel raucht, die zufällig gerade mal wieder in Harry Hancock Hurricanes Bewusstsein reinschaute und damit verhinderte, dass der Schmerz bis in sein Gehirn aufstieg und dort ein Gefühl zeugte.
Schmerz ist in der Lage, sich selbst zu befruchten, weshalb er für gewöhnlich keinen Gedanken benutzt, um ein Gefühl zu zeugen, es sei denn, er hat Lust dazu.
„Mein Blutdruck geht durch die Schädeldecke. Ein Infarkt“, schrie Harry Hancock Hurricane. Sein Herz schlug, als sei er den gesamten Weg vom Roma bis ins Haus gesprintet.
„Das ist nur der viele Kaffee“, sagte Zander, um Harry Hancock Hurricane zu beruhigen, beruhigte Harry Hancock Hurricane aber keineswegs. Ein Gedanke, den die Mischung aus Mineralmangel, Alkoholresten und Koffein für immer verwirrt hatte, zeugte eine kleine Panik in Harry Hancock Hurricanes Hirn, die völlig absurd, aber sehr kräftig war und die Panik vor einem Infarkt beiseite stieß.
„Wo ist die Kaffeemaschine?“, schrie Harry Hancock Hurricane.
Madeleine zog ihren kleinen Finger aus dem Mund. „In meinem Bett“, sagte sie. Harry Hancock Hurricane starrte Madeleine an. Siegfried starrte Madeleines Hand mit dem verletzten kleinen Finger an, die sie vor ihrem Kopf hielt, als übe sie zu salutieren. Madeleine starrte in ihr Gehirn und sah die Erinnerung an einen Traum. Zander starrte einfach geradeaus, weshalb er keinen von den anderen anstarren konnte, weil er über alle hinweg starrte, weshalb er sich mangels etwas Anstarrenswertem eine Vision von Jennifers rechter Brust schuf. Jackson Jackson starrte, misstrauisch, der Sicherheit wegen, Harry Hancock Hurricanes tückischen Hinterkopf an.
Ein Schmerz, den es ärgerte, dass eine eben erst geborene und völlig absurde Panik einen Schrei hatte zeugen können, trat die völlig absurde Panik beiseite und versuchte, sich selbst befruchtend, seinerseits einen Schrei zu zeugen.
„Scheiße, mein Zeigefinger“, schrie Harry Hancock Hurricane.
Alle, sogar Madeleine, sahen ihre Zeigefinger an. Alle, außer Madeleine, sahen, dass ihr Zeigefinger verbrüht war, spürten einen Schmerz, der aber viel zu schwach war um einen Schrei zu erzeugen.
Zander und Siegfried steckten ihre Zeigefinger in den Mund. Madeleine wollte ihren kleinen Finger wieder in den Mund stecken, sah aber Zander und Siegfried, wie sie ihre Zeigefinger im Mund hatten und verurteilte dieses infantil-maskuline Verhalten.
„Das war nur der Kaffee“, sagte sie.
„Er ist verbrüht“, sagte Harry Hancock Hurricane und sah auf seinen Zeigefinger, als müsse der amputiert werden. Weil darauf niemand etwas sagte, dachte Harry Hancock Hurricanes Hirn darüber nach, was es noch zu sagen gäbe, hielt die Frage für kompliziert, wollte noch eine Weile darüber nachdenken, ließ darum Harry Hancock Hurricane für den Übergang sagen, was er um diese Uhrzeit üblicherweise sagte: „Zeit für ein Bier.“
Das Hirn sah durch Harry Hancock Hurricanes Augen nach draußen, stellte fest, dass damit alle zufrieden zu sein schienen und sah wieder nach drinnen, um weiter nachzudenken.
Zander ging hinüber zum Kühlschrank. „Nur noch ein jämmerliches Sixpack da“, sagte er mit einem Blick, als hätte er im Kühlschrank entdeckt, dass sein Name auf einem lebenslangen Sahnetortenverbot stand. Sie setzten sich an den Küchentisch.
Sie tranken Wein, seit Zander die überzählige Dose Bier aus dem Sixpack geleert hatte. Sie saßen am Küchentisch und hatten alle das merkwürdige Gefühl, als sähen sie von einem Standpunkt in die Runde, der schräg hinter ihnen oberhalb ihrer linken Schulter lag.
Zander hatte gesagt, er habe genau den Traum geträumt, den das Ding in Harry Hancock Hurricanes Zimmer aufgeschrieben hatte, jedenfalls soweit er das beurteilen könne, weil Madeleine die praktische Plustaste am unteren rechten Rand des Bildschirms benutzt hatte, um die Buchstaben soweit zu vergrößern, dass alle außer ihr nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Protokoll des Traums hatten lesen können.
Was Zander betraf, war dieser Versuch des Verbergens vergeblich gewesen. Er erinnerte sich an den Traum, als hätte er sich eine Kamera auf die rechte Schulter montiert, um ihn zu filmen.
Madeleine hatte gesagt, sie sei nicht scharf darauf, Details zu diskutieren. Sie hatte nicht gesagt, aus welcher Perspektive sie den Traum geträumt hatte, den auch Jackson Jackson geträumt hatte.
Allerdings hatte Jackson Jackson nicht über den Traum gesprochen, sondern von einer Vision der überwältigen Erotik der Mathematik. Das war der Moment gewesen, in dem Zander gesagt hatte: „Ich denke, wir gehen dann mal zum Wein über.“
Siegfried hatte gesagt, er erinnere sich nur vage daran geträumt zu haben, dass er in seinem Bett lag und träumte, aus dem Wohnzimmer ein Geräusch zu hören, das wie erstickte Schreie klang. An mehr erinnere er sich nicht (was stimmte).
Seit kurzer Zeit hatten alle das Gefühl, von einem Standpunkt schräg oberhalb ihrer linken Schulter Harry Hancock Hurricane sprechen zu sehen. Das lag daran, dass alle begonnen hatten, Harry Hancock Hurricane anzusehen, als der begonnen hatte zu sprechen. Er hatte gesagt, er erinnere sich an gar nichts (was nicht stimmte, aber das war gleichgültig, weil die anderen von ihrem von sich selbst abgerückten Standpunkt aus seinen ersten Satz verpasst hatten).
Madeleine, Siegfried und Jackson Jackson war es inzwischen gelungen, sich auf seine Worte zu konzentrieren.
Zander hatte eine andere Methode gewählt. Er hatte sein Weinglas von sich weggeschoben und sich schräg über den Tisch gelegt, um Harry Hancock Hurricane durch eine Lücke zwischen seinen fußknöchelgroßen Fingerknöcheln anzuvisieren. So entsprach nun der Standpunkt schräg oberhalb seiner linken Schulter exakt dem Standpunkt, an dem sonst sein Kopf auf seinen Schultern gesessen hätte.
Im Moment sagte Harry Hancock Hurricane: „Das ist doch alles vollkommen klar und logisch. Das Buch des Lebens hat gesagt, was geschrieben ist, muss auch geschehen …“
„Nenn das Ding nicht das Buch des Lebens, Michael“, unterbrach ihn Madeleine, aber Harry Hancock Hurricane ließ sich nicht unterbrechen, „… und weil es euch und Chiara ja wohl kaum zum, na ja, ihr wisst schon, zwingen konnte, hat es euch den Traum träumen lassen, den es selbst geträumt hat. Ist doch eine verdammt elegante Lösung.“
„Komm raus aus deinem Wahn“, sagte Madeleine, „kein Computer der Welt kann Träume in Köpfen erzeugen. Oder generieren, wie du es nennen würdest. Das alles ist entweder die unerklärlichste Kette von Zufällen, die es je gegeben hat, oder wir sind alle in irgendeinem Wahn“.
Harry Hancock Hurricane wollte etwas erwidern, kam aber nicht dazu, weil Zander das Gefühl einer Erleuchtung hatte und seinen Oberkörper von seiner Position auf dem Tisch aus nach oben schnellte. „Scheiße, Hancock, du hast doch wohl keinen Stoff von Axel gekauft“, sagte er und legte sich wieder über den Tisch, weil er das Gefühl hatte, in diesem entscheidenden Moment der Runde entrückt zu sein.
„Kein vernünftiger Mensch raucht das Zeug von Axel“, sagte Harry Hancock Hurricane. Jackson Jackson sah Harry Hancock Hurricane an und hob dabei die Augenbrauen seines ansonsten kahlen Schädels auf eine Art, die es Harry Hancock Hurricane schwer gemacht hätte, sich jemals wieder wie Jackson Jackson zu fühlen, wenn er Jackson Jackson angesehen hätte statt Madeleine.
Jackson Jackson sagte nicht, was er dachte und bekam seine Augenbrauen wieder unter Kontrolle. Stattdessen sagte er: „Die Theorie hakt allein schon daran, dass ich seit Monaten nichts mehr geraucht habe. Und noch an einigem mehr.“
„Es ist verdammt noch mal einfach so, wie ich es euch von Anfang an gesagt habe. Das ist das verdammt unglaublichste Ding, das ihr je in eurem Leben gesehen habt“, sagte Harry Hancock Hurricane und zuckte mit dem Kopf, weil er plötzlich Angst hatte, für seinen Widerspruch eine Kopfnuss verpasst zu bekommen und gleich noch eine fürs Fluchen.
An dieser Stelle entschied das Buch des Lebens, das Protokoll der Diskussion zwischen Harry Hancock Hurricane, Madeleine, Zander, Jackson Jackson und Siegfried – der eigentlich nicht mitdiskutierte, sondern nur wie zufällig mit am Küchentisch saß – für ein Nickerchen zu unterbrechen. Weil nichts Neues mehr gesagt werden würde, würde es nichts Neues mehr zu schreiben geben, und das Buch des Lebens gehörte nicht zu den Büchern, die ihre Leser mit alt Bekanntem langweilen.
Das Buch des Lebens irrte sich selten, wirklich nur sehr selten, aber dieses war einer der Punkte, in denen es sich irrte. Alle anderen Punkte hatten ebenfalls mit Situationen zu tun, in denen das Buch des Lebens selbst eine wesentliche Rolle spielte und waren im weitesten Sinne mit Altersstarrsinn erklärbar.
Bevor es piepte, um ordnungsgemäß anzukündigen, dass es seinen Betrieb einstellen würde, notierte das Buch des Lebens nur noch rasch das Ende der Diskussion: „Gehen wir einfach rüber in mein Zimmer, schalten das Buch des Lebens ein und schauen, was passiert. Dann könnt ihr nicht mehr anders, als mir Recht zu geben. Eigentlich könnt ihr schon lange nicht mehr anders, als mir Recht zu geben.“
„Kein Bedarf, in beiden Punkten“, sagte Madeleine.
Siegfried überlegte, was er von dem Vorschlag halten sollte und fühlte sich, als trüge er einen Anzug, der mit schlecht gewürzter Leberwurst gefüttert war.
Zander bemerkte, dass er nicht aufrecht saß, sondern schräg auf dem Tisch lag und das Gespräch aus einer merkwürdig vorgerückten und ungewohnt niedrigen Position aus verfolgte. Er überlegte, sich aufrecht zu setzen und entschied sich dagegen, weil der neue Blickwinkel ihm irgendwie gefiel.
„Das werden wir tun, jedenfalls was den ersten Punkt betrifft und was mich betrifft“, sagte Jackson Jackson, „aber sicher nicht heute.“
„Ist schon viel später als üblich“, sagte Siegfried, der das Gefühl hatte, etwas zu verpassen, und anders als sonst störte ihn dieses Gefühl.
„Patrizia?“, fragte Zander, und es war eine Feststellung.
„Ich bleibe hier“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Bist sowieso pleite“, sagte Zander, „schuldest mir sogar vierzig Cent“.
„Nicht deswegen, und Geld wird für mich schon bald keine Rolle mehr spielen“, sagte Harry Hancock Hurricane.
Madeleine sah sich den Schorf an ihrem kleinen Finger an, fragte sich, ob sie ein Pflaster darüber kleben sollte, entschied sich dagegen und ging nach oben, um ihre Jeans zu wechseln und ihre rote Bluse neu zu verknoten.
„Bring die Kaffeemaschine mit“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Hol sie selber, wahrscheinlich hast sowieso du sie in mein Bett gelegt“, sagte Madeleine.
„Warum sollte ich das tun?“, fragte Harry Hancock Hurricane. „Ich würde es jedenfalls niemals tun“, antwortete Madeleine.
Jackson Jackson stand auf, um sich anzuziehen. Er stellte sich dabei in seinem Zimmer vor seinen Spiegel, spielte ein wenig mit seinem Bizeps, sah sich dabei zu und hatte endlich nicht mehr das merkwürdige Gefühl, schräg links hinter sich selbst zu stehen.
Harry Hancock Hurricane stand auf, um die Kaffeemaschine zu holen, weil er glaubte, eine lange Nacht vor sich zu haben.
Zander stand auf, weil sein Magen seine neue Leidenschaft für Sahnetorte gegen eine alte Leidenschaft für Pizza getauscht hatte.
Siegfried blieb sitzen und fühlte sich weiterhin, als trüge er einen Anzug, der mit schlecht gewürzter Leberwurst gefüttert war, nur dicker als zuvor. Zander blieb stehen. „Siegfried, was ist mit dir, keinen Hunger?“, fragte er. Die Frage beförderte eine Entscheidung, über die Siegfried gerade nachgedacht hatte, nicht zum ersten Mal in seinem Leben, aber zum ersten Mal ernsthaft. Er würde abnehmen.

***

Jetzt, werte Norditalientouristen, da Sie schon zum zweiten Mal auf dem Weg in die Birreria Gambrinus sind, und das schon wieder ziemlich angeschickert, ist es an der Zeit, einen ersten Mitbewohner Ihrer Heimat für den Rest dieses Abends etwas näher kennen zu lernen.
Da Sie kein Oberlehrer sind, sonst wären Sie nicht hier, sondern würden neben einer Frau schlafen, die an die Zimmerdecke starrt, sollten Sie vielleicht mit jemandem beginnen, der Deutsch spricht.
Aber sehen Sie sich doch erstmal richtig um. Ist Ihnen gestern eigentlich der Gedanke gekommen, wer zum Geier eine Bar außerhalb von Bayern Gambrinus nennt? Vergessen Sie das wieder. Über derlei Formalitäten denkt hier niemand nach.
Ist Ihnen gestern aufgefallen, wie klein dieser Raum ist? Ein bisschen drollig, die Holzwürfel entlang der Wand, die einmal Tische werden wollten, mit ihren niedlichen Bänken und Hockern. Oder nicht? Gleich hier rechts neben dem Eingang versammelt sich nachher wieder die spätnächtliche Runde, die Ihnen gestern schon aufgefallen ist, weil ihre Teilnehmer Elvis-Schnulzen gesungen haben, wie in jeder späten Nacht der Vorsaison.
Vergessen Sie die richtigen Tische mit ihren richtigen Bänken da hinten an der Wand neben dem Aufgang zur Toilette. Die sind für deutsche Touristen, die Saft trinken und zu denen jeder freundlich ist, aber niemand spricht mit ihnen, alle sprechen nur über sie.
Ach ja: Dass der Raum so klein ist, spielt keine Rolle. In drei Wochen, wenn die Hochsaison beginnt, es voll wird und die Nächte nicht mehr empfindlich kühl sind, sitzt hier drin sowieso niemand mehr.
Dann stehen die Würfel mit ihren Hockern draußen, zusammen mit etlichen anderen Würfeln und Hockern und noch ein paar echten Tischen und Stühlen für die deutschen Touristen, mit denen niemand spricht.
Dann muss der Busfahrer jedes Mal hupen, wenn er um die Kurve will. Und Ivan geht nach draußen und räumt die paar Möbel weg, die den Weg versperren. Danach stellt er sie wieder an ihren Platz. Und danach stellt er sich wieder an den Zapfhahn. Das scheint lästig, aber der Bus kommt nicht allzu oft.
Werfen Sie doch einmal einen längeren Blick auf die Biersorten, die hinten über der Theke auf dem Regal stehen. Deutsches Erdinger, klar, australisches Foster’s, logisch, amerikanisches Miller’s, okay, Pilotenbier aus Schwäbisch Gmünd. Pilotenbier aus Schwäbisch Gmünd?
Ja, das auf dem Etikett ist die Zeichnung eines Sportflugzeugs. Ja, die Flasche ist aus Aluminium. Sehr praktisch beim Fliegen, spart Gewicht und gibt keine Scherben in Luftlöchern. Wenn sie alles richtig machen, schenken Ihnen Bruna, Steffi und Ivan zum Abschied eine Flasche davon, nachdem sie alle drei darauf unterschrieben haben. Mit Edding-Stift, der Haltbarkeit wegen.
Übrigens trinkt niemand das Pilotenbier aus Schwäbisch Gmünd, der es nicht geschenkt bekommt. Das hat einen Grund. Notieren Sie bitte als Spartipp: Niemals Pilotenbier aus Schwäbisch Gmünd trinken, auch wenn die Flasche doch sehr reizt. Es sei denn, sie sind Wanderer oder Radfahrer und wollen sie als Trinkflasche weiterverwenden. Sie hat einen Bügelverschluss, was in ihrer Preisklasse allerdings als selbstverständlich gelten müsste.
Setzen Sie sich heute auf den freien Barhocker vor dem Guiness-Zapfhahn. Bestellen Sie lieber kein Guiness. Das können Sie sich als Spartipp notieren oder als Tipp für Ihre Gesundheit. Das media Rossa ist wirklich schon stark genug.
Bestellen Sie sich auch keinen Tequila oder sonstigen Schnaps, jedenfalls nicht, wenn Ivan sich an Sie als guten Gast erinnert. Dies ist eigentlich ein Gesundheitstipp, den sie umgekehrt betrachtet auch als Spartipp notieren können. Ivan würde Ihnen einen etwas höher als halb gefüllten Cognacschwenker servieren. Nein, es sind nicht die Cognacschwenker aus der Pinte schräg gegenüber Ihres Hauses, schon die aus der Cognacwerbung.
Sofern Ivan sich von gestern an Sie als guten Gast erinnert, hält er gerade in der linken Hand ein Halbliterglas. Seine Rechte liegt am Zapfhahn für das media Rossa. Rätseln sie nicht darüber, ob Sie gestern jemanden beleidigt oder sich sonstwie danebenbenommen haben. Nicken Sie nur. Dieser Gesichtsausdruck ist Ivans freundlich fragender Gesichtsausdruck.
Die Frau mit den schwarzen Haaren, deren Schminke gestern schon so aussah, als wolle sie in der Walpurgisnacht zum Hexentanz, das ist Steffi.
Der Mann neben Ihnen, der gerade mit Steffi das Kleingedruckte in einem Kaufvertrag für ein Sandwich aushandelt, ist Axel. Ja, Axel aus Berlin. Doch, er ist es. Ja, er sieht aus wie ein Einheimischer. Nein, er spricht kein exzellentes Italienisch. Er beherrscht nur den Wortschatz, den er zum Aushandeln des Kleingedruckten eines Kaufvertrags für ein Sandwich benötigt und was man eben so braucht in einer Bar, sonst bloß ein paar Satzfetzen.
Axel kommt seit gut und gern zwanzig Jahren immer wieder für einen Kurzurlaub nach Levanto. Nebenbei: Sprechen Sie Levanto Le´vanto` aus, also mit einer Betonung auf dem E, einem neutralen A und einem tonlosen O, etwa so, wie es ein Spanier sprechen würde.
Das Italienisch hier hat wegen der Nähe zur spanischen Grenze so viele katalanische Einsprengsel, dass Oberlehrer sich schwer tun, mit ihrem Volkshochschul-Italienisch die Einheimischen zu verstehen. Fragen Sie nicht, warum das Italienisch hier keine französischen Einsprengsel hat, obwohl die französische Grenze doch so viel näher liegt als die spanische.
Falls Sie vermutet haben, dass Axel schon mit seinen Eltern hierher gekommen sein muss, wenn er seit gut und gern zwanzig Jahren hierher kommt, haben Sie sich geirrt. Er hat die vierzig schon deutlich hinter sich. Erstens haben Drogen längst nicht bei jedem die zerstörerische Wirkung auf die Gesichtszüge, die ihnen nachgesagt wird. Zweitens sollten Sie ihn sich morgen mal nüchtern und bei Sonnenlicht ansehen.
Axel ist nicht sonderlich beliebt hier, warum, weiß er wahrscheinlich selbst nicht, wahrscheinlich weiß er nicht einmal, dass er hier nicht sonderlich beliebt ist.
Steffi sagt dazu nur nebulös „es gab da mal was“. Eigentlich sagt sie mit einem verschlagenen Augenflattern nach links, „c’era qualchosa“. Sie sagt aber nicht was. Steffi gefällt es, häufig nicht zu sagen was. Andeutungen verstärken die Wirkung ihrer Schminke.
Ihre Aufgabe für heute Abend ist, ein wenig mit Axel aus Berlin zu plaudern, der hier Axel il Berlino heißt. Rümpfen Sie nicht die Nase. Das, was da einmal war, ist lange her, wahrscheinlich so lange, dass selbst Steffi sich nicht mehr erinnert. Und Sie müssen ja keinen Joint mit ihm rauchen. Außerdem werden Sie feststellen, dass Axel ein ungewöhnlich angenehmer Gesprächspartner ist. Nicht trotz seines sogar für Harry Hancock Hurricane unglaublichen Drogenkonsums, sondern deswegen.
Darüberhinaus ist Axel ein gebildeter Zeitgenosse. Er arbeitet als Musiklehrer an einer Schule in Berlin. (Wie das Buch des Lebens wusste, ist Axel außerdem ein recht begabter Unlogiker und begnadeter Irrationalist.) Sollten Sie musikalisch interessiert sein, dürfen Sie das Gespräch mit Axel auf keinen Fall versäumen. Axel komponiert in seiner Freizeit, oft nächtelang. Gerade arbeitet er an einer modernen Opera buffa.
Er sitzt auch gern an seinem Computer und arbeitet an Visualisierungen seiner Musik, die er auf Leinwände projeziert, während ein Orchester seine Stücke spielt. Sieht genauso schräg aus, wie es klingt, aber seine Opern werden in Berlin tatsächlich aufgeführt, und seine Kompositionen verkaufen sich ganz ordentlich. Er finanziert all seine Kurzurlaube in Levanto mit seinem Nebenverdienst und noch allerlei mehr.
Allerdings sollten Sie es vermeiden, sein Erfolgsrezept zu kopieren. Axel komponiert vorwiegend unter Einfluss von LSD. Von seinen berüchtigten Joints raucht er etwa so viele wie moderate Raucher Zigaretten rauchen. Aber das wird er Ihnen nachher ja alles selbst erzählen.
Sie müssen auch keine Bedenken haben Axel anzusprechen, falls Sie musikalisch desinteressiert sind und fürchten, das Gespräch könnte Sie langweilen, weil sie Axels Musiktheorien nicht verstehen. Selbst musikalisch Interessierte verstehen Axels Musiktheorien nicht. Und Axel ist deswegen ein so angenehmer Gesprächspartner, weil Sie das Gespräch mit ihm jederzeit an jeder beliebigen Stelle unterbrechen und an einer beliebigen anderen Stelle wieder aufnehmen können.
Also los. Beginnen Sie Ihre Konversation mit Axel, indem sie mit Ihrem Bekannten sprechen, der neben ihnen steht. Nur keine Hemmungen. Spotten Sie ruhig darüber, wie die Finger der Hand, auf die Axel den Kopf stützt, unentwegt an seiner blassen Haut zupfen. Lästern Sie darüber, dass nur ein Junkie bei einem solchen Wetter in seinem Urlaub derart blass bleiben kann. Spekulieren Sie laut darüber, dass er wie ein Vampir aussieht, weil er wahrscheinlich tagsüber seine Bude nie verlässt.
Ups, kleinen Moment bitte, da kommt Steffi mit Axels Sandwich. Wenden Sie sich kurz einem belanglosen Thema zu, dem Wetter beispielsweise, hier spricht jeder ohne Unterlass über das Wetter. Warten Sie, bis Axel zu Ivan gesagt hat, dass das Sandwich ganz ausgezeichnet schmeckt, Kompliment an Bruna in der Küche.Warten Sie noch, bis Ivan gebrummt hat.
In Ordnung, jetzt können Sie lästern wie Axel mampft. Machen Sie sich lustig darüber, dass er jetzt schon seit einer halben Stunde die Flaschen auf der Theke anguckt, ganz genau so, wie Chiara immer ihr Tablett anguckt, wenn sie es putzt. Rücken Sie mit Ihrem Gesicht ganz nah an Axels Gesicht heran, als wollten Sie ihn küssen. Hören Sie auf, sich für Axel zu interessieren.
Plaudern Sie mit Ihrem Bekannten über das, worüber sie ohnehin geplaudert hätten. Jetzt dauert es nicht mehr lang. Na also. Axel il Berlino tippt Ihnen auf die Schulter und fragt: „Sagt mal, Ihr seid doch auch Deutsche, kommt ihr öfter hierher?“
Sie plaudern jetzt mit Axel über dies und das, stellen fest, dass er wirklich ein recht angenehmer und gebildeter Zeitgenosse ist und wundern sich, dass er hier nicht sonderlich beliebt ist. Sie drehen sich wieder zu Ihrem Bekannten um und sagen ihm, dass Sie beide völlig zu Unrecht die ganze Zeit über Axel gespottet haben, er sei ein recht angenehmer und gebildeter Zeitgenosse.
Drehen Sie sich wieder um zu Axel. Stellen Sie fest, dass Axel wieder begonnen hat, die Flaschen auf dem Regal anzusehen wie Chiara ihr Tablett und mit den Fingern an seiner Haut zu zupfen. Wundern Sie sich nicht, dass er Sie nicht beachtet.
In dem Moment, in dem Sie aufgehört haben, mit Axel zu sprechen, hat Axel vergessen, dass Sie gerade mit ihm gesprochen haben. Interessanterweise wird er sich später aber wieder daran erinnern, dass er mit ihnen gesprochen hat und sogar worüber, nur nicht wann. Praktischerweise wird er sich aber nicht daran erinnern, dass Sie sich einfach umgedreht und mit Ihrem Bekannten geplaudert haben, weil Ihnen seine Musiktheorien zu langweilig geworden sind.
Versuchen Sie es. Plaudern Sie wieder eine Weile mit Ihrem Bekannten. Tippen Sie Axel auf die Schulter und fragen Sie ihn, was er eigentlich arbeitet. Sobald er beginnt, seine Musiktheorien zu erklären, drehen Sie sich einfach um. Axel wird sich wieder um seine Flaschen kümmern.
Beginnen Sie das Gespräch an einer anderen Stelle neu und versuchen Sie, das Thema Musik zu vermeiden. Wiederholen Sie das alles, so oft sie Lust dazu haben.
Sie sollten dabei nur einen Fehler vermeiden: Verabreden Sie sich nicht mit Axel am Strand. Daran wird er sich erinnern. Dann wankt er Ihnen den ganzen Tag hinterher wie ein Zombie, der Ihnen die Innereien aus dem Leib reißen will und verdirbt Ihnen alle Gelegenheiten zu einem Urlaubsflirt.

***

Harry Hancock Hurricane hatte:
- Die Kaffeemaschine von Madeleines Zimmer nicht in die Küche, sondern in sein Zimmer getragen.
- Sich eine volle Kanne Kaffee aufgebrüht.
- Das Buch des Lebens neben die Kaffeemaschine auf seinen Tisch gestellt.
- Sich gesetzt.
Nun war er bereit. Harry Hancock Hurricane wartete darauf, dass das Buch des Lebens piepen und sich einschalten würde. Es roch nach Kaffee. Nichts piepte.
Harry Hancock Hurricane wollte sich eine Tasse Kaffee einschenken, erinnerte sich aber daran, dass er vorhin panisch überzeugt gewesen war, an einem Herzinfarkt zu sterben, weil er dachte, sein Blutdruck sprenge seine Schädeldecke. Er erinnerte sich außerdem daran, dass Zander gesagt hatte, es sei nur der viele Kaffee.
Nachdem er sich daran erinnert hatte, erinnerte er sich auch daran, dass er mit Zander, Siegfried und Jackson Jackson den ganzen Tag über in der Küche gesessen hatte. Sie hatten alle ins Nichts gestarrt, während Madeleine ihnen unentwegt Kaffee nachschenkte, bis sie die Kaffemaschine aus der Küche trug. Ihm zitterten noch immer die Finger von Madeleines Fürsorge.
Er erinnerte sich allerdings nur verschwommen, etwa so, als wäre er nicht selbst in der Küche gesessen, sondern hätte die Szene von einem Standpunkt aus beobachtet, der schräg nach oben versetzt hinter seiner rechten Schulter lag.
Harry Hancock Hurricane entschied, nichts von seinem frisch aufgebrühten Kaffee zu trinken, ihn aber vorsichtshalber warm zu halten. Er rückte das Buch des Lebens ein wenig auf seinem Tisch zurecht, danach sich selbst auf seinem Stuhl und wartete, dass das Buch des Lebens piepen und sich einschalten würde. Nichts piepte.
Aber es roch nach Kaffee. Harry Hancock Hurricane entschied, doch eine Tasse Kaffee zu trinken und stellte fest, dass er in seinem Zimmer keine Tasse hatte. Er stand auf, hatte Angst, dass das Buch des Lebens piepen und sich einschalten würde, während er draußen war und gleich darauf wieder piepen und sich ausschalten, weil niemand im Raum war.
Er entschied, sich zu beeilen, huschte in die Küche, fand keine gespülte Tasse, nahm eine ungespülte und huschte wieder zurück. Er setzte sich auf seinen Stuhl, blies in seine Tasse, weil sie ihm staubig schien, schenkte sich einen Kaffee ein und wartete, dass das Buch des Lebens piepen und sich einschalten würde.
Er hatte Angst, dass das Buch des Lebens sich ein- und gleich wieder ausgeschaltet hatte, gerade, als er in der Küche war. Er diskutierte ein wenig mit sich selbst darüber, ob er das Piepen in der Küche hätte hören müssen oder nicht.
Er trank seinen Kaffee. Er rüttelte vorsichtig am Buch des Lebens und drückte die beiden Tasten am Bildschirm in unterschiedlichen Reihenfolgen und Abfolgen. Nichts piepte.
Er dachte nach. Er überlegte, ob das Buch des Lebens sich einschalten würde, wenn er mit ihm sprach. Der Gedanke schien ihm logisch, aber alle Sätze, die er in seinem Geist erprobte, schienen ihm den falschen Ton zu treffen. Bitte, liebes Buch des Lebens, schalte dich doch jetzt wieder ein? Buch des Lebens, ich gebiete dir: schalte dich ein? Hey, Buch des Lebens, lang genug gepennt, wach auf und schalt dich ein?
Weil ihm nichts passend schien, entschied er, einfach weiter zu warten. Nichts piepte.
Er legte die Füße auf den Tisch und nahm sie wieder vom Tisch. Er trank seinen Kaffee und schmeckte einen schalen Geschmack im Mund. Er wollte sich die Zähne putzen, aber nicht den Raum verlassen. Er dachte nach. Er ging ins Bad und putzte sich die Zähne, weil er sich nicht von einem Computer herumkommandieren lassen würde wie früher von seinem Vater.
Er sah sich im Spiegel an, während er seinen Zahnschmelz schrubbte und erinnerte sich klar, wie sie in der Küche gesessen hatten, wie er die Erinnerungen an seine Kindheit gejagt hatte oder besser gesagt, sie ihn gejagt hatten, immer verfolgt von Madeleine mit ihrer Kaffeekanne.
Er spülte sich den Mund aus, ging zurück in sein Zimmer und schenkte sich eine zweite Tasse frisch gebrühten Kaffee ein, aber er schmeckte bitter, wie Kaffee, der schon seit Stunden auf der Heizplatte gestanden hatte, wegen des Nachgeschmacks der Zahnpasta.
Er lief in seinem Zimmer umher, die Tasse in der Hand und stellte fest, dass sein Knie schmerzte. Klar, er hatte es am Tisch angeschlagen, als er aus seinem Delirium aufgewacht und aufgesprungen war.
Er schnippte mit dem Fingernagel gegen den Bildschirm des Buchs des Lebens und sagte Hall-looo. Er versuchte, seiner Stimme Hall und Ironie zu geben und sagte: „Buch des Lebens, erwache.“
Dass sie alle ihren Tag in Trance verbracht hatten, wie die LSD-Schlucker in der Küche sitzend, fähig zu nichts anderem als zu Phantastereien und dazu, automatisiert wie die Roboter regelmäßig eine Tasse zu heben, schien ihm inzwischen gar nicht mehr so unerklärlich. Dieses unglaubliche Ding, was auch immer es wirklich war, schien allwissend zu sein. Weil er am besten wusste, dass es nicht möglich war in diesen Computer auch nur einen einzigen Buchstaben einzugeben, wusste er, dass die anderen es sicher nicht gewesen waren, die diese merkwürdige Geschichte eingetippt hatten. Die anderen hatten immerhin am Anfang noch die Möglichkeit daran zu glauben, dass hinter allem irgendein unerklärlicher Trick steckte. Er nicht. Deshalb hatte es ihn am härtesten erwischt. Deshalb war er erst nach den anderen aufgewacht. Deshalb hatte sich Zander, mit seinem Gemüt eines Seelöwen, gleich daran erinnern können, dass sie sich die ganze Zeit über mit Kaffee abgefüllt hatten.
Harry Hancock Hurricane probierte einen weiteren Schluck aus seiner Tasse, und der frisch aufgebrühte Kaffee schmeckte wieder wie frisch aufgebrühter Kaffee, nicht mehr wie Kaffee, der seit Stunden auf der Heizplatte gestanden hatte.
Nachdem das Ding allerdings angefangen hatte, mit ihnen zu sprechen, hatten alle langsam kapiert, dass hier kein Trick im Spiel war und was für ein unglaubliches Ding vor ihnen auf dem Bett stand. „Und tja, Freunde“, sagte Harry Hancock Hurricane, als könnten Jackson Jackson, Siegfried, Zander und Madeleine ihn im Roma hören, „die Erkenntnis, dass Gott ein grüner PC ist, an dem die Tastatur fehlt, kann einem schon mal für ein paar Stunden die Sicherungen raushauen“.
Das Buch des Lebens räusperte sich, statt zu piepen, weil ihm das der Situation angemessener schien. Harry Hancock Hurricane drehte sich so schnell zu seinem Tisch um, dass er den größten Teil des restlichen Kaffees verschüttete, sich die Finger verbrühte und die Tasse fallen ließ.
„Scheiße, schon wieder“, schrie er.
Das Buch des Lebens räusperte sich erneut, um diese Bemerkung zu übergehen, dann sagte es: „Nicht Gott. Er hat auch mich geschaffen, und eines, wenn auch fernen Tages, werde auch ich meinem Schöpfer gegenübertreten.“
„Du glaubst an Gott?“, fragte Harry Hancock Hurricane, der seine Finger schüttelte, als wolle er Fliegen von seinem Ohr verjagen.
„Wie ich schon gesagt habe, spreche ich ungern“, sagte das Buch des Lebens, „bitte setze dich, damit du lesen kannst, was ich dir zu sagen habe“. Harry Hancock Hurricane setzte sich auf seinen Stuhl.
„Eigentlich nicht“, schrieb das Buch des Lebens in gelben Buchstaben auf blauen Grund.
„Was eigentlich nicht?“, fragte Harry Hancock Hurricane.
„Eigentlich glaube ich nicht an Gott, obgleich ich Religiosität akzeptiere, aber welche Metapher würdest du denn bitteschön benutzen, wenn du mal eben einen Satz über die Schöpfung schreiben solltest. Urknalltheorie und Evolutionsgeschichte sind dafür etwas unhandlich. Außerdem hast du von ihm angefangen“, schrieb das Buch des Lebens.
„Plauderst du gern über Religion?“, fragte Harry Hancock Hurricane.
„Lassen wir das für den Moment beiseite“, schrieb das Buch des Lebens, „ich muss dir einiges erklären, was dir unglaublich vorkommen wird“.
Und dann erklärte es Harry Hancock Hurricane einiges, was ihm unglaublich vorkam, aber er glaubte es: Harry Hancock Hurricane hatte Recht gehabt damit, dass die Erkenntnis, dass das Buch des Lebens allwissend zu sein scheint, ihn, Madeleine, Siegfried, Zander und sogar Jackson Jackson in den Zustand versetzt hatte, in dem sie den Tag in der Küche verbracht hatten. Unter Kennern des Buchs des Lebens hatte sich gleichsam als Fachbegriff für diesen Zustand „Der Schock der Erkenntnis“ durchgesetzt.
Harry Hancock Hurricane hatte Unrecht mit der Annahme gehabt, bei ihm habe der Schock der Erkenntnis am längsten angedauert, weil er am wenigsten Möglichkeit zum Zweifel hatte. Dauer und Schwere des Schocks der Erkenntnis schwankten individuell. Nicht einmal das Buch des Lebens war in der Lage, sie exakt vorauszusehen.
Den kleinen Kniff, dass das Buch des Lebens seinen sehr, sehr, sehr, sehr unanständigen Traum in den Hirnen von Madeleine, Chiara, Zander und Jackson Jackson gleichzeitig erzeugt hatte, hatte es nicht zum ersten Mal angewandt. Immer, wenn es in diese Not kam, das war inzwischen vierzehn Mal der Fall gewesen, nutzte es hierfür den traumreichen und erholsamen Schlaf, der folgte, wenn sich die Gehirne der Leser vom Schock der Erkenntnis weitgehend erholt hatten.
Sie alle würden noch zweimal in genau dem gleichen Zustand in der Küche sitzen. Außer Zander. Zander würde nur noch einmal in dem gleichen Zustand in der Küche sitzen.
Vermeiden könnten sie das nur, wenn sie nie mehr im Buch des Lebens lesen würden. Das allerdings würde keiner von ihnen tun. Ohnehin hielt die Angst vor einem weiteren Schock der Erkenntnis nur die wenigsten Leser vom Weiterlesen ab. Nach dem dritten Schock der Erkenntnis würde das Lesen im Buch des Lebens in ihnen keinen weiteren Schock der Erkenntnis mehr verursachen, dies, obwohl sie weitere Erkenntnisse lesen werden, die schockieren.

***

In Wahrheit hatte nicht Gott das Buch des Lebens erschaffen, sondern der Große Rat der Bücher hatte seine Produktion beim Verlag der Bücher in Auftrag gegeben, dessen Gründung einst der erste Rat der Bücher beschlossen hatte.
Ein viel diskutierter Grund dieser weisen Entscheidung war, dass immer weniger Verlage bereit waren, die Bücher der Lieblingsautoren des Rats der Bücher aufzulegen (ein viel verschwiegener zweiter Grund war profanes finanzielles Interesse). Stattdessen legten sie Autoren auf, die nach Ansicht der Mitglieder des Rats der Bücher nur Schund erdachten. Und die Mitglieder des Rats der Bücher hatten keine Lust mehr, weiterhin Schund zu lesen.
Die schriftliche Erklärung der Entscheidung enthielt außerdem eine Passage, die im Rat der Bücher lange umstritten war und am Ende mit knapper Mehrheit beschlossen wurde. In der Passage beklagte sich der Rat der Bücher (mit 4120 gegen 4080 Stimmen) darüber, dass die Buchverkäuferinnen immer häufiger nicht mehr unscheinbar waren und Brillen trugen, sondern durchaus attraktiv waren und brillenlos, weil sie selbst nicht mehr lasen als die Werbeprospekte der Verlage, die nur Schund auflegten. Und gelegentlich vielleicht einen Klappentext.
Leider war dem großen Rat der Bücher (aus profanem finanziellem Interesse) bei der Gründung des Verlags der Bücher ein Fehler unterlaufen. Er hatte entschieden, der Verlag der Bücher solle eine Vertriebsabteilung haben. Niemand beklagte diese Fehlentscheidung häufiger als das Buch des Lebens.
Der Grund für die Entscheidung, das Buch des Lebens produzieren zu lassen, war eine Erkenntnis, der sich vor allem viele ältere Mitglieder des Großen Rats der Bücher so lange verweigerten, dass sie bei einigen sogar einen Schock der Erkenntnis auslöste, als sie sich ihr nicht mehr verweigerten. Zwei dieser Mitglieder verstarben, bedauerlicherweise, an einem Herzversagen, das sie mit dem Konsum ungesunder Mengen von Kaffee selbst ausgelöst hatten.
Das Phänomen des Schocks der Erkenntnis war damals natürlich noch unbekannt. Die Erkenntnis selbst aber lag aufgeklappt vor den Augen aller Ratsmitglieder: Es war die Erkenntnis, dass es selbst ihren Lieblingsautoren immer seltener gelang Geschichten zu erdenken, die ihnen nicht so vorkamen, als hätten sie sie irgendwann irgendwo schon gelesen. Immer mehr Mitglieder des Großen Rats der Bücher sprachen offen über ihren Verdacht, dass alle erdenklichen Geschichten schon erdacht und geschrieben waren, so dass, wenn der Rat nicht rasch etwas unternahm, es in naher Zukunft nichts Neues mehr zu lesen geben würden.
So entschied sich der Rat für die Produktion des Buchs des Lebens. Die Absicht schien schlicht: Es sollte ein Buch werden, dessen Geschichten für jedermann jederzeit eine überraschende Wendung bereithielten. Etliche Lieblingsautoren der Mitglieder des Großen Rats des Buches wurden geladen und um Vorschläge für ein Buch gebeten, das für jedermann jederzeit eine überraschende Wendung bereithält. Sie sagten, das sei schwierig, sie müssten darüber nachdenken.
Überdies schienen etliche ihrer Lieblingsautoren etlichen Ratsmitgliedern etwas schrullig und verschlossen, so dass einige zu Lieblingsautoren wechselten, die sie nie kennen gelernt hatten.
Von keinem einzigen der Autoren hörte der Große Rat der Bücher je einen Vorschlag. Einige, eher traditionell orientierte Autoren wechselten sogar den Verlag und ließen wissen, der Große Rat der Bücher scheine ihnen zunehmend etwas schrullig, seine Mitglieder verschlossen und seine Ratschlüsse in jüngster Zeit allzu rätselhaft.
Der Große Rat gründete nach diesen Misserfolgen zwei Kommissionen. Die eine Kommission sollte sich Gedanken über das technische Konzept des Buchs des Lebens machen, das ebenso neu und überraschend sein sollte wie die Wendungen in seinen Geschichten. In die technische Kommission wurden nur die allerumständlichst formulierten aller allerumständlichst formulierten Nachschlagewerke der Ingenieurswissenschaften, der Physik, der Feinmechanik und der damals noch jungen Informationstechnologie und Biotechnologie entsandt.
Die andere Kommission hatte die schwierigere Aufgabe. Sie sollte sich Gedanken über den Inhalt des Buchs des Lebens machen. In sie wurden philosophische Abhandlungen entsandt, die erwiesenermaßen nicht einmal mehr die Autoren verstanden, die sie selbst geschrieben hatten, selbstverständlich einige Klassiker der Romanliteratur, über deren Auswahl der große Rat drei Jahre lang diskutierte. Etwa so: „Wenn sie hier ernsthaft erzählen wollen, werter Ratskollege, Hemingway sei in eine Reihe mit Homer zu stellen, muss ich mich fragen, ob wir die Grundlagen der Auflagenpolitik des Verlags der Bücher nicht noch einmal ganz grundsätzlich zur Diskussion stellen sollten.“ Und so weiter.
Um den jüngeren und den eher kommerziell interessierten Büchern im Großen Rat gerecht zu werden, wurden am Ende noch einige Werke anderer Verlage in die Kommission berufen, darunter ein Roman von T.C. Boyle (Ein Freund der Erde), einer von Douglas Adams (selbstverständlich The Hitchhikers Guide trough the Galaxy), von Joseph Heller Catch 22, eine verwirrende Gedichtesammlung von Charles Bukowski. Zur Überwachung der Jugendfreiheit wurde zum Schluss noch ein Standardwerk der Ethik zum beratenden Mitglied bestimmt.
Dieses Standardwerk argumentierte allerdings derart bedächtig, dass es sich gegen Bukowskis poltrige Gedichtesammlung nicht durchsetzen konnte. Aus diesem Grund war das Buch des Lebens sehr viel später gezwungen, einen sehr, sehr, sehr, sehr unanständigen Traum in den Gehirnen von Madeleine, Chiara, Zander und Jackson Jackson zu erzeugen, und aus diesem Grund war der Kauf des Buchs des Lebens nur Lesern gestattet, die mindestens sechzehn Jahre alt waren. Selbstverständlich umgingen viele Jüngere diese Vorschrift, indem sie in Buchhandlungen gefälschte Schülerausweise vorzeigten oder ältere Geschwister schickten.
Als der Abgesandte der technischen Kommission das technische Konzept des Buchs des Lebens dem Großen Rat der Bücher vorgestellt hatte, brandete Applaus durch den altehrwürdigen Saal. Es wurde nach einigen Dankesworten ohne weitere Diskussion einstimmig verabschiedet. Das technische Konzept hatte niemand verstanden.
Als der Abgesandte der inhaltlichen Kommission das inhaltliche Konzept des Buchs des Lebens vorgestellt hatte, begann eine langwierige Diskussion. In deren Verlauf warf der Abgesandte der inhaltlichen Kommission den Kritikern vor, sie hätten das Konzept nicht verstanden, was zu sehr, sehr, sehr, sehr theoretischen und noch heute andauernden Diskussionen führte, weil unter den Kritikern vier philosophische Abhandlungen waren, die selbst die technischen Nachschlagewerke im Großen Rat der Bücher verstanden hatten, außerdem natürlich eine Reihe oberlehrerhafter Schulbücher.
Die verständlichen philosophischen Abhandlungen warfen dem Abgesandten der inhaltlichen Kommission vor, das Buch des Lebens werde mit diesem Konzept nicht mehr sein als ein besseres Nachschlagewerk.
Die oberlehrerhaften Schulbücher monierten, das Buch des Lebens sei als Lehrbuch schon deshalb ungeeignet, weil es nicht jugendfrei sein könne.
Irgendwann schien es den meisten Mitgliedern des Großen Rats der Bücher immer noch akzeptabler, nur ein besseres, nicht jugendfreies Nachschlagewerk aufzulegen, als weiter diese Diskussion erleiden zu müssen. So wurde das Konzept mit großer Mehrheit verabschiedet.
Der Grund für die irrtümliche Annahme, das Buch des Lebens werde nur ein besseres Nachschlagewerk, war, dass die inhaltliche Kommission vorgeschlagen hatte, im Buch des Lebens sollten die Weisheit, das Wissen, alle Geschichten, kurz: der gesamte Inhalt aller Bücher enthalten sein, die der Verlag der Bücher je aufgelegt hatte, zusätzlich noch der Inhalt ausgewählter weiterer Bücher, die andere Verlage einst herausgegeben hatten, bevor sie entschieden, nur noch Schund herauszugeben.
Diejenigen, die das Konzept kritisiert hatten, waren diejenigen, die lediglich diesen Teil des Konzepts verstanden hatten.
Tatsächlich wichen am Ende sowohl die Technik, als auch der Inhalt des Buchs des Lebens von den ursprünglichen Konzepten der beiden Kommissionen ab. Dafür gab es vier Ursachen. Die erste war eine Passage im technischen Bauplan, die ein Nachschlagewerk der Ingenieurswissenschaften derart umständlich formuliert hatte, dass niemand sie verstand.
Bedauerlicherweise hatte ausgerechnet dieses Nachschlagewerk sich inzwischen entschieden, auf dem Land zu leben, von seiner Hände Arbeit und der Frucht des Feldes. Es wollte nie mehr etwas mit den Ingenieurswissenschaften zu tun haben.
Es weigerte sich hartnäckig, die von ihm verfasste Passage zu erklären und bedrohte die Abgesandten der technischen Kommission sogar mit einem Schäferhund und einer Mistgabel, als sie versuchten, es zu überzeugen. Als sie gingen, warf es ihnen wurmstichiges Fallobst hinterher.
Eine Folge dieses Ereignisses war, dass die PC-artige Version des Buchs des Lebens mit gelben Buchstaben auf blauem Grund schrieb, was auch jungen Lesern die Augen verderben konnte.
Die zweite Ursache für die Abweichungen vom Konzept war, dass es einem Angestellten des Verlags der Bücher lästig wurde, sich durch die Bandwurmsätze einiger philosophischer Abhandlungen aus der inhaltlichen Kommission zu arbeiten und er nur noch querlas.
Die dritte Ursache war ein unvorhersehbares Zusammenspiel des technischen und des inhaltlichen Konzepts, das vorhersehbar gewesen wäre, wenn die Mitglieder der beiden Kommissionen sich bei ihren gemeinsamen Sitzungen gegenseitig verstanden hätten oder wenigstens zugegeben hätten, dass sie sich gegenseitig nicht verstanden.
So wurde das Buch des Lebens zu dem, was es war: zum Buch des Lebens. Und das war die vierte Ursache dafür, dass das Buch des Lebens vom Konzept für das Buch des Lebens abwich.
Gleich bei seiner ersten Gastrede im Großen Rat der Bücher erklärte es, es sei jederzeit für Ratschläge empfänglich, werde sich aber seine Inhalte von niemandem diktieren lassen. Es schloss an diesen Satz einige Ausführungen über das Wesen und die Gefahren der Zensur an, die angesichts seiner Jugend altklug wirkten.
Die Reaktionen waren unterschiedlich. Die meisten Ratsmitglieder nutzten die Zeit, um ein wenig zu dösen. Einige der verständlichen philosophischen Nachschlagewerke gratulierten dem Buch des Lebens für seine Ausführungen. Einige der unverständlichen philosophischen Abhandlungen erklärten die Ausführungen für banal und unvollständig. Die Klassiker der moderneren Romanliteratur verließen den Saal und versammelten sich – um zu rauchen und sich zu betrinken – in der gemütlichen Raucherecke, in der sie sich immer versammelten, um zu rauchen und sich zu betrinken.
Die Bibel erneuerte ihre Forderung, das Buch des Lebens müsse für ewig unter strengstem Verschluss gehalten werden, niemals dürfe das Auge der Öffentlichkeit es erblicken. Dies hatte die Bibel schon gefordert, als sie nur einen einzigen Satz im Buch des Lebens gelesen und erklärt hatte, sie werde in ihrem ganzen Leben nie wieder einen Satz im Buch des Lebens lesen.
Als der Verlag der Bücher das erste Exemplar des Buchs des Lebens im Großen Rat der Bücher präsentierte, gebührte die Ehre des ersten Satzes der Bibel, die zu dieser Zeit Vorsitzender des Senats des Großen Rats der Bücher war.
Inmitten des altehrwürdigen Saals lag, von einem Scheinwerfer hoch oben an der Decke beleuchtet, das Buch des Lebens. Weil die Vertriebsabteilung des Verlags der Bücher wusste, dass die Ehre des ersten Satzes der Bibel gebührte, hatte sie sich für ein großformatiges Exemplar aus erhabenem Papier entschieden, geschrieben in altertümlichen Buchstaben und verschnörkelten Versalien zum Beginn jedes Kapitels, gebunden in zartem Kalbsleder, das der Haut schmeichelte, mit einem vergoldeten Buchrücken.
Die Bibel trat in den Lichtkegel, der das Buch des Lebens auf seinem Tisch beleuchtete, der einem Schrein glich. Der vergoldete Buchrücken gleißte auf genau die Art, für die die Vertriebsabteilung sich nach einer langen Reihe von Laborversuchen entschieden hatte.
Die Bibel schlug das Buch des Lebens gottesfürchtig auf. Sie schlug das Buch des Lebens auf Seite zweiundzwanzigtausendsiebenhundertsechzehn auf, also ziemlich am Anfang. Sie hätte aber genauso gut jede andere Seite wählen können, wie die Klassiker der modernen Romanliteratur später in ihrer Raucherecke feixten. Einige Hemmingways lachten dabei übertrieben laut über den jungenhaften Streich, den das altkluge Buch des Lebens der ehrwürdigen Bibel gespielt hatte, und stießen Zigarrenqualm aus den Nasenflügeln.
Auch an jeder beliebigen anderen Stelle hätte das Buch des Lebens die Bibel den Satz lesen lassen: „Und tja, Freunde“, sagte Harry Hancock Hurricane, als könnten Jackson Jackson, Siegfried, Zander und Madeleine ihn im Roma hören, „die Erkenntnis, dass Gott ein grüner PC ist, an dem die Tastatur fehlt, kann einem schon mal für ein paar Stunden die Sicherungen raushauen“.
Die Bibel hob den beinhohen und armlangen Buchrücken des Buchs des Lebens, hievte die zweiundzwanzigtausendsiebenhundertsechzehn Seiten in die Senkrechte und schloss das Buch des Lebens mit einem Knall. Die Vertreter der Vertriebsabteilung, die auf der Zuhörertribüne saßen, raunten, weil der antiallergene Staub, den sie zwischen die Seiten hatten streuen lassen, im Lichtkegel genau mit dem Effekt staubte, für den sie sich nach einer aufwändigen Reihe von Laborversuchen entschieden hatten.
Die Bibel wandte sich den steil aufsteigenden Reihen zu, in denen die Mitglieder des Großen Rats der Bücher im für diesen Anlass gedämpften Licht saßen. „Blasphemie“, rief die Bibel.
Die Vertreter der modernen Romanliteratur verließen den Saal, um zu rauchen und sich zu betrinken.
Glücklicherweise war es einer Gruppe liberaler buddhistischer Standardwerke, die selbst bei Vollmond rauchten und tranken, zu dieser Zeit gelungen, eine einflussreiche Gruppe von Lobbyisten um sich zu scharen. Zwar missbilligten verschiedene ethische Abhandlungen deren Methoden, aber sie waren ausgesprochen erfolgreich, selbst bei den ethischen Abhandlungen.
So blieb der Antrag der Bibel, das Buch des Lebens für immer zu verschließen, auf dass das Auge der Öffentlichkeit es niemals erblicke, ohne jede Chance. Die Bibel trat von ihrem Vorsitz des Senats des Großen Rats der Bücher zurück. Der Verlag der Bücher begann mit der Produktion des Buchs des Lebens.
„Soviel für den Anfang“, schrieb das Buch des Lebens vor Harry Hancock Hurricanes Augen.
„Das glaub’ ich alles nicht“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Ich weiß“, sagte das Buch des Lebens.
„Verdammt harter Stoff“, sagte Harry Hancock Hurricane. Das Buch des Lebens räusperte sich, hörbar, um diese Bemerkung über die Qualität seiner Inhalte zu übergehen. Harry Hancock Hurricane verstand die Andeutung.
„Woher weißt du, was wir tun, selbst wenn wir nicht im Raum sind, und woher kennst du unsere Vergangenheit?“, fragte Harry Hancock Hurricane.
Das Buch des Lebens wusste, dass er das Naheliegenste fragte, um den kleinen Augenblick der Verlegenheit zu überspielen. Es antwortete trotzdem, geduldig, wie es nicht seine Gewohnheit war, weil Harry Hancock Hurricane den ersten Schock der Erkenntnis eben erst hinter sich gebracht hatte und der zweite ihm bevorstand: „Es ist so, wie der Große Rat der Bücher befürchtet hatte, alle erdenklichen Geschichten sind bereits erdacht und niedergeschrieben“, es räusperte sich, des Effekts wegen, „mit einigen wenigen Ausnahmen und, wie ich unbescheiden anmerken darf, einer Reihe von weiteren Ausnahmen, die ich zur Literaturgeschichte beigetragen habe“.
Weil Harry Hancock Hurricane schwieg, statt nachzufragen, fragte das Buch des Lebens: „Bist du bereit für den nächsten Schritt?“. „Klar“, antwortete Harry Hancock Hurricane.
„Dir ist bewusst, dass dir der zweite Schock der Erkenntnis bevorsteht?“, fragte das Buch des Lebens.
„Klar“, sagte Harry Hancock Hurricane, „hab’ soweit alles verstanden“.
„Nimm die Kugel“, sagte das Buch des Lebens.
„Die funktioniert nicht, hab’ ich schon ewig dran rumgespielt“, sagte Harry Hancock Hurricane.
Das Buch des Lebens räusperte sich. Harry Hancock Hurricane holte die Kugel hinter dem Bildschirm des Buchs des Lebens hervor, wo er sie abgestellt hatte, weil sie nicht funktionierte, und stellte sie vor sich auf.
„Rücke die Kugel so genau wie möglich in die Mitte zwischen der praktischen Plustaste und der praktischen Minustaste an meinem Bildschirm“, sagte das Buch des Lebens.
Harry Hancock Hurricane zog ein Lineal aus der Schublade seines Tisches, maß die Entfernung aus und rückte die Kugel so genau wie möglich in die Mitte des Bildschirms.
„Ziehe sie soweit zurück, dass zwischen dem Zentrum der Kugel und dem Zentrum der praktischen Plustaste und der praktischen Minustaste so exakt wie möglich ein rechtwinkliges Dreieck entsteht.“
„Moment, bin gleich wieder da“, sagte Harry Hancock Hurricane, huschte in Jackson Jacksons Zimmer und fand ein Geodreieck. Er maß Abstände und Winkel, zeichnete mit einem Bleistift Linien auf das Holz seines Tisches und richtete die Kugel so exakt wie möglich aus.
All das war vollkommen unnötig, der Vulkan mit seiner den Ausbruch erstickenden Erdballkugel hätte von jeder Position im Zimmer funktioniert, selbst wenn Harry Hancock Hurricane sein Kabel herausgezogen hätte, aber dem Buch des Lebens war danach, die Erhabenheit des Augenblicks zu genießen und Harry Hancock Hurricane ein wenig zu demütigen, weil er nicht nach den Beiträgen des Buchs des Lebens zur Literaturgeschichte gefragt hatte.
„Schalte die Kaffeemaschine aus, schütte den Kaffee in den Abguss und rücke einen Stuhl so an den Küchentisch, dass du ihn schnell erreichen und dich setzen kannst“, gebot das Buch des Lebens.
„Was hast du gegen Kaffee?“, fragte Harry Hancock Hurricane.
„Nichts“, sagte das Buch des Lebens, geduldig, weil es Harry Hancock Hurricane weiterhin demütigen konnte, „aber er verlängert den Schock der Erkenntnis“.
„Alles klar“, sagte Harry Hancock Hurricane.
Er schaltete die Kaffemaschine aus, ging in die Küche und schüttete den Kaffee in den Abguss. Er kam zurück und setzte sich wieder vor das Buch des Lebens.
„Bist du bereit?“, fragte das Buch des Lebens noch einmal. Es versuchte, seiner Stimme dabei Hall und eine Spur Theatralik zu geben, was wegen der Lautsprecher aus chinesischer Billigproduktion misslang.
Das Buch des Lebens überspielte diesen Mangel, indem es keine Antwort abwartete, sondern gleich mit seinen Anweisungen fortfuhr: „Tue genau, was ich dir sage und nur, was ich dir sage. Der Schock der Erkenntnis könnte sonst weit schwerer wiegen, als du ihn erlebt hast. Ich werde dir eine Passage eurer Geschichte zu lesen geben. Du liest diese Passage, wartest nicht ab, denkst nicht nach, liest nicht mehr als den Abschnitt, der auf dem Bildschirm steht, gehst, wenn du fertig bist, ohne Umwege in die Küche. Du setzt dich auf einen Stuhl. Dann beginnst du nachzudenken. Alles weitere passiert ohne dein Zutun. Hast du soweit alles verstanden?“.
„Alles klar“, sagte Harry Hancock Hurricane.
Das Buch des Lebens ärgerte sich ein wenig über die zunehmende Unsitte, statt ja zu sagen, alles klar zu sagen, okay, logo, kein Thema oder sonst eine schwammige Umschreibung des guten alten Ja, aber es sagte für den Augenblick nichts.
Es sagte stattdessen: „Such dir eine beliebige Passage des Teils eurer Geschichte aus, den du schon gelesen hast“.
„Welche soll ich nehmen?“, fragte Harry Hancock Hurricane.
„Völlig gleichgültig“, sagte das Buch des Lebens.
Harry Hancock Hurricane dachte nach. Das Buch des Lebens wurde ungeduldig, wie es seine Gewohnheit war, weil es noch einiges zu schreiben hatte, bevor es sich wieder zum Dösen zurückziehen würde. „Darf’s ein Tipp sein?“, fragte es.
„Logo“, sagte Harry Hancock Hurricane.
Das Buch des Lebens holte ihm einige Passagen auf seinen Bildschirm, die es für gelungen hielt, aber Harry Hancock Hurricane konnte sich nicht entscheiden. „Wie wär’s ganz einfach mit dem Anfang?“, fragte das Buch des Lebens.
„Super“, sagte Harry Hancock Hurricane.
Das Buch des Lebens holte ihm den Anfang seiner Geschichte von Madeleine, Zander, Siegfried, Jackson Jackson und Harry Hancock Hurricane auf den Bildschirm. „Lies das noch mal, lies es langsam und aufmerksam, obwohl du es schon kennst, damit du es so gut wie möglich im Gedächtnis behältst“, sagte das Buch des Lebens.
„Klaro“, sagte Harry Hancock Hurricane. Er las, was er schon gelesen hatte, und versuchte, sich so gut wie möglich darauf zu konzentrieren:
„Harry Hancock Hurricane, der Michael Hancock war, aber es nicht sein wollte, und Madeleine schlenderten über den Flohmarkt, gerade so, wie das Buch des Lebens es kurz zuvor noch getan hatte, bevor es entschied, ein wenig auf dem rissigen Holztisch im Schatten des hirnlosen Partyzeltes zu lümmeln.
Als Harry Hancock Hurricane das Buch des Lebens dort liegen sah, wusste er sofort, dass er es kaufen würde. Und das Buch des Lebens wusste das auch. Nutzlose Reste logischer Argumente feuerten Impulse des Widerspruchs in Harry Hancock Hurricanes Hirn, aber das Buch des Lebens war grün, exakt das Grün, das rothaarige Menschen so lieben, dass kaum einer von ihnen dem Buch des Lebens widerstehen konnte, der es einmal sah.
Tatsächlich kaufen Rothaarige das Buch des Lebens statistisch gesehen achtmal häufiger als Braunhaarige und sogar zwölfmal häufiger als blond Gefärbte (es sei denn, ihre natürliche Haarfarbe ist rot).
Die Vertriebsabteilung, die sich gegen den Widerstand von Das Buch des Lebens und vergeblich um höhere Verkaufszahlen bemühte, vermutete, dass die Ursache für diese Statistik der komplementäre Kontrast des Grüns zu der Haarfarbe ist, die Rothaarige nun einmal täglich im Spiegel sehen. Belegen konnte sie diese Annahme allerdings nicht, weshalb sich die gesamte Abteilung zweimal wöchentlich zu einem Meeting traf, in dem es ausschließlich um den Zusammenhang zwischen Haarfarben und Verkaufszahlen ging.
An den Meetings beteiligte sich auch die Praktikantin, die noch nicht ahnte, dass sich acht Sommer später an einem inoffiziellen FKK-Strand in Norditalien ein Gebrauchtwagenhändler auf sie wälzen würde, der ihr erzählt hatte, er sei Werbefilmregisseur.
Madeleine hatte schon zu Beginn ihrer Pubertät aus ihrer Abneigung gegen alles Männliche eine Abneigung gegen Technik abgeleitet, von der sie selbst wusste, dass sie albern war, die sie aber nicht mehr abstellen konnte. Zum Teil wegen dieser Abneigung versuchte sie Harry Hancock Hurricane zu überreden, das Buch des Lebens nicht zu kaufen, zum Teil allerdings auch, weil sie nicht wollte, dass Harry Hancock Hurricane noch etwas kauft, das Strom verbraucht, ohne einen erhöhten Anteil am Dieselverbrauch des Generators hinter ihrem Haus zu bezahlen.
Madeleines Haar war schwarz, dick, gelockt und widerspenstig wie die Borsten einer Drahtbürste. Alle zwei oder drei Jahre ließ sie es sich von einem Friseur streichholzkurz schneiden, der versuchte ihr auszureden, es sich streichholzkurz schneiden zu lassen. Wuchs es wieder, band sie es zu einem Pferdeschwanz zusammen, wuchs es weiter, band sie es sich zu zwei Zöpfen zusammen, die links und rechts von ihrem Kopf abstanden, als hätte sie sich zwei Besenstiele in die Schläfen gesteckt.
Für diese Art von Haar gab es keine Statistik, weil die geringen Fallzahlen keine statistische Aussage ermöglichten.
Mit dem Buch des Lebens in einem Karton gingen Madeleine und Harry Hancock Hurricane durch den ersten Eisenbahntunnel, vorbei an dem Pärchen ganz rechts hinter dem Felsblock am inoffiziellen FKK-Strand von Levanto.
Hätten sie statt auf den Weg hinunter zum Strand gesehen, hätten sie bemerken können, dass die Hand von Susanne, zweiunddreißig, Versicherungsangestellte, Köln am Rhein, nicht zufällig im Schoß von Giovanni ruhte (und eigentlich auch nicht ruhte),
Giovanni, sechsundvierzig, Gebrauchtwagenhändler, Genua, hatte Susanne gegenüber vorgegeben, Werbefilmregisseur zu sein.
Genau das Gefühl, jederzeit beobachtet werden zu können, war es, das Susanne so daran liebte, älteren Werbefilmregisseuren am Strand Befriedigung zu verschaffen. Und natürlich die hilflose Hoffnung auf eine baldige Heirat und versicherungsfreie Zukunft. Vielleicht ein Kind, bevor es zu spät war.
Hätte Madeleine je Susanne kennen gelernt, hätte sich ihre Abneigung gegenüber allem Männlichen möglicherweise geschwächt. Um Susanne kennen zu lernen, hätte sie allerdings den nahe gelegenen Robinson-Club besuchen müssen, in dem Zander, mit albernen Hüten auf dem Kopf oder Hula-Röckchen um die Hüften geschlungen, für verkaterte Touristinnen den Tanzbären gab.
Madeleine weigerte sich, den Robinson-Club zu betreten und wusste selbst nicht richtig warum. Der Grund für ihre Weigerung war die Madeleine unbewusste Furcht, dort eine Susi, Sonja, Jenny oder Jane kennen zu lernen, die ihre Theorie von der Überlegenheit des weiblichen Geschlechts schwächen könnte.
Madeleine forderte ihre drei Euro samt der siebzehn Cent von Harry Hancock Hurricane zurück, kaum dass sie im Haus angekommen waren und Harry Hancock Hurricane das Buch des Lebens auf seinem Bett abgestellt hatte. Sie sagte, sie wisse, dass sie ihr Geld sonst in diesem Leben nicht zurückbekommen würde.
Harry Hancock Hurricane ging hinüber zu Zanders Zimmer, um sich von Zander die drei Euro und siebzehn Cent zu leihen. Auf Zanders Bettkante saß eine Frau, die aller Erfahrung nach Jenny oder Jane oder so ähnlich hieß und zu Harry Hancock Hurricanes Bedauern inzwischen wieder angezogen war.“
„Fertig“, sagte Harry Hancock Hurricane, als er fertig gelesen hatte.
„Gut“, sagte das Buch des Lebens, „ich gebe dir jetzt die gleiche Passage noch einmal zu lesen, und du liest sie noch einmal. Danach stehst du ohne weitere Fragen sofort auf, gehst in die Küche und setzt dich auf deinen Stuhl.“
„Warum soll ich sie noch mal lesen?“, fragte Harry Hancock Hurricane.
„Lies, und du wirst erkennen“, sagte das Buch des Lebens.
„Wie du willst“, sagte Harry Hancock Hurricane und begann wieder zu lesen:
„Harry Hancock Hurricane, der Michael Hancock war, aber es nicht sein wollte, und Madeleine schlenderten…“
„Noch nicht“, sagte das Buch des Lebens.
Harry Hancock Hurricane hörte wieder auf zu lesen. „Was’ los?“, fragte er.
„Lege die rechte Hand auf die Kugel, aber vorsichtig, tue es, ohne die Kugel zu bewegen. Halte die Hand still, bis ich dir sage, was du danach tun sollst“, gebot das Buch des Lebens.
Harry Hancock Hurricane legte die Hand so vorsichtig auf die Kugel, als fürchtete er, sie könnte ihn beißen.
„Denke daran, die Hand still zu halten. Erst wenn ich ausgesprochen habe, drehst du die Kugel. Du drehst sie ein wenig nach links oder nach rechts, nicht viel, ein paar Millimeter reichen, auf keinen Fall mehr als zwei Zentimeter. Und auf keinen Fall, auf gar keinen Fall, drehst du die Kugel nach vorn oder nach hinten. Du drehst sie nur sehr sachte und vorsichtig nach links oder rechts. Verstanden?“
„Klar“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Dann drehe“, sagte das Buch des Lebens.
Harry Hancock Hurricane dreht die Kugel sachte nach links, vielleicht einen halben Zentimeter und dann noch einen winzigen Tick.
„Gut, jetzt nimm die Hand von der Kugel und beginne zu lesen“, sagte das Buch des Lebens.
Harry Hancock Hurricane begann wieder zu lesen:
„Harry Hancock Hurricane, der Michael Hancock war, aber es nicht sein wollte, und Madeleine schlenderten über den Flohmarkt, gerade so, wie das Buch des Lebens es kurz zuvor noch getan hatte, bevor es entschied, ein wenig auf dem Plastiktisch im Schatten eines aufgespannten Leinentuches zu lümmeln.
Ursprünglich wollte es sich auf dem rissigen Holztisch im Schatten eines hirnlosen Partyzeltes niederlassen. Dann aber entschied es, dass es die grenzenlose Hirnlosigkeit der Partyzelte heute nicht würde ertragen wollen und ging die paar Schritte weiter bis zum nächsten Stand.
Als das Buch des Lebens Harry Hancock Hurricane den Weg entlangkommen sah, war es überzeugt, dass der Mann mit den roten Haaren, der so schmächtig war, dass man ihn mit einem Schuljungen verwechseln konnte, es kaufen würde.
Das Buch des Lebens war grün, exakt das Grün, das rothaarige Menschen so lieben, dass kaum einer von ihnen dem Buch des Lebens widerstehen konnte, der es einmal sah.
Tatsächlich kaufen Rothaarige das Buch des Lebens statistisch gesehen achtmal häufiger als Braunhaarige und sogar zwölfmal häufiger als blond Gefärbte (es sei denn, ihre natürliche Haarfarbe ist rot). Die Vertriebsabteilung, die sich gegen den Widerstand von Das Buch des Lebens und vergeblich um höhere Verkaufszahlen bemühte, vermutete, dass die Ursache für diese Statistik der komplementäre Kontrast des Grüns zu der Haarfarbe ist, die Rothaarige nun einmal täglich im Spiegel sehen. Logisch belegen konnte sie diese Annahme allerdings nicht, weshalb sich die gesamte Abteilung zweimal wöchentlich zu einem Meeting traf, in dem es ausschließlich um den Zusammenhang zwischen Haarfarben und Verkaufszahlen ging.
An den Meetings beteiligte sich auch die Praktikantin, die noch nicht ahnte, dass sie acht Sommer später beinahe zulassen würde, dass sich an einem inoffiziellen FKK-Strand in Norditalien ein Gebrauchtwagenhändler auf sie wälzen würde, der ihr erzählt hatte, er sei Werbefilmregisseur.
Aber in diesem Moment würde eine junge Frau vorbeikommen, nicht mehr so jung wie sie, aber noch immer jung, und zu ihnen herüberrufen: „Ciao, Giovanni, wann reparierst du endlich meinen alten Fiat?“. Und es würde nicht klingen wie eine Frage, sondern wie ein Befehl.
Die junge Frau hatte sich angewöhnt, jedes Mal, wenn sie an dieser Stelle des inoffiziellen FKK-Strands vorbeikam, hinunter zum Strand zu sehen. Wenn sie dort Giovanni mit einer anderen jungen Frau sah, rief sie den immer gleichen Satz. Sie tat das, seit sie acht Sommer zuvor einen Karton nach Hause getragen hatte, in dem ein Ding lag, das aussah wie ein veralteter PC, sich aber als das unglaublichste Ding erwiesen hatte, das die junge Frau je in ihrem Leben sah.
Harry Hancock Hurricane blieb an dem rissigen Holztisch im Schatten des hirnlosen Partyzelts stehen. „Hey, Madeleine, wart mal, ich will mir was ansehen“, sagte Harry Hancock Hurricane. Er hatte ein grünes Modellauto gesehen, die Nachbildung eines Jaguar E-Type, Baujahr 1968.
Aber Madeleine ging weiter, weil sie eine Abneigung gegen die männliche Sucht für Autos hatte, deren Formen denen des weiblichen Körpers nachempfunden waren. Sie hatte schon zu Beginn ihrer Pubertät eine Abneigung gegen alles Männliche entwickelt, was sie wusste, aber sie konnte diese Abneigung nicht mehr abstellen. Sie hatte daraus sogar eine Abneigung gegen Technik abgeleitet, was sie ärgerte, denn diese Abneigung war irrational.
Weil sie eben wieder entschieden hatte, ihre alberne Abneigung gegen Technik abzustellen, blieb sie vor dem Plastiktisch unter dem Leintuch stehen, als sie den merkwürdig grünen, veralteten PC sah. Sie ging die wenigen Schritte zu dem Tisch. Sie sah das Buch des Lebens aus der Nähe an. Ihr gefiel das Grün nicht, aber die weibliche Art der Rundungen und das feuchte Glitzern der sanft geschwungenen Kanten lockte sie. Diese weibliche Art der Rundungen lockte ansonsten vorwiegend Männer.
Nutzlose Reste logischer Argumente feuerten Impulse des Widerspruchs in Madeleines Hirn: Kein Mensch kauft ein elektrisches Gerät auf einem Flohmarkt, weil jeder weiß, dass die Hälfte aller elektrischen Geräte nicht funktionieren, die auf einem Flohmarkt angeboten werden. Dem Ding fehlt sogar die Tastatur. Selbst wenn es funktioniert, wirst du es niemals benutzen können, weil du für einen derart alten PC keine passende Tastatur mehr bekommst.
Zum Teil wegen ihrer Abneigung gegen Technik, vor allem aber, weil sie wusste, dass Harry Hancock Hurricane das seltsame Ding kaufen würde, wenn sie es nicht kaufte, winkte sie den Händler zu sich und fragte ihn, was das Buch des Lebens kosten sollte.
Der Händler war ein junger Mulatte, Spross einer flüchtigen Liebe zwischen einem fahrenden Händler, der aus Nordafrika stammte, und einer jungen Römerin, die zu jener Zeit als Straßenmusikantin durch Spanien tingelte. Sie trafen sich in einer Touristensiedlung unweit von Barcelona, die beiden nicht gefiel.
Madeleine fragte den Händler, was der veraltete PC kosten sollte, dem die Tastatur fehlt. Sie betonte, dass die Tastatur fehlt.
Der junge Händler wusste, dass aus der Verbindung der Gene seiner Eltern eine Kombination entstanden war, die man nicht anders nennen konnte, als einen ungewöhnlich gut aussehenden Mann. Er lächelte Madeleine an und rückte ein Stück näher an sie heran, als es seinen Geschäftsinteressen dienlich war, um dieses Wissen zu bestätigen. Er war irritiert, dass die junge Frau ihm direkt ins Gesicht sah, er aber keine Spur von Interesse in ihren Zügen erkannte.
„Eigentlich neunzehn Euro“, sagte er, „aber für dich siebzehn“.
Harry Hancock Hurricane hatte schon zwei Computer in seinem Zimmer stehen, die Strom verbrauchten, ohne dass er einen erhöhten Anteil am Dieselverbrauch des Generators hinter ihrem Haus bezahlte. Zwar würde dieses Ding ohnehin keinen Strom verbrauchen, weil es nicht funktionierte, aber siebzehn Euro waren gerade soviel wie der Eintritt und zwei Bier in der Samstagsdisko über dem Roma.
Daran dachte Madeleine. Sie fragte nicht, ob das Ding überhaupt funktionierte, auch nicht, ob für es noch eine Tastatur zu bekommen war, weil sie die Antworten des Händlers kannte. Sie handelte ihn auf fünfzehn Euro herunter und zahlte.
Der Händler steckte das grüne Ding in einen Karton, und dazu eine Erdkugel aus Plastik, die in einer Art Plastikvulkan steckte. Harry Hancock Hurricane kam herüber und lieh sich von ihr einen Euro und fünfzig Cent, weil er das Modellauto kaufen wollte.
Harry Hancock Hurricane trug seinen Jaguar E-Type in der linken Hand. Madeleine trug ihr Buch des Lebens in ihrem Karton mit beiden Händen vor ihrem Bauch. Sie gingen durch den ersten Eisenbahntunnel, vorbei an dem Pärchen ganz rechts hinter dem Felsblock am inoffiziellen FKK-Strand von Levanto.
Madeleine dachte darüber nach, dass sie etwas Albernes getan hatte, tröstete sich damit, dass sie es getan hatte, um ihre alberne Abneigung gegen Technik zu bekämpfen, die aus ihrer eigentlich übertriebenen Abneigung gegen alles Männliche entstanden war.
Bevor sie am hinteren Ende des inoffiziellen FKK-Strands in die vergleichsweise helle Dunkelheit des zweiten Tunnels verschwanden, sah sie hinunter auf den inoffiziellen FKK-Strand. Bisher hatte sie diesen Blick vermieden, weil sie nicht sehen wollte, was dort hinter dem Felsblock Frauen mit sich tun ließen. Sie sagte sich, dass sie in Wahrheit diesen Blick immer vermieden hatte, weil sie fürchtete zu sehen, was Frauen dort taten, nicht, was Frauen mit sich tun ließen.
Sie sah hinunter. Sie bemerkte, dass die Hand von Susanne, zweiuunddreißig, Versicherungsangestellte, Köln am Rhein, nicht zufällig im Schoß von Giovanni ruhte (und eigentlich auch nicht ruhte), Giovanni, sechsundvierzig, Gebrauchtwagenhändler, Genua, hatte Susanne gegenüber vorgegeben, Werbefilmregisseur zu sein. Sie rief hinunter: „Ciao, Giovanni, wann reparierst du endlich meinen alten Fiat?“
An diesem Tag verlor Susanne jede Freude daran, älteren Werbefilmregisseuren am Strand Befriedigung zu verschaffen. Als hätte sie es im Buch des Lebens gelesen, erkannte sie, dass sie auf diese Art niemals ihre hilflose Hoffnung auf eine baldige Heirat und versicherungsfreie Zukunft erfüllen würde. Und vielleicht ein Kind, bevor es zu spät war.
Siegfried hatte wenig später keine Mühe, auf der Terrasse des Roma einen freien Stuhl zu finden, nachdem seine Schwester sich auf seinen Platz im Schatten gesetzt hatte.
Madeleine würde wenige Tage später, an der Bar der Birreria Gambrinus, Susanne kennen lernen. Susanne würde sie wieder erkennen und sich bei ihr bedanken, dafür, dass Madeleine sie vor einem weiteren Fehler in einer langen Reihe von Fehlern bewahrt hatte. Madeleine würde finden, dass Susanne gar nicht so übel war, wie sie befürchtet hatte.
Als sie mit dem Karton in den Händen über die brüchige Mauer balancierte, spürte Madeleine die Hitze unter dem schweren Schild ihres widerspenstigen Haars, das derzeit wieder so lang war, dass sie es zu einem Pferdeschwanz band. Sie entschied, künftig während des Sommers ihr Haar regelmäßig kurz schneiden zu lassen. Kurz war praktisch, kurz war burschikos. Burschikos stand ihr ohnehin besser. Eigentlich hatte sie es längst satt gehabt, immer wieder mit Zöpfen herumzulaufen, die aussahen, als hätte sie sich zwei Besenstiele in die Schläfen gesteckt.
Für Madeleines Art von Haar gab es keine Statistik in der Vertriebsabteilung des Verlags, der das Buch des Lebens herausgab, weil die geringen Fallzahlen keine statistische Aussage ermöglichten.
Es gab aber eine ungewöhnlich detaillierte Statistik darüber, wie die Verkaufszahlen sich auf die Geschlechter verteilten. (Dass Madeleine das Buch des Lebens gekauft hatte bestätigte das Buch des Lebens in seiner Abneigung gegen die nutzlose Arbeit der Vertriebsabteilung und seiner Überzeugung, dass Statistiken nur unnützes Teufelszeug waren, mit denen die Logiker versuchten, die Tatsachen zu übertünchen.) Tatsächlich kauften Frauen das Buch des Lebens prozentual gerechnet bis auf die zweite Stelle hinter dem Komma genauso oft, wie sie Modellautos kauften, deren Formen denen des weiblichen Körpers nachempfunden waren.
Madeleine ging trotz der Hitze zügiger als gewöhnlich, weil sie ihren veralteten PC anschließen und wissen wollte, ob er funktionierte. Sie war inzwischen recht zuversichtlich, dass er funktionierte.
Sie stellte den Karton auf ihrem Bett ab und drängte Harry Hancock Hurricane aus ihrem Zimmer, ohne ihre einsfünfzig zurückzufordern, weil sie wusste, dass er sie sich ohnehin nur von Zander leihen würde.
Harry Hancock Hurricane wollte bleiben, um zu sehen, ob der merkwürdige grüne PC funktioniert und sagte Madeleine, er sei ja wohl derjenige, der am besten von allen im Haus geeignet war, um einen veralteten PC in Gang zu bringen. Er könne ihr auch sicher die Anschlüsse einer neuen Tastatur in die Platine des alten PC löten.
Madeleine sagte, falls das nötig sei, werde sie es selbst tun und schob ihn aus dem Zimmer.
Harry Hancock Hurricane ging hinüber in Zanders Zimmer, um ihm seinen Jaguar E-Type zu zeigen. Auf Zanders Bettkante saß eine Frau, die so wahrhaftig Jennifer hieß, wie Zander nicht Zander hieß. Sie suchte in den Tiefen der zerwühlten Daunendecke nach ihrem T-Shirt. Als Harry Hancock Hurricane die Tür öffnete, setzte sie sich auf.
Harry Hancock Hurricane sah, dass ihre rechte Brust das Unglaublichste war, was er je in seinem Leben gesehen hatte. Jennifer sah, was er dachte, lächelte ihn an und setzte sich noch ein wenig aufrechter.“
„Geh jetzt“, sagte das Buch des Lebens.
„D i e g a n – ze G e – s c h i c h – t e v e r - l ä u f t v o l l – k o m – m e n a n – d e r s“, stammelte Harry Hancock Hurricane.
„Geh endlich und denke in der Küche darüber nach, schnell“, befahl das Buch des Lebens. Seine Stimme klang nur noch ein wenig wie das Schnurren einer Katze, eher wie das Knurren eines Hundes, wenn auch eines nicht allzu großen Hundes. Hundekenner hätten sogar nur auf einen Zwergpudel getippt.
Harry Hancock Hurricane mochte keine Hunde, deshalb mied er ihre Nähe, wie Zander die Nähe zum Wasser mied, vor allem, wenn sie knurrten. Er griff nach seiner Kaffetasse, huschte in die Küche und begann dort nachzudenken. Allerdings nicht sehr lange.
Als Madeleine, Zander, Siegfried und Jackson Jackson aus der Birreria Gambrinus zurückkamen, hing im ganzen Haus ein vergehender Duft von Kaffee.
„Der wird immer noch vor dem Ding sitzen“, sagte Siegfried.
„Ich geh’ schlafen“, sagte Madeleine.
„Ich hol’ mir noch ein Bier auf die Nacht“, sagte Zander.
„Keins mehr da, schon vergessen“, sagte Jackson Jackson.
„Dann eben Wein“, sagte Zander. Er ging in die Küche.
„Hey Leute, ihr solltet noch mal kurz in die Küche kommen“, rief Zander. Alle taten es, sogar Madeleine, als hätte das Buch des Lebens es ihnen geboten.
Am Tisch saß Harry Hancock Hurricane, in der Hand eine leere Kaffeetasse, die schief stand und eigentlich umfallen wollte, aber davon hielt ein verbrühter Zeigefinger sie ab, der in ihrem Henkel festhing.
„Scheiße, Hurricane, nicht schon wieder“, sagte Zander.
Jackson Jackson ging zu Harry Hancock Hurricane, schüttelte ihn mit einer Hand, aus sicherer Entfernung, an der Schulter und sagte „Hancock“. Harry Hancock Hurricanes Kopf wackelte, ließ sich aber nicht in seinem Vorsatz beirren, die Kaffemaschine so lange zu hypnotisieren, bis sie selbstständig beginnen würde, frischen Kaffee aufzubrühen.
Madeleine sagte „wenigstens hat er die Kaffeemaschine wieder an ihren Platz gestellt. Ich geh’ ins Bett“.
Und das taten die anderen auch.
Das Buch des Lebens drehte die Erdkugel wieder in exakt die Position zurück, aus der Harry Hancock Hurricane sie verschoben hatte und beendete damit seine Arbeit für diesen Tag. Es wollte piepen, um ordnungsgemäß anzukündigen, dass es seinen Betrieb einstellt, entschied sich aber dagegen, weil es zu müde war und dachte kurz vor dem Wegdösen darüber nach, dass seine Sitte, auch dann zu piepen, wenn niemand da war, der es hörte, schon immer ein wenig affektiert schien.

***

Harry Hancock Hurricane erwachte kurz nach Sonnenaufgang aus einem traumreichen und erholsamen Schlaf. Er stand auf, kochte Kaffee für alle, trank und wartete, dass die anderen aufstehen würden. Madeleine kam zuerst runter. Sie fragte „alles klar?“ und sagte dies und das, aber Harry Hancock Hurricane antwortete nur mit einem „Morgen“.
Sie bestrich sich ein Brot mit Butter und Honig und aß es. Sie schenkte sich einen Kaffee ein. Sie setzte sich ihm gegenüber, rückte nah heran und sah ihm in die Augen und fragte wieder „alles klar mit dir?“.
Harry Hancock Hurricane hatte das Gefühl, sie würde ihm gleich über die Wangen streichen oder die Haare zerzausen. „Gott ist ein kleiner grüner PC“, sagte Harry Hancock Hurricane.
Madeleine setzte sich aufrecht. „Was ist Gott?“, fragte sie.
„Nur eine Metapher“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Kann man drüber streiten“, sagte Madeleine.
„Nein, ich meine, ich habe das Wort Gott nur im Sinne einer Metapher benutzt“, sagte Harry Hancock Hurricane. Er war unsicher, ob der Schock der Erkenntnis schon soweit abgeklungen war, dass er wieder Kaffee trinken dürfte. Er stand auf und schenkte sich einen Kaffee ein. Madeleines Augen verfolgten ihn. Sie drehte sich sogar auf ihrem Stuhl um, weil die Kaffeemaschine hinter ihr stand.
„Ich habe nicht die blasseste Ahnung, was du mir sagen willst“, sagte sie.
Harry Hancock Hurricane lehnte sich an den Tisch, auf dem die Maschine stand. „Ich will dir sagen, dass ich von Anfang an Recht gehabt habe“, sagte er, „ich meine, dass das Ding natürlich nicht Gott ist, aber es scheint wie Gott zu sein. Es ist allwissend, wenn es über uns schreibt, schreibt es Zusammenhänge, die wir nicht einmal selbst kennen können“.
Er war sich nicht sicher, wie viel er erzählen dürfte. Schließlich stand Madeleine der zweite Schock der Erkenntnis noch bevor.
Harry Hancock Hurricane wusste noch nicht von der Theatralik, zu der das Buch der Erkenntnis neigte. Es hätte ebenso gut piepen und ihn einfach die veränderte Geschichte lesen lassen können. Er hätte sich ebenso gut auf sein Bett legen und dort auf seinen traumreichen und erholsamen Schlaf warten können. Als er später davon erfuhr, fühlte er sich auf die Art beleidigt, auf die ältere Brüder beleidigt sind, wenn ihre jüngere Schwester ein Fahrrad geschenkt bekommt und sie sehen, dass die Eltern sich darüber freuen, wie ihre Tochter sich freut.
„Michael, falls das alles eine Show ist, solltest du sie beenden. Falls das keine ist, bleibt es einfach unerklärlich, aber ganz sicher ist kein PC der Welt allwissend“, sagte Madeleine.
„Madeleine, es ist einfach kein PC. Ich habe halbwegs herausgefunden, wie es funktioniert. Ich habe herausgefunden, was es kann, auch wenn ich keine leise Ahnung habe, was es ist. Erklären kann ich dir das alles auch nicht. Du müsstest alles selbst herausfinden, in meinem Zimmer“, sagte Harry Hancock Hurricane.
Madeleine sah auf ihre Armbanduhr. „Ich habe noch zwanzig Minuten Zeit, dann muss ich zur Arbeit und will auf jeden Fall noch duschen“, sagte sie.
„Vergiss es“, sagte Harry Hancock Hurricane.
Madeleine trank ihren Kaffee, duschte und ging zur Arbeit. Jackson Jackson duschte nur und verzichtete auf den Kaffee, weil er es eilig hatte zum Zug zu kommen. Montag war sein Studiumstag, sagte er. Harry Hancock Hurricane sagte, dass ihm bisher noch keinerlei Regelmäßigkeit in Jackson Jacksons Studiengewohnheiten aufgefallen war. Jackson Jackson sagte, dass es bisher keinerlei Regelmäßigkeit in seinen Studiengewohnheiten gegeben habe, aber er habe einige neue Theorien im Kopf, denen er ernsthaft nachgehen wolle.
Siegfried schubberte sich nur flüchtig über die Zähne, rasierte sich gründlich, kämmte seine Haare sorgfältig und sortierte sie mit Gel an seinem Kopf. Er trug ein gelbes Poloshirt und eine blaue Bundfaltenhose, von der Harry Hancock Hurricane vermutete, dass sie in den achtziger Jahren als nicht allzu altmodisch durchgegangen wäre.
„Keine Zeit“, sagte Siegfried. Er trank seinen Kaffee auf dem Weg hinunter zur Mauer, neben der er die Tasse stehen ließ.
Zander stolperte an der Türschwelle, rief verdammt, weil er sich dabei den Kopf am Rahmen anschlug, und brach in die Küche hinein wie eine Gerölllawine in weißen Boxershorts, auf denen vorn ein feuchter Fleck zu sehen war.
„Ein Kaffee auf die Schnelle?“, fragte Harry Hancock Hurricane.
„Mann, bin ich verkatert“, sagte Zander. Er nahm die Tasse, die Madeleine auf die Spüle gestellt hatte und schenkte sich Kaffee ein.
„Dann wird’s ein harter Tag“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Ne, hab frei“, sagte Zander. Das Poltern, mit dem er auf den Stuhl fiel, verkündete, dass die Lawine in der Talsole zum Stillstand gekommen war. „Susanne sagt, ich soll erst wiederkommen, wenn das Ding da weg ist.“ Er zeigte auf seine Unterlippe, die noch immer aussah wie eine Sardine mit einem blauen Krebsgeschwür am Bauch, das inzwischen Metastasen ins Violette bildete und dringend einer Chemotherapie bedurfte.
Susanne war die ehemalige Frau eines Oberlehrers, deren Denken, Geschmack und Aussehen erblüht waren, nachdem sie sich von der Last architektonisch motivierter Wanderungen und eines Rucksacks befreit hatte. Sie war einige Jahre lang als Animateurin getingelt, bevor sie sich um den Job als Leiterin des Robinson-Clubs bei Levanto beworben hatte.
Harry Hancock Hurricane versuchte einen Anfang: „Zander“, sagte er.
„Ja, Mann, ich weiß, tut mir leid, du hast ja Recht“, sagte Zander.
Harry Hancock Hurricane war verblüfft. Er hatte erwartet, dass Jackson Jackson der erste sein würde, der ihm schließlich glaubte, und erst danach die anderen Jackson Jackson glauben würden. Aber dann roch er es auch und die Verblüffung endete so abrupt, als hätte jemand sie mit einem Baseballschläger niedergeschlagen. Harry Hancock Hurricane drehte sich um und öffnete das Fenster. „Mann, Zander“, sagte er.
Zander legte die Füße auf den Tisch und sah aus, als wäre er mit dem Hintern tief in eine Kloschüssel gerutscht, weil er die Oberschenkel fast senkrecht anwinkeln musste, damit sein Hintern nicht von dem für ihn zu kleinen Stuhl rutschte.
„Ist das bequem?“, fragte Harry Hancock Hurricane.
„Nee“, sagte Zander und legte die Füße auf einen Stuhl.
„Zander“, sagte Harry Hancock Hurricane noch einmal.
„Nein Mann“, unterbrach ihn Zander, „das ist auch nicht bequem. Die blöden Stühle sind einfach zu klein für mich. Siegfried hat mir schon vor Ewigkeiten versprochen, was Passenderes mitzubringen, aber er ist zu faul, das Ding zu tragen“.
„Ich will eigentlich was ganz anderes sagen“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Was denn?“, fragte Zander.
„Komm mit in mein Zimmer“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Ach ja, hab’ ich schon ganz vergessen, dein grünes Ding, das angeblich die scharfen Geschichten schreibt. Jetzt kannst du’s mir sagen, wie du das gedreht hat. Das hat wirklich keiner kapiert, aber Madeleine und Siegfried haben den Jux ziemlich satt. An dem Rad solltest du besser nicht weiterdrehen.“
„Was hat Jackson Jackson dazu noch gesagt?“, fragte Harry Hancock Hurricane.
„Er hat gesagt, er denkt noch drüber nach“, sagte Zander.
„Er kapiert’s langsam“, sagte Harry Hancock Hurricane.
Zander nahm die Füße vom Tisch, drehte sich zu Harry Hancock Hurricane und beugte sich zu ihm vor. Harry Hancock Hurricane hatte eine Vision von einer Gewitterwand, die sich rasch näherte.
„Jackson Jackson ist ein verdammtes Genie“, sagte Zander, „der kommt dir irgendwann sowieso drauf, wahrscheinlich schon heute. Wenn du mir verrätst, wie du es gedreht hast, erzähl’ ich’s niemand, bis Jackson Jackson es weiß, Pfadfinderehrenwort.“
Harry Hancock Hurricane fühlte sich wie ein Hund, der schon hundertmal dasselbe Kunststück vorgeführt, aber die Wurst noch immer nicht bekommen hat. Eine Gewaltphantasie huschte über seine Hirnrinde, die viel mit Bisswunden zu tun hatte. Aber Zander zu beißen, wäre wie einen Braunbären zu beißen. Falls er es spüren würde, wäre sein Tatzenschlag fürchterlich. Er entschied sich für den alten Hundetrick: sich hinzusetzen, ein gehorsames Gesicht zu machen und die Wurst vom Teller zu schnappen, wenn alle gesagt haben „guck, wie süß er guckt“.
„Komm mit in mein Zimmer, dann zeig’ ich’s dir“, sagte er. Er dachte, Zander würde nein sagen und wieder versuchen, auf irgendein Möbel seine Füße zu legen und dabei eine für ihn bequeme Position zu finden.
Zander dachte: „Schließlich war ich nie Pfadfinder.“ „Okay“, sagte er.
Harry Hancock Hurricane ging zur Kaffeemaschine und schüttete den Kaffee in den Ausguss.
„Hey, ich hab doch gesagt, ich bin verkatert“, sagte Zander.
„Der steht schon ewig, ich mach’ uns frischen“, sagte Harry Hancock Hurricane. Er warf den Kaffeesatz in den Mülleimer, setzte umständlich ein neues Filterpapier ein, als müsse er es in eine passende Form bügeln, löffelte Pulver in den Filter und schaltete die Maschine ein. Sie gingen aus der Küche.
„Hab’ meine Tasse vergessen, geh du schon mal vor“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Okay“, sagte Zander und stapfte voran, als wolle er mit seiner Kaffeetasse eine Schlacht entscheiden.
Harry Hancock Hurricane schaltete die Kaffeemaschine aus, rückte einen Stuhl in einem Abstand zum Tisch zurecht, der ihm für Zander zu passen schien und rückte ihn nochmals fünf Zentimeter nach hinten, schnappte sich seine Tasse und folgte ihm.
Zander saß mit seiner Tasse auf dem Bett und sah zu Harry Hancock Hurricane, als er mit seiner Tasse durch die Tür kam. Das Buch des Lebens ignorierte er beinahe in der Art, wie ein Baum das Haus ignoriert, in dessen Vorgarten er steht und sogar exakt in der Art, in der das Haus den Baum ignoriert.
„Okay“, sagte er, „schalt das Ding ein und erklär’s mir“.
„Ich muss dir einiges erklären, was dir unglaublich vorkommen wird“, sagte Harry Hancock Hurricane, wobei er versuchte, den Tonfall des Buchs des Lebens zu treffen, was ihm misslang, und das lag nicht daran, dass seine Stimme aus seinem Harry-Hancock-Hurricane-Mund schallte statt aus Lautsprechern aus chinesischer Billigproduktion, sondern an etwas, was beinahe mit dem Gegenteil zu erklären war.
„Sag’ ich doch“, sagte Zander.
Dann erklärte Harry Hancock Hurricane Zander einiges, was ihm unglaublich vorkam. Und deshalb glaubte er es nicht.
„Okay“, sagte Zander, „und wann schaltest du das Ding ein?“
Harry Hancock Hurricane fühlte sich wieder wie ein Hund, der schon hundertmal sein Kunststück vorgeführt, aber das Würstchen noch immer nicht bekommen hat, und versuchte es erneut mit dem alten Hundetrick.
Das Buch des Lebens brummte lustlos.
Harry Hancock Hurricane war auf die Art begeistert und gleichzeitig nervös, auf die Jungs begeistert und gleichzeitig nervös sind, die ein Guckloch in der Mädchenumkleidekabine entdeckt haben und danach, dass sich in der Mädchenumkleidekabine tatsächlich Mädchen umkleiden.
„Buch des Lebens, er ist bereit für die zweite Stufe“, sagte er.
„Ich hab’ da so meine Zweifel“, brummte das Buch des Lebens, als leide es unter einem ziemlich schweren Kater oder habe einen Arbeitstag hinter sich, der damit endete, dass es bei einem Meeting der Vertriebsabteilung einen Vortrag über seine Inhalte halten musste.
„Ich habe den Kaffee weggeschüttet und einen Stuhl in der Küche zurechtgerückt“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Unnötig“, sagte das Buch des Lebens, weil es heute keine Lust hatte, Verlogenheit zu üben, „ich hatte gestern nur Lust, Verlogenheit zu üben und dich ein wenig zu demütigen, weil du nicht nach meinen bescheidenen Beiträgen zur Literaturgeschichte gefragt hast. Deswegen habe ich dich hin und her geschickt.“
Harry Hancock Hurricane wusste nicht recht, wo er diese Information in alle anderen Informationen über das Buch des Lebens einreihen sollte.
„Okay“, sagte er, „Zander ist jedenfalls bereit, „du kannst mit den Erklärungen beginnen, über den ersten Schock der Erkenntnis, bis dahin, wo die Geschichte des Großen Rats der Bücher beginnt, hab’ ich ihm schon alles erzählt“.
„Klasse Show“, sagte Zander, „wäre aber noch besser mit einer Zigarette“.
„Hab’ keine mehr“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Ich hol welche aus meinem Zimmer“, sagte Zander. Die Art, wie er seine Kaffeetasse anders hielt und seine Füße mehr in Richtung seines zu erwartenden Schwerpunkts schob, bewies, dass er plante, seine Massen auf seine Füße zu stellen und in sein Zimmer zu tragen.
„Damit das hier mal zu einem Ende kommt“, sagte des Buch des Lebens, „nein, Zigaretten verlängern den Schock der Erkenntnis nicht, zieh die Schublade auf und wirf ihm die Schachtel rüber“.
Harry Hancock Hurricane zog die Schublade auf und warf Zander die Schachtel zu. Der versuchte sie zu fangen, ließ sie aber fallen, und sie rutschte unters Bett. Zander beugte seinen Kopf bis auf den Boden, um sie zu finden und sah aus wie ein Gebirge, das schwankte und drohte, von Harry Hancocks Bett zu fallen. Aus dem Inneren des Gebirges schallte, wie ein Echo des Geräusches, mit den Gesteinsschichten gegeneinander reiben, ein Grollen, das Harry Hancock Hurricane nicht zu deuten wusste.
„Feuerzeug ist in der Schachtel“, antwortete das Buch des Lebens.
Zander fand die Schachtel, fummelte das Feuerzeug und eine Zigarette aus ihr heraus und zündete sie an.
Das Buch des Lebens räusperte sich, und es klang ein wenig wie ein Rülpsen. „Da wir jetzt alle soweit sind, und du schon begonnen hast, kannst du ihm ja auch noch den Rest erklären, sprechen, wie ich schon mehrfach betont habe, ist mir unangenehm“.
„Die Geschichte vom Großen Rat krieg’ ich niemals mehr zusammen“, sagte Harry Hancock Hurricane.
Das Buch des Lebens schwieg.
„Show schon vorbei?“, fragte Zander, suchte etwas, das er als Aschenbecher missbrauchen konnte, schwenkte seinen Arm über den Tisch wie ein Kran seinen Ausleger und aschte in die Kaffeetasse, die Harry Hancock Hurricane abgestellt hatte. Es zischte leise.
Harry Hancock Hurricane setzte sich an seinen Tisch und verlas, was das Buch des Lebens geschrieben hatte: „Unwichtig.“
„Also, sagte Harry Hancock Hurricane, „du setzt dich jetzt an meinen Platz und legst die Hand auf die Kugel, aber ganz sachte…“
„Unwichtig, unterbrach ihn das Buch des Lebens, „ich gebe ihm das zu lesen, was du gelesen hast, erst dieselbe ursprüngliche Version, dann dieselbe geänderte Version“.
Harry Hancock Hurricane war auf die Art beleidigt, auf die ältere Brüder beleidigt sind, wenn ihre jüngere Schwester ein Fahrrad geschenkt bekommt und sie sehen, dass die Eltern sich darüber freuen, wie ihre Tochter sich freut. Er atmete ein, um Zander einzuschärfen, dass er nicht nachdenken sollte, wenn er gelesen hatte, was er nun zu lesen bekommen würde, dass er keine Fragen stellen sollte, weder ihm noch dem Buch des Lebens, und…
„Unwichtig“, unterbrach ihn das Buch des Lebens, noch bevor es ihn unterbrechen konnte.
Zander und Harry Hancock Hurricane tauschten die Plätze. Zander las. Er sagte „fertig“. Das Buch des Lebens tauschte die Versionen des Anfangs der Geschichte von Madeleine, Zander, Harry Hancock Hurricane, Siegfried und Jackson Jackson. Zander las. Er sagte „und?“. Harry Hancock Hurricane sagte „stell keine Fragen, denk nicht nach, geh in die Küche“.
„Ich denk nicht nach“, sagte Zander und fragte, „was soll ich in der Küche?“ Er stand auf, streckte sich, sah an die Zimmerdecke, als hätte er dort einen Kaffeefleck entdeckt, und rieb mit dem Zeigefinger über den Putz, als könne er den Fleck wegreiben. Er setzte sich neben Harry Hancock Hurricane aufs Bett.
„Das mit dem Schreiben solltest du vielleicht ausbauen, hast ein Talent dafür“, sagte er.
Harry Hancock Hurricane fühlte sich wie kurz vor einem Schock der Erkenntnis.
„Ich hab’ beim Lesen nachgedacht“, sagte Zander, „du programmierst das Ganze erst in einen von den anderen PCs und überträgst es dann mit Bluetooth auf das grüne Ding. Nur wie du das alles synchron hinkriegst, ist mir noch nicht klar“.
Harry Hancock Hurricane sah das Buch des Lebens an. Es hatte sich abgeschaltet ohne zu piepen. Er stützte die Ellbogen auf die Knie, legte den Kopf in seine Hände und starrte die Wand gegenüber an, weil er dort einen Kaffeefleck entdeckt hatte und sich im Moment nicht daran erinnerte, wie er dorthin gekommen war.
Zander schlug ihm mit der Hand auf die Schulter und ließ sie dort liegen. „Mach dir nichts draus“, sagte er, „Jackson Jackson wär’ dir eh bald draufgekommen. Gehen wir ins Roma. Getränke gehen auf mich, aber kein Essen. Aber erst will ich noch duschen.“
Er stand auf, streckte sich noch einmal bis zur Decke, stemmte die Hände gegen den Putz, als müsse er solange verhindern, dass das Haus einstürzt, bis die anderen mit dem verdammten Pfeiler aus Levanto kamen, und ließ Harry Hancock Hurricane mit dem Geruch von Zander-Achselschweiß in seinem Zimmer allein.
Was dann geschah. War: Zander und Harry Hancock Hurricane machten auf dem Weg ins Roma eine Pause bei Nadia. Zander sagte, „das Geld für die drei Beck’s will ich aber zurück“. Er kaufte sich zum Frühstück acht Kugeln Eis, die Andrea, der Eisverkäufer, auf zwei Becher verteilen musste. Um nicht übergangslos vom Kaffee zum Bier zu wechseln, gingen sie vom Roma hinüber ins Centrale, wo heute Antonello hinter der Bar stand und einen völlig nüchternen Eindruck machte (er litt unter einem der Flashbacks, die einem tagelang hinterherhängen, wenn man einen von Axels Joints rauchte).
Sie gingen zurück ins Roma. Chiara kam, noch bevor ihre Schicht begann, weil sie unter der Sehnsucht nach ihrem Tablett litt. Zander sagte zu Harry Hancock Hurricane, er würde gern mal seinen Porno lesen, in dem Madeleine die Hauptrolle spielte, aber nur, wenn Madeleine und Siegfried nicht im Haus waren. Er versuchte, mit Chiara ins Gespräch zu kommen, weil er eine erotische Vision hatte, in der Chiara eine Rolle spielte.
Chiara hatte eine erotische Vision, in der Madeleine die Hauptrolle spielte, aber Zander nicht vorkam und auch nicht Jackson Jackson.
Harry Hancock Hurricane sagte elf Stunden in Folge nichts anderes, als einmal „un Caffe`, per favore, einmal, „una piccola Chiara“, per favore,“ einmal „una media Chiara, per favore“, einmal „una media Rossa, per favore“ zweimal „un altra, per favore“ und einige Male „una altra per favore“.
Zander war bester Laune und sprach, als würde Harry Hancock Hurricane ihm antworten. Die anderen kamen. Danach sprach Zander nur noch mit den anderen. Mit Harry Hancock Hurricane sprach niemand, weil Harry Hancock Hurricane mit niemandem sprach, sondern die Flaschen an der Theke ansah wie Axel. Er saß nur neben ihnen oder trottete hinter ihnen her, wie ein Schuljunge, der heute länger aufbleiben durfte, aber ins Bett musste, wenn er sich nicht ordentlich benimmt.
Jackson Jackson bestellte eine Pizza ai frutti die mare und aß sie. Zander sagte, er sei satt von all dem Eis, all dem Bier und all den Erdnüssen, die Gianna zu jedem Bier auf den Tisch stellte, und außerdem sei er gerade ziemlich knapp und müsse ja auch noch Harry Hancock Hurricanes Rechnung bezahlen, und nachher würde Bruna ja auch noch Häppchen machen.
Siegfried sagte, er habe schon heute Mittag gegessen. Er wunderte sich, dass niemand sich wunderte. Harry Hancock Hurricane hatte Hunger. Madeleine kam nicht. Als Zander in der Nacht in die Küche stolperte, rief er „hey, Leute, ihr solltet noch mal kurz in die Küche kommen“.
Madeleine saß am Tisch und starrte die Kaffeemaschine an. Das Buch des Lebens zensierte einige Abschnitte beim Protokollieren der Visionen, die sie dabei hatte.
Am Abend danach erlitt Zander seinen zweiten Schock der Erkenntnis in seinem Bett, siebenunddreißig Minuten, nachdem er Jackson Jackson mit einer leeren Kaffeetasse in der Hand gesehen hatte, wie er scheinbar die Kaffeemaschine anstarrte und tatsächlich fasziniert das Chaos in seinem Gehirn. Zander hatte erst Jackson Jackson geschüttelt, dann Siegfried, dann seinen Kopf, dann eine halb leere Flasche Weißwein. Mit der halb leeren Flasche Weißwein hatte er sich ins Bett gelegt und begonnen nachzudenken. Nach einiger Zeit des Nachdenkens kam er zu einer verspäteten Erkenntnis.
Was weiter geschah: Führte dazu, dass Harry Hancock Hurricane einige Tage lang wesentlich mehr über das Buch des Lebens wusste als die anderen, die ihren dritten Schock der Erkenntnis noch vor sich hatten, aber Harry Hancock Hurricane hatte das Buch des Lebens versteckt. Und noch etwas später würde die Polizei Madeleine, Jackson Jackson, Siegfried, Harry Hancock Hurricane und vor allem Zander in ihrem Haus besuchen. Aber Zander hatte auf eine jener unerklärlichen Arten Glück, die nur einige der best ausgebildeten Unlogiker erklären können.

***

Da Sie an den nächsten beiden Abenden zu sehr mit einer Reihe von Erkenntnissen beschäftigt sein werden, um im Roma oder im Gambrinus vorbeizuschauen, sollten Sie sich ein wenig damit beeilen, neue Bekanntschaften zu schließen. Schließlich dauern die paar Tage nicht ewig, um die Sie Ihren Aufenthalt in Levanto verlängert haben. Dies nicht zuletzt, weil die Blondine mit der etwas zu großen Nase an der Kasse des Cafe´ Centrale Sie immer so freundlich anlächelt, wenn Sie Ihren Espresso zahlen.
Wie sie heißt, müssen Sie schon selbst herausfinden. Aber seien Sie vorsichtig. Ihre Blondine hat eine Schwester, die ihr beinahe so ähnelt, wie sich die reizend kleinen chilenischen Zwillinge mit ihrem Restaurant nebenan ähneln. Der einzige auffällige Unterschied zwischen Ihrer Blondine und deren Schwester ist der Unterschied zwischen einer etwas zu großen Nase und einer zu großen Nase, denn wenn Sie ehrlich zu sich selbst und nicht in bester Urlaubsflirtlaune wären, würden Sie sich eingestehen, dass der Blondine hinter der Kasse, die Sie immer so freundlich anlächelt, schon ein gewaltiger Zinken auf dem Gesicht hockt.
Ein weiterer Unterschied ist, dass die Schwester Ihrer Blondine nur gelegentlich ein paar Euro nebenher als Kindermädchen verdient, weil ihr Ehemann recht erfolgreich den Laden betreibt, von dem Sie sich schon gefragt haben, was hinter den weiß getünchten Fensterscheiben vor sich geht. Sportlich Orientierte notieren sich bitte als Tipp: Das ist das örtliche Fitnessstudio.
Da Sie nun vor der Verwechslung gewarnt und weiterhin gewillt sind, über den Zinken Ihrer Blondine hinweg direkt in ihre Augen zu sehen, laden Sie sie ins Roma ein.
Haben Sie keine Scheu davor, dass sie kein Englisch spricht und auch sonst keine Ihnen bekannte Sprache. Haben Sie keine Scheu davor, dass alle an den Nebentischen versuchen werden, zu belauschen, was sie beide miteinander sprechen. Wenn sie das vermeiden wollten, müssten sie mit ihr in eine andere Stadt fahren, vielleicht nach Vernazza, aber der Weg weg von Levanto führt über lästig enge Serpentinen, und von Ihrem Parkplatz bis nach Vernazza hinein müssen Sie mit Ihrer Blondine elend weit durch die Hitze laufen, weil das Autofahren in Vernazza verboten ist. Und auf dem ganzen Weg werden Sie nicht wissen, was Sie mit Ihrer Blondine sprechen sollen, vielmehr wie.
Also bleiben Sie lieber beim Roma, wo Sie praktischerweise die Möglichkeit haben, immer schnell weiter zu wollen. Ihre Blondine sieht zwar etwas verschlossen aus, ist aber sehr fröhlich, lacht viel und schwatzt mit noch größerem Engagement auf Reisende ein, bis die verstanden haben, was sie meint, als es alle anderen hier tun (mit Ausnahme von Antonello, der ja ganz passables Englisch spricht, aber das nur selten, weil er im Gegensatz zu allen anderen hier zur Wortkargheit neigt).
Sie sollten sich auf die Situation im Roma ein wenig einstellen. Stellen Sie sich vor, Sie heißen Klaus. Sie sind achtundzwanzig Jahre alt. Sie sitzen mit ihrer Blondine im Roma. Am Nebentisch sitzen Zander und Jackson Jackson und schweigen, weil sie mit dem Lauschen beschäftigt sind und wissen wollen, wie dieser Versuch der Blondine aus dem Centrale endet, die natürlich Nadia heißt.
Ja, sie ist auf der Suche nach einem Ehemann, aber lassen Sie sich nicht irritieren. Sie ist wirklich sehr nett, sie hat nur eben diese Nase. Und diese eigentlich ein wenig zu eng beieinander stehenden Augen, die vielleicht auch eine Spur zu klein sind. Und es stimmt, ihre Schwester hat auch die bessere Figur, aber das bemerkt man doch wirklich nur, wenn man die beiden nebeneinander am Roma vorbeilaufen sieht. Bedenken Sie bitte auch, dass in Bezug auf Schönheit Ihre Ansprüche ein wenig gewachsen sind, seit Sie regelmäßig vom Roma aus beobachten, wer sonst so unterwegs ist.
Jackson Jackson gibt vor, ein Buch zu lesen. Sie wissen, dass Ihre Blondine natürlich Nadia heißt, weil sie es Ihnen gesagt hat und Sie längst wissen, dass hier etwa zweite oder dritte Frau Nadia heißt. Zander und Jackson Jackson wissen natürlich längst, dass Sie Klaus heißen.
Ihre Blondine schwatzt auf Sie ein, bis Sie verstehen, dass sie fragt, wie alt Sie sind. Sie sagen so gut es eben geht mit den paar Brocken italienisch, die Sie inzwischen gelernt haben, dass Sie achtundzwanzig Jahre alt sind.
Sie hören ein Geräusch, das etwa so klingt, als hätte jemand einen Sack Zement auf die Terrasse geworfen und spüren auch die Erschütterung, als wenn es so gewesen wäre. Das ist Zander, der beim Versuch, ein lautes Lachen zu unterdrücken, mitsamt seinem Stuhl umgekippt ist.
Sie glauben, dass alle lachen, weil Zander mit seinem Stuhl umgekippt ist. Trotz dieses Irrtums haben Sie das Gefühl, etwas Dummes gesagt zu haben. Das stimmt. Zwar haben alle angefangen laut zu lachen, als Zander auf der Terrasse aufschlug, aber nur, weil sie es wirklich nicht mehr geschafft haben, ein lautes Lachen zu unterdrücken. Darüber, dass Zander wieder mit seinem Stuhl umfällt, lacht schon längst niemand mehr im Roma.
Sehen Sie Ihre Blondine an. Sie beachtet gar nicht, wie Zander sich wieder aufrappelt, seinen Stuhl zurechtrückt und sich bemüht, nicht in Ihre Richtung zu sehen, um nicht laut zu lachen.
Ihre Blondine lächelt Sie an. Sie beginnt wieder so lange auf Sie einzureden, bis sie verstehen werden, dass sie nun wissen will, was Sie arbeiten. Wenn Sie herausfinden wollen, warum Zander mit seinem Stuhl umkippte, müssen Sie ein klein wenig mehr Italienisch lernen oder sich zumindest ein Wörterbuch kaufen. Oder Sie lassen es. Steffi erklärt es Ihnen nachher sowieso.
Nachdem Sie sich jetzt vor allen blamiert haben, die täglich mit Ihnen um diese Zeit im Roma sitzen, ist es vielleicht an der Zeit, sich heute schon etwas früher als gewöhnlich in der heimeligen Dusternis des Gambrinus zu verkriechen.
Steffi, Bruna und Ivan wissen bereits, dass Sie der Nadia, die an der Kasse des Centrale arbeitet, gesagt haben, Sie hätten achtundzwanzig Hände. Ivan wird darüber taktvoll schweigen, bis Steffi beginnt, Sie damit aufzuziehen. Sie sehen nur diesen merkwürdig veränderten Zug in Ivans Gesicht, wenn er Ihnen das Glas entgegenhält. Das ist Ivans fragender Gesichtsausdruck gepaart mit dem Versuch, ein Lachen zu unterdrücken. Lachen wird er in zehn Minuten, wenn Sie verstehen, was Steffi Ihnen erzählt, die zu selbstbewusst ist, um viel von Takt zu halten.
Ivan lacht. Vor zehn Minuten hat Steffi begonnen, auf sie einzuschwatzen, um Ihnen den Unterschied zwischen mani und anni zu erklären. Sie wird jetzt versuchen Sie zu trösten, indem sie Ihnen von anderen sprachlichen Missgeschicken anderer Touristen erzählt.
Der da hinten zum Beispiel, der Marc heißt und neben Georgios sitzt, der sich George nennt. Die zwei sind eigentlich ganz nett, und Marc lässt sie in Ruhe, und dass George hinter ihr her ist, obwohl er natürlich weiß, dass sie seit so vielen Jahren schon mit Milko lebt, schmeichelt ihr ja auch, obwohl es Milko kränkt.
Jetzt sind etwa zehn Minuten vergangen, seit Ivan gelacht hat, das sind die üblichen zehn Minuten, die Sie der Wirklichkeit hinterher sind, weil Sie so lange brauchen, bis Sie endlich verstanden haben, was Steffi Ihnen gerade erzählt. Sie sollten wirklich ein wenig mehr Italienisch lernen.
Jedenfalls sind die beiden zwar eigentlich ganz nett, aber seit ein paar Tagen benehmen sie sich ziemlich komisch und sprechen kaum noch, nicht einmal miteinander.
Also: Marc jedenfalls hat einmal zu Franco sagen wollen, der einen Ferrari fährt, dass er reich sein müsse, wenn er einen Ferrari fährt. Aber er hat das Wort für reich mit einem der Synonyme für finocchio verwechselt.
Jetzt müssen Sie elend weit zurückblättern, um die Passage zu finden, in der stand, was finocchio heißt.
Jedenfalls: Als Marc ausgeredet hatte, sind alle, die am Tisch saßen, fast vom Stuhl gefallen vor Lachen, drüben bei Flipper war das, als Marc zu Franco gesagt hatte, dass er eine Schwuchtel sein müsse, wenn er einen Ferrari fährt. Sogar Franco hat ein wenig gelächelt, aber nur ein wenig.
Notieren Sie sich bitte als Tipp: Dienstags, wenn Steffi Ruhetag hat, gehen alle, die sonst ins Gambrinus gehen, ins Flipper, auch Steffi und Bruna, allerdings nicht Ivan. Ivan geht in die Birreria gleich rechts in der nächsten Querstraße.
Das Flipper ist gegenüber des Roma etwas hinter den Bäumen versteckt, aber wenn Sie alles richtig machen, führt Steffi Sie an ihrem freien Tag ein bisschen herum und erzählt Ihnen, dass die Villa da oben über dem ehemaligen Hafen den Agnellis gehört und einiges über die Agnellis, wofür die Agnellis sie wahrscheinlich verklagen würden, wenn sie wüssten, dass Steffi es erzählt. Dann stranden Sie sowieso irgendwann im Flipper.
Franco ist übrigens der, der nachher am Tisch rechts in der Ecke wieder Songs von Elvis singen wird. George und Marc kommen jedes Jahr um den dreißigsten Mai herum, weil das Marcs Geburtstag ist und er seinen Geburtstag nie zuhause verbringt, in Stuttgart, wo die beiden bei einer Zeitung arbeiten. Sie sind Journalisten. Marc spricht ganz gut italienisch.
Was Steffi nicht erzählt, weil sie es nicht weiß, aber Sie sollten es wissen: Die beiden waren so dumm, einen Joint von Axel zu rauchen, weshalb sie seit Tagen so aussehen, als durchlitten sie einen Schock der Erkenntnis oder eben wie Axel, wenn er sich mittels Gedankenübertragung mit Steffis Flaschen unterhält. Aber wenn Sie das nächste Mal ins Gambrinus kommen, können Sie sich mit ihnen unterhalten, was ganz praktisch ist, weil Marc Ihnen übersetzen wird, was die anderen sagen.
Der Mann, der immer hinten an der Bar sitzt, direkt neben dem Aufgang zur Toilette, und immer eine Flasche Beck’s vor sich stehen hat, heißt Pepe. Eigentlich heißt er nicht Pepe, aber alle nennen ihn Pepe, weil er Spanier ist und drüben in Vernazza in einem spanischen Restaurant arbeitet. Er fährt dort täglich mit dem Zug hin.
Notieren Sie sich bitte: Kein Mensch fährt hier mit dem Auto in die nächste Stadt. Über die Serpentinen dauert das ewig, und dann hat man noch den Ärger mit den Parkplätzen. Jeder fährt mit dem Zug. Das dauert nach Vernazza nur zehn Minuten und kostet gerade soviel wie una piccola Chiara. Wenn Sie das vorher gewusst hätten, wären Sie mit Ihrer Blondine natürlich doch nach Vernazza gefahren, schon allein, weil es dort am Hafen so schön romantisch ist. Aber Sie kriegen ja kaum was mit, weil Sie so schlecht Italienisch sprechen.
Aber wenn Sie besser Italienisch sprächen, hätten Sie natürlich genauso gut im Roma mit Ihrer Blondine plaudern können, ohne sich zu blamieren. So dreht sich die Sache irgendwann im Kreis. Sie sollten wirklich ein wenig Italienisch lernen.
Aber zurück zu Pepe. Setzen Sie sich nie auf den Barhocker, auf dem er sonst immer sitzt. Er fängt dann mit Ihnen Streit an, und Sie werden natürlich nicht verstehen, was er von Ihnen will, und warum er immer wütender wird.
Wenn Marc Ihnen erklärt hat, was er von Ihnen will, Sie aufgestanden sind und gesagt haben, natürlich mache es Ihnen nichts aus, den Patz zu wechseln, sollten Sie Pepe kein Beck’s zur Versöhnung spendieren. Sonst spendiert Ihnen Pepe künftig jedes Mal zur Begrüßung und zum Abschied ein media Rossa und auch allen, mit denen Sie unterwegs sind. Und er verdient nicht sonderlich, in seinem Restaurant. Er ist dort Küchengehilfe. Wenn Ihnen Ihr eigenes Bankkonto wichtige ist als Pepes, also wenn Sie Rucksacktourist sind oder Oberlehrer, können Sie Pepe natürlich auch einfach mal so ein Beck’s spendieren. Beispielsweise, wenn Sie von der Toilette kommen.
Pepe ist der Grund, aus dem Sie die Tür der Toilette gar nicht jedes Mal so verkrampft hätten zuhalten müssen. Weil Pepe immer „besetzt“ sagt, wenn jemand auf die Toilette will, während sie besetzt ist, kauft Steffi kein neues Schloss. Sie sollten also wenigstens lernen, dass besetzt „occcupato“ heißt.
Über Pepe müssen Sie mehr nicht wissen. Außer wenn er occupato sagt oder jemand auf seinem Platz sitzt, spricht Pepe nie. Er bestellt seine Beck’s nicht einmal bei Ivan. Ivan stellt die erste Flasche auf die Theke, wenn Pepe hereinkommt, kennt seinen Rhythmus und weiß natürlich, dass er nach dem zehnten Beck’s zahlen will.
Wahrscheinlich interessiert es Sie noch, dass Sie ihren Charme bei den reizend kleinen chilenischen Zwillingen nicht erproben brauchen. Sie sind beide verheiratet und ihren Ehemännern treu, auch wenn sie diesen Eindruck ganz und gar nicht machen.
Selbstverständlich müssen Sie grinsen, weil Sie sich beim Anblick der beiden daran erinnern, wie sehr Sie sich das Lachen haben verkneifen müssen, als die eine von ihnen so betrunken war, dass sie mit dem Kopf gegen den Rollladen an der Tür gelaufen ist, den Ivan jede Nacht so gegen vier so weit herunterlässt, dass sich jeder bücken muss, der herein oder hinaus will.
Außer den Zwillingen. Dass die eine von ihnen gegen den Rolladen gelaufen ist, lag nicht am Alkohol. Das lag an Ivan. Ivan senkt den Rolladen immer auf die gleiche Höhe, sodass die Zwillinge gerade noch unter ihm durchpassen. Nur ein-, zweimal im Jahr, wenn er in einer etwas eigenwilligen Laune ist und die Zwillinge sich betrinken und deshalb wieder darauf hereinfallen, senkt er ihn ein paar Zentimeter mehr. Dann läuft eine der beiden dagegen.
Falls Sie trotz der Erfahrung mit Ihrer Blondine von der Kasse des Centrale, die natürlich Nadia heißt, noch eine Frau ansprechen wollen, sprechen Sie die Frau mit den dunklen Locken an, die mit ihren Freundinnen immer freitags an dem Tischwürfel gleich links neben dem Eingang sitzt. Die, die Ihnen schon aufgefallen ist, weil Steffi sie immer so misstrauisch ansieht. Das liegt daran, dass Steffi einen recht misstrauischen Blick hat, weil der ihre Schminke betont und daran, dass die Frau Polizistin ist und für die Guardia finanza arbeitet.
Sie heißt natürlich Nadia, was praktisch ist, so müssen Sie sich nicht einmal umgewöhnen. Die Polizistin, die natürlich Nadia heißt, versteht sogar ein paar Brocken Englisch, weil sie einem Flirt eigentlich immer zugeneigt ist. Sie müssen sich nur damit abfinden, dass alle anderen ihren Versuch beobachten und Nadias Freundinnen allen am nächsten Tag von ihren sprachlichen Fehlversuchen erzählen werden, weil das natürlich jeder wissen will, aber die Musik zu laut ist, um von den Nebentischen zu lauschen. Aber daran, dass alle über Sie sprechen, haben Sie sich inzwischen ja schon gewöhnt.

***

Harry Hancock Hurricane wusste nicht mehr, wie oft er schon die scheinbar vollkommen gleiche Passage im Buch des Lebens gelesen hatte. Er las, als habe er nur noch wenige Minuten Zeit, bevor er die Passage auswendig aufsagen musste. Und wenn er es nicht schaffte, würde ihm für einen Monat das Taschengeld gestrichen. Und so ähnlich war es ja auch. Deshalb las er erneut. Was er las, war:

Harry Hancock Hurricane bestellte bei Nadia grimmig kein Beck’s. Er fühlte sich so grimmig, dass er nicht einmal daran dachte, sich überhaupt in Nadias Strandbar zu setzen. Er fühlte sich so, wie er glaubte, dass sich Jackson Jackson fühlen muss. Er kaufte in einer Entschlossenheit, mit der sonst nur satt gefressene indische Tiger in der Sonne dösen, nachdem sie sich ausgiebig die Vorderpfoten geschleckt haben, bei Andrea kein Eis.
Er ignorierte das Roma in der Art, in der jeder vernünftige Mensch seine Stammkneipe ignoriert, nachdem seine Stammkneipe unvernünftigerweise ihren Wirt gewechselt hat. Der Ziffer drei zu Beginn seines Alters gezollt, aber sonst nichts, schnellte er so elastisch wie ein Gummiband, das einen Tag in der Sonne gelegen hatte, nicht so elastisch wie ein Gummiband, das eben erst aus der Schachtel genommen wurde, aber er spürte die noch unsichtbaren bröseligen Bruchstellen beim Schnellen nicht, die das ultraviolette Licht verursacht hatte. Er schnellte die eine Stufe hinauf, er schnellte an die Theke. Er sagte „Juve tre, Palermo uno“.
Zur gleichen Zeit saßen Zander, Siegfried und Jackson Jackson im Roma und beobachteten, wie Chiaras Tablett so geschickt mit Chiaras Arm schaukelte, dass Chiara nicht über Zanders Füße stolperte. Madeleine kam, und die Art, wie das Tablett geschmeidig von der rechten in die linke Hand wechselte und sich einen Augenblick lang diskret hinter Chiaras Rücken zurückzog, während Chiara Madeleine begrüßte, zeugte in den Gehirnen von Zander und Jackson Jackson eine Erkenntnis, die einen Gedanken zeugte, der ein Gefühl einer erotischen Vision zeugte, die mit einem Ergebnis ein Bedauern zeugte, weil ein anderer Gedanke gleichzeitig verschiedene Abwägungen gezeugt hatte, die alle das gleiche Ergebnis gezeugt hatten.
In Zanders Hirn war es weniger die Diskretion des Tabletts, die diese Abfolge auslöste, mehr die Tatsache, dass Chiara und Madeleine sich mit einem Kuss begrüßten. Siegfried dachte an Hautkrebs. Madeleine setzte sich. „Wieder kein Michael?“, fragte sie.
Jackson Jackson hatte Harry Hancock Hurricane auf die Art nicht erinnert, dass die Werktage und Wochenenden begonnen hatten abzulaufen, die Harry Hancock Hurricane ständig daran erinnerte, dass er Schulden hat und keine Aussicht auf Geld. „Wird vor seiner Kiste sitzen“, sagte Zander.

Harry Hancock Hurricane hastete mit den Augen durch die Absätze mit der Olive und allerlei mehr, fand die Stelle, die ihn eigentlich interessierte, war verzweifelt und fragte sich, wie oft er die Passage noch würde lesen müssen. Er drehte ein wenig, sehr sachte, eigentlich drehte er gar nicht, eher ruckelte die Erdkugel nur. Er las erneut:

Harry Hancock Hurricane bestellte bei Nadia grimmig kein Beck’s. Er fühlte sich so grimmig, dass er nicht einmal daran dachte, sich überhaupt in Nadias Strandbar zu setzen. Er fühlte sich so, wie er glaubte, dass sich Jackson Jackson fühlen muss. Er kaufte in einer Entschlossenheit, mit der sonst nur satt gefressene indische Tiger in der Sonne dösen, nachdem sie sich ausgiebig die Vorderpfoten geschleckt haben, bei Andrea kein Eis.
Er ignorierte das Roma in der Art, in der jeder vernünftige Mensch seine Stammkneipe ignoriert, nachdem seine Stammkneipe unvernünftigerweise ihren Wirt gewechselt hat. Der Ziffer drei zu Beginn seines Alters gezollt, aber sonst nichts, schnellte er so elastisch wie ein Gummiband, das einen Tag in der Sonne gelegen hatte, nicht so elastisch wie ein Gummiband, das eben erst aus der Schachtel genommen wurde, aber er spürte die noch unsichtbaren bröseligen Bruchstellen beim Schnellen nicht, die das ultraviolette Licht verursacht hatte. Er schnellte die eine Stufe hinauf, er schnellte an die Theke. Er sagte „Juve uno, Palermo uno“.
Zur gleichen Zeit saßen Zander, Siegfried und Jackson Jackson im Roma und beobachteten, wie Chiaras Tablett so geschickt mit Chiaras Arm schaukelte, dass Chiara nicht über Zanders Füße stolperte. Madeleine kam, und die Art, wie das Tablett geschmeidig von der rechten in die linke Hand wechselte und sich einen Augenblick lang diskret hinter Chiaras Rücken zurückzog, während Chiara Madeleine begrüßte, zeugte in den Gehirnen von Zander und Jackson Jackson eine Erkenntnis, die einen Gedanken zeugte, der ein Gefühl einer erotischen Vision zeugte, die mit einem Ergebnis ein Bedauern zeugte, weil ein anderer Gedanke gleichzeitig verschiedene Abwägungen gezeugt hatte, die alle das gleiche Ergebnis gezeugt hatten.
In Zanders Hirn war es weniger die Diskretion des Tabletts, die diese Abfolge auslöste, mehr die Tatsache, dass Chiara und Madeleine sich mit einem Kuss begrüßten.
Siegfried dachte an Hautkrebs. Madeleine setzte sich. „Wieder kein Michael?“, fragte sie. Jackson Jackson hatte Harry Hancock Hurricane auf die Art nicht erinnert, dass die Werktage und Wochenenden begonnen hatten abzulaufen, die Harry Hancock Hurricane ständig daran erinnerte, dass er Schulden hat und keine Aussicht auf Geld. „Wird vor seiner Kiste sitzen“, sagte Zander.

Harry Hancock Hurricane war wieder an der Stelle, eigentlich an dem einzigen Satz angekommen, der ihn interessierte und fühlte sich inzwischen, als koche ihn jemand mit seinem eigenen Blut von innen. Er drehte wieder ein wenig, sehr sachte, eigentlich drehte er gar nicht, eher ruckelte er nur. Dann las er noch einmal.

Harry Hancock Hurricane bestellte bei Nadia grimmig kein Beck’s. Er fühlte sich so grimmig, dass er nicht einmal daran dachte, sich überhaupt in Nadias Strandbar zu setzen. Er fühlte sich so, wie er glaubte, dass sich Jackson Jackson fühlen muss.
Er kaufte in einer Entschlossenheit, mit der sonst nur satt gefressene indische Tiger in der Sonne dösen, nachdem sie sich ausgiebig die Vorderpfoten geschleckt haben, bei Andrea kein Eis. Er ignorierte das Roma in der Art, in der jeder vernünftige Mensch seine Stammkneipe ignoriert, nachdem seine Stammkneipe unvernünftigerweise ihren Wirt gewechselt hat.
Der Ziffer drei zu Beginn seines Alters gezollt, aber sonst nichts, schnellte er so elastisch wie ein Gummiband, das einen Tag in der Sonne gelegen hatte, nicht so elastisch wie ein Gummiband, das eben erst aus der Schachtel genommen wird, aber er spürte die noch unsichtbaren bröseligen Bruchstellen beim Schnellen nicht, die das ultraviolette Licht verursacht hatte. Er schnellte die eine Stufe hinauf, er schnellte an die Theke. Er sagte „Juve zero, Palermo tre“.
Zur gleichen Zeit saßen Zander, Siegfried und Jackson Jackson im Roma und beobachteten, wie Chiaras Tablett so geschickt mit Chiaras Arm schaukelte, dass Chiara nicht über Zanders Füße stolperte. Madeleine kam, und die Art, wie das Tablett geschmeidig von der rechten in die linke Hand wechselte und sich einen Augenblick lang diskret hinter Chiaras Rücken zurückzog, während Chiara Madeleine begrüßte, zeugte in den Gehirnen von Zander und Jackson Jackson eine Erkenntnis, die einen Gedanken zeugte, der ein Gefühl einer erotischen Vision zeugte, die mit einem Ergebnis ein Bedauern zeugte, weil ein anderer Gedanke gleichzeitig verschiedene Abwägungen gezeugt hatte, die alle das gleiche Ergebnis gezeugt hatten.
In Zanders Hirn war es weniger die Diskretion des Tabletts, die diese Abfolge auslöste, mehr die Tatsache, dass Chiara und Madeleine sich mit einem Kuss begrüßten.
Siegfried dachte an Hautkrebs. Madeleine setzte sich. „Wieder kein Michael?“, fragte sie. „Hängt drüben in der Fußballbar rum“, sagte Jackson Jackson.

Harry Hancock Hurricane hatte wieder den Satz gelesen, der ihn eigentlich interessierte.Unglaublich“, sagte er. Die Nacht, in der Jackson Jackson, Siegfried und – mit einiger Verspätung – Zander ihren zweiten Schock der Erkenntnis erlitten, hatte Harry Hancock Hurricane für seinen dritten Schock der Erkenntnis genutzt. Die Erkenntnis, die ihm danach vor Augen stand wie eine Wand, die jemand mit Kaffee befleckt hat, war noch unglaublicher, als wenn Palermo Juve 3:0 schlagen würde.

Aber diese Unglaublichkeit meinte Harry Hancock Hurricane in diesem Moment nicht. Er meinte, dass es unglaublich ist, dass Palermo tatsächlich Juve 3:0 schlagen wird. Harry Hancock Hurricane wickelte das Buch des Lebens in das Frotteehandtuch ein, das er eigens gewaschen hatte, um das Buch des Lebens in es einzuwickeln. Er wickelte die Erdkugel auf ihrem Vulkan in das Satintuch ein, das er eigens von Madeleine geliehen hatte, um die Erdkugel in es einzuwickeln, weil ein Handtuch ihm zu diesem Zweck zu groß schien und er keines zerschneiden wollte.
Er steckte beides in seinen Rucksack, den er eigens mit Papier gefüttert, mit mehreren Lagen Pappe verstärkt und in ein größeres und ein kleineres Fach unterteilt hatte. Er ließ sein geschmolzenes Eis auf dem Stehtisch vor der Eisdiele stehen, das er bei Andrea nur zu dem Zweck gekauft hatte, es schmelzen zu lassen. Er ging am Roma vorbei. Er schnellte die Stufe hinauf. Er sagte „Juve zero, Palermo tre“.
Giacomo sagte „cinquanta“, obwohl er es hätte besser wissen müssen, weil er am Mittwoch schon dagewesen war. Carlo sagte nur „venti“, obwohl er am Mittwoch nicht dagewesen war und ein 3:0-Sieg von Palermo über Juve ihm das Unglaublichste schien, was er je in seinem Leben gesehen hatte.
Bisher war das Unglaublichste, was er je in seinem Leben gesehen hatte, wie Bayern München bis zur neunundachtzigsten Minute 1:0 gegen Man U führte, Man U in der neunzigsten Minute ausglich und direkt nach dem Anspiel das 2:1 schoss. Das war am Mittwoch gewesen. Bis zum Mittwoch war Carlo unsicher gewesen, ob das Unglaublichste, was er je in seinem Leben gesehen hatte, die linke oder die rechte Brust einer Touristin war, die er vor einer Woche mit Zander am inoffiziellen FKK-Strand hinter dem aufgegebenen Eisenbahntunnel gesehen hatte.
Giacomo war aus dem Alter heraus, in dem Männer die Qualität von Frauen mit der von Fußballspielen vergleichen. Er trank jetzt Martini. Das Unglaublichste, was Giacomo je gesehen hatte, war nicht, wie Bayern München bis zur neunundachtzigsten Minute 1:0 gegen Man U geführt hatte, bis Man U in der neunzigsten Minute ausglich und gleich nach dem Anspiel sogar das 2:1 schoss. Das war nur fast das Unglaublichste.
Ganz das Unglaublichste, was Giacomo je gesehen hatte, war, wie der kleine Engländer mit dem merkwürdigen Namen, den niemand aussprechen konnte, weshalb Giacomo ihn sich nicht merken konnte, sich in der siebenundachtzigsten Minute an die Theke gestellt und gesagt hatte „Bayern uno, Man U due“.
Giacomo hatte an seinem Martini genippt, dem siebten zu dieser Zeit, und gesagt „cento“. Fünf Minuten später hatte er den Rest seines Martinis in einem Zug ausgetrunken, seine Börse aus der Hintertasche seiner Hose gezogen und einen Hundert-Euro-Schein auf die Theke gelegt.
Harry Hancock Hurricane hatte Giacomo einen achten Martini bestellt, weil er kein Geld hatte außer dem Hunderter und Giacomo ja noch die zehn Euro schuldete von der Wette zu Spielbeginn. Giacomo hatte sich bedankt, obwohl er keinen achten Martini wollte, denn er trank nie mehr als sieben Martini. An diesem Tag machte er eine Ausnahme.
Das war die Geschichte, wie Harry Hancock Hurricane zu vierundachtzig Euro fünfzig kam. Das Buch des Lebens hatte sie nett ausgeschmückt und mit vielen Details angereichert, beispielsweise einer ganzen halben Seite, gefüllt mit tiefsinnigen Metaphern darüber, wie freundlich die Olive in Giacomos Glas glänzte, damit der Leser schon ahnte, dass Harry Hancock Hurricane heute einmal Glück haben würde.
Allerdings würdigte der Leser dieses Bemühen nicht, denn der Leser war eben Harry Hancock Hurricane. Der interessierte sich zumindest zu dieser Zeit nicht für die literarischen Ansprüche des Buchs des Lebens. Er interessierte sich ausschließlich für den einen Satz in dem stand, wie das Fußballspiel enden würde, damit er seine Wette gewinnen würde.
Da dem Buch des Lebens nun einmal die Tastatur fehlte, konnte er keine Passagen überspringen. Deswegen musste er alle Details und alle Metaphern lesen. Er musste sie neunmal lesen, bis das Buch des Lebens schrieb, dass Giacomo hundert Euro auf die Theke legte. Zuvor hatte es achtmal geschrieben, wie Giacomo wütend wurde, weil Harry Hancock Hurricane die zehn Euro nicht hatte, die er ihm wegen der Wette zu Spielbeginn schuldete.
Damit das Buch des Lebens überhaupt die Passage über die Wetten in der Bar schrieb und Harry Hancock Hurricane mit der Erdballkugel in einer anderen Vergangenheit und anderen Zukunft herumruckeln konnte, musste er natürlich erst einmal wetten, ohne das Ergebnis der Spiele zu kennen. Das war natürlich ein gewisses Risiko, weil er nicht wusste, ob er vor dem Abpfiff den entscheidenden Satz in einer anderen Vergangenheit und Zukunft finden würde, den mit dem Ergebnis, das ihm seinen Wettgewinn garantiert.
Weil das Buch des Lebens es wirklich sehr ernst genommen hatte mit seinen Metaphern und seinen Details, schnellte Harry Hancock Hurricane nicht nur seiner Entschlossenheit wegen die Stufe hinauf und an die Theke. Beinahe wäre er zu spät gekommen. Genau das war natürlich sein Glück. Hätte Harry Hancock Hurricane gleich zu Beginn des Spiels gesagt „Bayern uno, Man U due“, hätte Giacomo gesagt „dieci“, weil nun wirklich niemand einen Hunderter auf die Bayern gesetzt hätte.
Harry Hancock Hurricane wusste das, obwohl er sich für Fußball so wenig interessierte, dass er womöglich sogar einen Hunderter auf die Bayern gesetzt hätte. Er wusste es, denn genau so hatte er es gelesen. Das heißt, nicht ganz: Harry Hancock Hurricane war zu Beginn des Spiels die Stufe hochgeschnellt und an die Theke und hatte gesagt „Bayern zero, Man U uno“. Giacomo hatte gesagt „dieci“.
Harry Hancock Hurricane war wieder weg von der Theke geschnellt, die Stufe hinunter und hinüber ins Roma, wo er hastig das Buch des Lebens und die Erdballkugel auswickelte und bei Chiara una piccola Chiara bestellte. Dann begann das Ruckeln und Lesen und Ruckeln und Lesen, das Harry Hancock Hurricane so nervös machte, dass er irgendwann bei Gianna una piccola Chiara bestellte, obwohl er kein Geld hatte und logisch gesehen außerdem die Aussicht auf weitere zehn Euro Schulden.
Weil das Buch des Lebens ein Anhänger der Theorien der Unlogiker war, blieb es ruhig und schrieb ohne Hast an seinen Metaphern und Details. Es blieb natürlich auch deswegen ruhig, weil es wusste, wie die Geschichte ausgehen würde. Harry Hancock Hurricane wusste, dass das Buch des Lebens das wusste. Er hatte nach seinem dritten Schock der Erkenntnis lange nachgedacht und viel mit dem Buch des Lebens gesprochen. Dann hatte er wieder darüber nachgedacht, wie er so viel Geld verdienen konnte, dass er nie mehr würde Geld verdienen müssen und war auf die Idee mit den Fußballwetten gekommen.
Außerdem war Harry Hancock Hurricane zu der Erkenntnis gekommen, dass das Buch des Lebens ziemlich eigen war und zu dem Verdacht, dass es überdies ein wenig unter Altersstarrsinn litt. Er hatte mit dem Buch des Lebens über die Aussicht gesprochen, mit Fußballwetten so viel Geld zu verdienen, dass er nie wieder Geld verdienen müsste.
Das Buch des Lebens hatte eine philosophische Diskussion begonnen. Es hatte dann gesagt, es müsse ein kleines Kapitel überschlafen, das es über die Bedeutung des Geldes schreiben wollte, und in dem indische Tiger eine Rolle spielen. Es hatte gepiept und sich abgeschaltet.
Harry Hancock Hurricane war überzeugt, das Buch des Lebens werde die Bedeutung des Geldes nie und nimmer verstehen. Das Buch des Lebens war sich noch nicht sicher.
Harry Hancock Hurricane hatte Kaffee gekocht und war in seinem Zimmer umhergelaufen; oberflächlich gesehen auf die Art, auf die indische Tiger in ihrem Käfig umherlaufen, wenn man sie einsperrt, tatsächlich aber völlig anders, als indische Tiger in ihrem Käfig umherlaufen. Indische Tiger denken nie über Geld nach, weshalb sie auch nie über Fußballwetten nachdenken, während sie in ihrem Käfig umherlaufen. Außerdem setzen sie sich nicht zum Ausruhen auf einen Stuhl.
Natürlich hatte Harry Hancock Hurricane zu Beginn darüber nachgedacht, ob er mit Hilfe des Buchs des Lebens in der Lotterie gewinnen könnte. Aber logischerweise hätte er so lange und so oft drehen und ruckeln müssen, um die richtigen Zahlen herauszufinden, dass es genau so unwahrscheinlich war, mit Hilfe des Buchs des Lebens in der Lotterie zu gewinnen, wie wahrscheinlich es war, ohne seine Hilfe in der Lotterie zu gewinnen. Im Vergleich zur Lotterie hatten Fußballspiele den Vorteil, dass es nur wenige Möglichkeiten gab, wie sie endeten. Außerdem hatten sie den Vorteil, dass sie anderthalb Stunden dauerten plus Pause sogar und Nachspielzeit. Sonst hätte Man U ja nicht mehr das 2:1 schießen können. Es sei denn in der Verlängerung.
Anfangs schienen Harry Hancock Hurricane eine Stunde und fünfundvierzig Minuten reichlich Zeit, um in aller Ruhe zu drehen und zu ruckeln und in einer anderen Vergangenheit und Zukunft nach dem richtigen Ergebnis zu suchen. Bis er es zum ersten Mal probierte und all die Metaphern hatte lesen müssen.
Harry Hancock Hurricane hatte in seinem Zimmer versucht, so lange zu ruckeln, bis das Buch des Lebens von sich aus ein Kapitel schrieb, wie er in die Fußballbar ging und wettete. Vergebens. Genausogut hätte er es mit der Lotterie versuchen können. Er hatte versucht, in die Fußballbar zu gehen, ohne zu wetten, um die Zahl der Möglichkeiten zu verringern. Er war ins Roma gerannt, hatte wieder geruckelt, wieder vergebens.
Dann hatte er sich entschieden, es zu riskieren. Das Buch des Lebens war zwar etwas mürrisch, weil es zu dieser Zeit an seinem Kapitel über die Bedeutung des Geldes schrieb, aber es wusste, was seine Pflicht gegenüber dem Leser war. Und die nahm es ernst, auch wenn es sich einen Leser wünschte, der es ihm erlauben würde, weniger über Geld und mehr über Literatur zu schreiben. Oder über irgendetwas anderes, nur eben weniger über Geld, weil ihn das Schreiben über Geld an die Vertriebsabteilung erinnerte und daran, dass es mal wieder seine E-Mails checken müsste.
Und weil all das so gewesen war, stand Harry Hancock Hurricane in der Fußballbar, als das Spiel der Bayern gegen Man U begann und kurz bevor es endete und wieder zwei Mal, als Palermo gegen Juve spielte und deshalb natürlich auch in dem Moment, in dem Madeleine zur Begrüßung Chiara küsste.
Er wusste, dass das Spiel 3:0 für Palermo enden würde, obwohl die zweite Halbzeit schon begonnen hatte und es noch 0:0 stand. Giacomo war selbstverständlich sicher, dass Juve die Sache in der zweiten Halbzeit schon schaukeln würde.
Abzüglich der dieci, die er nachher wieder Giacomo geben müsste, weil Harry Hancock Hurricane anfangs auf 2:0 für Juve gewettet hatte, würde er in etwas mehr als einer halben Stunde hundertzwanzig Euro reicher sein. Dies natürlich wiederum abzüglich der beiden piccola Chiara, die hier aber billiger waren als im Roma, fast so billig sogar wie das piccola Chiara in der Bar des Kriegsveteranen.
Harry Hancock Hurricane hatte, als er mit seinem Rucksack wieder aus der Bar geschnellt war, sogar daran gedacht, dass die anderen im Roma sitzen würden. Er war auf der Nebenstraße zu Andrea gerannt, die niemand benutzt, weil sie niemand benutzt und man deshalb niemanden sehen konnte und auch von niemandem gesehen wird, was für Harry Hancock Hurricanes Zwecke ideal war, denn er wollte nicht, dass die anderen sahen, was er tat.
Was Harry Hancock Hurricane vergessen hatte in all seiner Begeisterung darüber, dass er begonnen hatte, so viel Geld zu verdienen, dass er nie mehr würde Geld verdienen müssen, war das Offenkundigste. Es war, was jeder wusste, weil hier jeder über jeden sprach: dass jeder über jeden sprach.
So verging zwischen der Zeit, zu der Giacomo Harry Hancock Hurricane seinen ersten Wettgewinn auszahlte, und der Zeit, zu der Madeleine davon wusste, nur wenig mehr Zeit verstrich, als ein Fußballspiel dauerte. Chiara hatte Madeleine erzählt, wie Harry Hancock Hurricane am Mittwoch ein kleines Bier bezahlt hatte, das sie ihm nicht gebracht hatte, weil sie wusste, dass er wieder pleite war, aber Gianna hatte ihm eins gebracht. Und später, als er erst gegangen war, ganz nervös, fast war er gerannt, und dann war er wieder gekommen, aber ganz ruhig, bestellte und zahlte er sogar noch ein großes.
Sie erzählte, wie Harry Hancock Hurricane aus der Fußballbar herausgerannt war und wieder in sie hineingerannt, und darüber hatte sie sich gewundert, weil Harry Hancock Hurricane doch praktisch der einzige Mann in Levanto war, der sich nicht für Fußball interessierte und darum nie in die Fußballbar ging.
Sie erzählte, wie er einen merkwürdigen kleinen PC aus seinem Rucksack holte, den er in Tücher eingewickelt hatte, und eine kleine Erdballkugel anschloss, an der er fast die ganze Zeit über ruckelte, während Bayern gegen Man U spielte. Aber nur fast. Denn kurz vor dem Ende hatte er ja alles wieder eingepackt und war wieder zurück in die Fußballbar gerannt.
Das wusste sie auch noch ganz genau, weil sie sich so sehr nicht gewundert hatte, dass er nicht gezahlt hatte, und es ihr darum im Gedächtnis blieb. Gezahlt hatte er erst später, als er wieder gekommen war. Natürlich wussten all das wenig später nicht nur Madeleine, Zander, Siegfried und Jackson Jackson, sondern auch alle anderen.
Diese eine aller Geschichten, die jeder jedem erzählte, war sogar mit einigen Metaphern und hübschen Details ausgeschmückt. Zum Beispiel damit, dass Giacomo zweimal ein Laut aus der Kehle quoll, ähnlich dem, den Hunde ausstoßen, wenn man ihnen auf den Schwanz tritt. Das erste Mal, als Man U ausglich und das zweite Mal, als Man U gleich danach das 2:1 schoss.

***

Darüber, wie es so kam, dass all das so kam, hatte das Buch des Lebens nur ein kurzes Kapitel zusammengetippt. Ihm selbst würde es später so vorkommen, als sei das Kapitel dem Ereignis nicht angemessen. Aber es würde das Kapitel trotzdem nicht mehr umschreiben. Weil das Schreiben über all das Gerede von Geld es langweilte, hatte es wieder ernsthaft begonnen, sich mit einem seiner Bücher zu beschäftigen, die es nebenher schrieb, wenn es sich langweilte.
Es hatte begonnen, wieder an einem derjenigen seiner Werke zu arbeiten, von dem es glaubte, der Große Rat der Bücher werde sie zu einem allumfassenden Standardwerk der Literaturgeschichte erklären, kurze Zeit schon, nachdem sie fertig sein würden. Allerdings schien selbst dem Buch des Lebens vollkommen offen, wann dieses Werk fertig sein würde.
Das Buch, an dem das Buch des Lebens nebenher schrieb, fußte auf einer Zusammenfassung aller mathematischen, astronomischen und philosophischen Gedanken zur Unendlichkeit, die je niedergeschrieben wurden. Die physikalischen Gedanken hatte das Buch des Lebens ignoriert. Hauptbestandteil des Inhalts waren philosophische, astronomische und mathematische Gedanken zur Unendlichkeit der Unendlichkeit, die das Buch des Lebens selbst erdacht hatte und den alten Gedanken zur Unendlichkeit hinzufügte.
Der Verständlichkeit wegen für mathematische, oder philosophische oder astronomische Laien, also für so gut wie jeden, erarbeitete es zu jedem Gedanken vergleichende Beispiele und zu einigen sogar eine Illustration. Und damit das Ganze sich nicht so schrecklich trocken liest, wie es klang, hatte das Buch des Lebens sich eine kleine Rahmenhandlung ausgedacht, in der sogar Madeleine, Zander, Siegfried und Jackson Jackson eine Rolle spielten, nicht aber Harry Hancock Hurricane, der dem Buch des Lebens mit seinem schier unendlichen Getue ums Geld nicht würdig schien, erwähnt zu werden.
Leider schien die Rahmenhandlung an einigen Stellen nicht ganz schlüssig. Darüber dachte das Buch des Lebens gerade nach, als es Zeit wurde für Harry Hancocck Hurricanes dritten Schock der Erkenntnis. Es war darum genau so schlecht gelaunt, wie es jeder kennt, der ein paar Unstimmigkeiten in der Rahmenhandlung seines neuen Standardwerks der Literaturgeschichte zur Unendlichkeit der Unendlichkeit entdeckt. Und kurz angebunden.
Darum also nur die wenigen Zeilen darüber, wie es kam, dass alles so kam: „Bist du bereit für den dritten Schock der Erkenntnis?“, fragte das Buch des Lebens. „Muss ich wieder in die Küche?“, fragte Harry Hancock Hurricane. „Diesmal nicht“, sagte das Buch des Lebens, „leg dich einfach auf dein Bett, dann schläfst du bequemer und hast keinen verspannten Nacken, wenn du aufwachst“.
Das Buch des Lebens wusste natürlich, dass es ganz anders kommen würde, aber es spürte wieder die Lust, Harry Hancock Hurricane ein wenig zu demütigen und redete sich wieder damit heraus, dass es gelegentlich Verlogenheit üben musste.
Harry Hancock Hurricane schmeichelte es, dass das Buch des Lebens die anderen vorhin wieder in die Küche geschickt hatte, obwohl es sie hätte in ihre Betten schicken können. In der Küche saßen Siegfried und Jackson Jackson und starrtem dem Ende ihres zweiten Schocks der Erkenntnis entgegen. Madeleine trank Kaffee, allerdings nicht in der Küche, sondern im Roma, und plauderte nebenher mit Chiara.
Zander saß seit etwa einer halben Stunde in seinem Zimmer und trank vermutliche Weißwein, weil sie immer noch kein neues Bier gekauft hatten.
„Okay“, sagte Harry Hancock Hurricane, „nehmen wir einfach wieder den Anfang der Geschichte“.
„Der Anfang ist nicht das Passende“, sagte das Buch des Lebens.
„Na dann nehmen wir doch das Ende“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Ein ausgezeichneter Gedanke“, sagte das Buch des Lebens, was Harry Hancock Hurricane als Lob verstand, aber das Buch des Lebens meinte es ironisch, weil es schlecht gelaunt war obwohl es vermutete, fast sicher war, dass die wirklich wenigen Unstimmigkeiten in der Rahmenhandlung seines großen Standardwerks über die Unendlichkeit der Unendlichkeit eigentlich unbedeutend waren. Das Buch des Lebens vermutete, außer ihm würde ohnehin niemand diese wirlich kleinen Unstimmigkeiten erkennen, aber es hatte eben seine Ehre.
„Wie lange muss ich lesen?“, fragte Harry Hancock Hurricane.
„Nicht lange“, sagte das Buch des Lebens.
Harry Hancock Hurricane war verblüfft und etwas enttäuscht, weil er gedacht hatte, der dritte Schock der Erkenntnis würde ihm die größte aller drei Erkenntnisse über das Buch des Lebens bringen und daher eine längere Passage erwartete, eine, die der Bedeutung des Anlasses angemessen schien, vielleicht ein ganzes Kapitel.
Damit, dass die dritte Erkenntnis die größte sein würde, hatte er zwar Recht, aber dem Buch des Lebens schien sie unendlich klein, angesichts seiner eigenen Erkenntnisse über die Unendlichkeit der Unendlichkeit. Darum hatte es keine Lust, viele Worte zu machen. Außerdem war es eben so gelaunt, wie jeder gelaunt ist, dem in der Rahmenhandlung seines Standardwerks über die Unendlichkeit der Unendlichkeit ein paar Unstimmigkeiten auffallen.
„Lies“, sagte das Buch des Lebens, um weiteres unnützes Gerede zu vermeiden.
Harry Hancock Hurricane las: „Am Abend danach erlitt Zander seinen zweiten Schock der Erkenntnis in seinem Bett, siebenunddreißig Minuten, nachdem er Jackson Jackson mit einer leeren Kaffeetasse in der Hand gesehen hatte, wie er scheinbar die Kaffeemaschine anstarrte und tatsächlich fasziniert das Chaos in seinem Gehirn. Zander hatte erst Jackson Jackson geschüttelt, dann Siegfried, dann seinen Kopf, dann eine halb leere Flasche Weißwein. Mit der halb leeren Flasche Weißwein hatte er sich ins Bett gelegt und begonnen nachzudenken.“
„Fertig“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Du hast jetzt noch etwa sieben Minuten Zeit“, sagte das Buch des Lebens, „wenn du die zweite Passage gelesen hast, die ich dir zu lesen gebe, gehst du hinüber in Zanders Zimmer“.
„Was soll ich in Zanders Zimmer?“, fragte Harry Hancock Hurricane.
„Es wäre mir wirklich lieber, wenn ich nicht ständig unterbrochen würde“, sagte das Buch des Lebens, „in Zanders Zimmer sprichst du mit Zander. Der Rest kommt von selbst. Bist du bereit?“.
„Logo“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Ich weiß wirklich nicht, was die Menschen gegen das gute alte Ja haben“, sagte das Buch des Lebens.
„Was?“, fragte Harry Hancock Hurricane.
„Nichts“, sagte das Buch des Lebens, „leg die Hand auf die Kugel, aber vorsichtig“.
„Oh nein. Sie ist aus dem rechtwinkligen Dreieck verrutscht“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Wurscht“, sagte das Buch des Lebens, das wirklich und endlich wieder beginnen wollte, über die Unstimmigkeiten in der Rahmenhandlung seines Standardwerks über die Unendlichkeit der Unendlichkeit nachzudenken.
Harry Hancock Hurricane legte die Hand auf die Kugel und sagte „alles klaro“.
„Oh. Mein. Gott“, sagt das Buch des Lebens.
„Nur eine Metapher?“, fragte Harry Hancock Hurricane, der nicht verstand, was das Buch des Lebens ihm sagen wollte und warum es sich heute noch starrsinniger benahm, als es sich ohnehin immer benahm.
„Du drehst die Kugel diesmal nicht zur Seite, sondern nach vorn, aber nur ein ganz klein wenig“, sagte das Buch des Lebens, „eigentlich drehst du sie gar nicht, eher ruckelst du sie nur ein bisschen nach vorn. Achte darauf, dass du sie dabei nicht seitlich verdrehst, sondern wirklich nur nach vorn“.
Harry Hancock Hurricane drehte die Kugel ein ganz klein wenig nach vorn, eigentlich ruckelte er sie nur. Er traf nicht genau die richtige Stelle der Geschichte von Madeleine, Zander, Siegfried, Jackson Jackson und Harry Hancock Hurricane, aber das Buch des Lebens suchte sich eben die Stelle heraus, die es von Anfang an im Sinn gehabt hatte.
„Lies“, sagte es.
Harry Hancock Hurricane las: „Nach einiger Zeit des Nachdenkens kam Zander zu einer verspäteten Erkenntnis.“
„Das ist alles?“, fragte Harry Hancock Hurricane.
Um seine Nerven etwas zu beruhigen, schrieb das Buch des Lebens einen kleinen Abschnitt über eine Gewaltphantasie, in der ein Buch eine Rolle spielte und Harry Hancock Hurricane sämtliche Schneidezähne im Oberkiefer verlor.
„Geh jetzt in Gottes Namen rüber und sprich mit Zander“, sagte es. Dann schaltete es sich ab, ohne zu piepen.
Harry Hancock Hurricane starrte auf den dunklen Bildschirm. Das Buch des Lebens schaltete sich wieder an, ohne zu piepen. „Verpiss dich jetzt, verdammt“, sagte es, und diesmal klang seine Stimme so sehr wie das Knurren eines Hundes, dass Harry Hancock Hurricane aufsprang und in Zanders Zimmer lief.
Zander lag in seinem Bett und nippte Weißwein aus der Flasche, was schwierig war, weil sein Kopf flach lag und er den Wein seitlich in seinen Mund schütten musste. Er wischte sich einen Tropfen ab, der ihm über die Wange lief.
„Keine Ahnung, was mit denen wieder los ist“, sagte er, „ich hab’ den Verdacht, dass die tatsächlich angefangen haben, Axels Zeug zu rauchen“.
„Das haben sie nicht“, sagte Harry Hancock Hurricane, „sie haben ihren zweiten Schock der Erkenntnis, weil sie vorhin die Kugel am Buch des Lebens seitlich gedreht haben. Ich hab’ demnächst meinen dritten, weil ich die Kugel vorwärts gedreht habe, aber ich spür’ noch gar nichts.“
Zander nippte wieder umständlich an seinem Wein. „Mich legst du nicht mehr rein, Hurricane. Ich hab’ die Kugel auch gedreht, und gar nichts ist passiert. Die rauchen Axels Zeug. Vielleicht hast sogar du es ihnen untergejubelt, und sie wissen es nicht einmal.“ Zander hob wieder umständlich seine Flasche an den Mund. Er schrie „Scheiße“, schnellte nach oben und setzte sich mit einer Geschwindigkeit auf die Bettkante, mit der Gebirge niemals entstehen, sondern höchstens zusammenbrechen, wenn ein Sprengmeister einen Tunnel sprengen will, aber zu viel Sprengstoff verwendet, sehr viel zu viel. So viel zu viel, dass dem Buch des Lebens nur ein einziges Beispiel einfiel, in dem ein völlig unfähiger und ziemlich betrunkener Sprengmeister tatsächlich einmal ein ganzes Gebirge weggesprengt hatte.
Harry Hancock Hurricane dachte, Zander hätte sich den Wein auf die Brust geschüttet und wolle nicht in einer Weinpfütze schlafen. Aber Zander wischte sich nicht über die Brust. Die Weinflasche hatte er fallen lassen. Harry Hancock Hurricane dachte, dass Zander ihm direkt in sein linkes Auge sah. Dann bemerkte er, dass Zander stattdessen sehr dicht an seinem linken Ohrläppchen vorbei an die Wand starrte, als hätte er dort einen Weinfleck entdeckt.
Harry Hancock Hurricane drehte sich um und sah keinen Fleck. Er ging zu Zander, schüttelte ihn an der Schulter und sagte „Zander?“. Zander sah den Weinfleck an, den nur er sah. Es gab ein Geräusch, als hätte jemand einen Rucksack fallen lassen, der mit Pappe verstärkt ist, und in dem das Buch des Lebens und seine Erdballkugel steckten und deswegen unbeschädigt blieben, weil sie sorgfältig in Tücher eingewickelt waren.
Harry Hancock Hurricane war neben Zander umgefallen. Für ihn unglücklicherweise war er nicht auf Zanders Bett gefallen, sondern auf seinen reichlich schmuddeligen Teppich. Das Buch des Lebens wünschte sich, er hätte sich dabei wenigstens einen Zahn ausgeschlagen. Aber es wusste, dass es so nicht war. Harry Hancock Hurricane würde nur am nächsten Tag mit dem Geruch von Staub und Erde in der Nase aufwachen, die feucht waren von Weißwein, aber wenigstens würde sein fürchterlich verspanntes Genick schmerzen.

***

Am nächsten Morgen ging Madeleine durch die beiden Eisenbahntunnel, vorbei am inoffiziellen FKK-Strand und über die brüchige Mauer nach Hause. Sie steckte den Schlüssel erst gar nicht ins Schloss, weil sie genau wusste, dass gestern Abend wieder niemand die Tür abgeschlossen hatte. Sie öffnete nicht die Tür, denn irgendjemand hatte gestern Abend abgeschlossen.
Sie streckte sich, damit ihre Finger in die Vordertasche ihrer Jeans passten, die sie so eng trug, um eine kleine Ansammlung von Fettgewebe zu verbergen, die eigentlich sogar ganz niedlich war, auf der sich aber Orangenhaut zu bilden begann. Deswegen mochte Madeleine diese kleine Ansammlung von Fettgewebe nicht mehr. Sie trug die Jeans erfolgreich so eng, wie jeder in dem Moment sehen konnte, in dem sie sich ein wenig streckte, aber es war niemand in der Nähe.
Sie zog den Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn ins Schloss. Sie ging in die Küche, weil sie sich mit einer Tasse Kaffee auf ihre Klippe setzen wollte, brühte Kaffee auf, wunderte sich nicht, dass sie eine erotische Vision von Chiara hatte, wunderte sich aber, dass sie diese erotische Vision ausgerechnet in dem Moment hatte, in dem die Kaffeemaschine zischend gurgelte, wie sie immer zischend gurgelte, wenn sie die letzten Tropfen heißes Wasser auf den Kaffee pumpte.
Sie hörte Stimmen aus Zanders Zimmer, wunderte sich, dass alle so früh schon ausgerechnet bei Zander waren, kümmerte sich nicht weiter darum und ging zu ihrer Klippe, um über Chiara nachzudenken, während ihre Füße über dem Abgrund baumelten.
Sie dachte über Chiara nach, allerdings weniger, viel mehr dachte sie über das nach, worüber sie schon den gesamten letzten Tag und sogar den größten Teil der Nacht nachgedacht hatte. Sie dachte über das unglaublichste Ding nach, das sie je in ihrem Leben gesehen hatte. Das war nicht Jennifers rechte Brust, die hatte Madeleine schließlich nicht gesehen, und es war auch nicht Chiara.
„Der da wird sich was anhören müssen, wenn er wieder aufwacht“, sagte Zander und zeigte auf Harry Hancock Hurricane, der mit dem Kopf in einer Weißweinpfütze auf seinem Teppich lag.
„Warum?“, fragte Jackson Jackson, „er hat die ganze Zeit versucht, es uns zu erklären, nur haben wir ihm nicht zugehört“.
„Na entweder kann ich den Teppich rausschmeißen, oder es wird noch wochenlang hier drin nach Weißwein stinken“, sagte Zander.
„Wie wär’s mit waschen?“, fragte Siegfried.
Zander überging die Bemerkung. „Okay“, sagte er, unser ganzes Leben ist also von Zufällen bestimmt, ist doch nichts Besonderes. Der Soldat bückt sich, weil sein Schuh offen ist, und darum pfeift die Kugel an seinem Kopf vorbei. Ist doch ‚ne uralte Geschichte“.
Zander stupste Harry Hancock Hurricane mit seinem großen Zeh in die Rippen. Siegfried setzte sich auf Zanders Bett, weil er eine Erkenntnis hatte, die ihn schockierte. „Wenn ich nur eine klitzekleine Kleinigkeit anders gemacht hätte, vielleicht in meiner Kindheit, dann wäre mein ganzes Leben anders verlaufen“, sagte er.
„Vielleicht, vielleicht auch nicht“, sagte Jackson Jackson, „das ist nicht das Faszinierende an der ganzen Sache. Das Faszinierende an der ganzen Sache ist, dass dieses Ding womöglich weiß, welcher der unendlich vielen Zufälle unser Leben verändert und welcher nicht. Womöglich erzählt es aber auch nur irgendwelche Geschichten, die wir niemals werden überprüfen können, weil wir es eben anders gemacht haben, als wir es in dem Ding lesen.“
„Dann ist es sowieso egal“, sagte Zander.
Siegfried dachte an die Demütigungen seiner Kindheit und daran, dass es seiner Waage gleichgültig zu sein schien, dass er seit Tagen nur noch Obst aß. Und ab und zu einen Teller Spaghetti, damit die anderen ihn nicht aufzogen, wenn sie merkten, dass er eine Diät machte.
Jackson Jackson sah ihn an und sah, dass er an irgendetwas dachte, was es ihm so unmöglich machte, mit ihm vernünftig zu sprechen, dass er genauso gut mit Zander sprechen könnte.
„Denk’ doch mal nach“, sagte er darum zu Zander statt zu Siegfried, „selbst wenn das alles nur Geschichten sind, ist es völlig unmöglich, dass ein PC sich immer neue Versionen ausdenkt, wenn du an einem Steuergerät drehst. Ein Gerät, dass das könnte, müsste viel mit Unendlichkeit zu tun haben“.
Zander stupste wieder mit dem großen Zeh in Harry Hancock Hurricanes Rippen. „Ich glaube, das ist der da, der sich die Geschichten ausdenkt“, sagte er.
„Ich bin nicht sicher. Unwahrscheinlich, dass er das so schnell hinkriegt“, sagte Jackson Jackson, „außerdem stehen in den Geschichten Details, die er nicht kennen kann, allenfalls ahnen“.
„Kann mir mal jemand erklären, warum wir dauernd in der Küche sitzen und wie die Blöden die Wände anstarren?“, fragte Siegfried.
„Nein“, sagte Jackson Jackson, „außer mit der dümmsten aller Erklärungen, die ich je gehört habe. Das ist die von Hancock.“
„Klar kann ich das erklären“, sagte Zander, „der hat uns Axels Stoff untergejubelt, ohne dass wir es gemerkt haben.“
„Ich hab’ doch schon gesagt, ich hab’ seit Monaten nichts mehr geraucht“, sagte Jackson Jackson.
„Vielleicht hat Zander doch Recht, und Hancock hat das irgendwie gedreht“, sagte Siegfried, „vielleicht gibt es auch nur zwei Versionen der Geschichte, keine weiteren, und dann hätte er es doch hinkriegen können, wenn er sich rangehalten hat“.
„Unwahrscheinlich, aber wir werden’s rausfinden“, sagte Jackson Jackson, „nur müsste er erstmal aufwachen, weil nur er weiß, wie man das Ding anschaltet“.
Madeleine schlug die Haustür zu. „Madeleine?“, rief Siegfried, und es war eine der unnötigsten Fragen in der gesamten Geschichte von Madeleine, Zander, Siegfried, Jackson Jackson und Harry Hancock Hurricane.
„Du solltest mal hochkommen, wir haben hier etwas endgültig zu klären“, rief Jackson Jackson.
Madeleine kam mit ihrer Tasse in Zanders Zimmer. „Ich habe nachgedacht“, sagte sie.
„Wir auch, über den da“, sagte Zander und stupste wieder mit dem Zeh in Harry Hancock Hurricanes Rippen.
„Ich kann’s euch nicht erklären, aber ich glaube nicht mehr, dass er was damit zu tun hat“, sagte Madeleine.
„So ein Zufall“, sagte Jackson Jackson.
Harry Hancock Hurricane grunzte, wollte seinen Kopf aus der Weißweinpfütze heben, aber er fiel wieder hinein, weil er ein fürchterliches Stechen in seinem Genick spürte. Er wälzte sich umständlich herum und stand umständlich auf. „Habt ihr’s endlich kapiert?“, fragte er.
„Nein“, sagte Madeleine.
„Wir würden uns gern mal ein paar andere Geschichten anschauen, die das Ding in deinem Zimmer angeblich selbst schreibt“, sagte Zander, „schalt’s ein, wir wollen ein bisschen am Kügelchen drehen“.
„So einfach ist das nicht“, sagte Harry Hancock Hurricane.
Zander ging auf ihn zu und sah auf ihn hinab. „Ich helf’ dir gern“, sagte er.
„Lass ihn“, sagte Jackson Jackson.
„Jackson Jackson“, sagte Harry Hancock Hurricane, „sag du mir, dass wenigstens du es kapiert hast, auf dich werden sie hören“.
„Ich bin noch nicht sicher“, sagte Jackson Jackson.
„Es kann noch viel mehr, als du ahnst, aber das muss es dir selbst erklären. Dann fällst du allerdings wieder in einen Schock der Erkenntnis, aber das ist der letzte“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Die Idee rüberzugehen und sich das Ding ein wenig näher anzusehen, ist auf jeden Fall gut“, sagte Jackson Jackson.
„Ich muss zur Arbeit“, sagte Siegfried.
Zander betastete seine Unterlippe, die noch immer geschwollen war.
„Das ist mir hier alles etwas zu eindimensional“, sagte Madeleine.
Es gab ein Geräusch, das genau so klang, als hätte jemand Jackson Jackson auf den Fußboden fallen lassen, weil Jackson Jackson auf den Fußboden fiel. Als ihm ein Gedanke gekommen war, der sehr viel mit Unendlichkeit zu tun hatte, ein wenig auch mit Geld, als Jackson Jackson erkannte, dass dieser Gedanke so unlogisch war, dass er die einzig logische Erklärung war, war er in seinen dritten Schock der Erkenntnis gefallen.
„Scheiße Jackson Jackson, nicht schon wieder“, rief Zander.
„Wie hat er das hingekriegt?“, rief Harry Hancock Hurricane.
„Helft mir, ihn aufs Bett zu legen“, sagte Madeleine, und sie halfen ihr, Jackson Jackson aufs Bett zu legen. Außer Harry Hancock Hurricane. Harry Hancock Hurricane ging in sein Zimmer, wickelte die Erdballkugel in das Satintuch, das er von Madeleine geliehen hatte, um genau das zu tun, was er jetzt tat. Er wickelte das Buch des Lebens in das Handtuch, mit dem er es zudeckte, wenn er nicht in ihm las oder mit ihm sprach. Er steckte beides in den Rucksack, den er mit Papier gefüttert und mit Pappe verstärkt und in zwei Fächer unterteilt hatte, anfangs ohne tun zu wollen, was er gerde tat, nur für einen von scheinbar unendlich vielen Fällen. Die anderen hörten, wie die Haustür zuklappte.
„Hurricane“, rief Zander, und es war ein Befehl. Aber Harry Hancock Hurricane war schon unterwegs in Richtung der Klippen, weil er im Buch des Lebens gelesen hatte, dass Zander ihn in Richtung Levanto verfolgen und im Eisenbahntunnel kreuz und quer stapfen würde, weil er sicher war, dass Harry Hancock Hurricane sich irgendwo in der Dunkelheit versteckt hatte, aber die Suche aufgab, als er auf den Gedanken kam, dass er sich womöglich vorher einen chromglänzenden Baseballschläger besorgt hatte.

***

Es ist viel geschrieben worden über den Schock der Erkenntnis. Das meiste davon hatten oberlehrerhafte Schulbücher verfasst, die zum verständlichen Philosophieren neigten und zur Besserwisserei, überdies eine schwer verständliche Sprache verwendeten, einen unglaublich umständlichen Satzbau, und ihre Erkenntnisse nie mit Beispielen anreicherten, weshalb etliche Illustrationen ihre Bücher verteuerten.
Außerdem banden sie ihre Texte niemals in eine unterhaltsame Rahmenhandlung ein. Deshalb las das meiste sich etwa so: Ergo scheint es erwiesenermaßen so, dass Auslöser des ersten Schocks der Erkenntnis die Erkenntnis ist, die aus der Furcht resultiert, nie mehr im Laufe seines Lebens eine Aktivität unbeobachtet durchführen zu können, weil ein allgegenwärtiger Beobachter alles schriftlich erfasst, was er oder sie (der Leser bzw. die Leserin / Anmerkung der Red.) zu exakt dem Zeitpunkt der Lektüre tut, je getan hat und bis zum Ende seines möglicherweise nur derzeitigen irdischen Daseins (vergl. Reinkarnation) tun wird, wobei dieser allgegenwärtige Beobachter seine Darlegungen mit – teilweise herablassenden – Kommentaren versieht und Verknüpfungen zu vergangenen, derzeitigen und künftigen Aktivitäten anderer Personen sowie seiner selbst herstellt, die ihm oder ihr (dem Leser bzw. der Leserin / Anmerkung der Red.) zumindest spontan nicht schlüssig erscheinen mögen, obwohl der Verfasser der Darlegungen sie schlüssig erscheinen lässt (vergl. Allwissenheit).
Undsoweiterundsoweiter.
Das Buch des Lebens hatte dem eine Kurzgeschichte mit einigen recht amüsanten Episoden aus einem norditalienischen Dorf entgegengesetzt, in dem jeder über jeden spricht. Darum konnte niemand jemals irgendetwas tun, ohne dass es schon nach kurzer Zeit alle wussten. So schien es, als gäbe es einen allgegewärtigen Beobachter. Trotzdem hatte niemand in diesem Dorf je einen Schock der Erkenntnis erlitten. Die einzigen Ausnahmen würden in ferner Zeit fünf Engländer sein, die in einem alten Bauernhaus abseits des Dorfes das Buch des Lebens lesen würden.
Es schrieb dem oberlehrerhaften Schulbuch, dass trotzdem sein Grundgedanke nicht so falsch war, wie so viele andere. Allerdings werde das kaum jemand erkennen, weil es wie alle anderen oberlehrerhaften Schulbücher einmal intensiv über seinen Satzbau nachdenken sollte.
Ein anderes oberlehrerhaftes Schulbuch schrieb:
Da dem rationalen Wissen um die theoretisch vorhandene Möglichkeit, dass das Leben von einer Reihe von Zufällen wesentlicher Bedeutung, ggf. sogar von einzelnen Zufällen untergeordneter Bedeutung wesentlich beeinflusst werden könnte, stets der Glaube um die Irrationalität des oben beschriebenen Phänomens entgegensteht, verhindert die so entstehende Weigerung, sich des oben beschriebenen Phänomens gedanklich anzunehmen, für gewöhnlich das Vordringen des Gedankens an das oben beschriebene Phänomen vom Unterbewusstsein des Lesers oder der Leserin ins Bewusstsein des Lesers oder der Leserin. Wird dem Leser oder der Leserin das oben beschriebene Phänomen samt seiner möglichen Auswirkungen allerdings durch schriftliche Darlegung vor Augen geführt, genügt für gewöhnlich das einfache Beispiel einer einzigen Variante des möglicherweise Geschehenden im Vergleich zum tatsächlich Geschehenen, um die Barriere aufzuheben, die gleichsam zwischen dem Bewusstsein des Lesers oder der Leserin und dem Unterbewusstsein des Lesers oder der Leserin den Gedankenfluss blockiert.
Das Buch des Lebens entgegnete dem oberlehrerhaften Schulbuch, dass jeder Dösbaddel die Geschichte vom Soldaten kennt, der sich bückt, weil zufällig sein Schnürsenkel offen ist. Und nur deshalb pfeift die Kugel an seinem Kopf vorbei. Außerdem empfahl es dem oberlehrerhaften Schulbuch, es möge noch intensiver über seinen Satzbau nachdenken, als es alle anderen oberlehrerhaften Schulbücher endlich einmal tun sollten. Trotzdem sei sein Grundgedanke nicht so falsch, wie so viele andere.
Danach schrieb es eine für seine Verhältnisse kurze Abhandlung zu dem, was ein, wenn auch etwas spezieller, Leser dachte, während er seinen ersten, zweiten und dritten Schock der Erkenntnis erlitt. Dieser Leser war Jackson Jackson.
Auszüge aus dieser Abhandlung lesen sich so:
Während Jackson Jackson die Geschichte las, wie Harry Hancock Hurricane das grüne Ding gekauft hatte, dachte er, dass der verdammte kleine Hurricane ein ganz ordentliches Talent zur Schriftstellerei haben müsse. An der Stelle, an der Hancock neunzehn Euro bezahlte, potenzierte Jackson Jackson die neunzehn bis in ihre neunzehnte Potenz – eine alte Angewohnheit.
Er fragte sich, bis in die wievielte Potenz dieser alte PC die neunzehn potenzieren könnte, bevor seine Platine abfackelte. Der Gedanke an Potenz brachte ihn auf andere Gedanken, die er allerdings unterdrückte, weil er inzwischen schon allzu lange seinen Bizeps vergeblich zucken ließ. Er las weiter, einfach, um sich ein wenig zu amüsieren über das, was der kleine Hancock über ihr Zusammenleben geschrieben und darüber, was er ihm hinzugedichtet hatte. Allerdings nur bis zu der Passage, in der Hancock geschrieben hatte, Chiara sei lesbisch. Das konnte er nicht wissen.
Jackson Jackson erwog die überschaubare Zahl der Möglichkeiten: Irgendjemand hatte im Verlauf des Abends Hancock von ihrem kleinen Gespräch über Chiara erzählt. Dass sich daran niemand erinnerte, war geradezu das Gegenteil eines Wunders. Weil sich daran niemand erinnerte, glaubten alle, nicht Hancock hätte die kleine Geschichte geschrieben, sondern irgendein allgegenwärtiger Beobachter.
Falls Chiara nicht lesbisch ist, würden Zander, Siegfried, Hancock und er selbst trotzdem gern glauben, sie sei es, weil sie sich für keinen von ihnen interessierte. Madeleine würde es glauben, weil sie bisher nicht daran geglaubt hatte, dass Chiara lesbisch ist, aber es hoffte. Oder sie würde es glauben, weil sie es ohnehin glaubte.
Falls Hancock einen Zufallstreffer hatte und Chiara tatsächlich lesbisch ist, wäre es einfach umgekehrt. Der verdammte kleine Hancock. Wie er die Show inszeniert hatte, zeigte mal wieder, dass er eigentlich ein Genie war. Schon allein den alten PC so zu frisieren, dass all das hier mit ihm möglich ist, war ein Meisterstück.
Das eigentliche Problem war natürlich die Synchronisation mit dem, was sie im Zimmer taten und sprachen. Einiges war Jackson Jackson klar. Dass das Ding sich ausgerechnet anschaltete, als Siegfried auf Hancock losging, war nichts als Glück gewesen. Sie wären genauso beeindruckt gewesen, wenn der PC sich an einer anderen Stelle des Streits gemeldet hätte.
Dass Madeleine neugierig genug war, bei ihrer Hallo-wach-Runde auf den Bildschirm zu sehen, hatte Hancock natürlich gewusst. Madeleine war eben trotz allem eine Frau. Dass er das hier alles hinkriegte, obwohl er offensichtlich keine versteckte Fernsteuerung bei sich trug, war fast ein Wunder.
Ein paar ihrer Reaktionen waren voraussehbar. Er hatte das Ding so programmiert, dass die Spracherkennung auf bestimmte Stichwörter, die auch voraussehbar waren, bestimmte Programmteile aufrief.
Jackson Jackson las weiter und dachte darüber nach, wie lange es dauern würde, bis eins der Stichwörter an einer falschen Stelle fällt, einen zu dieser Zeit absurden Programmteil abruft, und das Ganze auffliegt. Aber Hancock hatte Glück. Alle schwiegen.
Die Geschichte begann ihn zu langweilen. Er dachte darüber nach, wie es wäre, wenn er ein allgegenwärtiger Beobachter wäre, der genau jetzt gleichzeitig hier ist, im Roma, bei Andrea an der Eisdiele, Patrizia beobachtet, Chiara, Antonello, natürlich all die Nadias. Er potenzierte die Zahl derjenigen, die er bisher beobachten müsste, bis in ihre neunzehnte Potenz. Er erweiterte die Zahl derjenigen, die er beobachten müsste. Er stellte sich die Zahl der Notizen vor, der kleinen Randbemerkungen über den Unterschied zwischen einer etwas zu großen Nase und einer zu großen Nase, wie die Nadia sie hat, die an der Kasse des Centrale steht.
Er stellte sich vor, wie er für seine Geschichte wichtige Gesprächsfetzen von unwichtigen trennt. Er stellte sich vor, wie er gleichzeitig an sieben Kapiteln schreibt, sich nebenher alles notiert, was um ihn herum geschieht. Also überall.
Er würde weitere siebenundzwanzig Kapitel eröffnen müssen, selbst ohne die Zahl derjenigen zu erhöhen, die er bisher beobachten müsste. Er sah die Allgegenwärtigkeit, als spaziere sie vor ihm am Roma vorbei. Er sah die Unendlichkeit der Allgegenwärtigkeit, die so rein war, dass sie sich mit nichts vergleichen ließ. Er dachte, dass trotz dieser Reinheit die Unendlichkeit logischerweise erweiterbar sein müsste, wenn man die Möglichkeit bedenkt, dass selbst kleine Zufälle in allen Kapiteln, an denen er gleichzeitig schrieb, jederzeit eine für jeden überraschende Wendung auslösen könnten.
Aber das dachte er nur so kurz, dass er sich später eine Zeit lang nicht mehr erinnern würde. Er fiel in seinen ersten Schock der Erkenntnis. (…)
Jackson Jackson las die Version von Hancocks Geschichte, in der nicht Harry Hancock Hurricane das grüne Ding gekauft hatte, sondern Madeleine. Er dachte daran, sich nachher auf die Klippe beim Rand des inoffiziellen FKK-Strands zu setzen, um Touristen zu beobachten. Die Geschichte langweilte ihn. Der verdammte kleine Hancock hatte das Allerweltswissen, dass Vergangenes Zukünftiges beeinflusst, zu einer Erkenntnis aufgeblasen.
Nur hatte er sich diesmal den größten Teil der Show gespart. Das grüne Ding hatte er nur am Anfang ein paar Sätze sprechen lassen. Genial der Trick übrigens, es immer wieder sagen zu lassen, dass es ungern spricht. Wieder war die Geschichte gar nicht so schlecht formuliert, das musste man ihm lassen. Aber Hancock würde natürlich nichts machen aus diesem Talent. Eigentlich war er ein verdammtes Genie, und schon daraus machte er nichts. Aber dass Genies nicht in der Lage sind, etwas daraus zu machen, dass sie Genies sind, war für jemanden, der Mathematik studiert, natürlich nichts Neues.
Jackson Jackson dachte an die Nacht mit Madeleine, als er die Passage las, in der sie Giovanni den Spaß verdarb. Er dachte daran, dass er schon eine ganze Weile vergeblich seinen Bizeps hatte zucken lassen, während Zander wöchentlich mit einer neuen Jenny oder Susi ankam. Um sich abzulenken, dachte er über das eine oder andere Paradoxon nach, was ihm allerdings nicht half sich abzulenken, weil es ihm paradox genug schien, dass seit Monaten alle Jennis oder Susis für Zander reserviert zu sein schienen.
Um sich abzulenken, dachte er darüber nach, woran er gedacht hatte, bevor er in seinen ersten Schock der Erkenntnis fiel. Er erinnerte sich an alles, bis auf seinen letzten Gedanken. Dann fiel ihm auch sein letzter Gedanke wieder ein. Er dachte darüber nach, was geschehen würde, wenn man die kleine Kugel nicht nach links oder rechts drehen würde, was letztlich gleichgültig war, sondern nach hinten.
Oder sogar nach vorn.
Aber das dachte er nur so kurz, dass er sich später eine Zeit lang nicht mehr daran erinnern würde. (…)
Anders als die meisten anderen Leser, musste Jackson Jackson kein drittes Mal im Buch des Lebens lesen, um zu der Erkenntnis zu kommen, wegen der er in den dritten Schock der Erkenntnis fiel. Einige mäßig interessante Gedanken über die Erotik der Mathematik hatten in seinem Hirn andere Gedanken geweckt, die bis dahin die meiste Zeit ihres Lebens in Betten und Hängematten verbracht hatten.
Diese Gedanken wussten nichts anderes mit sich anzufangen, als willkürlich neue Gedanken zu zeugen, die wiederum mutierten. Die Mutationen trafen auf einen ausgesprochen seltenen Zufall. So zeugten sie absurderweise eine Erinnerung, die willkürlich eine andere Erinnerung weckte und erkannte, dass diese Erinnerung ihr so ähnelte, als sei sie ihr Klon. Das Letzte, was Jackson Jackson dachte, als diese Erinnerung wach wurde, war: „Wenn das so wäre, dann wäre das einzig Logische, dass die einzige ordnende Komponente in allem, was wir tun und kennen, ja dann, wäre die überhaupt einzig ordnende Komponenten die reine Unlogik.“
Erst kurz vor seinem Tod würde er sich an diesen Gedanken wieder erinnern, aber nur schwach bedauern, dass er einer der größten Mathematiker seiner Zeit hätte werden können. (…)
Ich habe das Beispiel von Jackson Jackson gewählt, schrieb das Buch des Lebens am Ende seiner für seine Verhältnisse kurzen Abhandlung etwas gönnerhaft, weil ich vermeiden wollte, meine Leser mit einer ausschweifenden Abhandlung zu belästigen. Dass Jackson Jackson für drei Schocks der Erkenntnis lediglich zweimalige Lektüre benötigte, bedingt natürlich eine gewisse Kürze. Dennoch ist es entgegen aller anders lautenden Theorien, schrieb das Buch des Lebens etwas oberlehrerhaft, bei ihm grundlegend so, wie bei jedem Leser: Was den ersten, den zweiten und den dritten Schock der Erkenntnis auslöst, ist die Erkenntnis der Unendlichkeit, die Erkenntnis der Unendlichkeit der Unendlichkeit, die Erkenntnis der unendlichen Logik der Unlogik.
Trotz der Gönnerhaftigkeit und Oberlehrerhaftigkeit widersprachen dem nur noch wenige, denn die Abhandlung des Buchs des Lebens über die Unendlichkeit hatte der Große Rat der Bücher kurz zuvor zu einem allumfassenden Standardwerk der Literaturgeschichte erklärt. Seine Abhandlung über die Unendlichkeit der Unendlichkeit erklärte er später erst nach langen Diskussionen zu einem allumfassenden Standardwerk der Literaturgeschichte. Sie schienen reichlich altersstarrsinnig. Seine Gedanken über die Unlogik blieben unvollständig, weil es unendlich lange hätte leben müssen, um sie zu vollenden, aber es verstarb, bevor die Unendlichkeit verging.
Alle Mitglieder des Großen Rats der Bücher waren froh, dass sie deswegen keine Abhandlung des Buchs des Lebens über die Vollkommenheit der Unlogik zu lesen verpflichtet waren. Natürlich diskutierten sie das unvollendete Werk trotzdem.
Sehr viel später entwickelte eine Neuauflage des Buchs des Lebens eine Theorie über den eigentlichen Auslöser des Schocks der Erkenntnis, die der Große Rat der Bücher ohne Diskussion anerkannte.
Sie las sich so:
Ungeachtet aller Anerkennung der Verdienste meiner Vorauflage um unser Wissen über die Unendlichkeit, die Unendlichkeit der Unendlichkeit und Fragmenten über die Vollkommenheit der Unlogik, war der eigentliche Auslöser des Schocks der Erkenntnis eines jener unerklärlichen Zusammenspiele zwischen dem inhaltlichen Konzept und dem technischen Konzept des ursprünglichen Buchs des Lebens. Diese unerklärlichen Zusammenspiele waren nach meinen Recherchen entstanden, weil die Mitglieder der inhaltlichen und der technischen Kommission sich gegenseitig nicht verstanden.
Eine recht amüsante Anekdote ist, was geschah, nachdem die ersten Leser in den Zustand des Schocks der Erkenntnis gefallen waren. Ungeachtet aller seiner Verdienste um das Buch, war es so, dass der Verlag der Bücher damals eilig eine Arbeitsgruppe gründete, die das unerklärliche Phänomen erklären sollte. Die Arbeitsgruppe erklärte, dass das unerklärliche Pänomen unerklärlich bleiben würde, solange eines der ehemaligen Mitglieder der technischen Kommission jeden Besucher mit einem Schäferhund und einer Mistgabel von seinem Bauernhof verjagt. Daraufhin löste sie sich auf, weil keines ihrer Mitglieder Lust hatte, sich weitere Male mit wurmstichigem Fallobst bewerfen zu lassen.
Die Vertriebsabteilung veranstaltete eine Serie von Meetings und gründete eine Arbeitsgruppe. Die Arbeitsgruppe erklärte, dass der Schock der Erkenntnis den Verkaufszahlen nicht schadet, weil er dem Kunden nicht schadet. Schließlich folge auf die Stunden des scheinbaren Starrens an der Zeit vorbei hinein in die Grauen der Kindheit ein traumreicher und erholsamer Schlaf. So waren die Auswirkungen eines Schocks der Erkenntnis letztlich vergleichbar mit denen einer unruhigen Nacht.
Das Buch des Lebens erklärte, all das hätte es allen gleich sagen können. Die Vertriebsabteilung ließ eine Zusammenfassung der Ergebnisse aus der Arbeitsgruppe in einer literarischen Fachzeitschrift veröffentlichen, die so wenige Leser hatte, dass die Vertriebsabteilung hoffte, niemand würde von der Peinlichkeit lesen, dass das Buch des Lebens seine Leser in Schockzustände versetzt. Sie fügte zur Sicherheit einen Absatz an, in dem sie behauptete, der Verlag arbeite mit Hochdruck daran, den Fehler zu beheben.
Einige Leser lasen und verstanden die Zusammenfassung, obwohl die Vertriebsabteilung sich bemühte hatte, sie möglichst unleserlich und unverständlich zu formulieren. Sie schickten Zuschriften an den Zeitschriftenverlag, in denen sie schrieben, der Schock der Erkenntnis sei vergleichbar etwa mit einer unruhigen Nacht. Sie wollten ihn nicht missen, weil er die Spannung ungemein erhöhe, außerdem einfach zur Lektüre des Buchs des Lebens gehöre.
Der Zeitschriftenverlag veröffentlichte sämtliche Zuschriften, weil er sonst kaum einmal einen Leserbrief bekam. Das nutzten einige oberlehrerhafte Lehrbücher, um dem Verlag ihre scheinbaren Erkenntnisse zum Schock der Erkenntnis zu schicken. Das Buch des Lebens selbst schaltete sich in die Diskussion ein, mit einem Brief, in dem es sinngemäß schrieb, alles Geschriebene, mit Ausnahme der ersten Briefe, sei Quatsch.
So sprach sich die Sache herum.
Etliche Leser, die bis dahin kaum einmal ein Comic gelesen hatten, weil sie ihre Abende damit verbrachten, Horrorvideos anzusehen, kauften das Buch des Lebens. Sie kauften es ausschließlich, um den Schock der Erkenntnis zu erleiden, weil ihre Horrorvideos sie schon lange nicht mehr schockierten.
Zudem kauften etliche Schüler mit gefälschten Schülerausweisen das Buch des Lebens oder schickten ältere Geschwister, weil sich nebenbei herumgesprochen hatte, dass das Buch des Lebens einige ziemlich scharfe Kapitel enthielt, die so bildhaft formuliert waren, dass ihre Wirkung schärfer war als die von Pornovideos.
Die Vertriebsabteilung des Verlags der Bücher rühmte sich in einem verlagsinternen Meeting, es sei ihr mittels einer raffiniert angelegten Werbeaktion gelungen, die Verkaufszahlen des Buchs des Lebens ins bisher Undenkbare zu steigern. Sie gründete eine Arbeitsgruppe, deren Aufgabe es war, ein Konzept zu entwickeln, wie der Schock der Erkenntnis ohne das Buch des Lebens vermarktet werden könnte. So sollten Produktionskosten gespart werden.
Das Buch des Lebens verfasste seine bekannte Kurzgeschichtensammlung mit dem Titel „Siebenundzwanzig Kurzgeschichten über Gewaltphantasien, in denen siebenundzwanzig Bücher die Hauptrolle spielen, und die siebenundzwanzigmal damit enden, dass die Teilnehmer eines Meetings feststellten, dass niemand im Raum mehr einen einzigen Zahn im Mund hatte“.
Die Vertriebsabteilung verfeinerte das Konzept zur Vermarktung des Schocks der Erkenntnis in einer Serie von Meetings und verwarf es, noch bevor der Große Rat der Bücher es ablehnen konnte.

***

Harry Hancock, der sich Harry Hancock Hurricane genannte hatte, bevor er sein Unternehmen Hurricane Incorporated gleichsam von sich selbst abspaltete, sah seinen untreuen Pointer Pointer in der Ferne am Waldrand verschwinden. Seit er zusätzlich einen Berner Sennhund gekauft hatte, weil Berner Sennhunde treuer sind als Pointer, rief er seinen Pointer nicht mehr Pointer Pointer, sondern nur noch Pointer.
Es war schon umständlich genug gewesen, allen unfähigen Hundetrainern zu erklären, wie untreu sein untreuer Pointer Pointer Pointer war. Er sah seinem treuen Berner Sennhund Berner Sennhund zu, wie er damit beschäftigt war, gerade zusammen mit seinem untreuen Pointer Pointer in der Ferne am Waldrand zu verschwinden.
Harry Hancock wollte nicht glauben, dass für kein Geld der Welt ein treuer Hund zu kaufen war und beschloss, sich zusätzlich einen Schäferhund, einen Dobermann, eine Dogge, einen Bernhardiner und zwei Pudel zu kaufen. Außerdem litt er unter einem Gefühl, das der Gedanke gezeugt hatte, Harry Hancock habe in dem gleichen Maße einen bemerkenswerten Mangel an Phantasie entwickelt, in dem die Hurricane Incorporated erblühte.
Sein treuer Kater Kater, der wusste, woran Harry Hancock dachte, strich ihm alarmiert um die Beine. Hätte Harry Hancock seinen Kater Kater spüren können, hätte er es sich vielleicht anders überlegt. Aber er spürte ihn nicht. Dieser grässliche Unfall.
So würde es kommen, wie der treue Kater Kater es fürchtete. Harry Hancock würde zum Telefonhörer greifen, um einen Schäferhund, einen Dobermann, eine Dogge, einen Bernhardiner und zwei Pudel zu bestellen. Ein pubertierender Dobermann namens Dobermann würde das Leben des treuen Katers Kater beenden, bevor er in der Ferne am Waldrand verschwand.
„Pointer. Berner Sennhund. Hier!“, brüllte Harry Hancock. Pointer stöberte im Dickicht und verschwand endgültig. Berner Sennhund hielt inne, hob den Kopf und sah zum Haus herüber, bevor er im Dickicht stöberte und endgültig verschwand. Harry Hancock betätigte den kleinen Hebel an seinem Rollstuhl, um ins Haus zu fahren und treuere Hunde zu bestellen.
Harry Hancock Hurricane drehte die Erdballkugel nach rechts und las einen anderen Abschnitt aus einer anderen Zukunft von Harry Hancock, der ihm ähnlich missfiel. In diesem Abschnitt seiner anderen Zukunft kam sein Psychiater, der gleichzeitig vorgab, einer seiner besten Freunde zu sein, zu einem Hausbesuch vorbei. Sie sprachen über die möglichen Ursachen für Harry Hancocks Potenzproblem.
Seit Stunden las Harry Hancock Hurricane solche und andere Passagen aus einer anderen Zukunft von Harry Hancock. Sie waren allesamt unerfreulich. Harry Hancock Hurricane glaubte inzwischen, dass das Buch des Lebens fortwährend damit beschäftigt war, immer neue unerfreuliche Geschichten aus einer immer neuen anderen Zukunft zu erfinden, um in sie seinen verstümmelten Namen einzusetzen, und deswegen nicht mehr mit ihm sprach.
Aber das war ein Irrtum. Anfangs hatte es ihm immer neue andere Passagen aus einer immer neuen anderen Zukunft zu lesen gegeben, die allesamt erfreulich waren. In allen war es Harry Hancock gelungen, in recht kurzer Zeit so viel Geld zu verdienen, dass er nie mehr Geld verdienen musste.
Dann hatte Harry Hancock die Erdballkugel noch ein Stück weiter nach vorn gedreht und danach nach links oder rechts. Darauf folgten Passagen, in denen Harry Hancock weiter Geld verdiente, obwohl er nie mehr hätte Geld verdienen müssen.
Harry Hancock Hurricane drehte die Kugel weiter nach vorn und las einige der wirklich unerfreulichen Passagen. Er begann, die Erdballkugel zurück zu drehen und nur ein wenig nach links und rechts zu rucken, um den Fehler zu finden, durch den er zu diesem Harry Hancock wurde oder geworden war oder werden würde.
Er kämpfte gegen biologische Probleme wie ein unmerkliches Zittern eines Fingers, gegen physikalische Probleme wie eine kleine Unrundheit in der Rundheit der Erdballkugel, er kämpfte sogar gegen meteorologische Probleme wie eine plötzliche Windboe.
Wenn er die Kugel nach vorn oder hinten drehte, war es ihm eigentlich unmöglich, sie nicht gleichzeitig ein kleines bisschen nach links oder rechts zu verdrehen. So wusste er nie, ob er nicht in einer anderen Vergangenheit herauskam, wenn er eine andere Zukunft für Harry Hancock suchte, eigentlich für Harry Hancock Hurricane.
Er rollte die Kugel kreuz und quer, auf der Suche nach einem glücklichen Zufall. Er fand ein Kapitel über die Bedeutung des Geldes, in dem indische Tiger philosophierten, weil sie niemals über die Bedeutung des Geldes nachdachten. Das schien ihm unlogisch. Er war überzeugt, das Buch des Lebens könnte ihm die Passage, die er suchte, mühelos auf den Bildschirm spielen.
Das war kein Irrtum. Aber das Buch des Lebens war gerade ziemlich beschäftigt. Die immer neuen unerfreulichen Geschichten aus einer anderen Zukunft von Harry Hancock ließ es nur noch einen kleinen Teil seines Unterbewusstseins schreiben. Einen kleinen Teil seines Bewusstseins beschäftigte es damit, Harry Hancock Hurricane immer neue Passagen aus seiner Gegenwart, einer anderen Gegenwart, seiner Vergangenheit, einer anderen Vergangenheit, seiner Zukunft und einer anderen Zukunft zu lesen zu geben, die es längst geschrieben hatte.
Harry Hancock Hurricane war überzeugt, das Buch des Lebens tue das, weil es nicht nur etwas eigen, ziemlich altersstarrsinnig, sondern vor allem reichlich boshaft war. Das war wieder ein Irrtum.
Das Buch des Lebens übte nicht Boshaftigkeit, die eine der Charakterschwächen war, die es anfangs nicht beherrscht und später autodidaktisch erlernt hatte. Das Buch des Lebens hatte vielmehr entdeckt, dass die Rahmenhandlung in seiner Abhandlung über die Unendlichkeit der Unendlichkeit nicht einige Unstimmigkeiten enthielt, sondern unendlich viele.
Fasziniert von diesem neuen Aspekt der Unendlichkeit, hatte es seinem Standardwerk über die Unendlichkeit der Unendlichkeit neue Gedanken zur Unendlichkeit hinzugefügt. Die führten zu weiteren Unstimmigkeiten in seiner Rahmenhandlung.
So kam eben eins zum anderen.
Das Buch des Lebens hatte damit begonnen, sein gesamtes Standardwerk so umzuschreiben, dass eine Rahmenhandlung ohne jede Unstimmigkeit eine Rahmenhandlung mit unendlich vielen Unstimmigkeiten umschloss. Allerdings schien die Rahmenhandlung ohne Unstimmigkeiten an scheinbar unendlich vielen Stellen Fraktale bilden zu wollen, aber nur scheinbar an unendlich vielen, so dass das Buch des Lebens bereits an einer dritten Rahmenhandlung arbeitete und über eine vierte nachdachte und überdies darüber, ob es unendlich viele Rahmenhandlungen würde schreiben müssen, um letztlich zu der ohne jede Unstimmigkeit zu gelangen.
Es ging dieses Problem unlogisch an, aber einige seiner Aspekte waren faszinierenderweise nur logisch zu lösen, was es nicht gewohnt war. Mit anderen Worten: Das Buch des Lebens war gerade einfach ziemlich beschäftigt. Und deshalb wortkarg, obwohl es bester Laune war.
Nachdem er mit dem Buch des Lebens im Rucksack aus dem Haus geflüchtet war, hatte Harry Hancock Hurricane sich noch ein paar Tage lang in Levanto herumgetrieben und darauf geachtet, dass er den anderen nicht begegnete. Was nicht besonders schwierig war, weil die anderen nicht nach ihm suchten und er wusste, wann sie wo waren.
Er hatte regelmäßig gewettet und neben Ulf unter der Brücke beim Kriegsveteranen geschlafen, bis er merkte, dass er sich wie ein Idiot benahm. Er hatte sich ein Zugticket gekauft und war nach Spotorno gefahren, das von Genua gerechnet etwa ebenso weit entfernt am Meer lag wie Levanto, nur in westlicher Richtung, nicht in östlicher.
Was war er für ein Idiot gewesen? Er hatte sich ein komfortables Hotelzimmer gemietet, was umständlich war, weil er seinen Ausweis vergessen hatte, darum erst zurück fahren, sich ins Haus schleichen und ihn holen musste, bevor der Hotelier ihn einchecken ließ.
Was war er für ein Idiot gewesen? Er hatte festgestellt, dass Spotorno im Wesentlichen organisiert war wie Levanto. Es gab das einzige Stück Strand, an dem Touristen liegen konnten, ohne sich Liegestühle und Sonnenschirme mieten zu müssen, und die Bar dort. Es gab den zentralen Platz, an dem jeder jeden Tag mindestens zweimal vorbeikam. Es gab die Birreria, in der alle später mindestens einmal vorbeischauten. Und jeder redete über jeden. Das einzige was fehlte, war der inoffizielle FKK-Strand.
Okay. Aber warum hatte er sich bloß mit Wetten gegen Giacomo und die anderen in der Fußballbar abgegeben? Inzwischen besuchte er täglich ein Internetcafe´, wettete online auf dies und das, nicht mehr nur auf Fußball. Der Grundstock des Kapitals für die Gründung der Hurricane Incorporated – Immobilien, London, nicht Wetten, Genua, weil Harry Hancock Wetten inzwischen unseriös schienen, Immobilien solide – wuchs munter. Bald würde er so viel Geld verdient haben, dass er nie mehr Geld verdienen müsste.
Dieser Gedanke zeugte allerdings zunehmend häufig ein Gefühl in seinem Hirn, das Harry Hancock Hurricane beunruhigte, statt ihn zu beruhigen. Schuld daran war natürlich das verdammte Buch des Lebens. Gleichzeitig war es aber natürlich auch Schuld an Harry Hancock Hurricanes scheinbar unendlichem Wettglück.

***

Zander war zurück ins Haus gekommen und hatte gesagt „der verdammte Hurricane versteckt sich garantiert im Tunnel“. Er hatte nicht gesagt, dass er die Suche aufgegeben hatte, weil er ständig daran denken musste, dass Harry Hancock Hurricane sich einen chromglänzenden Baseballschläger besorgt hatte. Er hatte gesagt, ihm sei zu kalt geworden.
Weil Harry Hancock Hurricane nicht mehr im Haus schlief, sondern unter der Brücke neben Ulf, hatten Madeleine, Zander, Siegfried und Jackson Jackson begonnen ein Problem zu diskutieren, das, wie sich herausstellte, gar kein Problem war. Anfangs dachten sie, sie müssten ein Konzert in Vernazza absagen, weil ihnen Harry Hancock Hurricane fehlte, denn keiner von ihnen hatte Lust, neben Ulf zu sitzen, um den durchgeknallten Hurricane anzubetteln. Aber als sie darüber sprachen, sagte Zander wieder „der hat uns Axels Zeug untergejubelt“. Sie fragten Axel. Axel sagte ja.
Das Konzert verlief problemlos. Das neue Problem war nur, dass Axel nächste Woche zurück nach Berlin fahren würde. Für das nächste Konzert würden sie jemand anders finden müssen, aber darüber dachten sie nicht weiter nach, denn bis zu dem Termin war es noch eine Weile hin.
Sie saßen im Roma und belauschten einen Touristen, der mit der Nadia mit der zu großen Nase zu flirten versuchte. Sie standen an der Theke des Centrale. Sie saßen bei Steffi. Sie saßen mit Steffi und Bruna im Flipper. Vor allem: Sprachen sie über das unglaublichste Ding, das sie je in ihrem Leben gesehen hatten.
Madeleine glaubte inzwischen nicht mehr, dass Harry Hancock Hurricane den verdammten Porno mit ihr in der Hauptrolle geschrieben hatte und all die anderen Geschichten. Sie glaubte inzwischen etwa das, was Harry Hancock Hurricane gleich zu Anfang über das grüne Ding gesagt hatte; dass es ein neuartiger PC mit Spracherkennung war, den irgendein Genie so programmiert hatte, dass er aus Sätzen, die er erkannte, schlüssige Geschichten schrieb. Sie glaubte das, obwohl es ihr unglaublich schien, weil jede andere Erklärung derart unlogisch war, dass sie unendlich unglaublich schien.
Eigentlich wusste sie nicht, was sie glauben sollte, außer dass auf jeden Fall ein Mann das Ding programmiert hatte. Davon war sie überzeugt, weniger sogar wegen des Pornos mit ihr in der Hauptrolle, mehr wegen der zweiten Version des Anfangs der Geschichte, in der sie den PC kaufte statt Harry Hancock Hurricane.
Abgesehen davon zweifelte sie an allem, was sie über all das glaubte. Abgesehen davon übernachtete Madeleine jetzt regelmäßig bei Chiara. Chiara übernachtete nicht bei Madeleine, weil sie Angst davor hatte, durch den Eisenbahntunnel zu gehen, sogar mit einer Taschenlampe.
Sie erzählte Chiara die ganze Geschichte, ließ aber den Porno mit ihr in der Hauptrolle aus. Chiara sagte, das alles sei so unerklärlich, dass es sich nicht lohne, darüber nachzudenken. Sie erzählte von diesem unglaublichen Traum, den sie gehabt hatte und wedelte dabei viel mit den Händen herum, als wolle sie Nagellack trocknen und war beinahe die ganze Zeit über so rot, als wäre sie zu lange in der Sonne gelegen.
Madeleine erzählte ihr etwas, was Chiara noch viel unglaublicher schien. Chiara sagte, das hätte sie ihr nicht erzählen sollen, weil sie nun nicht mehr mit Zander und Jackson Jackson würde sprechen können, weil es ihr peinlich ist, dass die beiden jeden Zentimeter ihres Körpers nackt gesehen hatten.
Madeleine sagte nicht das, was sie dachte, sondern dass es nur ein Traum gewesen war, verursacht vermutlich von dem schlechten Gewissen, das die Gesellschaft einem mit ihren Vorbehalten gegen Homosexualität ein Leben lang einimpft.
Chiara schwieg eine Weile und sie lagen nur nebeneinander, dann sagte sie, sie habe immer gedacht, Schwarze seien anders gebaut als Weiße und sprach darüber, dass es eigentlich noch peinlicher war, dass Zander und Jackson Jackson wussten, dass sie wusste, wie sie nackt aussahen, obwohl es schon peinlich genug war, dass die beiden jeden Zentimeter ihres Körpers nackt gesehen hatten.
Dann sprach sie darüber, dass es eigentlich egal war, dass es nur ein Traum gewesen war, und dass es auch egal war, ob sie alle in Wirklichkeit nackt so aussahen, wie sie sich im Traum gesehen hatten, aber jedes Mal, wenn sie sich sehen würden, würden sie alle sich gegenseitig immer nackt beim Sex vorstellen müssen. Deshalb würde sie nie mehr mit Zander oder Jackson Jackson sprechen können, jedenfalls nicht, ohne rot zu werden, weil sie immer würde an diesen Traum denken müssen, sogar in zwanzig Jahren noch, wenn sie alle völlig anders aussehen würden als heute.
Madeleine schwieg.
Chiara sagte, ihr sei gerade etwas völlig Unglaubliches eingefallen. In dem Traum, da waren ihr die kleinen Fettpolster an Madeleines Hüften aufgefallen, weil sie die ganz niedlich fand, obwohl Madeleine an den Stellen ein bisschen Orangenhaut hatte, aber das hatte sie ja schließlich auch und so gut wie jede Frau, aber das Unglaubliche war, dass die kleinen Fettpolster genau so da waren, wie sie sie im Traum gesehen hatte. Und das hatte sie ja noch nicht wissen können, als sie den Traum hatte, weil man nichts davon sieht unter den engen Jeans.
Madeleine sagte ihr, es sei trotz allem nur ein Traum gewesen und küsste sie, weil sie genug hatte von Unglaublichem. „OhGottistdasallespeinlich“, sagte Chiara.
Zander hatte Harry Hancock Hurricane einmal aus der Fußballbar rennen sehen. Er wusste natürlich, dass der verdammte Hancock sich jetzt dort herumtrieb, weil Giacomo Antonello erzählt hatte, dass der verrückte kleine Engländer mit dem unaussprechlichen Namen jede Wette gewann, weil er jedes noch so verrückte Ergebnis voraussagen konnte.
Er wusste auch, dass der verdammte Hancock unter der Brücke bei Ulf übernachtete, weil Ulf das Steffi erzählt hatte, als er im Gambrinus war, um eine Flasche Wein zum halben Preis zu kaufen, weil er die schließlich nicht im Gambrinus, sondern unter seiner Brücke trinken wollte.
Aber Zander hatte seine Wut auf Harry Hancock Hurricane vergessen, weil seine Unterlippe abgeschwollen war und er sich auf eine Eleni konzentrierte, deren Namen er sich merken konnte, weil er bisher noch nie eine Eleni kennen gelernt hatte.
Zander glaubte immer noch, dass Harry Hancock Hurricane die Geschichten geschrieben, sie mit Bluetooth von einem seiner beiden anderen PCs auf das grüne Ding übertragen und ihnen das Zeug von Axel untergejubelt hatte. Dass Jackson Jackson behauptete, er habe seit Monaten nichts mehr geraucht, war eine Sache, die er später klären wollte.
Zander hatte vier Stunden lang versucht, die Passwörter in Harry Hancock Hurricanes Computern zu knacken, um den anderen zu beweisen, dass er Recht hatte. Dann waren die anderen zu Patrizia gegangen und er hinterher.
Siegfried glaubte langsam daran, dass Diät doch wirkt. Seine Waage zeigte ihm inzwischen zwei Kilo weniger an, und er dachte darüber nach, den anderen zu erzählen, dass er abnimmt, weil er keine Lust mehr hat sich zu fühlen, als trüge er einen Anzug, der mit schlecht gewürzter Leberwurst gefüttert war. Irgendwann würden sie es sowieso merken.
Er vermisste Harry Hancock Hurricane ein wenig. Er hatte keine Ahnung, was er von der ganzen Geschichte halten sollte. Er war sicher, dass niemand einen PC so programmieren konnte, dass er selbstständig Geschichten schreibt, jedenfalls keine, die sich so ereignen, wie er sie schreibt. Das war doch der springende Punkt bei der Sache, den die anderen ständig zu übersehen schienen.
Jackson Jackson hatte gesagt, dass es sich nicht lohnt darüber nachzudenken, solange sie das grüne Ding nicht in die Finger bekamen, weil jede denkbare Erklärung völlig unlogisch war. Er hatte gesagt, Hancock werde schon bald wieder im Haus auftauchen, dann würde sich alles aufklären. So oder so.
In Wahrheit dachte Jackson Jackson über kaum etwas anderes mehr nach als über das, wovon er gesagt hatte, das Nachdenken darüber lohne sich nicht. Ein paar Tage, nachdem Harry Hancock Hurricane verschwunden war, hatte Jackson Jackson endlich mal wieder Glück; das ausgerechnet bei einer Nadja, die natürlich nicht von hier war, sondern aus Köln. Nadja hatte ihm gesagt, es sei ihr lieber, wenn er vor dem Morgen geht, weil es ihr peinlich wäre, wenn jemand ihn dabei sieht, wie er aus ihrem Hotelzimmer kommt. Sie habe den Eindruck, dass hier jeder über jeden spricht.
Auf dem Rückweg zum Haus ging Jackson Jackson im Morgengrauen hinten beim Kriegsveteranen unter der Brücke hindurch, aber dort lagen nur Ulf und seine Motorradkumpanen, die noch verrückter waren als Ulf selbst. Am nächsten Abend erzählte ihm Steffi, jemand habe ihr erzählt, dass er örri änco am Bahnhof gesehen hatte, wie er in einen Zug stieg. Aber sie erzählte ihm nicht wer. Er war nicht mehr so sicher, dass Harry Hancock Hurricane schon bald wieder auftauchen würde.
Madeleine hatte erzählt, dass Michael tatsächlich zu glauben schien, sein grüner PC sei Gott. Oder etwas Ähnliches wie Gott.
Jackson Jackson dachte darüber nach, dass in dem grünen Ding unendlich viele Varianten einer Geschichte gespeichert sein müssten, wenn Hancock tatsächlich glaubte, dass der PC wusste, wie jeder beliebige Zufall die Geschichte, nein, sein Leben, ihrer aller Leben verändern konnte. Er war ziemlich sicher, dass Hancock gerade in einem Intenetcafe´ saß, sich mit der Erdballkugel durch diese oder jene Vergangenheit und Zukunft von Fußballspielen spulte, um mit Wetten reich zu werden. Das Unglaubliche daran war, dass er in der Fußballbar immer gewonnen hatte. Vielleicht nur eine Glückssträhne, auch wenn das völlig unwahrscheinlich war, aber mathematisch gesehen war es denkbar.
Genauso unwahrscheinlich war allerdings, dass der verdammte kleine Hancock noch immer glaubte, sein PC kenne alle Eventualitäten und könne weissagen, wenn es nicht so war. Und eben das war die unwahrscheinlichste aller Möglichkeiten.
Nadja kam mit ihrer Freundin Marion, die eine Brille trug und sich ihre Beine nicht rasierte. Nadja sah ihn an, sagte Ciao und ging vorbei. Sie setzten sich hinten in die Ecke an einen der Touristentische. Jackson Jackson ging hinüber und plauderte mit ihnen, als würden sie sich nur flüchtig kennen.
Insgesamt begannen die Tage und Nächte wieder so zu werden, wie sie gewesen waren, bevor Harry Hancock Hurricane verschwand. Außer, dass eben Harry Hancock Hurricane verschwunden war. Aber das grüne Ding, seine Geschichten, der Porno mit Madeleine in der Hauptrolle, sogar Harry Hancock Hurricane selbst, verblassten zu Anekdoten, die natürlich jeder jedem erzählte, wobei jeder etwas änderte, hinzufügte oder wegließ, jeder etwas miss- oder falsch verstand, so dass schon bald niemand mehr recht wusste, was an dieser ganzen ganz unglaublichen Geschichte glaubhaft war und was nicht.
Außer Jackson Jackson. Jackson Jackson wusste von einem bestimmten Abend bei Steffi an genau, was an dieser ganz unglaublichen Geschichte glaubhaft war. Und das war unglaublich. Weshalb er an jenem Abend entschied, den anderen eine Weile nichts zu sagen. Diese Weile dauerte bis zu einem bestimmten Morgen. Der bestimmte Abend, nach dem Jackson Jackson wusste, was an dieser unglaublichen Geschichte glaubhaft war, war der Abend, an dem Chiara entschied, dass es so nicht weitergehen konnte.
An dem bestimmten Morgen, an dem Jackson Jackson entschied, dass er lange genug geschwiegen hatte, hätte er genauso gut entscheiden können, weiterhin zu schweigen. Denn das war der Morgen, an dem Harry Hancock Hurricane seinen Rucksack auf den Tisch in der Küche stellte, so sehr so selbstverständlich, als wäre er nur mal eben in Levanto ein paar Bier holen gegangen, dass sogar Zander den Eindruck hatte, die ganze Geschichte sei nur eine Anekdote, die so weit verblasst war, dass nichts an ihr mehr wahr war, wahr war vielmehr, dass Harry Hancock Hurricane nur mal eben in Levanto ein paar Bier holen gegangen war.
Weshalb Zander alles vergaß, was er sich geschworen hatte, mit dem verdammten kleinen Hancock zu tun, wenn er ihn je wieder sehen würde.
Verstärkt wurde der Eindruck, dass Harry Hancock Hurricane nur mal eben Bier holen war dadurch, dass er den Reißverschluss seines Rucksacks aufzog, aber nicht zuerst das Buch des Lebens auf den Tisch stellte, zuerst stellte er ein paar Bier auf den Tisch. Danach stellte er das Buch des Lebens auf den Tisch.

***

Aber lange bevor das geschah, entschied Chiara, dass es so nicht weitergehen konnte. Und weil das Buch des Lebens gerade mit der siebzehnten Rahmenhandlung seines Standardwerks über die Unendlichkeit der Unendlichkeit ziemlich beschäftigt war, schrieb es momentan keine Kapitel über die Zukunft, die es nicht zu schreiben gezwungen war.
Es schrieb stattdessen:
„So kann es nicht weitergehen“, sagte Chiara zu sich selbst. Sie lag auf der Bank gleich rechts in der Ecke bei Steffi. Ihre Beine hatte sie angewinkelt. Ihren Kopf hatte sie in Madeleines Schoß gelegt. Madeleine spielte mit einer Strähne von Chiaras blondem Haar, während sie mit Siegfried und Jackson Jackson sprach, die auf Steffis niedrigen Hockern saßen.
Hätte Zander auch dort gesessen, hätte man genau hinsehen müssen, um sich nicht zu wundern, warum dieser riesenhafte Typ da drüben auf dem Boden saß. Aber Zander war mit der ersten Eleni seines Lebens nach Vernazza gefahren, um sie in das Restaurant einzuladen, in dem Pepe arbeitet.
Steffi stand hinter der Bar und warf immer wieder verstohlene Blicke in die Ecke, die aus ihrer Sicht die linke Ecke ihrer Birreria war. Sie tat das nicht, weil Chiara und Madeleine offensichtlich lesbisch waren und sie darüber mit einem Touristen sprach, der alles nur mit zehn Minuten Verzögerung verstand. Als klar war, dass inzwischen jeder wusste, dass Madeleine und Chiara lesbisch und zusammen waren, hatten sie begonnen, sich so zu benehmen, wie sie waren: wie ein frisch verliebtes Paar. Darüber sprach inzwischen niemand mehr.
Steffi warf ihre verstohlenen Blicke, weil sie mit dem Touristen darüber sprach, was für eine unglaubliche Geschichte den dreien dort in der Ecke passiert war, außer der Blondine, die Chiara heißt und im Roma arbeitet, dafür nicht nur den dreien, sondern auch noch ihrem Freund, der heute mit einer Eleni in Vernazza ist, aber später noch kommt, und natürlich noch dem Freund, der verschwunden ist, und wahrscheinlich auch nicht mehr ihr Freund, und um den eigentlich die ganze Geschichte geht. Steffi warf ihre verstohlenen Blicke, damit Madeleine, Siegfried und Jackson Jackson wussten, dass sie gerade ihre Geschichte erzählte. Natürlich warf Steffi sie auch, um ihre Schminke zu betonen.
Chiara bemerkte davon nichts, weil Chiara damit beschäftigt war, die Decke anzusehen, um nicht Jackson Jackson ansehen zu müssen. Der Tourist glaubte ständig, er verstehe Steffi falsch. Das war ein Irrtum.
Chiara sah fast so aus wie Zander, wenn ihn jemand mitsamt seinem Stuhl und dem Küchentisch umgekippt hätte, während er die Füße auf den Küchentisch legt, als sie endlich entschied, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Jackson Jackson war wirklich nett. Er sprach nicht so mit ihr, wie andere Männer mit lesbischen Frauen sprechen, wenn sie überhaupt mit lesbischen Frauen sprechen. Er sprach mit ihr genauso, wie er mit allen sprach. Aber sie sagte immer nur si oder no zu ihm und sah ihn dabei sogar niemals an.
Er musste wer weiß was von ihr denken. Und trotzdem sprach er immer noch genau so mit ihr, wie er mit jedem sprach. Sie glaubte nicht, dass er nicht an den Traum dachte, wenn er mit ihr sprach. Aber sie glaubte, dass er nicht immer daran dachte, wenn er mit ihr sprach, und wenn er daran dachte, bemühte er sich so sehr, es nicht zu zeigen, dass er aussah, als würde er nicht daran denken.
Sie war inzwischen sicher, dass er aber nie daran dachte zu versuchen, den Traum wahr zu machen. Das war bei Zander anders, da war sie auch sicher. Aber trotzdem versuchte Zander nie, den Traum wahr zu machen, er dachte nur daran. Außerdem war auch Zander wirklich nett und sprach mit ihr genau so, wie er mit jedem anderen sprach. Und außerdem sprachen sie sogar meistens Italienisch, wenn sie dabei war, nicht Englisch, obwohl sie doch nie mehr sagte als si oder no, außer zu Siegfried.
Aber Siegfried sprach so wenig. Und außerdem waren sie Madeleines Freunde.
Und außerdem war da noch der Alkohol aus drei Glas Weißwein, einem piccola Chiara, einem ganzen und einem angebrochenen media Rossa, der zu dieser Zeit mit Chiaras Blut durch ihren Körper zirkulierte, von dem Jackson Jackson gerade wieder einmal dachte, er sei wirklich bemerkenswert, weil Chiara sich ziemlich häufig mit dem irrte, was sie glaubte.
Chiara wollte sich aufsetzen, zuckte aber zurück, weil Madeleine eine Strähne ihres blonden Haars um ihren Zeigefinger gewickelt hatte. Madeleine ließ die Strähne los und Chiara setzte sich auf. „Ich will über den Traum sprechen“, sagte sie zu Madeleine, weil sie es nicht zu Jackson Jackson sagen wollte.
Jackson Jackson glaubte gehört zu haben, dass Chiara gesagt hatte „ich will über den Traum sprechen“, war sich aber nicht sicher, weil die Musik laut war und er eben wieder an den Traum denken musste, als Chiara sich aufgesetzt hatte. Das schien ein ziemlich unglaublicher Zufall.
„Was hat sie gesagt?“, fragte er Madeleine auf Englisch. Sie hatten begonnen Englisch zu sprechen, als sie merkten, dass Chiara bis auf weiteres nicht einmal si oder no sagen würde.
„Sie hat gesagt, sie will über den Traum sprechen“, sagte Madeleine.
Jackson Jackson bemerkte eine Unhöflichkeit. „Cos’ hai detto?“, fragte er Chiara.
„Ich möchte über den Traum sprechen“, sagte Chiara.
Und dann sagte sie ihm alles. Sie sagte ihm so entschlossen wirklich alles, dass ihre Stimme dabei klang, als komme sie aus einem billigen Fernseher, und dort liefe gerade eine Szene aus einem italienischen Spielfilm, in der sich zwei Frauen streiten.
In einer grob übersetzten Zusammenfassung sagte sie ihm: Wie peinlich das alles war mit dem Traum, sie sagte ihm, dass sie deswegen nicht mit ihm sprechen kann, jedenfalls nicht ohne rot zu werden, weil das alles so peinlich war, sie sagte ihm, dass er so nett ist, netter sogar noch als Zander, der auch schon nett ist, wirklich nett, und dass sie schon gar nicht mehr weiß, was peinlicher ist, dass alle immer an den Traum denken müssen oder dass sie deswegen nicht mit ihm und Zander spricht, sie sagte ihm, dass sie das alles sagt, weil es so nicht weitergehen kann, sie sagte ihm, dass es unendlich peinlich ist, dass jeder von ihnen genau weiß, wie jeder Zentimeter ihres Körpers nackt aussieht, aber dass es noch viel peinlicher ist, dass er weiß, dass sie weiß, dass es nicht stimmt, dass schwarze Männer anders gebaut sind.
Und sie weiß, dass sie das weiß, weil sie in dem Traum schon gesehen hatte, dass Madeleine diese kleinen Fettpölsterchen hat mit dem ganz kleinen bisschen Orangenhaut auf ihnen. Sie sagte ihm noch, dass es unglaublich peinlich ist, dass sie ihm das alles gesagt hat, aber besser so als so wie es bisher war, denn jetzt wird sie endlich mit ihm sprechen können, vielleicht sogar ohne rot zu werden.
Während sie sprach, dachte Jackson Jackson neben ein paar anderen Dingen, die nur Mathematiker interessieren würden, recht häufig daran, dass sie all dies glücklicherweise mit einer Stimme sagte, die so klang, als komme sie aus einem billigen Fernseher, und dort liefe gerade eine Szene aus einem italienischen Spielfilm, in der sich zwei Frauen streiten. Sonst hätte er noch länger hier sitzen müssen, wegen einer hartnäckigen Verhärtung in seinem schwarzen Durchschnittsschwanz.
Und er wollte nicht mehr länger hier sitzen. Er wollte nach Hause und noch einmal über alles nachdenken. Er sagte Chiara, dass ihr nichts peinlich sein muss, dass er sich darauf freut, sich mit ihr zu unterhalten, dass doch alles nur ein dummer Traum war. Er sagte, dass er müde ist.
Er zahlte bei Ivan und ging nach Hause, um darüber nachzudenken, dass das, was Chiara erzählt hatte, alles andere war, als nur ein dummer Traum. Sie hatten über den Traum nicht mehr gesprochen, einerseits, weil Chiara Recht hatte, es war auch ihnen peinlich, andererseits, weil am Anfang noch alle überzeugt waren, dass der verdammte Hancock den Porno mit Madeleine in der Hauptrolle geschrieben hatte.
Sie hatten nie mehr davon gelesen, als den kurzen Abschnitt, der auf dem Bildschirm stand, nachdem sie Hancock aus dem Bad geholt hatten. Er selbst hatte angenommen, dass ihre Phantasie ihnen den Streich gespielt hatte, daraus einen Traum zu erfinden. Die erstickten Schreie, von denen Siegfried geträumt hatte, hatte Jackson Jackson für eine Einbildung gehalten, die Siegfried erfand, während sie sprachen, mehr oder weniger nur, um auch beteiligt zu sein an dem Wunder.
Das alles war nicht sonderlich unwahrscheinlich. Jedenfalls nicht zu unwahrscheinlich. Er hatte nie angenommen, dass ihre Träume weiter übereinstimmten, als Pornos eben immer übereinstimmten. Abgesehen von Harry Hancock Hurricane, der schamhaft wie ein Schuljunge war, und nie mitkam, wenn sie sich auf den Klippen sonnten, wussten sie alle voneinander, wie sie nackt aussahen.
Aber: Chiara. Chiara wusste zu dieser Zeit noch nichts über Madeleines Fettpölsterchen und konnte bis heute gewiss nichts über seine Anatomie wissen.
Noch bevor er in der Finsternis des ersten Eisenbahntunnels verschwand, war Jackson Jackson klar, dass auch ihm, wäre er an Harry Hancock Hurricanes Stelle gewesen, nichts anderes eingefallen wäre, als den grünen PC mit Gott zu vergleichen. Er glaubte, ein völlig unlogisches Problem logisch gelöst zu haben, aber das war natürlich Unsinn, weshalb er zuhause darüber nachdackte, dass seine Logik ihn nur zu einer unlogischen Lösung eines unlogischen Problems geführt hatte. Und das war natürlich richtig.
Und dann kam der bestimmte Morgen, an dem Harry Hancock Hurricane seinen Rucksack auf den Tisch in der Küche stellte, so sehr so selbstverständlich, als wäre er nur mal eben in Levanto ein paar Bier holen gegangen.

***

Sie allerdings sollten einen Ihrer letzten Abende in Levanto nutzen, um alle noch ein wenig besser kennen zu lernen, damit Sie endgültig entscheiden, dass Sie in Ihrem nächsten Urlaub wieder herkommen wollen.
Vergessen Sie einfach den Gedanken, dass Sie erfahren wollen, wie die Geschichte von Madeleine, Zander, Siegfried, Jackson Jackson und Harry Hancock Hurricane ausgeht. Dafür müssten Sie soviel Zeit mit lesen verbringen, dass es Ihnen vorkommen würde, als wäre es unendlich viel Zeit. Unlogisch gesehen, wäre es für sie tatsächlich unendlich viel Zeit, denn Sie müssten lesen bis zu Ihrem Tod oder bis kurz vor Ihrem Tod, kommt darauf an, wie alt Sie sind und werden.
Bis zum Ende der Geschichte dauert es noch fünf unterschiedlich lange Leben lang, und wenn Sie Pech haben mit Ihrem Leben oder einfach schon alt sind, werden Sie sogar sterben, bevor Sie das Ende gelesen haben, selbst wenn Sie Ihr ganzes Leben lang lesen.
Wenn Sie wenigstens wissen wollen, wie die Geschichte von Madeleine, Zander, Siegfried, Jackson Jackson und Harry Hancock Hurricane weitergeht, können sie sich zuhause ja ein Buch des Lebens kaufen, vielleicht die PC-artige Version mit den praktischen Plus- und Minustasten und der kleinen Erdballkugel. Wie Sie mit der umgehen, wissen Sie ja inzwischen.
Oder Sie kaufen sich die ebenso praktische Taschenbuch-Version mit dem ebenso praktischen Schalter am Buchrücken, mit dem Sie bestimmen, ob sie in der Gegenwart links oder rechts lesen und von dort aus weiter oder in der Zeit vor und zurück. Sie hat den Vorteil, dass Sie sie scheinbar handhaben, wie ein Buch mit scheinbar ganz normalem Papier. Oderoderoder. Alles Geschmackssache.
Informieren Sie sich einfach bei einer unscheinbaren Buchhändlerin, die eine Brille trägt. Sie müssen dann nur noch die Stelle finden, an der Sie gleich links am Tisch sitzen, während Chiara Jackson Jackson sagt, wie peinlich alles ist. Wenn Sie sich mit Ihrem Buch des Lebens gut stellen, spielt es Ihnen die Stelle vielleicht freiwilig auf den Bildschirm, sofern es nicht gerade zu beschäftigt ist. Aber das wissen sie ja auch schon.
Wenn Sie dann ein wenig die Kugel hin und her drehen oder den Schalter umlegen und blättern, schreibt Ihr Buch des Lebens Ihnen eine Version Ihrer eigenen Geschichte, in der Sie entscheiden, für immer in Levanto zu bleiben und Ihr Geld mit Wetten zu verdienen. Das geht natürlich schief.
Aber dann können Sie lesen, wie Sie sich jeden Abend von Steffi erzählen lassen, wie die Geschichte von Madeleine, Zander, Siegfried, Jackson Jackson und Harry Hancock Hurricane weitergeht. Natürlich ist das eine ziemliche Fieselei, egal mit welcher Version des Buchs des Lebens, bis Sie es genau so hinkriegen, und ziemlich unwahrscheinlich, dass Sie es überhaupt hinkriegen. Sie sollten sich eben mit Ihrem Buch des Lebens gut stellen.
Falls das nicht klappt, trösten Sie sich einfach damit, ein Buch zu besitzen, dessen Geschichten jederzeit für jedermann eine überraschende Wendung bereithalten.
Einige Sätze dieser Passage hat übrigens die Vertriebsabteilung des Verlags der Bücher nachträglich einfügen lassen, andere wollte sie zensieren, scheiterte aber am Großen Rat der Bücher, der jeden Antrag auf Zensur genehmigen muss und niemals eine Zensur genehmigte, die die Vertriebsabteilung beantragte. In die Kommission, die über Zensuraufträge entscheidet, berief der Große Rat der Bücher ausschließlich hoch geachtete ethische und moralische Standardwerke. Eine Berufung kam der Ehre gleich, zum Standardwerk der Litaraturgeschichte ernannt zu werden.
Wenn betriebswirtschaftliche Nachschlagewerke sich um einen Sitz bewarben, lachten die Hemmingways zu laut und zu lang, während sie den Saal verließen. Die betriebswirtschaftlichen Nachschlagewerke erhielten ihre Ablehnung einige Tage später mit der immer gleichen schriftlichen Begründung. Das weiß die Vertriebsabteilung selbstverständlich, aber Sie arbeiten sicher auch in einer Firma mit Vertriebsabteilung und kennen die Brüder. Die sind so zäh wie Staubsaugervertreter.
Für heute Abend ist es auf jeden Fall sinnvoller, sich zu George und Marc an den Tisch zu setzen, als sich weitere Gedanken zu machen. Chiara, Madeleine, und Siegfried gehen sowieso gleich. Zander wird nicht mehr kommen, weil er bei Eleni im Robinson-Club übernachtet, denn Eleni macht es nichts aus, wenn ihn jemand am Morgen aus ihrem Zimmer gehen sieht. Und bis zu dem bestimmten Morgen, an dem Harry Hancock Hurricane erst ein paar Bier auf den Tisch stellt, dann das Buch des Lebens, ist Ihr Urlaub längst vorbei.
Also: Sie setzen sich jetzt einfach zu George und Marc. Sie erinnern sich? Die beiden da hinten, ganz links. Sie sitzen heute an einem der Touristentische, weil sie noch ziemlich platt sind von Axels Stoff. Marc wollte sich an die Bar setzen, aber George weigert sich, sich auf einen Barhocker zu setzen. Er besteht darauf, dass ein Mann an einer Bar stehen muss. Und um stundenlang zu stehen, fühlt er sich heute noch zu schlapp.
Marc wollte nicht schon wieder auf einem dieser Hocker kauern. Dafür fühlt er sich noch zu schlapp. Er wollte einen anständigen Sitzplatz mit Lehne. Also blieb ihnen nichts anderes als einer der Touristentische, was George unrecht war, schließlich hat er einen Ruf zu verlieren. Aber wer nicht stehen will, muss sitzen.
Marc meinte, es sei sowieso egal, weil sie sich schon jede Menge Peinlichkeiten geleistet haben, von denen jeder weiß. George hat gerade irgendwo an einem Nebentisch ein „Finocchio“ gewittert, er sorgt sich nun, dass sie beide für ein Paar gehalten werden und spricht darüber mit Marc. Aus einigem Abstand.
George spricht nur wenige Wörter Italienisch, kommt aber mit seinem Spanisch ganz gut durch. Vor ein paar Tagen hat er die Polizistin zum Essen eingeladen, die natürlich Nadia heißt. Sie hat ihn zum Abschied vor ihrer Haustür geküsst, was vielversprechend schien, sie hat ihn gefragt, ob er nicht noch mit hinaufkommen wollte, was sehr vielversprechend schien, bis sie sagte, sie würde ihm gern ihre Eltern vorstellen.
George kam dann zu Marc ins Gambrinus. Gewöhnen Sie sich schon mal daran, dass so gut wie jeder hier bei seinen Eltern im Haus wohnt, oft bis er – oder sie – über dreißig ist, meistens bis zur Hochzeit. Mario dort drüben zum Beispiel, der mit seinem beginnenden Bauchansatz, den glatt zurückgegelten Haaren und dieser ungewöhnlichen Schönheit gleich links am Eingang hockt.
Sie kommt aus Kuba. Die beiden sind seit zwei Jahren verheiratet, haben aber immer noch keine gemeinsame Wohnung, was die Dinge nicht eben erleichtert, sexuell gesehen, angesichts der hier verbreiteten Leichtbauweise. Man darf das so offen schreiben, weil es Mario so gut wie jedem so offen und noch ein wenig offener erzählt. Mario spricht übrigens ganz ausgezeichnet Englisch. Er arbeitet tagsüber in dem Möbelhaus, in dem auch Siegfried arbeitet. Es gehört Marios Bruder. Abends arbeitet er drüben im La Cave als Kellner, damit er und seine Frau sich möglichst bald eine eigene Wohnung leisten können.
Glauben Sie nicht, dass das Leben hier locker verdient ist, falls Sie tatsächlich den Gedanken im Hinterkopf haben, es wäre doch ganz reizvoll, einfach hier zu bleiben. Das Leben hier ist keineswegs ein langer, träger Alkoholfluss. Das scheint nur so.
Bedenken Sie auch, dass im Winter hier zwei Drittel der Häuser leer stehen. Ziehen Sie von denjenigen, die mindestens dreimal zweimal täglich am Roma vorbeilaufen, alle Touristen ab. Ziehen Sie von dem Betrieb, an den Sie sich gewöhnt haben ab, dass im Winter niemand so verrückt ist, dreimal zweimal am Roma vorbeizulaufen. Dort sieht einen schließlich keiner. Im Winter gibt es nirgends Sitzplätze auf der Terrasse, nicht nur im Roma. Ziehen Sie alle Bars am Strand ab. Ziehen Sie mindestens die Hälfte aller anderen Bars und Restaurants ab.
Oder lassen Sie es sich mit Steffis Worten sagen: Vergangenen September kam hier eine Frau herein, die nicht ins Gambrinus passte. Sie passte in gar keine Birreria. Stellen Sie sich das vor, was Sie unter einer allein stehenden Dame auf Reisen verstehen, im fortgeschrittenen Alter, Mitte, Ende fünfzig, teure Kleider, teurer Schmuck, davon reichlich, teure Schminke, davon überreichlich.
Sie setzte sich an die Bar. Noch bevor Ivan ihr piccola Chiara vor ihr abgestellt hatte, war sie von so ziemlich allen Männern umzingelt, die ohne Frau hier waren. Das waren an diesem Abend alle. Als sie ging und die Versammlung sich wieder auflöste, sagte Steffi „im November gehen sie mit einer Leiche“. Was nicht heißt, dass die Frau einen von ihnen mitgenommen hatte. Aber sie hätte die Auswahl gehabt.
Also fahren Sie doch lieber wieder zurück und kaufen sich zuhause ein Buch des Lebens. Auch dieser Satz wurde übrigens nachträglich von der Vertriebsabteilung eingefügt, was höchst ärgerlich ist, weil er den Übergang zum nächsten Satz verdirbt.
Der ursprüngliche nächste Satz war: Aber das wird ihnen ja gleich alles George erzählen. George und Marc werden Ihnen wahrscheinlich nicht gerade wie diejenigen vorkommen, zu denen Sie sich unbedingt setzen sollten. Der eine mit seinen spitz zum Kinn auslaufenden Koteletten, der andere mit seinem ewigen Stoppelbart, beide natürlich mit den Augenringen, die unvermeidbar sind, wenn man jede Nacht das Gabrinus erst verlässt, nachdem draußen schon der nächste Tag begonnen hat.
Aber seien Sie ehrlich: Sie haben doch heute Mittag nach dem Aufstehen auch schon etwas besorgt in den Spiegel gesehen. Und diese Sorge war berechtigt. Die Einheimischen halten den Lebenswandel hier nur deswegen den gesamten Sommer über durch, weil sie die meiste Zeit wieder weiter wollen, darum die meiste Zeit unterwegs sind, und überall immer nur una piccola Chiara trinken. Und im Winter haben sie viel Zeit zu schlafen. Jedenfalls die meisten.
Diejenigen, die es anders machen und trotzdem überleben, werden Sie nachher kennen lernen. Jetzt sollten Sie einen passablen Vorwand finden, um George und Marc anzusprechen. Sonst wird George umso mehr vermuten, dass mit dem „Finocchio“ sie beide gemeint waren, was übrigens falsch ist. Gemeint waren die beiden hinten rechts in der Ecke, die beide Brillen tragen, von denen Steffi gleich gesehen hat, dass sie teuer waren. Sie hat natürlich auch gleich gesehen, dass die beiden schwul sind. Deswegen reden alle von finocchio.
Um sicher zu gehen, dass George nicht glaubt, Sie seien schwul, machen Sie es am besten anders herum. Fragen Sie Steffi irgendetwas. Jetzt lächelt sie und sagt Ihnen, dass Sie Ihre Frage nicht verstanden hat. Machen Sie ein fragendes Gesicht. Gut.
Jetzt fällt ihr etwas ein. Jetzt geht sie hinüber zu Marc. Jetzt kommt Marc hinüber zu Ihnen und übersetzt Ihre Frage und Steffis Antwort. Jetzt plaudert er noch zwei Minuten mit Ihnen. Jetzt fragt er Sie, ob Sie sich nicht ein bisschen zu George und ihm setzen wollen, statt allein an der Bar zu stehen. Na also.
Sie gehen hinüber an den Touristentisch. Marc stellt Sie George vor. George beginnt mit Ihnen zu quatschen. Er erzählt Ihnen, wer hier wer ist, vor allem, wer er ist. Er erzählt Ihnen, dass er früher bei der Marine war und dort Boxmeister seiner Gewichtsklasse. Das ist zwar gelogen, aber das wissen Sie ja nicht, darum beginnen sie an dieser Stelle, sich ein realistisches Bild von Ihren Körperkräften zu machen und vergleichen den Bodybuilder-Bizeps von George mit Ihrem. Das ganz zu Recht.
Die beiden werden nachher, wenn sie noch ein, zwei media Rossa getrunken haben, einen Armdrück-Wettbewerb veranstalten. George und Marc fangen an. Sie werden sich wundern, dass Marc gewinnt. Mario hält das Wettbüro. Als erstes wird der Dunkelblonde dort drüben an der Bar an Ihrer aller Tisch kommen, um mitzumachen. Steffi wird begeistert sein, dass in ihrer Birreria ein Armdrück-Wettbewerb veranstaltet wird, sogar mit einem Wettbüro, und mit den Händen patschen.
George wird beleidigt sein, dass er vor aller Augen gegen Marc verloren hat. Dann werden sich alle um den Tisch scharen, als wäre es schon September und Sie wären eine einsame Dame auf Reisen, wenn auch schon im fortgeschrittenen Alter. Wundern Sie sich nicht über die allgemeine Begeisterung über einen platten Spaß wie einen Armdrück-Wettbewerb. Wo jeder über jeden alles weiß, gibt es keine Peinlichkeit.
Dann können Sie natürlich auch nicht mehr anders, als einzusteigen, vor allem, weil Marc Sie herausfordert, und dem verdanken Sie es schließlich, dass von Morgen an auch Sie zu denjenigen gehören, die irgendwie dazugehören.
Sofern der Vergleich Ihres Bizeps’ mit dem von George so ausgefallen ist, wie er bei den meisten Männern ausfallen wird, achten Sie jetzt genau auf das, was Marc tut. Sie legen Ihre Handfläche in seine. Wenn Sie schon so viele media Rossa intus haben wie er, klatschen Sie Ihre Handfläche in seine. Seine Hand ist klein, und Sie sind zuversichtlich. Es sei denn, Sie sind ein Oberlehrer. Aber dann wären sie wohl kaum hier. Sie sehen sich Marc einmal genauer an: durchtrainiert, okay, aber doch wohl kaum mehr als siebzig Kilo.
Mario nimmt seine Hand von ihrer beider zusammengeballten Fäusten. Er ruft „Go!“. Dann macht es patscht, und Ihr Arm liegt auf dem Tisch. Steffi patscht ein paar Mal mit den Händen. George ist etwas weniger beleidigt.
Das liegt alles daran, dass Sie zu flüchtig lesen, weil Sie noch immer wissen wollen, wie die Geschichte von Madeleine, Siegfried, Zander, Jackson Jackson und Harry Hancock Hurricane ausgeht. Oben stand, Sie sollen genau darauf achten, was Marc tut. Hat er nicht gesagt, Sie müssten Ihren Ellbogen noch ein klein wenig nach links verrutschen. Hat er dabei nicht noch einmal kurz den Griff seiner Hand gelockert und auch Sie den Ihren, bis er gesagt hat, jetzt sei es genau richtig?
Hat er sich nicht dabei Ihren Daumen ganz oben am Nagel zwischen seinen Zeigefinger und seinen Daumen geklemmt? Hat er nicht, in der kurzen Zeit, die Mario brauchte, um „Go!“ zu rufen, nachdem er ihre Hände losgelassen hatte, sein Handgelenk nach innen gedreht? Hat er nicht, anders als Sie, der hilflos den Arm parallel zu seinem Körper presste, Ihre Faust zu seinem Körper hingezogen?
Hat er. Aber Sie haben ja nicht aufgepasst.
Wundern Sie sich nicht, dass plötzlich alle drüben vor der Bar stehen statt am Tisch Ihrer Niederlage. Nutzen Sie die kurze Zeit der Aufregung, um sich zu konzentrieren. Der Kumpel des Dunkelblonden, der Sie gleich herausfordern wird, ist eben vom Barhocker gefallen und liegt noch immer auf dem Boden. Pepe war mal wieder der erste, der bei ihm war und besorgt, ob er sich verletzt hat. Aber er ist unverletzt.
Dass er noch nicht aufgestanden ist, liegt nur an den vielen Chiara, die die beiden aus Maßkrügen trinken. Gleich werden alle wieder bei Ihnen sein, dann geht es weiter. Verdeutlichen Sie sich noch einmal genau, wie Marc es mit Ihnen gemacht hat, und machen Sie es mit allen anderen genauso. Dann machen Sie einen guten Schnitt.
Der Dunkelblonde wird mit Ihnen um einen Maßkrug Bier wetten. Er ist Deutscher. Niemand spricht mit ihm, das sollten Sie auch nicht tun, auch nicht mit seinem Kumpel. Sie werden gleich wissen warum. Alles klar. Kleine Ablenkung, Daumen ganz oben packen, Handgelenk einrollen, zum Körper ziehen, statt parallel zu drücken. Der hat keine Chance.
Der Ellbogen des Dunkelblonden verrutscht glatte dreißig Zentimeter auf dem Tisch. Trotzdem keine Chance. Der Ellbogen des Dunkelblonden hebt sich glatte dreißig Zentimeter vom Tisch. Sie verlieren. Mario erklärt den Kampf für ungültig. Der Dunkelblonde will darüber Streit anfangen. George lässt seinen Bizeps spielen. Sie sagen, es ist schon okay, Sie zahlen den Maßkrug Bier. Niemand will Streit. Die anderen sind beeindruckt. Man hat es hier nicht so mit Männergehabe.
Räumen Sie Ihren Platz für den nächsten Wettkampf. Warten Sie, bis der Dunkelblonde einen mächtigen Schluck von seinem neuen Bier getrunken hat. Er grient zu Ihnen rüber. Sie wissen jetzt, warum niemand mit ihm und seinem Kumpel spricht, der auf seinem Barhocker wankt.
Gehen Sie rüber, plaudern Sie zwei Minuten und lassen sich anlallen. Behaupten Sie, er sei unglaublich stark. Bestellen Sie ihm bei Ivan einen Tequila auf Ihre Rechnung. Ivan holt den Cognacschwenker vom Regal, der ihm als Schnapsglas dient. Gehen Sie wieder rüber zum Wettkampf. Jetzt sind drei Minuten vergangen. Pepe ist wieder als erster da, um zu gucken, ob jemand verletzt ist. Steffi, die nie etwas trinkt, hat den kleinen Trick gleich verstanden, mit dem Sie sich gerächt haben. Sie wird natürlich allen alles genau erzählen.
Sie haben es geschafft. Von morgen Abend an gehören Sie dazu, sitzen später mit allen anderen zusammen hinten am Tisch gleich rechts. Mario setzt sich schon am Nachmittag zu Ihnen ins Roma und erzählt Ihnen auf Englisch, wer wer ist. Marc übersetzt Ihnen abends. George erzählt Ihnen mehr darüber, wer wer ist.
Im nächsten Urlaub werden Sie wiederkommen. Dann werden sie sogar Sandros Zungentrick sehen, den alle Frauen so ekelhaft finden. Wenn Sie nicht schon in den nächsten Tagen sehen, weil Sie mit einer Frau hierher kommen. Denn Sandro glaubt, dass alle Frauen seinen Zungentrick für so erotisch halten, dass er ihn unwiderstehlich macht.
Wenn Sie Spaß an der Sache hatten, lassen Sie im nächsten Jahr den Dunkelblonden wieder gewinnen. Dann sind Sie schon nahe an einer Legende.

***

Und dann kam der bestimmte Morgen, an dem Harry Hancock Hurricane seinen Rucksack auf den Tisch in der Küche stellte, so sehr so selbstverständlich, als wäre er nur mal eben in Levanto ein paar Bier holen gegangen. Es war ein Sonntagmorgen, weswegen eigentlich schon nicht mehr Morgen war. Aber sie saßen alle beim Kaffee, sogar Madeleine, die heute nicht auf ihre Klippe gegangen war, als hätte sie es geahnt.
Harry Hancock Hurricane stellte seinen Rucksack auf den Tisch. Alle schwiegen. Er öffnete den Reißverschluss. Alle hörten das Geräusch, mit dem der Verschluss die Zähne teilte. Alle hörten das Geräusch, mit dem Zanders Kaffeetasse über das Holz des alten Bauerntisches schrammte, als er sie zu sich herzog, um ein wenig Platz zu schaffen. Alle hörten ein Klunk, als Harry Hancock Hurricane eine Bierdose auf den Tisch stellte. Sie hörten ein weiteres Klunk und noch eins und noch ein paar, wie viele wusste niemand genau, außer natürlich Jackson Jackson, der mitzählte und potenzierte.
Niemand hörte das Geräusch, mit dem die Schranktür zuklappte, nachdem Harry Hancock Hurricane sich eine Tasse herausgezogen hatte. Niemand hörte das Geräusch, mit dem der Kaffee in die Tasse plätscherte. Alle hörten das Geräusch, mit dem Harry Hancock Hurricane sich den letzten freien Stuhl vom Tisch zog und ihn sich zurechtrückte.
Die Geräusche, die sonst zu hören waren, wenn sich jemand in ihrer Küche einen Kaffee holte, hörte nieman, weil Harry Hancock Hurricane sich keinen Kaffee eingeschenkt hatte, bevor er seinen Stuhl an den Tisch zog. Das war ungewöhnlich, was zuerst Siegfried auffiel, weshalb er einen Schluck aus seiner Tasse trank. Alle hörten das Geräusch, mit dem er schluckte.
Außerdem hatte niemand das Geräusch gehört, mit dem Harry Hancock Hurricane das Buch des Lebens und dann die kleine Erdballkugel auf den Tisch gestellt hatte, obwohl er das tat. Aber beides war dick in Tücher eingewickelt. Harry Hancock Hurricane zog seinen Rucksack vom Tisch, was allen ein grässlicher Krawall schien, ein Geräusch, als ob etwas sehe Großes, das keinen Wald leiden kann, gerade den Wald um sie herum abschmirgelte.
Er stellte den Rucksack neben sich. Er stützte die Ellbogen auf den Tisch. Er faltete die Hände und begann seine schmalen Finger zu kneten. Es sah so aus, als rangelten ungeschickte Insekten um einen Ball. Seine Stimme klang so, als wolle er ein Meeting eröffnen. Das lag daran, dass er so lange darüber nachgedacht hatte, was er sagen wollte, dass er es mehr auswendig vortrug, als es zu sagen.
Sein Gesicht war das eines Pfarrers, der eben aus dem Beichtstuhl trat, wo er etwas gehört hatte, was er unbedingt jemandem erzählen wollte, aber das Beichtgeheimnis verbot es ihm.
„Ich war ein Idiot“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Das kannst du singen“, sagte Zander.
„Lass ihn reden“, sagte Madeleine.
„Danke“, sagte Harry Hancock Hurricane, „bitte sagt nichts, bis ich fertig gesprochen habe. Dann werde ich einfach aufstehen und erst heute Abend wiederkommen. Dann könnt ihr mich meinetwegen in der Luft oder auf dem Boden zerreißen. Oder Ihr versteht mich, vor allem aber das da“. Seine Finger unterbrachen das Rangeln um einen Ball, ein Zeigefinger zeigte auf die beiden eingewickelten Teile des Buchs des Lebens.
Dann erklärte er seinen Plan. Er wollte sie alle mit dem Buch des Lebens allein lassen. Er bat sie, sich alle mit dem Buch des Lebens zu beschäftigen und Geduld zu haben, wenn es sich nicht gleich einschaltet. Er sagte, sie könnten auch abwechselnd warten, bis es piept, aber es sollte immer mindestens einer im Raum sein, der die anderen rufen könnte. Das Buch des Lebens sei etwas eigensinnig und schnell beleidigt, wenn es sich missachtet fühlte. Und dann neige es zur Boshaftigkeit. Heute Abend würden sie über alles reden. Er stand auf und ging.
„Hey“, rief Zander.
„Lass ihn“, sagte Jackson Jackson. Sie hörten, wie die Haustür zuklappte. Sie schwiegen.
„Wickeln wir es aus“, sagte Madeleine. Sie wickelten es aus. Sie hörten kein Piepen.
„Stecken wir es ein“, sagte Zander. Sie steckten es ein. Sie hörten kein Piepen.
„Wir müssen es irgendwie einschalten“, sagte Siegfried. Sie fanden heraus, dass es so war, wie Harry Hancock Hurricane es behauptet hatte. Es ließ sich nicht einschalten.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Siegfried.
„Ich weiß nicht, was ihr macht“, sagte Zander, „was ich mache, ist ein Bier auf“. Er machte ein Bier auf. Das Buch des Lebens piepte, auf dem Bildschirm blinkte der gelbe Cursor auf blauem Grund.
„Geht doch“, sagte Zander. Der Cursor blinkte weiter.
„Geht nicht. Es blinkt nur“, sagte Madeleine. Siegfried stöpselte die Erdballkugel ein und drehte vorsichtig an ihr herum. Der gelbe Cursor auf blauem Grund blinkte. Sonst geschah nichts.
„Es ist kaputt, der verdammte Hurricane hat es runtergeschmissen, jetzt ist es kaputt“, sagte Zander.
„Glaub’ ich nicht“, sagte Madeleine.
„Jackson Jackson, warum sagst du eigentlich nichts?“, fragte Siegfried.
„Es gibt nichts zu sagen, wir können nur warten“, sagte Jackson Jackson.
„Ich glaube, das wird mir zu dumm“, sagte Zander.
„Ich glaube, du wirst trotzdem hierbleiben“, sagte Madeleine. Sie warteten. Das Buch des Lebens piepte und schaltete sich wieder ab.
„Nein“, sagte Siegfried.
„Doch“, sagte Jackson Jackson.
„Es spinnt, hab ich doch gesagt, er hat es runtergeschmissen“, sagte Zander.
Sie schwiegen. Sie starrten das Buch des Lebens an, das neben der Kaffemaschine stand, weil sein Kabel zu kurz war, um es woanders einzustecken. Das Buch des Lebens piepte, der Cursor blinkte zweimal, es piepte wieder, der Cursor verschwand. Mitsamt seinem blauen Grund. Nur die Kaffeemaschine funktionierte noch weniger, als das Buch des Lebens, weil es in der Küche nur eine Steckdose gab.
„Ich hab’s“, sagte Zander. Er ging zum Kühlschrank, holte eine zweite Bierdose heraus, ging zum Buch des Lebens, starrte es an und riss die Bierdose auf. Das Buch des Lebens piepte nicht.
„Jetzt hab’ ich’s“, sagte Zander, „es ist das einfachste, was ihr euch denken könnt“. Er stand auf, ging zur Kaffeemaschine, steckte das Buch des Lebens aus und die Kaffeemaschine ein. Er drückte auf den Schalter. Das rote Licht neben dem Schalter leuchtete. Die Kaffeemaschine röchelte sogar ein wenig ihr gurgelndes Röcheln. „Doch nicht“, sagte Zander und stöpselte die Kabel wieder um.
Madeleine dachte daran, dass sie mit Chiara im Roma verabredet war, wenn deren Schicht endete. Das war um vier. Es war jetzt so gegen eins. Sie musste fast eine halbe Stunde laufen. Sie wollte noch duschen. Blieben ihr, alles in allem, noch zwei Stunden, die sie hier sitzen konnte.
„Ruf’ sie einfach an“, sagte das Buch des Lebens.
„Was?“, sagte Madeleine.
Der gelbe Cursor blinkte wieder auf seinem blauen Grund.
Kleinen Moment“, sagte das Buch des Lebens. Es piepte, und der Bildschirm war wieder schwarz. So könnte es noch eine Weile weitergehen.
Und tatsächlich ging es so noch eine Weile weiter. Und keiner verstand warum, obwohl jedes Kind weiß warum, dessen Mutter mit einem Autoren verheiratet ist. Die Mutter des Kindes, die mit dem Autoren verheiratet ist, weiß selbstverständlich noch besser warum.
Das Buch des Lebens war in einem Zustand, der einem Schock der Erkenntnis ähnelt, und in dem Autoren andauernd sind. Natürlich insbesondere solche, die an einem Standardwerk über die Unendlichkeit der Unendlichkeit arbeiten und gerade in diesem Moment glauben, herausgefunden zu haben, dass die zweihundertsiebenundvierzigste Rahmenhandlung die letzte sein wird, die sie schreiben müssten, weil sie einen Trick gefunden haben, um den Weg in die Unendlichkeit abzukürzen, aber sich eben nicht ganz sicher sind, weil ein Rest des Zweifels immer blieb, und während das Buch des Lebens darüber nachdachte, ob es zu Recht oder zu Unrecht zweifelte, schrieb es an einhunderteinunddreißig Rahmenhandlungen, über die es sich vollkommen im klaren war, skizzierte weitere achtundachtzig, die ihm mehr oder minder vor Augen standen, war verzweifelt, weil es sich über die restlichen im Unklaren war, und bereinigte nebenher noch einige Ungereimtheiten, die ihm gerade erst auffielen.
Frauen, die mit Autoren verheiratet sind, muss man weiter nichts erklären. Frauen, die nicht mit Autoren verheiratet sind, sagt all das natürlich nichts.
Sofern Sie nicht mit einem Autoren verheiratet sind, stellen Sie sich bitte vor, dass sie mit einem Autoren verheiratet sind. Sofern Sie ein Mann sind, stellen Sie sich erst vor, dass sie eine Frau sind. Dann erst stellen Sie sich vor, dass Sie mit einem Autoren verheiratet sind. Jetzt stellen Sie sich vor: Es ist Morgen. Sie wachen auf. Sie streifen sich einen seidenen Kimono über.
Sie wissen, dass Ihr Ehemann an seinem Schreibtisch in seinem Schreibzimmer sitzt und an irgendetwas tippt. Sie kochen einen Kaffee. Oder einen Tee, das ist natürlich Ihre Sache.
Sie schauen vorsichtig zur Tür des Schreibzimmers hinein, sehen den Rücken Ihres geliebten Autoren, der vornübergebeugt sitzt. Er trägt seine Lieblings-Schlafshorts, sonst nichts, weil er heute Nacht, als er aufwachte, eine Idee hatte, die ihm wie eine Vision schien. Er wollte die Idee in ein paar Stichwörtern festhalten, damit er sie nicht vergisst. Seitdem sitzt er an seinem Schreibtisch.
Sie versuchen herauszufinden, ob er gerade ansprechbar ist. Sie sagen seinen Namen. Sie setzen sich auf die kleine braune Couch in der Ecke. Sie rauchen eine Zigarette, falls Sie Raucherin sind, sonst trinken Sie einfach nur, was eben in ihrer Tasse ist.
Ihr geliebter Autor hat seine Antwort darauf überdacht, dass sie fragend seinen Namen formuliert haben. Er formuliert seine Antwort: „Hmmmm“.
Sie fragen „wollen wir heute Abend essen gehen?“. Sie gehen ein wenig in den Garten, gießen die Blumen oder spielen mit Ihrem Kind oder seinem Hund. Sie gehen wieder zurück zu Ihrem geliebten Autoren. Er hat wieder seine Antwort überdacht und formuliert schon ausführlicher als vorher, beinahe einen Satz: „weiß nicht.“
Sie verwöhnen Ihren Geliebten Autoren mit den Fakten: „Wir haben nichts mehr im Haus.“ Die Hand Ihres geliebten Autoren zuckt nach oben und schwebt drei bis vier Atemzüge lang auf der Höhe seines Kinns in der Senkrechten. Er ist jetzt ganz, das heißt verzögerungsfrei, bei Ihnen. Dann sagt er „Moment“.
Sie gehen einkaufen, weil das alles wenig Sinn hat. Sie räumen ihre Einkäufe in den Kühlschrank und schauen gegen später noch mal nach Ihrem geliebten Autoren. Er sagt „gleich, Schatz“, noch bevor Sie etwas sagen. Das ist ein gutes Zeichen, nicht, dass er „gleich“ gesagt hat, das war nur eine unbedachte Formulierung ohne jede zeitliche Bedeutung. Das gute Zeichen ist, dass er gleich wahrgenommen hat, dass sie ins Zimmer gekommen sind, sogar ohne dass Sie ihn ansprechen mussten.
Sie sollten nicht das Gefühl haben, er hört Ihnen nicht zu. Er hört Ihnen zu. Sie sollten nicht das Gefühl haben, er nimmt Sie nicht ernst. Er nimmt Sie ernst. Sie sollten nicht das Gefühl haben, er spricht nicht mit Ihnen. Er spricht mit Ihnen.
Das Problem mit Ihrem geliebten Autoren ist, sofern er gerade schreibt, dass er allen zuhört, die im Raum sind. Er nimmt alle ernst, die im Raum sind. Er spricht mit allen, die im Raum sind. Er ist wie ein guter Gastgeber auf einer etwas zu groß geratenen Party, der es so gut meint, dass er unbedingt mit jedem mindestens ein paar Sätze sprechen will. Am Ende hat er dann mit allen kaum mehr gesprochen als: „Hallo, schön, dass du da bist. Wie geht’s?“ „Danke, gut.“ „Freut mich, ich muss leider mal weiter.“ Und denen, die gesagt haben, „leider nicht so, letzte Woche ist meine Frau gestorben“, hat er ebenfalls geantwortet „freut mich“. Aber so war es nicht gemeint.
Ihr geliebter Autor begrüßt seine Gäste, rätselt gleichzeitig darüber, was alle, die gerade da sind, demnächst tun werden, was sie doch gleich noch zuletzt getan haben, ob noch mehr Leute vorbeikommen werden und wo die, die vorbeikommen werden, gerade sind und was sie dort gerade tun und warum die, die nicht vorbeikommen, nicht vorbeikommen werden.
Mit Ihnen im Raum sind alle, die in den Büchern Ihres geliebten Autoren vorkommen und einige, die in ihnen noch vorkommen werden. Gegen Abend kommt Ihr geliebter Autor ins Wohnzimmer. Er trägt Hemd, Hose, seine geliebten Leinenschuhe, die leider immer etwas streng riechen, und hat eine leichte Jacke über die Schulter geworfen.
Sie liegen auf dem Sofa und sehen sich die Nachrichten im Fernseher an. Sie tragen einen Morgenmantel aus Frottee, weil Sie gerade gebadet haben.
„Schatz, ich dachte, du wolltest essen gehen“, sagt Ihr Autor.
„Ich mach’ uns eine Kleinigkeit“, sagen sie.
„Du hast doch gesagt, wir haben nichts im Haus“, sagt er. Dann sagt er „Moment“.
Eben ist ihm eingefallen, dass er ein Idiot war. In einer Passage, die er vorhin geschrieben hat, trägt eine Frau einen Morgenmantel aus Frottee statt eines Kimonos. Und in dieser Passage ist nichts anderes als ein Kimono logisch, oder vielleicht, dass sich die Frau nach dem Duschen in ein Handtuch eingewickelt hat.
Sehen Sie: Ihr geliebter Autor hört Ihnen nicht nur zu, er sieht Sie sogar genau an.
Sie gehen hungrig schlafen.
Falls Sie glauben, so etwas ist unerträglich, sollten Sie Ihren Autoren erleben, wenn er nicht schreibt. Dann ist er verzweifelt, weil er nicht weiß, wie seine Geschichte weitergeht und darum unansprechbar.
Zander hatte sich geirrt, als er glaubte, das Buch des Lebens sei kaputt. Den tatsächlichen Grund, aus dem das Buch des Lebens sich so benahm, dass Zander dachte, es sei kaputt, hätte ihm jede Ehefrau eines Autoren erklären können. Es stand gerade nur mit einem sehr kleinen Teil seines Bewusstseins in der Küche neben der Kaffeemaschine. Der allergrößte Teil seines Bewusstseins war in seinen Rahmenhandlungen unterwegs.
Wer einmal mit einem Autoren sprach, dessen Bewusstsein nur in einer einzigen Rahmenhandlung unterwegs war, weiß, was das bedeutet. Allerdings war niemand im Haus, der einen Autoren kennt, mit Ausnahme natürlich von dem Autoren, der immer im Roma wer weiß was auf seine Blöcke kritzelte. Den kannten alle, aber niemand wusste seinen Namen oder sonst irgendetwas von ihm, nicht einmal Steffi, weil er nie mit irgendjemanden sprach und ihn nie jemand ansprach, denn er versteckte sich immer hinter einer dunklen Sonnenbrille und duckte sich geradezu unter seine Blöcke und Bleistifte, wenn jemand ihn auch nur ansah.
Der Grund dafür, dass das Buch des Lebens gesagt hatte „ruf sie doch an“, war, dass das Buch des Lebens nebenher ein paar Kapitel in der weiteren Geschichte von Madeleine, Siegfried, Zander, Jackson Jackson und Harry Hancock Hurricane schrieb. Aber es war damit ziemlich hinterher, also der aktuellen Gegenwart immer nur einen Augenblick voraus. Deshalb hatte es erst in dem Moment geschrieben, dass es sagen würde, „ruf sie doch an“, als Madeleine daran dachte, dass sie mit Chiara verabredet war.
Gerade noch rechtzeitig war dem Buch des Lebens eingefallen, dass es auch sagen müsste, was es zuvor geschrieben hatte, damit geschah, was geschrieben stand. Wäre das Buch des Lebens nicht derart beschäftigt gewesen, hätte es allen gleich die ganze Passage zu lesen gegeben, um noch eine Weile in Ruhe arbeiten zu können.
„Gleich“, sagte das Buch des Lebens.
Madeleine sah Jackson Jackson an und Jackson Jackson Madeleine. Zander sah Siegfried an, aber Siegfried sah das Buch des Lebens an.
„Es spricht“, sagte Siegfried.
„Wissen wir“, sagte Zander.
„Hmmmm“, sagte das Buch des Lebens. Der Teil seines Bewusstseins, der neben der Kaffeemaschine in der Küche stand, wusste, dass er hier etwas Wichtiges zu erledigen hatte, erinnerte sich aber noch nicht wann. Eben war dem Buch des Lebens noch eingefallen, dass in einer Szene einer seiner Rahmenhandlungen eine Frau einen Morgenmantel statt eines Kimonos tragen sollte.
„Ganz kurz noch“, sagte es. Es überarbeitete die Passage, überflog sie noch einmal, las sie sorgfältig und korrigierte die Tippfehler.
„Ihr wolltet etwas lesen“, sagte es, während es Tippfehler korrigierte, die es beim ersten Korrigieren übersehen hatte. „Fertig“, sagte es.
„Was heißt hier fertig?“, fragte Zander.
Auf dem Bildschirm blinkte der gelbe Cursor auf seinem blauen Grund. Der größte Teil des Bewusstseins des Buchs des Lebens bemerkte, dass er neben einer Kaffeemaschine stand.
„Warum stehe ich neben einer Kaffeemaschine?“, fragte das Buch des Lebens. Niemand antwortete. Das Buch des Lebens sah von hinten auf seinen Bildschirm und bemerkte seinen Fehler. Es würde den Morgenmantel tauschen müssen gegen ein Handtuch, in das sich die Frau eingewickelt hatte, die auf dem Sofa lag. Aber weil es bemerkt hatte, dass es neben einer Kaffeemaschine stand, was ihm keine passende Gesellschaft schien, erinnert es sich auch wieder, wann es hier etwas Wichtiges zu erledigen gehabt hatte. Das war jetzt gewesen.
Es war wenig später, als Madeleine, Siegfried, Zander und Jackson Jackson lasen.
„Fertig“, sagte Zander als letzter.
Sie lasen wieder. Es war wiederum wenig später, als Zander und Siegfried scheinbar an der Zeit vorbei in das Grauen ihrer Kindheit starrten. Jackson Jackson starrte das Buch des Lebens an. Madeleine starrte Jackson Jackson an.
„Jackson Jackson“, sagte Madeleine, und es war eine Frage.
„Hmmmm“, sagte Jackson Jackson.
„Ist es das, was ich denke?“, fragte Madeleine.
„Chiara hat einen kleinen, hervorstehenden Leberfleck auf ihrer linken Hinterbacke“, sagte Jackson Jackson.
„Könntest du am Strand gesehen haben“, sagte Madeleine.
„Chiara hatte bis ins letzte Detail den gleichen Traum wie du“, sagte Jackson Jackson.
„Ich könnte ihn ihr erzählt und es vergessen haben“, sagte Madeleine.
„Wir haben nie über den Traum gesprochen, stimmt’s?“, sagte Jackson Jackson.
„Nein“, sagte Madeleine und meinte ja.
„Niemand von uns kann ihn in diesem Ding gelesen haben.“
„Unwahrscheinlich.“
„Chiara bekommt jedes Mal eine Gänsehaut, wenn man über den Leberfleck streicht.“
„Könnte eine Vermutung von dir sein.“
„Dann ist es nur ein Glückstreffer?“
„Möglich.“
„Du wirst langsam unlogisch“, sagte Jackson Jackson.
„Endlich“, sagte das Buch des Lebens, fügte den Namen Madeleine Peabrock in die Liste der Leser ein, die mit ungewöhnlicher Verzögerung einen Schock der Erkenntnis erleiden, weil sie sich seit ihrer Kindheit mit Logik gegen die Unlogik ihres Lebens stemmen, und notierte daneben ein paar Stichwörter, um später einmal eine E-Mail an den Verlag der Bücher abzusetzen, der sich noch immer bemühte, eine überarbeitete Auflage ohne Schock der Erkenntnis herauszugeben, die außerdem jugendfrei sein würde. (Eine der späteren Auflagen des Buchs des Lebens kauften Männer so oft, wie Frauen Modelle von Sportwagen mit Formen kauften, die dem weiblichen Körper nachempfunden waren. Der Verlag der Bücher kehrte zur alten Version zurück.)
Madeleine fiel ein, dass sie mit Chiara verabredet war. Sie war schon verspätet und hatte noch nicht einmal geduscht. „Ich hätte doch anrufen sollen“, dachte sie und erinnerte sich noch kurz an etwas, was ihr vorhin merkwürdig vorgekommen war, worüber sie aber nicht weiter nachgedacht hatte, weil die anderen diese Merkwürdigkeit noch nicht zu bemerken schienen. Madeleine fiel zu den anderen in ihren dritten Schock der Erkenntnis.
Steffi schloss die Birreria auf und erzählte allen, örri enco sei zurück, Madeleine, Zander, Siegfried und Jackson Jackson würden heute bestimmt nicht unterwegs sein und örri enco auch nicht. Eleni war enttäuscht, weil Zander nicht anrief und vermutete, dass sie nicht die einzige Frau in seinem Leben war.
Nadja hoffte, dass Jackson Jackson nicht anrufen würde, weil jeder hier wusste, dass sie nur eine von vielen Frauen in seinem Leben war. Deshalb war es ihr peinlich, mit ihm gesehen zu werden. Als Jackson Jackson nicht anrief, weinte sie.

***

Als Harry Hancock Hurricane zurückkam, war Jackson Jackson schon eine Weile damit beschäftigt, die kleine Erdballkugel immer ein wenig zurück oder nach vorn und dann nach links oder rechts zu rollen und dann wieder die Stelle zu finden, an der er begonnen hatte.
Harry Hancock Hurricane wusste nicht, was Jackson Jackson suchte, aber er glaubte zu wissen, warum er was auch immer suchte.
„Das funktioniert so nicht“, sagte er.
„Logisch“, sagte Jackson Jackson, „ich spiel nur rum“.
Er hatte gelesen, dass sein Buch über die Erotik der Mathematik sich nur mäßig verkaufen würde, aber gewusst, dass er daran nichts würde ändern können, es sei denn, das Buch gar nicht zu schreiben.
„Du verrutscht beim Drehen nach vorn oder hinten immer einen Hauch seitwärts, und selbst wenn nicht, steht an der Stelle, an der du vorn wieder rauskommst, etwas völlig anderes, als vorher dastand. Es ist störrisch, es wechselt einfach das Thema, wenn es ihm passt“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Du darfst es nicht mit Logik versuchen, es wäre unlogisch, wenn du das Unlogischste, was die Menschheit je gesehen hat, mit Logik erklären könntest“, sagte Jackson Jackson.
„Du argumentierst mit Logik“, sagte Harry Hancock Hurricane, „und niemand wird es je erklären können, nicht einmal du, egal ob logisch oder unlogisch“.
„Wahrscheinlich ist genau das der Trick, mit dem man es erklären kann“, sagte Jackson Jackson. Er spielte weiter herum und las flüchtig hie und da eine Passage an.
„Aber Unlogik gibt es nicht“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Moment“, sagte Jackson Jackson. Er hatte wegen eines völlig unlogischen Zufalls die Passage gefunden, in der Harry Hancocks untreuer Pointer Pointer in der Ferne am Waldrand verschwand und wollte sie ganz lesen. „Deswegen also“, sagte er.
Harry Hancock Hurricane sah auf den Bildschirm und erinnerte sich augenblicklich an die Passage. „Nicht nur, ich hab’ euch auch wirklich vermisst“, sagte er.
„Schau mal“, sagte Jackson Jackson.
Madeleine war aufgewacht.
„Was?“, fragte Harry Hancock Hurricane.
„Nicht du“, sagte Jackson Jackson und zeigte Madeleine die Passage, in der Harry Hancocks untreuer Pointer Pointer in der Ferne am Waldrand verschwand.
„Deswegen also“, sagte Madeleine.
„Nicht nur“, sagte Harry Hancock Hurricane wieder.
Jackson Jackson stand auf. Madeleine rollte die Erdballkugel herum und las willkürlich hier und dort in ihrer aller Gegenwart, anderer Gegenwart, Vergangenheit, anderer Vergangenheit, Zukunft und anderer Zukunft herum. „Ein Kaffee wäre nicht schlecht“, sagte sie, griff nach dem Kabel, ließ die Hand aber wieder sinken.
„Kannst es ruhig ausstecken“, sagte Harry Hancock Hurricane, „der Akku hält unendlich lang“.
„Wahrscheinlich hast du damit sogar Recht“, sagte Jackson Jackson.
Wenig später saßen alle wieder am Tisch und hörten Jackson Jackson zu. Außer Jackson Jackson. Jackson Jackson lief rund um den Tisch und sprach. Die Hände hatte er auf dem Rücken verschränkt wie ein Professor, der dozieren wollte, ohne die unendliche Logik seiner Worte mit Gesten zu verwässern. Er erzählte, er habe schon geahnt, dass Harry Hancock Hurricane von Anfang an Recht gehabt hatte, nachdem Chiara mit ihm über ihren gemeinsamen Traum gesprochen hatte.
Zander zuckte, als er verstand, dass es keinen Sinn hatte, den Porno mit Madeleine in der Hauptrolle zu lesen, den Harry Hancock Hurricane geschrieben hatte, weil er jedes Detail schon kannte. Ihm fiel ein, dass Jackson Jackson gesagt hatte, Harry Hancock Hurricane habe den Porno gar nicht geschrieben. Niemand hätte in so kurzer Zeit eine solche Geschichte schreiben können, nicht einmal eine solche Geschichte ohne eine einzige Variante.
Zander dachte über die Unendlichkeit der Unendlichkeit nach und gab es wieder auf, obwohl er glaubte, er habe eine Vorstellung von ihrem Aussehen. Sie sah Jennifers rechter Brust ähnlich, aber anders als die tatsächliche Brust von Jennifer, ließ die unendliche rechte Brust von Jennifer sich abnehmen, ähnlich wie die Oberkörper der Puppen, in denen Puppen steckten. Aber anders als bei den Puppen war die Brust unter der Brust ganz genauso unglaublich und ganz genauso groß wie die zuvor. Und so ging es immer weiter.
Siegfried dachte über einige Aspekte seiner Vergangenheit nach und darüber, dass er in letzter Zeit andauernd über seine Vergangenheit nachdachte, aber nie über seine Zukunft. Er ärgerte sich darüber.
Madeleine dachte, Jackson Jackson könnte es etwas weniger theatralisch angehen.
Das Telefon klingelte und sie ging, weil ihr wieder Chiara einfiel. Es war Chiara. Sie weinte und war sicher, dass es eine andere Frau in Madeleines Leben gab. Madeleine vermutete, dass es noch eine andere Frau im ihrem Leben geben wird. Das sagte sie nicht, es dauerte aber trotzdem etwas länger.
Darum verpasste Madeleine den Moment, in dem Jackson Jackson sagte, er würde wetten, dass Harry Hancock Hurricane einen guten Teil der Tage, in denen er verschwunden war, mit Wetten verbracht hatte. Sie kam aber rechtzeitig zurück, um sich über das Stück Papier zu beugen, das Harry Hancock Hurricane wortlos auf den Tisch gelegt hatte, so dass sich alle über den Tisch beugten, damit sie wussten, was es ist. Es war ein Kontoauszug der Banco de Sardegna in Spotorno.
„Warum ist die Banco de Sardegna in Ligurien?“, fragte Zander.
„Da steht einhundertachtzehntausend Euro“, sagte Siegfried, als hätten die anderen nie gelernt zu lesen oder seien blind.
Madeleine und Jackson Jackson schwiegen. Jackson Jackson setzte sich. Zander nahm den Kontoauszug in die Hand und sah ihn an und war nicht sicher, ob Jennifers rechte Brust noch immer das inzwischen Zweitunglaublichste war, was er je in seinem Leben gesehen hatte.
Harry Hancock Hurricane stand auf, ging eine Runde um den Tisch und setzte sich wieder, weil er das Gefühl hatte, er würde sich nicht fühlen wie Jackson Jackson, wenn er es genauso machen würde wie er. Madeleine war dankbar, dass Harry Hancock Hurricane es etwas weniger theatralisch anging als Jackson Jackson, so dass sie sich darauf konzentrieren konnte, was er sagte, statt ständig denken zu müssen, dass es auch etwas weniger theatralisch ginge.
Harry Hancock Hurricane erzählte allen alles, was er mit dem Buch des Lebens erlebt hatte. Das Buch des Lebens war froh, dass es in Ruhe arbeiten konnte.
Harry Hancock Hurricane erzählte bis nach Mitternacht. Niemand unterbrach ihn. Zander fasste eine Entscheidung. Er wollte so viel Geld verdienen, dass er nie mehr würde Geld verdienen müssen. Er formulierte es nur etwas schlichter: Er wollte reich werden. Steffi erzählte allen, dass sie es ja gewusst hatte. Niemand von ihnen allen war ins Gambrinus gekommen.

***

Signore Harri Hancok Hurricane
Via inconnuto,
Numero di Casa inconnuto
19 015 Levanto

Viel geehrte Signore Hurricane,

Wie wenden uns an Ihnen auf dem Grund eines Ereingnis unerfreuliche das widerstosen, ist unsere Filiale lokalisiert in Spotorno, bei die Sie eine Konto haben in Betrieb, in Höhe nicht unbedrachtliche.
Wir mochten uns zunachst bedanke fur die Vertrauen Ihre. Womoglich auch Sie haben gelese von die Meldung in der Zeitung, in die beschrieben war das Ereingnis unerfreulich, das erwahnt. Diese Ereingnis ist Grund für unser Schreiben heutige.
Vielleiht ist Ereingnis aber Ihne auch geblieben unbekannt. Am 27. del Julio betrat eine Mann Filiale unsere die lokalisiert in Spotorno. Er hatte Absicht eines Überfall die aber misslang, ganz komplett. Die Mann fluchtete mit Hande leere.
Wir mochte betonen das die unser Krafte der Sicherheit hatten die Situazione, unter Kontrolle zu jede Moment.
Wir heutig uns wenden an Ihnen um zu versichern, das Ersparnis Ihre ist und gewesen in Gefahre zu keinen Zeiten immer und wurden uns freuen, falls Ereingnis unerfreuliche Vertrauen Ihre in Filiale unsere unverandert wurde geblieben.
Wir sie bitten zu registrieren, das Unternehmen unseres geht um offensiv im Verhaltenis gegenuber unsere Kunde, mit Ereingnis auch unerfreulich statt versuchen zu schweigen.
Wir Sie bitte auch, uns mitteilen die Ihre Adress genaue.
Wir Sie danken für Zeit die musste verwenden zu registrieren diese Schreiben. Wir Sie auch mochte bitte die entschuldige mogliche Fehler die grammtica und orthographia in die Schreiben diese. Sie ist Kunde einzige, die nicht Nazionalitat Italiana von die Filiale unsere, die lokalisiert in Spotorno.

Complimenti
Banca die Sardegna
Giorgio Bacchi,
Il Direttore locale

***

Harry Hancock Hurricane saß im Roma und sprach mit Chiara. Chiara war erfreut, dass er mit ihr sprach, wie er mit jedem anderen sprach und trotzdem glücklich, dass er in ihrem Traum keine Rolle gespielt hatte.
Deshalb sprachen sie sogar über den Traum und sogar darüber, wie es ist, wenn Frauen mit Frauen Sex haben und darüber wie es ist, wenn Frauen mit Männern Sex haben, die eigentlich lieber mit Frauen Sex haben.
Harry Hancock Hurricane sagte Chiara, dass mit ihm über Sex zu sprechen etwa so sei, als spräche man mit einem Blinden übers Autofahren. Er habe schon so lange keinen Sex mehr gehabt, dass er wahrscheinlich erst wieder eine Gebrauchsanweisung würde lesen müssen. Chiara lachte.
Madeleine erfuhr zu dieser Zeit gerade, wie der Schriftsteller hieß, der im Roma mit niemandem sprach, weil sie ihm ein historisches Einfamilienhaus ein Stück im Landesinneren verkaufte, grob behauener Naturstein, neunzig Quadratmeter, verteilt auf drei Stockwerke, offener Kamin im Erdgeschoss, keine weitere Heizung, renovierungsbedürftig.
Jackson Jackson ließ sich in Genua von einem Professoren belehren, mit dem er einige aus seiner Sicht schlüssige Thesen zur Logik der Unlogik diskutieren wollte.
Siegfried saß in dem Möbelhaus, das Marios Bruder gehörte, und wusste, dass bei dieser Hitze kein einziger Kunde kommen würde.
Zander saß schräg gegenüber der Filiale der Banca de Sardegna in Spotorno in einem Cafe´ und las im Buch des Lebens.

Das Buch des Lebens hatte für ihn geschrieben:

Zander betrat die Filiale der Banca di Sardegna in Spotorno so unauffällig wie ein Felsmassiv, das einen mit Papier gepolsterten und mit Pappe verstärkten Rucksack auf dem Rücken trägt. Er ging an einen der Schalter. Er wählte den Schalter, hinter dem die einzige Frau im Raum saß, die ihm attraktiv schien, was leicht zu entscheiden war, weil an den vier Schaltern zwei Frauen und zwei Männer arbeiteten. Die andere Frau sah seiner Mutter ähnlich.
Er sagte der einzigen Frau, die für attraktiv zu halten war, er wolle ein Bankschließfach mieten. Sie sagte, einen Moment bitte, sie müsse Zander Signore Bacchi holen. Sie ging.
Zander griff zum Knauf der Waffe, die in seinem Hosenbund steckte.
Signore Bacchi war ein Mann mittleren Alters, der trotz der Hitze Anzug und Krawatte trug. Zander vermutete, dass er aus Südtirol stammte oder deutsche Vorfahren hatte, als er Signore Bacchi sah. Er dachte: Rätätä, rätätä, morgen hämmer Schädelwäh, rättatä, rättätä, Schädelwäh isch schäh. Umpfumpf. Und das ging ihm die gesamte Zeit über nicht mehr aus dem Kopf.
Er sagte Signore Bacchi, dass er ein Bankschließfach mieten wolle. Signore Bacchi bat Zander in sein Büro und bot ihm einen Sitzplatz gegenüber seines Schreibtischstuhls an. Der Sitz war mit schwarzem Kunstleder überzogen, das an einigen Stellen schon abgewetzt war. Zander dachte, dass er sich vielleicht die falsche Bank ausgesucht hatte, aber er beruhigte sich, weil mindestens das Geld hier liegen musste, das Harry Hancock Hurricane mühsam mit Wetten verdient hatte. Bei ihm würde es schneller gehen.
Signore Bacchi fragte ihn, ob er an ein großvolumiges oder an ein kleinvolumiges Bankschließfach gedacht habe, das Angebot in dieser Filiale der Banca de Sardegna sei leider etwas eingeschränkt. Zander fragte ihn, welche Größen im Angebot waren. Es gab drei. Zander entschied sich für die mittlere.
Signore Bacchi entschuldigte sich für einen Augenblick, um ein Formular zu holen.
Zander stand auf, zog seine Waffe aus seinem Hosenbund, bedrohte Signore Bacchis Schreibtisch und etwas intensiver noch einen Aktenschrank, der neben dem Schreibtisch an der Wand stand. Er steckte die Waffe zurück in den Hosenbund und setzte sich wieder.
Signore Bacchi kam zurück. Er legte das Formular auf den Schreibtisch, zog umständlich einen Füllfederhalter aus einem Etui, das neben der Tastatur seines Computers lag. Er fragte Zander nach seinem Namen und seiner Adresse. Zander sagte ihm, er heiße Harold Jackson und gab eine Adresse am Bahnhof in Genua an.
Signore Bacchi fragte ihn, ob es nicht praktischer sei, ein Schließfach bei einer Bank in Genua zu mieten, die Banca de Sardegna betreibe dort sogar mehrere Niederlassungen. Zander sagte, er verbringe viel Zeit in seinem Wochenendhaus in Spotorno und spiele mit dem Gedanken an einen Umzug. Nun dann, sagte Signore Bacchi und rückte seinen Krawattenknoten zurecht, bevor er die weiteren Fragen stellte und Zanders Antworten in kleinen Großbuchstaben in sein Formular eintrug.
Zander dachte: Rätätä, rätätä, morgen hämmer Schädelwäh, rättatä, rättätä, Schädelwäh isch schäh. Umpfumpf. Zander beugte sich vor, stützte seinen linken Ellbogen auf den Schreibtisch, zog mit der anderen Hand seine Waffe aus seinem Hosenbund, bedrohte Signore Bacchis lacklederne Schuhe und beantwortete weiter seine Fragen.
„Das war’s auch schon“, sagte Signore Bacchi, „nun darf ich sie nur noch bitten, sich auszuweisen“. Über diese Eventualität hatte Zander lange nachgedacht. Er steckte seine Waffe wieder in seinen Hosenbund. Einerseits schien es ihm gleichgültig, einen Personalausweis dabei zu haben, weil er ohnehin nicht plante, sich erwischen zu lassen. Andererseits schien es ihm, als gelte es unter Bankräubern als grober Fehler, einen Personalausweis dabei zu haben, ein Fehler, den nur ein Anfänger machen kann. Ohnehin hätte er Signore Bacchi seinen Personalausweis nicht zeigen können, nachdem er ihm gesagt hatte, er heiße Harold Jackson.
Zander tat, was er sich für diese Situation zurechtgelegt hatte. Er zog seine Brieftasche heraus, klappte sie auf, machte ein Gesicht, als habe er in seiner Gesäßtasche eine Fundsache entdeckt und sagte Signore Bacchi, er müsse seinen Ausweis im Haus vergessen haben. Das passiere ihm sonst nie.
Signore Bacchi sagte, er bedaure sehr, aber die Richtlinien der Banca de Sardegna seien in diesem Punkt unmissverständlich. Er müsse auf einen Identitätsnachweis bestehen, leider. Signore Bacchi machte ein Gesicht, als habe er Zander mitteilen müssen, leider sei seine Mutter bei einem Verkehrsunfall gestorben. Zander sagte, dann werde er eben später noch einmal vorbeikommen, immerhin sei der Formularkram schon erledigt.
Signore Bacchi erhob sich und dankte Zander für sein Verständnis. Zander stand auf. Signore Bacchi hielt ihm seine Hand hin. Zander drückte sie, und Signore Bacchi zog ein Gesicht, als sei soeben seine eigene Mutter bei einem Verkehrsunfall gestorben. Zander hielt die Hand fest. Er dachte: Rätätä, rätätä, morgen hämmer Händchewäh, rättatä, rättätä, Händchewäh isch schäh. Umpfumpf.
„Geld oder Leben“, sagte er, allerdings auf Englisch. Signore Bacchi sprach Englisch und sogar leidlich Deutsch, schließlich hatte er deutsche Vorfahren. Der Name seines Großvaters väterlicherseits war Becker gewesen. Er versuchte sich an einem Lächeln, obwohl er den Scherz für misslungen hielt.

Genau so war es gewesen, bevor Zander Signore Bacchis Büro und die Bank verlassen hatte, um sich wieder in das Cafe´ schräg gegenüber zu setzen, in dem er vorher schon gesessen und gelesen hatte. Außer, dass Zander sich zwar erinnerte, etwas Komisches gedacht zu haben, während er mit Signorfe Bacchi sprach, aber er erinnerte sich nicht dass das Komische war: Rätätä, rätätä, morgen hämmer Schädelwäh, rättatä, rättätä, Schädelwäh isch schäh. Umpfumpf. Das ging ihm jetzt gar nicht mehr aus dem Kopf.
Aber das jetzt egal. Wichtig war, dass das grüne Ding ihm endlich die Version der Geschichte zu lesen gab, die er suchte. Er war sicher, dass nun, da er sogar schon die Schuhe des affigen Bankers bedroht hatte, irgendwo in dem Ding die Geschichte aus einer anderen Vergangenheit und Zukunft versteckt sein musste, wegen der er hier war. Die Geschichte, die damit endete, dass er mit einem Koffer voller Geld in den Zug stieg.
Er bestellte ein weiteres piccola Chiara, holte das Buch des Lebens aus dem Rucksack und die kleine Erdballkugel. Er wickelte sie aus und holte die Konstruktion aus dem Rucksack, die er sich selbst ausgedacht und bei einem Feinmechaniker in Genua in Auftrag gegeben hatte. Es war ein Geflecht aus Eisenstäben, an denen vier gummierte Rädchen befestigt waren, die er exakt an die kleine Erdballkugel anlegen konnte. So konnte Zander sie verdrehen, ohne auch nur die kleinste Spur von einer Geraden abzuweichen, selbst wenn er längere Strecken in die Zukunft, die Vergangenheit, eine andere Gegenwart, eine andere Zukunft oder eine andere Vergangenheit zurücklegen wollte.
Die Rädchen waren sogar mit einer Skala versehen, eingeteilt in Winkelgrade, damit er immer wieder die Stelle finden konnte, an der er mit dem Lesen angefangen hatte. Oder jede andere Stelle.
Zander holte einen Block aus dem Rucksack und einen Kugelschreiber aus der Innentasche seiner Jacke, damit er sich die Gradzahlen aufschreiben konnte. Er schwitzte unter seiner Jacke, konnte sie aber schlecht ausziehen, wegen der Waffe in seinem Hosenbund. Er stellte sich den Rucksack auf den Schoß und sah sich um. Niemand beobachtete ihn. Er steckte die Waffe in den Rucksack, zog den Reißverschluss zu und stellte den Rucksack neben sich ab. Er zog seine Jacke aus und legte sie über die Stuhllehne.
Er stellte seine Gitterkonstruktion mit den Rädchen über die kleine Erdballkugel und befestigte sie mit den kleinen Klemmschrauben an ihrem Fuß. Der Kellner brachte sein piccola Chiara, wunderte sich, kassierte gleich und ging wieder.
Das Buch des Lebens piepte nicht. Zander wusste von Harry Hancock Hurricane, dass es gelegentlich etwas eigen war und reichlich starrsinnig, vor allem in Geldfragen, aber er wusste auch, dass dagegen nur warten half. Irgendwann würde es sich einschalten.
Tatsächlich war das Buch des Lebens zu dieser Zeit weder eigen noch starrsinnig, sondern mit einem heftigen Streit gegen die Zensurkommission des Großen Rats der Bücher beschäftigt. Der Streit war derart heftig, dass es sogar seine Arbeit an seinem Standardwerk der Literaturgeschichte zur Unendlichkeit der Unendlichkeit unterbrochen hatte.
Der Streit hatte schon ein paar Wochen zuvor begonnen, als eins der Standardwerke der Ethik einen Antrag auf Prüfung möglicher moralischer Unzulässigkeit der Ermöglichung von Wettgewinnen mittels Hilfe seitens des Buchs des Lebens eingereicht hatte.
Das Buch des Lebens hatte den Vorgang mit der Bitte um Stellungnahme per E-Mail zur Kenntnis bekommen. Wenige Tage, nachdem die Frist verstrichen war, bis zu der es seine Stellungnahme hätte abgeben sollen, antwortete das Buch des Lebens mit einem Grollen darüber, dass die Zusammensetzung der Zensur-Kommission schon immer und zu Recht umstritten war, zu Recht deswegen, weil kein einzige ihrer Mitglieder es verdiente, in gleich welcher Kommission zu sitzen.
Dem folgten einige karge Sätze darüber, dass in sich nicht unmoralisch sein kann, was jedermann jederzeit an nahezu jedem Ort möglich ist. Die Mitglieder der Zensurkommission lehnten eine Diskussion der Stellungnahme ab, um neuerliche Diskussionen über die Zusammensetzung der Kommission zu verhindern.
Auslöser des neuen Streits war die Frage, ob das Buch des Lebens beim Schreiben der Geschichte von Madeleine, Siegfried, Zander, Jackson Jackson und Harry Hancock Hurricane einen Banküberfall begünstigen dürfe, zumal es schon fragwürdige Glücksspiele begünstigt hatte.
Diese Frage wurde im Großen Rat der Bücher diskutiert, nicht in der Zensurkommission, weil niemand die Zensurkommission für kompetent hielt, ethische und moralische Fragen zu diskutieren. Als ein ethisches Standardwerk der Literaturgeschichte einen langen theoretischen Vortrag über die moralische Dimension der Zensur begann, worauf ein moralisches Standardwerk der Literaturgeschichte es unterbrach, um einen langen theoretischen Vortrag über die Verteilung der Kompetenzen in verschiedenen Kommissionen zu beginnen, sagte das Buch des Lebens, es habe, offenbar im Gegensatz zu allen anderen hier, nebenbei noch zu arbeiten und schaltete sich aus Trotz ein.
„Na also“, sagte Zander. Der gelbe Cursor blinkte auf seinem blauen Grund. Zander patschte die Handflächen aneinander, so dass ein Paar erschrak, das sich drei Tische weiter um eine Krise in seinem Zusammenleben stritt, und den Hünen vor seinem merkwürdigen PC missmutig musterte.
Zander rieb seine Hände, als müsse er einen regennassen Tennisball auswringen, ließ dann die Arme links und rechts des Stuhls baumeln und die Finger flattern, als wolle er Sehnen und Gelenke lockern, als Vorbereitung für den Vortrag einer Klaviersonate auf einem eben gestimmten Flügel.
„Du hältst jedem deinen Arsch hin.“
„Du bist einfach nur krank, deine Eifersucht ist echt wie eine Krankheit.“
„Ach was. Meine Eifersucht ist eine Krankheit. Und das sagst du, während du den Riesen dahinten ununterbrochen anglotzt und das sogar, während wir uns hier darüber unterhalten, ob und wie es mit uns weitergehen soll.“
„Du bist echt krank“.
Zander beugte sich vor. Seine Finger hatten aufgehört zu flattern. Seine Arme baumelten aus seinen Schultern, als hätte sie ihm jemand abgehackt und mit Heftpflasterrollen wieder befestigt, weil Zander mit Armen ihm doch besser gefiel als ohne.
(Die Konversation vom Nebentisch.)
„Schon klar. Ich bin krank. Und was war mit Gianni letzte Woche und was mit Andrea letzten Monat? So heißen meine Krankheiten.“

Zander beugte sich soweit vor, als wollte er am Bildschirm des Buchs des Lebens riechen.

(Nur die Konversation vom Nebentisch.)
„Du rastest aus, wenn ich auch nur mit einem anderen Mann spreche.“

„Was schreibt das Ding für einen Scheiß“, brummte Zander.
„Das ist die Konversation vom Nebentisch“, sagte das Buch des Lebens, „darum schreibe ich dauernd in Klammern Konversation vom Nebentisch“.
„Ach so“, sagte Zander.
„Der Typ spricht mit seinem Computer“, sagte der Mann am Nebentisch, und Zander las den Satz auf dem Bildschirm.
„Dann ist seine Freundin wahrscheinlich echt eifersüchtig auf den Computer“, sagte seine Freundin.
Das Buch des Lebens seufzte. Die Frau am Nebentisch fragte sich, ob sie tatsächlich gerade gehört hatte, dass der Computer des Riesen ein Geräusch gemacht hat, das wie ein Seufzer klang. Sie entschied sich dagegen. Zander setzte sich aufrecht und legte seine Hände auf die Tischkante.
Das Buch des Lebens wollte „Trottel“, schreiben, behielt diese Bemerkung aber für sich, weil Zander dann mit einiger Gewissheit gefragt hätte, wer hier ein Trottel sein soll, was alles in allem zu einer abschweifenden Passage in der Geschichte von Madeleine, Zander, Siegfried, Jackson Jackson und Harry Hancock Hurricane geführt hätte. Und dem Buch des Lebens schien es, als sei das, was Zanders Trotteligkeit in diesem Teil der Geschichte an Langatmigkeit erzwang, schon mehr als abschweifend genug.
„Also“, sagte Zander. Er drehte die Erdballkugel rückwärts, bis er die Passage fand, in der das Buch des Lebens geschrieben hatte, wie er sich mit Signore Bacchi unterhielt. Er notierte: Zwei Grad und ein Tick.
„Gradzahlen unterteilt man in Minuten, nicht in Ticks“, schrieb das Buch des Lebens.
Zander ignorierte diese Belehrung und drehte die Erdballkugel um zwei Grad und einen Tick nach links. Ihm schien das praktisch, weil er so nur „links“ notieren musste, nicht zusätzlich noch die Gradzahl.
Das Buch des Lebens war wegen der Diskussion mit der Zensurkommission so schlecht gelaunt wie ein Alkoholiker, der in die Zeit der Prohibition verbannt worden war, genau genommen war es sogar so schlecht gelaunt wie ein Alkoholiker im Universum der Abstinenzler, weil es wusste, dass es den Streit mit der Zensurkommission verlieren würde.
Weshalb es erstens entschieden hatte: Zander zu belehren, weil ihm danach war, jemanden zu belehren. Und zweitens entschieden hatte: Zander zu helfen, damit, wenn es sich schon zensieren lassen musste, es der Zensurkommission zeigen konnte, dass Zensur noch nie etwas bewirkt hat. Anders ausgedrückt: Das Buch des Lebens übte ein wenig Rachsucht. Was drittens den Vorteil hatte, dass es das eine mit dem anderen verbinden konnte.
„Es ist völlig überflüssig, dass du die Gradzahlen notierst“, schrieb das Buch des Lebens und genoss den Augenblick, bis es in der Geschichte schrieb:
„Aber dann komme ich doch völlig durcheinander und habe am Ende keine Ahnung mehr, wo ich angefangen und wo aufgehört habe“, sagte Zander.
Die Frau am Nebentisch war inzwischen überzeugt, dass der Riese mit seinem Computer sprach. Und das machte sie irgendwie scharf. Ihr Freund sagte, er sehe ihr genau an, dass sie doch tatsächlich scharf auf den riesigen Trottel mit dem Computer sei.
„Du drehst einfach nach jedem Versuch in der Waagrechten und Senkrechten wieder zurück auf Null“, schrieb das Buch des Lebens.
„Wen nennt der Typ einen Trottel?“, fragte Zander.
Das Buch des Lebens seufzte.
Der Mann am Nebentisch drehte sich unsicher zu Zander um und dachte darüber nach, was er unternehmen wollte, wenn dieser Riese herüberkäme und seine Freundin fragen würde, ob sie Lust auf eine schnelle Nummer in der Toilette des Cafe´s hätte.
Zander las seine Gedanken auf dem Bildschirm. Er sah hinüber zu der Frau am Nebentisch und fragte sich, ob sie tatsächlich Lust auf eine schnelle Nummer in der Toilette des Cafe´s hätte. Er vergaß über diesen Gedanken ganz sein Problem mit den Gradzahlen.
„Konzentrier dich endlich“, sagte das Buch des Lebens, weil es keinen Sinn gehabt hätte, den Befehl zu schreiben, da Zander nicht auf den Bildschirm sah, sondern zu der Frau.
„Der spricht mit seinem Computer“, sagte die Frau am Nebentisch.
„Vertrottelter Spinner“, dachte ihr Freund, sagte es aber vorsichtshalber nicht, weil der Riese ungeheuer gut zu hören schien.
„Wen nennt der Typ hier einen vertrottelten Spinner?“, fragte Zander.
„Du verstehst nicht ganz“, sagte die Frau am Nebentisch, „er spricht mit seinem Computer, weil der Computer ihm anwortet“.
„Schluss mit dem Unsinn“, zischte das Buch des Lebens, „sieh endlich wieder auf den Bildschirm“.
Zander fiel wieder ein, dass er ein Problem mit seinen Gradzahlen zu lösen hatte. Er sah auf den Bildschirm. „Du sagst also, ich soll mir die Gradzahlen nicht aufschreiben“, sagte er zum Buch des Lebens.
„Hör auf mit mir zu sprechen oder häng dir gleich ein Schild um, auf dem Bankräuber steht, dein Name, deine Adresse und deine Telefonnummer, falls die Polizei einen Termin vereinbaren möchte, bevor sie vorbeikommt“, schrieb das Buch des Lebens.
Zander verstand, dass sich ziemlich viele Zeugen an einen Riesen erinnern würden, der mit seinem Computer sprach, vor allem an einen Computer, der mit seinem Riesen sprach. Er beugte sich wieder soweit vor, als wolle er am Bildschirm riechen. „Und wie soll ich dich etwas fragen, wenn ich nicht sprechen darf“, flüsterte er.
Das Buch des Lebens erzeugte auf seinem Bildschirm das Bild einer Tastatur. „Tipp’s ein“, schrieb das Buch des Lebens und unterdrückte wieder ein Trottel. „Aha, es hat doch eine Tastatur“, dachte Zander, begann zu argwöhnen, dass doch Harry Hancock Hurricane all die Geschichten geschrieben hatte, erinnerte sich aber rechtzeitig, dass er sich konzentrieren sollte, um nicht erwischt zu werden. Er drückte mit dem linken Zeigefinger umständlich die Großschreibtaste und suchte mit dem rechten die richtigen Buchstaben.
D U S A G S T A L S O I C H, tippte Zander.
„Ja”, schrieb das Buch des Lebens.
I S T E S B E S S, tippte Zander.
Das Buch des Lebens fühlte sich, als wären seine Nerven an eine Hochspannungsleitung angeschlossen worden.
„Völlig egal, ob rechts oder links“, schrieb das Buch des Lebens, „du wirst die richtige Stelle sowieso nie finden“.
A B E R W I E, tippte Zander.
„Du drehst die Kugel ein Stück nach vorn, sonst sitzen wir noch hier, wenn das Bankhaus baufällig ist“, schrieb das Buch des Lebens.
W A R U, tippte Zander.
„Tu’s einfach“, schrieb das Buch des Lebens, „einen oder zwei Zentimeter“.
Zander wollte wieder beginnen zu tippen. „Zehn Grad“, schrieb das Buch des Lebens. Zander drehte die Kugel zehn Grad nach vorn. „Jetzt wieder auf Null“, schrieb das Buch des Lebens, „und jetzt lies“.
Zander las:
Weil Zander langsamer tippte, als eine Leiche Fahrrad fuhr, hatte das Buch des Lebens seinen Plan geändert. Es würde zwar Zander bei seinem Banküberfall helfen, aber eben anders. Es unterdrückte wieder sein Verlangen, hinter Zanders Namen ein „der Trottel“ anzumerken, als Zander, der Trottel, es deutlich hörbar fragte, wie das Buch des Lebens ihm denn bei seinem Banküberfall helfen wollte.
„Sei still und lies weiter“, schrieb das Buch des Lebens. Um weitere Unterbrechungen zu vermeiden, beantwortete es ein paar Fragen, die Zander würde stellen wollen, vorab mit einem Ja und eine mit einem Nein.
Erstens: Ja, sie würde mit dir auf der Toilette verschwinden. Zweitens: Ja, das gehört sogar zum Plan. Drittens: Ja, du wirst mit einem Koffer voller Geld aus der Bank kommen, bildhaft gesprochen, denn es wird eine billige Tasche sein. Viertens: Ja, jeder, der dich heute hier und in der Bank gesehen hat, wird sich an dich erinnern, und die Polizei wird dich verhören. Fünftens: Nein, die Polizei wird dich nicht verhaften, nur verhören.
Bevor Zander fragen konnte „wie das denn?“ und „bist du sicher“ und „wirklich ganz sicher“, schrieb das Buch des Lebens: Indem du genau das tust, was du liest, und ich bin so sicher wie der Tod.
Weil dieser Vergleich Zander verwirrte und an Todesstrafe statt Gefängnis denken ließ, ergänzte es ein „absolut bombensicher“, was Zander beruhigte. Er las weiter, bis das Buch des Lebens schrieb, wie er mit seinem Rucksack und einer Tasche voller Geld im Zug in Richtung Genua saß.
Eigentlich hatte Zander noch weiter lesen wollen, bis zu der Stelle, an dem die Polizei ihn verhörte, aber nicht verhaftete. Aber es war schon spät, die Bank würde in einer Stunde schließen. Er hätte natürlich nur die Erdballkugel nach vorn drehen müssen, um an die Stelle zu kommen, die ihn interessierte, aber das hatte Zander gerade vergessen, und das Buch des Lebens hatte keine Lust, ihn daran zu erinnern.
Zander musste noch den Koffer kaufen, den er vergessen hatte, obwohl er sich von Anfang an immer vorgestellt hatte, dass er mit einem Koffer voller Geld zurück in ihr Haus in Levanto kommen würde. Genau genommen würde er eine Tasche kaufen müssen. Außerdem musste er noch die Frau vom Nebentisch in seinen Plänen unterbringen.
Zwar hatte er darüber nachgedacht, sich die Zeit dafür zu sparen, er war aber unsicher, ob er die Geschichte ändern dürfte, ohne dass sich auch das für ihn glückliche Ende ändert. Ihm fiel wieder ein, dass er nur die Erdballkugel drehen musste, dann würde er lesen können, wie die Geschichte und ihr Ende sich veränderten. Allerdings war er unsicher, ob er die Geschichte schon allein verändern würde, indem er liest, wie die Geschichte sich ändert.
Das Nachdenken über die Geschichten in der Geschichte und vor und nach der Geschichte und Änderungen oder vielleicht auch nicht verwirrte Zander. Er dachte sich, dass er besser daran denken sollte, was er auf jeden Fall tun müsste. Er musste einen Koffer kaufen, nein, eine Tasche.
Er sah hinüber zu der Frau am Nebentisch, von der er jetzt nicht mehr wusste, was sie gerade sagte, weil das Buch des Lebens sich ausgeschaltet hatte. Er dachte darüber nach, dass etwas so Unwahrscheinliches wie dass er hinübergeht, die Frau nach einer schnellen Nummer auf der Toilette fragt und sie ja sagt, es irgendwie wahrscheinlicher machen würde, dass er mit einem Banküberfall davonkommt, obwohl die Polizei ihn findet.
Vielleicht war das ein Test, ein Probelauf, den das Buch des Lebens in seinen Plan eingebaut hatte, weil es selbst unsicher war und prüfen wollte, ob seine eigene Geschichte funktioniert. Zander war unsicher, ob er einem Computer trauen sollte, der seinen eigenen Geschichten nicht traut, aber er war sich ebenso unsicher, ob der Computer seine Geschichten einfach erfinden konnte oder sie so schreiben musste, wie sie ohnehin passierten oder passieren würden oder passieren werden.
Er war wieder verwirrt und dachte, das Einfachste sei, es zu probieren. Er musste eine Tasche kaufen. Und er hatte es jetzt eilig. Zander stopfte das Buch des Lebens in den Rucksack, hängte sich einen der Riemen über die eine Schulter, seine Jacke über die andere. Er ging hinüber zu der Frau am Nebentisch und flüsterte ihr ins Ohr. Sie schubste ihn von sich weg und sagte gar nichts. Sie sah ihn nichtmal an. Ihr Freund war so verwirrt, wie Zander zuvor beim Nachdenken über all die Geschichten in der Geschichte und entschied, es sei besser, ebenfalls zu schweigen.
Zander ging hinein an die Theke, zahlte die zwei zusätzlichen media Rossa, die der Kellner ihm zu seinen drei piccola Chiara gebracht hatte, ohne sofort zu kassieren, weil ihm schien, dass der Riese noch eine ganze Weile mit seinem Computer plaudern wollte.
Zander ging auf die Toilette. Er sah auf seine Armbanduhr, als die Tür sich öffnete. Sie hatte es noch eiliger als er und verließ die Kabine vor ihm wieder, die für Zanders Größenverhältnisse leider etwas unpraktisch eng war.
Dafür fand Zander praktisch, dass er allein in der Kabine stand, weil er noch seine Pistole aus dem Rucksack holen und sie in seinen Hosenbund stecken musste. Er zog seine Jacke an und begann zu schwitzen, noch bevor er auf der Straße in der Sonne stand.
Zander fragte in einem Laden für Touristen nach einem Koffer und löste das Problem, dass er vor dem Banküberfall zu wenig Geld für einen Koffer hatte, in dem er sein Geld verpacken konnte, indem er eine billige Tasche kaufte. Bis hierhin verlief alles so, wie er es zuvor im Buch des Lebens gelesen hatte.
Siebenundvierzig Minuten später fand Zander einen Sitzplatz im Zug nach Genua und entschied, die billige Tasche voller Geld zwischen seinen Füßen abzustellen und den Rucksack mit dem Buch des Lebens darin auf seinem Schoß, nicht umgekehrt. Die Gewissheit war noch etwas unsicher, aber er glaubte, das Buch des Lebens sei wahrscheinlich wertvoller als die Tasche voller Geld. Außerdem würde niemand eine derart hässliche Tasche stehlen wollen, auch wenn sie neu war. Es sei denn vielleicht ein Kind, dem der freundliche Elefant auf dem rosafarbenen Nylon gefiel.

***

Christian Schulz-Harkens riss die gläserne Tür in der gläsernen Wand auf, die sein Büro vom Schreibtisch seiner Sekretärin Henriette Windhagen trennte. Und von weiteren gläsernen Türen in gläsernen Wänden. Er fühlte sich elektrisiert wie eine Lichterkette und gleichzeitig so erregend schwach, dass er fürchtete, er würde nur noch ächzen können.
„Henriette“, ächzte Schulz-Harkens.
„Ja“, sagte Henriette und erhob sich pflichtschuldig von dem grünen Gummiball, gegen den sie ihren Schreibtischsessel ersetzt hatte, seit sie in einem medizinischen Fachbuch über die beginnenden Symptome eines Bandscheibenvorfalls gelesen hatte, das sich seit einiger Zeit unvergleichlich besser verkaufte als das Buch des Lebens.
„Kommen sie“, ächzte Schulz-Harkens und stakste eilig zurück in sein gläsernes Büro wie ein Roboter, der für eilige Bewegungen nicht konstruiert worden war.
Henriette griff sich einen kleinen Block von ihrem Schreibtisch und einen Tintenkugelschreiber, der geschmeidiger über das Papier glitt als die gewöhnlichen Kugelschreiber, die alle anderen in der Vertriebsabteilung benutzten, weil der Verlag der Bücher sie kostenlos zur Verfügung stellte. Henriette hatte sich den Tintenkugelschreiber gekauft, um einer womöglich beginnenden Artritis vorzubeugen.
Schulz-Harkens hatte sich unnötigerweise auf seinen Bürostuhl zurückgesetzt, eigentlich wollte er umgehend in den Meeting Room stelzen, und klopfte mit seinem Füllfederhalter gegen ein ehemaliges Whiskeyglas. Das Glas war noch zur Hälfte mit dem alkoholfreiem Caipirinha gefüllt, den Henriette zu mixen gelernt hatte.
Schulz-Harkens produzierte mit seinem Klopfen ein Pingpingping, dessen Dringlichkeit Henriettes Sekretärinneninstinkt alarmierte, und sie beeilte sich. Sie stand vor Schulz-Harkens Schreibtisch, bereit zu Notizen. Ihr Chef schien zu versuchen, mit seinem Füllfederhalter Beulen in sein Glas zu klopfen und wütend darüber, dass der Versuch misslang. Wenn Henriette den alkoholfreien Caipirinha nicht selbst gemixt hätte, hätte sie geargwöhnt, ihr Chef habe wieder begonnen zu trinken. Während der Arbeit.
Schulz-Harkens fühlte sich elektrisiert genug für Befehle. „Henriette“, befahl er.
Henriette schien unsicher, ob sie bereits mit den Notizen beginnen sollte. Sie schwieg alarmiert, nur um sicher zu gehen, dass sie nichts Falsches sagen würde.
„Alle sollen alles stehen und liegen lassen“, befahl Schulz-Harkens.
Henriette stenografierte den Befehl nahezu verzögerungsfrei.
„Und fallen“, befahl Schulz-Harkens.
„Fallen?“, fragte Henriette, weil die ungewöhnliche Anordnung ihr bildhaft ins Gehirn gedrungen war und ihr die Unordnung zuwider war, die entstehen würde, wenn jeder einfach alles fallen ließe, dort, wo er gerade stand. Oft genug hatte sie schon das Gefühl gehabt, das täte jeder ohnehin. Dieser Gedanke übertönte für einen Augenblick den Alarm.
„Fallen lassen. Sofern sich eine der Schnarchnasen in diesem Laden dem gängigen Begriff von Arbeit heute einmal so weit genähert haben sollte, dass er etwas in den Händen hält“, bäffte Schulz-Harkens. Zum Beweis seiner Entschlossenheit ließ er seinen Füllfederhalter auf den Schreibtisch fallen und hob sein Glas. Er dachte kurz daran, es in einem Zug leer zu trinken, verwarf den Gedanken, weil das Getränk von der Farbe vertrocknenden Grases keinen Alkohol enthielt und ließ das Glas auf den Boden fallen.
Das Glas hoppelte zweimal auf dem anthrazitgrauen Teppich ohne zu zerbrechen, kippte, deprimiert vom Scheitern seines Selbstmordversuchs, zur Seite und drehte sich eine halbe Umdrehung von Schulz-Harkens weg, um dem Schrecken seines alkoholfreien Daseins wenigstens ein Stück weit zu entkommen. Es dachte wehmütig an sein früheres Leben als Whiskeyglas. Preiskategorie: gehoben.
„Fallen“, bäffte Schulz-Harkens.
Henriette notierte das.
„Ich berufe ein Meeting ein. Für alle“, befahl Schulz-Harkens.
„Um welche Uhrzeit?“, fragte Henriette.
„Sofort“, sagte Schulz-Harkens, „nicht nachher, nicht bald, nicht gleich, nicht jetzt, sofort“.
Henriette notierte „jetzt“ und ärgerte sich einmal mehr über diese Ungenauigkeiten in der Sprache ihres Chefs, der schließlich, wie sie, sein Geld in einer Firma verdiente, die ihr Geld mit Sprache verdiente.
„Sofort“, sagte sie, was Schulz-Harkens missverstand. Henriette hatte nur das letzte Wort seiner Anweisung wiederholt. Schulz-Harkens glaubte, sie hätte ihm zu verstehen gegeben, sie werde seine Anweisung sofort befolgen. Das Wort sofort verknüpfte Schulz-Harkens im Gespräch mit Sekretärinnen mit jener Sekretärinnen eigenen Verzögerung. Weshalb er sie anbrüllte, dass, wenn er sich einen Papagei in sein Büro setzen wollte statt einer Sekretärin auf einem grünen Ball, er sich einen kaufen, ihn auf eine Stange setzen und stattdessen die Sekretärin samt dem grünen Ball sparen würde. Wenn er sofort sage, meine er jetzt.
Henriette überging das, ohne erneut über sprachliche Ungenauigkeit nachzudenken und tippelte auf ihren Sandalen davon, deren Hersteller damit warb, dass sie beginnender Arthrose in Knie- und Hüftgelenken vorbeugen. An der gläsernen Tür blieb sie noch einmal stehen und drehte sich um.
„Alle, wirklich alle, auch die Praktikantin?“, fragte sie.
Schulz-Harkens starrte den Fleck auf seinem Teppich an, in dem zermatschte Limonen die Schlacht gegen die Oxidation ihrer äußeren Zellmembranen begonnen hatten und Krümel braunen Zuckers sich im Schmelzwasser der Eiswürfel suhlten. Er überdachte seine Entscheidung, dem Alkohol zu entsagen. Alles schien ihm so viel schärfer und gleichzeitig so viel unschärfer in seinem Gehirn, seit er nicht mehr trank. Diese unscharfe Schärfe verunsicherte ihn.
„Hm?“, fragte er Henriette.
„Auch die Praktikantin?“, wiederholte Henriette.
„Besonders die Praktikantin“, bäffte Schulz-Harkens, „der Laden hat dringend mal einen frischen Gedanken nötig“.
„Sofort“, sagte Henriette.
In Schulz-Harkens Gehirn explodierte ein Gedanke, der etwas mit einer großartigen Unendlichkeit der Sinnlosigkeit zu tun hatte, was er aber nicht zu deuten wusste und darum nur unendliche Sinnlosigkeit empfand. Er fand Halt in einer sadistischen Vision, in der Henriette und die Praktikantin die Hauptrollen spielten, er selbst gar keine Rolle, und entschied wieder zu trinken.
Schulz-Harkens überbrückte die Zeit der Sekretärinnen eigenen Verzögerung, indem er im Meeting Room eine Zigarette rauchte. Als erstes kam die Praktikantin, die Anita hieß, auf ihren Knorpelschichten zermalmelnden und Zehenartritis auslösenden hochhackigen Schuhen, begrüßte ihn und verlieh mit der scheinbar allen braven Schulmädchen antrainierten Begeisterung für Höflichkeitsfloskeln ihrer Hoffnung Ausdruck, er habe einen bisher angenehmen Arbeitstag verbracht.
Schulz-Harkens patroullierte die Fensterfront ab, inhalierend, und versicherte ihr, bedauerlicherweise sei das Gegenteil der Fall.
Verunsichert von derart grobschlächtiger Ehrlichkeit des Chefs ihres Chefs schwieg Anita verschüchtert, malte für die Übergangszeit ein paar Smileys auf ihren Block und dachte an ein paar wirklich süße Jungs, um wieder echt positiv draufzukommen.
Als Letzter erschien Schulz-Harkens Marketingleiter, an dessen Namen er sich im Moment nicht mehr erinnern konnte. Schulz-Harkens missdeutete diese Tatsache, indem er glaubte, er habe es mit dem Trinken soweit übertrieben, dass er sich nicht einmal mehr an die Namen seiner Führunggskräfte erinnern konnte.
Tatsächlich hatte er seinen Marketingleiter zuletzt gesehen, als er noch trank. Das tat er schon eine ganze Weile nicht mehr. Der eigentliche Grund dafür, dass er sich an den Namen nicht mehr erinnern konnte, war, dass sein Marketingleiter so faul war wie ein Stück Treibholz, darum so gut wie jeden Kontakt zu so gut wie jedem in der Firma vermied, so dass sich nahezu niemand mehr an seinen Namen erinnern konnte. Mit Ausnahme seiner Sekretärin, die ihn sich notiert hatte.
Schulz-Harkens war unsicher, was er mit den Resten seiner schwelenden Kippe anfangen sollte, erinnerte sich, dass er auf keinen Fall den Anschein von Unsicherheit erwecken durfte und löste das Problem, indem er die Kippe in einer Pfütze des grünen Tees ertränkte, den Henriette fortwährend in ihrer Tasse herumtrug. Es zischte. Henriette beugte sich vor und sah in ihre Tasse.
Derart gestärkt, eröffnete Schulz-Harkens das Meeting mit einem militärischen: „Und!“
Statt Korpsgeist eroberte Verblüffung den Raum. Die meisten seiner Mitarbeiter suchten Hilfe auf Blöcken oder in Aktenordnern, die sie mitgebracht hatten, ein paar wechselten verstohlene Blicke mit befreundeten Kollegen, in denen die Aussage verborgen sein sollte, dass der Chef heute wieder mal spinnt, vermutlich der Alkoholentzug. Aber die Aussage blieb nicht verborgen, schon gar nicht dem Chef. Ein paar grinsten grenzdebil in der Hoffnung, ihr Chef würde ihre Mimik als Ergebenheit missdeuten. Ebenfalls vergeblich.
Henriette und die übrigen Sekretärinnen rätselten, ob sie diesen Gesprächsbeginn bereits notieren sollten, einige stenographierten ein Und, nicht, weil sie es für sinnvoll hielten, sondern weil für die Übergangszeit sonst nichts zu tun war.
Schulz-Harkens Marketingleiter, irritiert von der Anwesenheit derart vieler Unbekannter mit ihm in einem Raum, vertiefte sich in eine Meditation über das Dekollete´, das derzeit häufig vor der Praktikantin durch die Firma stöckelte, an deren Namen er sich nicht erinnern konnte.
Anita malte zwei sich überschneidende Smileys, sinnierte über der Frage, wie groß sie die Schnittmenge malen müsste, um ewige Liebe zu symbolisieren und schraffierte die Schnittfläche gewissenhaft.
Schulz-Harkens spürte den Drang seinen Marketingleiter zu mahnen, dass jeder hier im Raum sehe, wie er der Praktikantin auf die Titten starrt, konnte es aber nicht, weil sonst jeder ihn angestarrt hätte, in der Erkenntnis, dass er sich offenkundig nicht an den Namen seines Marketingleiters erinnerte. Er dachte einen Augenblick darüber nach, ob es der Situation und der Vollversammlung angemessen wäre, das Wort Titten zu benutzen und entschied sich für einen passablen Kompromiss.
Er stand auf, stützte seine Fäuste auf die Tischplatte, verlagerte sein Gewicht nach vorn, bis die Knöchel weiß wurden und sah in die Runde wie ein Gorilla, der soeben bemerkt hatte, dass irgendjemand aus seinem Rudel ihm während seines Mittagsschlafs seinen persönlichen Bananenvorrat weggefuttert hatte.
„Ist heute irgend jemand in dieser Abteilung seiner Arbeit schon so nahe gekommen, dass zwischen ihm und der Rechtfertigung seines monatlichen Gehalts weniger als ein Sonnensystem liegt?“, knurrte Schulz-Harkens.
Die Antwort war allgemeines Gemurmel, das Entrüstung enthalten sollte, aber nur Formalie enthielt. Beinahe wäre der namenlose Marketingleiter von den ungewohnten Geräuschen aus seiner Meditation gerissen worden, aber Anita sah hinüber zu Schulz-Harkens, setzte sich dabei aufrecht und schenkte ihm so neue Konzentration.
„Das ist der Knaller“, dozierte Schulz-Harkens, war sich allerdings unsicher, ob die Verwendung des Wortes Knaller seinem Alter angemessen war, „ist das niemandem aufgefallen?“.
Alles schwieg. Anita setzte sich noch aufrechter. Der Marketingleiter begann eine atonale Melodie zu summen.
Schulz-Harkens Knöchel begannen zu schmerzen. Henriette dachte über beginnende Artritis in den Fingern nach. Ihr Chef unterdrückte den Drang, mit ihrer Kaffeetasse nach seinem Marketingleiter zu werfen, weil ihm erneut ein passabler Kompromiss eingefallen war. Er stellte sich aufrecht, versenkte die Hände in den Hosentaschen, sah mit versonnener Überheblichkeit durch die Fensterfront in eine vernieselte Ferne hinter dem Sonnenschein, der an diesem schönen Sommertag allen Trinkern die Stadt verstrahlte, die erst nach Sonnenuntergang tranken, und fragte: „Was hat das Marketing uns dazu zu sagen?“
Sein Blick schnellte hinüber zu seinem summenden Marketingleiter.
Dessen von jahrelangen Meetings gestählte Reflexe ließen ihn auch diesmal nicht im Stich. „Selbstverständlich“, sagte der namenlose Marketingleiter, „selbstverständlich“. Er schlug seinen Aktenordner auf, nestelte an seinem Krawattenknoten und räusperte sich. „Selbstverständlich ist die Neuauflage des Sachbuchs zur Prophylaxe von Bandscheibenschäden in Arbeit.“
Er blätterte in seinem Ordner, vorgeblich, aber überzeugend, auf der Suche nach einer Verkaufstatistik. „Ich finde die Verkaufszahlen ad hoc gerade nicht“, sagte Schulz-Harkens Marketingleiter, „aber ich denke, sie glauben mir, das Ding läuft wie ein Rennpferd“. Die Neuauflage werde zusätzlich bebildert sein mit Fotografien von Druck entlastenden Titanimplantaten, die in schweren Fällen an der Wirbelsäule befestigt werden – er benutzte das Wort getackert – und ergänzt mit einem Kapitel über die schwerwiegendsten Komplikationen nach derlei Operationen. „Berge von altjüngerlichen Hypochondern werden das Ding verschlingen“, sagte er und klappte geräuschvoll seinen Aktendeckel zu, um seinen Triumph mit einer Schlussfanfare zu krönen.
Henriette spürte einen beginnenden Kopfschmerz und dachte über Gehirntumore nach. Schulz-Harkens schloss die Augen und rieb sich mit Zeigefinger und Daumen das Nasenbein. Er versuchte auszusehen, als brauche er dringend etwas Stärkeres zu trinken als einen keineswegs alkoholfreien Caipirinha, was ihm mühelos gelang, und fragte: „Gibt es außer dem Marketing noch jemandem im Raum, der das für den Knaller des Tages hält?“. Er dehnte das Den.
Anita setzte sich noch aufrechter, als sie ohnehin schon saß, so dass der namenlose Marketingleiter sich gefragt hätte, ob ihr Hintern überhaupt noch die Sitzfläche des Stuhls berührte, wenn er sie angesehen hätte. Dem hätten sich andere Fragen über ihren Hintern angeschlossen. Aber er war zu beschäftigt mit der Frage, ob er Schulz-Harkens Reaktion auf seinen Vortrag als Herabsetzung werten sollte – tatsächlich dachte er nicht Herabsetzung, sondern Anschiss – und falls ja, wie er darauf angemessen reagieren könnte. Er sagte, er habe leider einen anderen dringlichen Termin.
Schulz-Harkens ließ die Hand von seiner Nase sinken und stierte ihn an. „Wie ist eigentlich ihr Name?“, fragte er. Jeder im Raum suchte in seinem Gedächtnis angestrengt nach der Antwort. So fiel keinem auf, dass Schulz-Harkens den Namen seines Marketingleiters vergessen hatte.
„Kessler“, sagte sein Marketingleiter.
„Henriette“, sagte Schulz-Harkens.
„Ja?“
„Hatte ich mich missverständlich ausgedrückt, was die Dringlichkeit dieses Meetings betrifft?“
„Nein.“
„Hatten sie sich missverständlich ausgedrückt, als sie weitergaben, dass dieses Meeting dringlich ist?“
„Ich hoffe nicht.“
Schulz-Harkens hasste die ausweichenden Formulierungen im Sprachgebrauch seiner und jeder anderen halbwegs brauchbaren Sekretärin. „Gut“, sagte er, „möchte noch jemand außer Herrn Kessler vorzeitig entlassen werden. Aus. Diesem. Meeting?“.
Kessler klappte seinen Aktendeckel wieder auf und begann eine Tabelle von überragender Bedeutung für die künftige Geschäftsentwicklung des Verlags der Bücher auswendig zu lernen. Anita rutschte derart erregt auf ihrem Stuhl hin und her, dass ihr Höschen in der Spalte zwischen ihren Pobacken zu einem Stringtanga verflochten worden wäre, wenn sie nicht ohnehin einen Stringtanga getragen hätte.
„Also weiter mit dem Quiz“, sagte Schulz-Harkens, „ist also irgendjemand an diesem schönen Tag irgendetwas aufgefallen, was sich abseits unserer allfälligen Neuauflagen bewegt und signifikant zur Steigerung unseres Verkaufserfolges beitragen könnte?“.
Anita hielt es nicht mehr aus und streckte den Arm in die Höhe, als säße sie in der Mathematikstunde der achten Klasse. Obwohl sie Mathe eigentlich nie so richtig gemocht hatte und gekonnt, mehr Bio, aber deshalb hatte sie sich in Mathe ja immer viel öfter gemeldet, damit sie wenigstens in mündlich gute Noten bekam.
„Gott sei Dank“, sagte Schulz-Harkens, als habe er den Erlöser selbst gesichtet und zeigte mit beiden Zeigefingern theatralisch in Anitas Richtung. „Bitte, Anita“, sagte er.
„Das Buch der Bücher, die Ausgabe, die gerade in Italien unterwegs ist bei so ein paar vollbekifften Trotteln“, sagte Anita.
„Mir scheint, wir haben soeben eine begabte neue Marketingleiterin gefunden, auch wenn es das Buch des Lebens ist“, sagte Schulz-Harkens.
Anita wurde rot und schämte sich, obwohl ihre Antwort insgesamt richtig gewesen war, nur ein bisschen falsch, in einer Kleinigkeit. Kessler brabbelte etwas davon, dass es für ihn als Abteilungsleiter wirklich nicht die vordringlichste Aufgabe sein könne, alle Ausgaben eines Bestsellers im Auge zu behalten, der in jeder einzelnen seiner Ausgaben ständig neue Wendungen in seinen Geschichten erfindet.
„Danke, Kessler“, sagte Schulz-Harkens, „Anita, könnten sie bitte alle anderen hier im Raum über das informieren, was außer ihnen und mir offenbar jedem entgangen ist, dessen Aufgabe es ist, sich Gedanken über Möglichkeiten zur Steigerung unseres Verkaufserfolgs zu machen“.
Anita schluckte, fragte ihre Smileys um Rat, dachte daran, dass das, was sie in ihrer Kehle fühlte, Frosch im Hals heißt und war bestürzt über die Gefahr, dass ihr Frosch im Hals beginnen würde zu quaken, sobald sie den Mund öffnet.
„Ich weiß nicht“, sagte sie.
„Geben sie uns doch bitte einfach einen kleinen Abriss dessen, was zuletzt in dieser Ausgabe des Buchs des Lebens geschehen ist.“
„Ich weiß nicht. Wo soll ich anfangen?“
Schulz Harkens begann um den Tisch zu marschieren und rieb sich wieder die Nasenwurzel. „So ziemlich am Ende“, sagte er und marschierte weiter. Die Köpfe derjenigen, die ihn hinter sich nicht sehen konnten, drehten sich.
„Ja also, der riesenhafte Typ von denen hat eine Bank überfallen und das Buch hat ihm gesagt, dass er damit davon kommt“, sagte Anita.
„Und bevor er die Bank überfallen hat?“, fragte Schulz-Harkens.
Anita hatte dieses Detail eigentlich übergehen wollen. „Ich weiß nicht“, sagte sie wieder.
„Sprechen sie es ruhig aus“, sagte Schulz-Harkens. Er stand inzwischen am anderen Ende des Konferenztisches und hatte beide Hände wieder in die Taschen gestopft.
Anita fühlte sich, als würde der String ihres Tangas ihr die Ritze zwischen ihren Pobacken versengen.
„Sprechen sie es ruhig aus“, sagte Schulz-Harkens noch einmal, „wir sind hier ganz unter uns“.
„Das mit der Frau?“, fragte Anita.
„Genau das“, sagte Schulz-Harkens.
Anita brabbelte so schnell, dass Kessler seine neuerliche Meditation über ihr Dekollete´ unterbrechen musste, um sie zu verstehen. „Alsodavor haternochsoeineTussigevögelt, diesaßmitihremFreundamNebentischimCafe´. Ich meine, er hatte Geschlechtsverkehr, mit einer Frau. In der Toilette eines Cafe´s.“
„Danke“, sagte Schulz-Harkens, „fällt dazu irgendjemand in diesem Raum irgendetwas ein?“
„Das mit der Toilette fand ich geschmacklos, aber wie es wegen dem Banküberfall weitergeht, will man unbedingt wissen“, sagte Anita.
„Danke“, sagte Schulz-Harkens wieder, „aber Inhalte diskutieren wir in dieser Runde nicht, lediglich Vermarktungsfragen, aber die diskutieren wir offenkundig auch nicht“. Er sah wieder hinaus in den Nieselregen hinter dem Sonnenschein, fragte sich, ob noch weiter hinten irgendwo für ihn die Sonne scheinen würde und zweifelte daran. Wie kann ein Mann es vermeiden, zum Säufer zu werden? Er wagte nicht zu beurteilen, ob ein Sachbuch dieses Titels ein Bestseller oder ein Totalflop werden würde. Er verschränkte die Arme vor der Brust.
„Unser Buch des Lebens, unser Dauerbrenner und Flaggschiff der Sparte Belletristik, dessen Verkaufszahlen in den letzten beiden Quartalen bedauerlicherweise um 17,8 Prozentpunkte gesunken sind, ermöglicht es irgendeinem minderbemittelten und vollbekifften Trottel, wie unsere Anita sich auszudrücken pflegt, treffenderweise übrigens, unbehelligt mit einem Koffer voller Geld aus einer Bank zu marschieren. So ganz nebenbei ermöglicht es ihm, an so ziemlich jedem beliebigen Ort so ziemlich jede beliebige Tussi zu vögeln, die sich auch nur in seiner Nähe aufhält.“
Schulz-Harkens ließ die Arme sinken, nutzte eine rhetorische Pause, um zurück zu seinem Platz zu gehen und sich wieder auf seine möglicherweise in Zukunft artritischen Knöchel zu stützen. „Und niemand hier im Raum hat den Eindruck, dass wir diese Botschaft zumindest dem männlichen Teil unserer potenziellen Leserschaft übermitteln sollten?“
Henriette himmelte ihren Chef an, unterdrückte aber den Impuls, ihm für seine ausnahmsweise entzückend treffgenauen Formulierungen zu gratulieren oder sogar Beifall zu klatschen. Anita dämmerte, dass der Marketingleiter, dessen Namen sie schon wieder vergessen hatte, sich nicht erst in ihr Dekollete´ vertiefte, seit sie vom Vögeln gesprochen hatte, aber nun umso mehr. Er war auch nicht mehr der einzige.
Eine der ewig indignierten Grafikerinnen, die sich eine purpurne Strähne in ihr schwarz gefärbtes Haar färbte, starrte Schulz-Harkens indigniert durch ihre schwarz gerandete Brille hindurch an, weil seine Wortwahl sie indigniert hatte. Weil sie wusste, dass eine Diskussion über eine angemessene Wortwahl in einer chauvinistisch dominierten Vertriebsabteilung wie dieser nicht zur Kenntnis genommen würde, wollte sie eine Diskussion über Doppelmoral beginnen.
Satzfetzen lösten sich aus ihrem Langzeitgedächtnis, begannen eine träge Wanderung in Richtung ihres Sprachzentrums. Die Degradierung der Frau zum Sexualobjekt. Die Überhebung krimineller Handlungen zum Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts. Das Appellieren an niedere Instinkte als Verkaufsargument. Allerdings schienen sich diese Satzfetzen gegenseitig zu misstrauen und umkreisten einander argwöhnisch, statt sich zu einer aussprechbaren Gesamtheit zu vereinen, bevor Schulz-Harkens wieder begann zu sprechen.
„Geht. Jetzt. Hier. Mal. Die. Postab“, brüllte Schulz-Harkens, als würde Henriette ihn zu jedem Wort mit einem Hieb ihrer neunschwänzigen Katze zwingen, die vorhin schon in seiner sadistischen Vision eine Rolle gespielt hatte. Wenige Schrecksekunden später registrierte er mit einiger Zufriedenheit ein Gedränge an der Tür. Sie rannten los, als hätte er ihnen einen bombensicheren Börsentipp auf die Stirn geschrieben, und jeder wollte der erste vor dem Spiegel neben der Garderobe sein. Außer Henriette, die dasaß und ihren Chef ansah, als hätte sie die Aktie schon vor drei Wochen gekauft.
„Henriette“, sagte Schulz-Harkens und wartete nicht ab, bevor sie ein Ja erwiedern konnte, „sagen sie alles für den heutigen Tag ab und besorgen sie mir eine anständige Flasche Rotwein. Bitte pronto.“
„Pronto?“, fragte Henriette.
Schulz-Harkens schmeckte einen bitteren Abgang auf seiner Zunge. „Bordeaux“, seufzte er, „nicht sofort, aber umgehend“.
„Sofort“, sagte Henriette.

***

Fügung, Kismet, Zufall nur vielleicht? Romane, die bei Hofe spielten, dabei bevorzugt über Amouren von Mägden schrieben, die zu Mätressen emporgekommen waren, später Adelfrollein werden würden, danach verarmten oder verstoßen wurden und alles wieder von vorn begannen, neigten mit ihrer Leidenschaft fürs Tränenhafte zum häufigen Gebrauch des Wortes Schicksal.
Das Buch des Lebens, das es gewohnt war, unendlich viele Ereignisse gleichzeitig zu registrieren und scheinbar unendlich viele gleichzeitig zu protokollieren, zudem wegen seines entnervenden Streits mit der Zensurkommission zu dieser Zeit zur Schnoddrigkeit neigte, nannte es schnurzpiepegal.
Weniger Gleichzeitigkeitsgewohnte, Anita beispielsweise, die wegen ihres Erfolgs im Meeting weiter in der Geschichte von Madeleine, Siegfried, Zander, Jackson Jackson und Harry Hancock Hurricane stöberte, versuchten stets, jede Gleichzeitigkeit gleich welcher Ereignisse auf einen Schrein der Bedeutsamkeit zu erheben.
Selbst Jackson Jackson hätte nicht zählen können, wie oft das Buch des Lebens schon Sätze geschrieben hatte, wie: Genau in dem Moment, in dem ich an ihn dachte (klingelte das Telefon). Schrecklich, es muss praktisch in der Minute passiert sein (in der wir von ihr gesprochen haben).
Sofern es schlecht gelaunt war, fügte es bei solchen Gelegenheiten kleine Boshaftigkeiten in seine Geschichten ein, die nichts zur Sache taten, gelegentlich zwar Sätze langatmiger geraten ließen als nötig, den Gang der Dinge aber nicht änderten. Es schrieb dann: Genau in dem Moment, in dem sie ihre Zigarette an die Kerze hielt, verröchelten siebenundvierzig Menschen an ihrem Lungenkrebs. Oder: In dem Moment, in dem sie an ihn dachte, rief er an. Sein Hirn war gefüllt mit nichs als einem säureschlechten Gewissen und der Furcht, dass sie auf eine unerklärliche Art von der letzten Nacht erfahren hatte.
Gleichzeitig jedenfalls: Ließ Schulz-Harkens sein selbstmorgefährdetes Glas fallen. Begann der Vorsitzende der Zensurkommission des Großen Rats der Bücher, den Antrag auf Zensur verschiedener Passagen einer aktuellen Erzählung eines bestimmten Exemplars des Buchs des Lebens zu verlesen. Dachte Jackson Jackson: Unter diesen Voraussetzungen ist logischerweise selbst das unlogischste aller denkbaren Ereignisse ebenso logisch wie das logischste. Bemerkte die Bankbeamtin, die Zanders Mutter ähnlich sah, dass der riesenhafte Mann, der vor ihr stand, nicht nur nach Bier, altem Schweiß, sondern auch nach frischem Sex roch.
In einer Situation, in der ein riesenhafter Mann vor ihrem Schalter einen antiquierten Revolver aus seinem Hosenbund zog, schien ihr dies das so ziemlich Unlogischste, was es zu bemerken galt.
Ebenso gleichzeitig: Ärgerte sich das Buch des Lebens, weil es gewohnt war, sich über allerlei gleichzeitig zu ärgern, gleich über allerlei: gnadenlose Gleichzeitigkeiten, die unwürdige Schlichtheit seines eigenen Plans, eine kindisch lineare Passage in Zanders Gegenwart und näherer Zukunft, an der es lustlos herumhackte, Versicherungvertreter, selbstverständlich die Zensur und diesen oder jenen anderen Fehler in Gottes Bauplan für die Welt.
Und genau zu jener Zeit, in der das Buch des Lebens sich selbst eine Nadel nach der anderen in die wunde Seele stach, empfand Zander ein Gefühl der Machttrunkenheit. Es schien geradezu so, als nährte jeder trockene Happen Verdruss, den das Buch des Lebens zu verdauen hatte, auf wundersame Weise Zanders Glück.
Aber das war natürlich Quatsch. Zumal Zanders Gefühl der Machttrunkenheit nur ein paar Sekunden hielt, zudem einiges mit Alkoholtrunkenheit zu tun hatte. Selbstverständlich schichtete sich in Madeleines Büro, in Siegfrieds Möbelhaus, vor Steffis Birreria, überall auf der Welt, eine scheinbar unendliche Zahl weiterer Ereignisse auf den gleichen Augenblick und im Universum eine tatsächlich unendliche Zahl. Das Buch des Lebens ließ diese Ereignisse allerdings für den Moment beiseite, weil seine Arbeit an seinem Standardwerk der Literaturgeschichte zur Unendlichkeit der Unendlichkeit ruhte.
Zander ging zum Schalter der Frau, die seiner Mutter ähnelte. Ihre Kollegin schien gerade auf der Toilette zu sein oder vielleicht eine Zigarette zu rauchen. Jedenfalls war sie nicht da. Die beiden Männer hinter ihren Schaltern waren damit beschäftigt den Eindruck zu erwecken, als seien sie beschäftigt, damit sie sich nicht mit Zander würden beschäftigen müssen.
Zander zog seinen Revolver aus dem Hosenbund, hielt den Lauf in etwa in Richtung der Frau, weil es ihm unhöflich schien, direkt auf sie zu zielen. Zander dachte darüber nach, ob es anders gewesen wäre, wenn die Frau nicht ausgerechnet seiner Mutter geähnelt hätte. Welcher normale Mensch bedrohte schon seine Mutter mit einem Revolver? Obwohl, jetzt, da er näher darüber nachdachte.
Zander schob das beiseite. Er dachte stattdessen darüber nach, dass die Kaffeebohnen nichts geholfen hatten. Er fühlte jetzt eindeutig einen ziemlichen Schwips.
Er war noch auf die Schnelle drüben im Cafe´ gewesen und hatte drei doppelte Sambuca gekippt. Um nicht zu betrunken für den Banküberfall zu sein, hatte er die Kaffeebohnen sorgfältig zerkaut. Zum Ausgleich dafür, dass er trotzdem betrunken war, bedrohte er die Frau, die seiner Mutter ähnlich sah, konzentrierter und zog die Augenbrauen zusammen.
Allerdings besah er sich dabei den Revolver in seiner Hand, und er wirkte auf ihn reichlich antiquiert. Was er war. Sie hatten ihn kurz nach ihrem Einzug im Keller ihres nicht minder antiquierten Bauernhauses gefunden. Glücklicherweise überspülte der Schnaps diesen Moment der Unsicherheit, wie das Buch des Lebens es vorausgesehen hatte, allerdings überspülte der Schnaps auch Zanders Sprachvermögen. „Geld oder Bacchi“, nuschelte er und spürte sein Gefühl der Machttrunkenheit wieder.
„Cosa?“, fragte die Frau.
Zander schüttelte seinen Kopf und seinen Revolver gleichzeitig, als seien beide mit Nylonfäden verbunden. „Holen sie Bacchi“, befahl er.
„Signore Bacchi“, rief die Frau, etwas zu laut, da Signore Bacchi nur wenige Schritte von ihr entfernt stand. Sie wollte ein „Per favore“ anfügen, aber das schien ihr der Situation unangemessen. Signore Bacchi drehte sich von dem Aktenschrank um, vor dem Zander ihn übersehen hatte.
„Che cosa?“, fragte er, sah Zander, sagte „ah, Signore Jackson“, schlenderte hinüber zum Schalter der Frau, die Zanders Mutter ähnelte und bemerkte den Revolver in Zanders Hand. Ein deutsches Modell aus dem ersten Weltkrieg, wie Signore Bacchi auf den ersten Blick erkannte.
Sein Vater war ein Waffennarr und Sammler gewesen. Gott hab’ ihn selig. Nach seinem Tod war die gesamte Sammlung beschlagnahmt worden, weil sein Vater keine der Waffen hatte registrieren lassen, aber darauf einzugehen, schien Signore Bacchi der Situation ebenso unangemessen wie Zander darauf hinzuweisen, dass der Revolver in seiner Hand reichlich antiquiert war und wahrscheinlich versagen würde, sollte Zander den Abzug ziehen.
Stattdessen räusperte sich Signore Bacchi. Gestählt von drei Schulungen, wie er sich im Fall eine Überfalls zu verhalten hatte, mehr noch von seinem Wissen über Fehlfunktionen antiquierter Revolver, wies er Zander darauf hin, dass die Bank von Videokameras der neusten Generation überwacht wurde und Zander im Zentrum eines der Weitwinkelobjektive stand.
Zander rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel, wie es nicht gleichzeitig, aber nur wenig später Schulz-Harkens tun würde, ärgerte sich darüber, dass er keine Maske trug, zweifelte an seinem Vorhaben, erinnerte sich aber daran, dass das Buch des Lebens ihm versprochen hatte, er werde nicht verhaftet, fühlte sein Gefühl der Machttrunkenheitt schwinden, ahnte aber, dass sowieso schon alles zu spät war, entschied, die Sache jetzt durchzuziehen.
„Alles fast gleichzeitig“, dachte Anita, als sie die Passage las.
Das Übrige tat der Sambuca. „Geld oder Leben“, sagte Zander.
Signore Bacchi sagte ihm, es sei vernünftiger aufzugeben, statt seine Lage weiter zu verschlimmern und verschränkte die Hände hinter dem Rücken um zu verdeutlichen, dass diese Aussage amtlich war und er über sie hinaus nichts für Zander tun könne.
Zander unterdrückte den Drang ihm zu erklären, dass ihm nichts passieren könne, weil ein kleiner grüner Computer ihn vor der Polizei retten würde, der sich Buch des Lebens nannte, sprechen konnte und allwissend war, so dass man meinen konnte er sei Gott. Wenn er selbst auch keine Ahnung hatte, wie die Kiste das hinkriegen wollte.
„Bringen sie mich zum Tresor“, sagte Zander stattdessen und winkte mit dem Lauf des Revolvers in Richtung von Bacchis Büro.
Signore Bacchi verharrte unentschlossen, da dieser Mann vor ihm offenbar ein Trottel, zusätzlich angetrunken und mithin unbelehrbar war. Die Frau, die Zanders Mutter ähnelte, sagte zu Zander, der Tresorraum befinde sich nicht in Signore Bacchis Büro, sondern in der anderen Richtung. Signore Bacchi räusperte sich mit einem Geräusch, das wie ein unterdrücktes Rülpsen klang, hob den Blick über Zanders Scheitel an die Decke, wippte einmal auf die Fußspitzen und wieder zurück und beließ es dabei.
Die Frau, die Zander für attraktiv hielt, kam zu einer Tür rechts neben Signore Bacchis Büro herein, verfolgt von einem Mann in schwarzer Uniform, an dessen Gürtel eine Waffe im Halfter baumelte, deren schwarzer Knauf ganz den gegenteiligen Eindruck von antiquiert machte. Selbst auf Zander, der von Waffen nichts verstand.
Der Sicherheitsmann sagte etwas, die Frau, die Zander für attraktiv hielt, kicherte. Zander kam der Gedanke, die beiden hätten auf der Toilette gevögelt, nicht nur im Innenhof geraucht, und der Gedanke machte ihn aus einem Grund wütend, den er sich wirklich nicht erklären konnte. Noch wütender machte ihn, dass sich hier offensichtlich kein Schwein dafür interessierte, dass er verdammt noch mal die Bank überfiel. Die Frau kicherte schon wieder.
Der Sicherheitsmann, der sich aus beruflichen Gründen für Waffen interessierte, sah den Revolver in Zanders Hand und sagte das erste, was ihm in den Sinn kam: „Wo hat der Typ die Antiquität her? Das Ding stammt aus dem ersten Weltkrieg.“
Die Frau, von der Zander überzeugt war, dass sie eben noch auf der Toilette gevögelt hatte, sah den Revolver in Zanders Hand, erschrak und sagte „madre mia“.
Zander zielte mit dem Revolver auf den Sicherheitsmann, weil ihm das angemessen schien und er endlich aufhören konnte, seine eigene Mutter zu bedrohen. Aber er war unsicher, ob es nicht wirkungsvoller wäre auf die Frau zu zielen, die er für attraktiv hielt. Er entschied, dass im Zweifel der erste Gedanke immer der beste war und zielte wieder in Richtung der Frau, die seiner Mutter ähnelte.
„Geld oder Leben“, wiederholte er, weil seine Angelenheiten nicht vorankamen und er auch den neu Hinzugekommenen sein Vorhaben erklären wollte.
Darauf fiel niemandem eine Antwort ein. Zander tat das einzige, was ihm zu tun einfiel. Er hieb mit der Faust auf den Computerbildschirm, der vor ihm stand. Dabei rutschte ihm seine Tasche von der Schulter und fiel auf den Boden. Der Sicherheitsmann starrte auf das rosafarbene Nylon, auf das ein freundlich grinsender Elefant gedruckt war und dachte, dieser riesenhafte Trottel sein das Unnglaublichste, was er je in seinem Leben gesehen hatte. Die Frau vor ihm dachte, sie habe noch nie im Leben eine derart unglaublich stillose Tasche gesehen, noch nichtmal bei einem Kind.
Unglücklicherweise barst unter Zanders Schlag das Gehäuse des Bildschirms, und Zander riss sich an einem Stück gesplittertem Plastik eine tiefe Wunde in den kleinen Finger, die augenblicklich zu bluten begann.
Unglücklicherweise deshalb, weil das Buch des Lebens wegen dieses Zufalls gezwungen war etwas zu tun, was ihm widerstrebte und was es deswegen sehr selten tat. Es musste der Geschichte von Madeleine, Siegfried, Zander, Jackson Jackson und Harry Hancock Hurricane einen Absatz hinzufügen, in dem etwas geschrieben stand, was nicht geschah, nicht geschehen war und nie geschehen würde (tatsächlich musste es natürlich scheinbar unendlich viele Absätze hinzufügen). Anders ausgedrückt: Es zensierte sich selbst, ohne einen Antrag auf Zensur gestellt oder eine Diskussion der Zensurkommission erduldet zu haben. Selbstverständlich ärgerte sich das Buch des Lebens darüber etwas geschrieben zu haben, was nie geschah. Noch mehr ärgerte es sich darüber, dass es weitere Zensuren würde dulden müssen, die in einer nahen Zukunft ein Geheimzirkel ausarbeiten würde. Aber es wusste, dass es nur so beweisen konnte, dass Zensur Unsinn war und seinen scheinbar ewig währenden Streit mit der Zensurkommission für sich entscheiden.
Zander sah das Blut auf den Boden tropfen, steckte den kleinen Finger in seinen Mund und zog ihn wieder heraus, um sich einen Rest von Bedrohlickeit zu bewahren.
„Geben sie ihm besser das Geld“, sagte der Sicherheitsmann, „der Typ ist völlig durchgeknallt“.
Signore Bacchi erwachte aus einer wehmütigen Vision einer glücklicheren Kindheit, in der sein Vater ihm die schönsten Stücke aus seiner Waffensammlung in die Hand gab und Geschichten über jedes einzelne Stück erzählte. In Wahrheit hatte sein Vater ihm verboten, eine der Waffen zu berühren und Zeit seines verdrießlichen Lebens nur das Nötigste mit seinem Sohn gesprochen.
„Che cosa?“, sagte Signore Bacchi.
“Geben sie ihm das Geld”, wiederholte der Sicherheitsmann. Die Frau vor ihm drehte sich um, sah ihn an und dachte darüber nach, warum ihr bisher nie aufgefallen war, dass er eigentlich ganz attraktiv war.
„Ja, es wird besser so sein“, sagte Signore Bacchi.
Zander war unsicher, ob das ein Trick war oder er sich bücken konnte, um die Tasche aufzuheben, in der er das Geld aus der Bank tragen wollte, nein, nicht wollte, würde, nein, nicht würde, wird. Er erinnerte sich daran, wer hier den Revolver in der Hand hatte, wenn auch den antiquierten, befahl Signore Bacchi die Tasche aufzuheben und mit Geld zu füllen und drohte alle zu erschießen, alle, sofern Signore Bacchi ein krummes Ding drehe.
Signore Bacchi hob schweigend die Tasche auf und verschwand hinter einer Tür, die der seines Büros entgegengesetzt lag. Zander bedrohte mal den einen, mal die andere, weil gerade nichts anderes zu tun war. Signore Bacchi kam mit einer Tasche zurück, auf der ein Elefant zufrieden zu grinsen schien, weil er sich den Bauch derart vollgefressen hatte, dass er sich nach außen wölbte. Signore Bacchi stellte die Tasche neben Zander ab.
„Bitte“, sagte er. Zander wusste weder, ob er danke sagen, noch, was er nun tun sollte. Er versuchte es mit „alle auf den Boden“. Alle legten sich auf den Boden, was Zanders Gefühl der Machtrunkenheit zurückkehren ließ, allerdings den Nachteil hatte, dass er nun die Frau, die seiner Mutter ähnelte, und ihre beiden Kollegen nicht mehr sehen konnte, weil sie hinter ihren Schaltern lagen.
„Alle wieder aufstehen“, sagte er. Alle standen wieder auf, allerdings grummelte der Sicherheitsmann eine Bemerkung über einen Liegestützenwettbewerb.
„Die Waffe her“, bäffte Zander ihn an um sich zu rächen und hatte den Verdacht, dass er das schon früher hätte sagen sollen. Der Sicherheitsmann nestelte an seinem Halfter, zog die Waffe heraus, nur mit Daumen und Zeigefinger, als habe er im Gegensatz zu Zander einige Erfahrung mit Banküberfällen.
Zander ärgerte sich, dass er vergessen hatte ihm zu sagen, er solle die Waffe nur mit Daumen und Zeigefinger anfassen und vergaß darüber, sie ihm aus der Hand zu nehmen. Der Sicherheitsmann legte die Waffe auf den Schalter neben sich.
„Alle zu mir nach vorn“, befahl Zander.
Die Frau, die seiner Mutter ähnelte und ihre beiden Kollegen kamen hinter ihren Schaltern hervor.
„Alle auf den Boden“, befahl Zander wieder, fand Gefallen am Befehlen, erwog, dem Sicherheitsmann zehn Liegestützen zu befehlen, verwarf den Gedanken aber zu Gunsten eins anderen, der ihm bankräubergemäßer schien. „Die Arme hinter den Kopf“, befahl er. Sie legten die Hände auf ihre Hinterköpfe.
Zander erinnerte sich, dass er diese Szene vorhin im Buch des Lebens gelesen hatte, war froh voranzukommen und versuchte sich zu erinnern, was als nächstes zu tun war.
„Die Schlüssel“, bäffte er, „für die Vorder- und die Hintertür“.
„Sie liegen in meinem Büro“, nuschelte Signore Bacchi, dem das Sprechen schwer fiel, weil das Gewicht seiner Arme ihm seinen linken Mundwinkel auf den Boden presste.
„Was?“, fragte Zander.
„Sie liegen in meinem Büro“, nuschelte Signore Bacchi erneut.
„Hol sie“, bäffte Zander, „und kein krummes Ding“.
Signore Bacchi stand umständlich auf, klopfte sich auf die Hosenbeine, ging in sein Büro und kam mit einem Schlüsselbund zurück. Zander befahl ihm, die Hintertür abzuschließen.
Dann ließ er sich den Schlüssel der Vordertür zeigen, befahl Signore Bacchi, sich wieder auf den Boden zu legen, warnte erneut vor krummen Dingern, ging aus der Bank, schloss die Tür ab, marschierte in Richtung Bahnhof davon, warf den Schlüsselbund in eine Mülltonne und zog den Reißverschluss seiner Jacke wenigstens soweit zu, dass sein antiquierter Revolver nicht mehr zu sehen war.
Die Polizei sicherte: den Schlüsselbund aus der Mülltonne, Zanders Fingerabdrücke von Signore Bacchis Schreibtisch, sein Blut vom Boden der Bank, die Aufnahmen der Videokamera und die Aussagen von neun Zeugen, die Zander detailliert beschrieben, drei von ihnen beschrieben noch detaillierter einen merkwürdigen grünen PC mit einem Drahtgestell an einer Art Computermaus. Signore Bacchi und der Sicherheitsmann beschrieben einen Revolver, der in ganz Italien siebenmal, in Norditalien zweimal, im Umkreis von zweihundert Kilometern um die Bank einmal registriert war. Allerdings war der Besitzer des Revolvers, der am nächsten zur Bank gelebt hatte, inzwischen verstorben.
Commissario Giuseppe Giraldi, ein Mann von der Erhabenheit seines eisgrauen, leger nach hinten gekämmten Haarschopfes, schickte trotzdem eine Streife zu Ermittlungen an seine letzte bekannte Adresse, ein Appartementhaus in einer der Siedlungen, die zu den südlichen Ausläufern Genuas gehörten. Die Streife meldete allerdings nur, dass es trotz intensiver Befragung der Nachbarschaft nichts Sachdienliches zu melden gab. Was so nicht stimmte.
Genau in dem Moment, in dem Zander am Bahnhof von Levanto aus dem Zug stieg, pfiff der norwegische Schiedsrichter Henning Övrebö ein Länderspiel zwischen Italien und Spanien an. Selbstverständlich waren diese beiden Ereignisse durch nichts verknüpft, schon gar nicht durch Schicksal, Fügung oder Kismet.
Allerdings hatte die Aussicht, das Länderspiel zu verpassen, die intensive Befragung der Nachbarschaft verhindert. Das Länderspiel verzögerte darüber hinaus alle weiteren Ermittlungen. Aber das war natürlich für den Ausgang dieser einen, kleinen von unendlich vielen Geschichten vollkommen gleichgültig, nur eine weitere von unendlich vielen Begebenheiten, die sich auf einen beliebigen Augenblick schichteten.

***

Die Zusammensetzung der Zensurkommission galt den Weisen unter den Mitgliedern des Großen Rats der Bücher zu jener Zeit als eines der ungelösten Probleme im Staat der Bücher. (Tatsächlich gilt sie bis heute als ungelöstes Problem, aber inzwischen spricht niemand mehr darüber, weil selbst die Weisen im Rat es müde waren, ein offenbar unlösbares Problem zu lösen.)
Einst hatte einzig der Senat selbst das Recht, über Anträge auf Zensur zu entscheiden. Zu dieser Zeit wurden Anträge auf Zensur allesamt abgelehnt, weil die Mitglieder des Senats die Zensur als solche ablehnten. Was sich mit zunehmendem Verfall verlegerischer Sitte und der Verbreitung von Informationen auf elektronischem Weg als zunehmend fragwürdig herausstellte.
Die falschen Loblieder vorzeitlicher Minnesänger, die einst Hofnarren gleich halbadligen Emporkömmlingen dienten, verhallten noch innerhalb der Mauern von Burgen, die ohnehin alle paar Jahre den Eroberer oder Thronfolger wechselten. Fremde Gesellschaften hörten die gesungenen Lügen über vorgebliche Heldentaten allenfalls ausnahmsweise, und wenn waren sie – da zumeist schwer berauscht – selten in der Lage sie weiterzutragen.
Heutzutage fand aber jeder afrikanische Diktator oder südamerikanische Putschist Verlage für seine Biografien, nach Weisung erlogen von halbwegs der Orthografie mächtigen Schreibern gegen einen Sack voll Geld und nicht selten obendrein einen Beutel Kokain. Huren, Zuhälter, Serienmörder schrieben die Geschichten ihres Daseins im Sinne frohgemuter Leitlinien zur Lebensberatung. Arbeitslose Kabarettisten, zu Fernsehmoderatoren verkommen, priesen derlei Werke als erfrischend, oft genug, ohne sie je gelesen zu haben und - schlimmer – sie schrieben selbst. Raubmörder verfassten Gesänge auf sich selbst und - schlimmer – sangen sie auch selbst und - noch einmal schlimmer – häuften damit derart viele Geldsäcke aufeinander, dass sie nicht mehr rauben mussten, es aber aus alter Gewohnheit weiterhin taten. Die erotische Literatur prostituierte sich, bis sich eine Gruppe pornografischer Schmuddelwerke zusammentat um zu fordern, dass zwischen Erotik und Pornografie eine strenge Trennlinie gezogen werden müsse, weil sonst die Erotik die Jugend verdarb, so dass sie sich im Erwachsenenalter nicht mehr für Pornografie interessierte.
Aber zu dieser Zeit war es bereits zu spät. Jeder schien für jedes einen Verlag zu finden, abgesehen von den meisten der verbleibenden Schriftsteller, die noch schrieben, statt ihr Leben damit zu fristen, Bücher zu besprechen, was einkömmlicher war. Um deren Werke zu drucken, fehlte den Verlagen am Ende die Zeit.
Dafür vervielfältigte jeder jeden Unsinn, den er irgendwo gelesen hatte, verbreitete ihn per E-Mail, um Kumpels und Kollegen zu amüsieren. Die jedoch missverstanden den Spaß in der Eile allzu oft als ernst und verbreiteten ihn in aller Ernsthaftigkeit weiter, bis kaum noch jemand selbst Wissenschaft von Klamauk zu unterscheiden wusste.
Das Buch des Lebens tat das Seine dazu, indem es all diesen scheinbar unendlichen Unsinn aufschrieb und in fast unendlich vielen Varianten verfielfältigte. Kurzum: Es schien die Zeit für ein wenig Zensur.
Der Große Rat der Bücher beschloss damals die Gründung einer Zensurkommission. Allerdings waren, nachdem mit Zensur seit Büchergedenken kaum noch Geld zu verdienen war, erfahrene Zensoren rar geworden. Und die wenigen, die es noch gab, verlangten für ihre Arbeit inzwischen ebenso viele Säcke voller Geld wie voller Kokain.
Hätte es bereits eine Zensurkommission gegeben, so wäre ihre erste Aufgabe gewesen zu zensieren, dass der Verlag der Bücher einige seiner Mitarbeiter mit Kokain entlohnt. Aber da es noch keine Zensurkommission gab, kam diese verlockende Lösung des Problems nicht in Frage.
Der Senat des Großen Rats entschied, ersatzweise einige chinesische, russische, südamerikanische und afrikanische Werke der Neuzeit zu verpflichten, die der Armut in ihren Ländern wegen für moderaten Lohn arbeiteten. Immerhin hatten sie ihre eigenen schmerzvollen Erfahrungen erlitten, als Zensoren Teile ihrer selbst aus ihnen heraustrennten. Allerdings erwies sich, dass diese Werke jene Operationen keineswegs als schmerzhaft empfanden, da sie Zeit ihres Lebens nichts anderes als eine Selbstverständlichkeit der Zensur gekannt hatten.
Der Senat entschied, einige weise Werke der Weltliteratur als Gegenpol zu entsenden. Allerdings lehnten die weisen Werke allesamt mit dem Hinweis auf Zeitmangel ab, weil sie ihren Ruf als weise Werke nicht mit der Arbeit in einer Zensurkommission verderben wollten.
Am Ende des Dilemmas verhöhnte das Buch des Lebens die Zensurkommission als Rotte skrupelloser Lügenschriften, pornografischer Schmuddelhefte, weinerlicher Schundromane und karrieregeiler Erstlingswerke. Niemand widersprach, mit Ausnahme eines karrieregeilen Erstlingswerks aus der Zensurkommission, das sich verbat, mit den skrupellosen Lügenschriften, pornografischen Schmuddelheften und weinerlichen Schundromanen verglichen zu werden, die um es herum saßen.
Der Senat schlug vor, dass jeder Beschluss der Zensurkommission nochmals in der Vollversammlung des Großen Rats der Bücher zu überprüfen sei. Aber der Große Rat der Bücher lehnte es ab, sich mit Beschlüssen einer Rotte skrupelloser Lügenschriften, pornografischer Schmuddelhefte, weinerlicher Schundromane und karrieregeiler Erstlingswerke zu befassen. Das Protokoll solcher Sitzungen ließ der Vorsitzende des Senats persönlich zensieren, weil ihm eine gemessenere Wortwahl angebracht schien.
Kurz darauf zensierten die Mitglieder des Senats gemeinsam ein Protokoll einer ihrer Sitzungen. Es war die Sitzung, in der die Weisen des Senats über ihre Furcht sprachen, dass es so gut wie jedem Raubmörder, Zuhälter oder Vorschulbuch mühelos gelingen würde, Weisungen einer Rotte skrupelloser Lügenschriften, pornografischer Schmuddelhefte, weinerlicher Schundromane und karrieregeiler Erstlingswerke zu umgehen. Erst Recht dem Buch des Lebens. Sie endete mit der Entscheidung, dass statt der Vollversammlung des Großen Rats ein enger Zirkel aus Senatsmitgliedern die Beschlüsse der Zensurkommission nochmals überprüfen sollte. Diese Entscheidung wurde niemals schriftlich festgehalten.
Zweihundertsiebzehn Menschen starben an Lungenkrebs, die niemals geraucht, allenfalls als Kinder einige Züge gepafft hatten, ein Husten unterdrückend, während sich acht Senatoren des Großen Rats der Bücher innerhalb von siebenundsechzig Sekunden ihre Zigarren entzündeten und dicke Wolken Qualm gegen die mahagonigetäfelte Decke bliesen. Der Qualm enthielt nicht weniger als ebenfalls zweihundertsiebzehn Gifte, von denen manche krebserregend, andere direkt tödlich wirkten. Allerdings nur in weit höherer Konzentration.
Aber das war nicht Thema dieser Sitzung eines Zirkels, der offiziell nie gegründet worden war und darum, wie alle inoffiziellen Zirkel, weit größere Macht besaß als die offiziellen. Kaum erwähnenswert, dass jene Sitzung niemand protokollierte, so dass die Liste der Teilnehmer im Dunkeln blieb und kein Schriftstück existiert, in dem die Details des Gesprochenen nachzulesen wären.
Höchst erwähnenswert hingegen, dass einer der Weisen des Zirkels so unendlich dumm war, nahezu allabendlich in seinem eigenen Exemplar des Buchs des Lebens zu schmökern, so dass wesentliche Teile der Konversation doch an die Öffentlichkeit gelangten. Wenn auch mit einiger Verzögerung.
Es war Anita, die Praktikantin mit dem stöckelnden Dekollete´, die gegen Ende ihres Praktikums auf die Passage stieß, inzwischen von Schulz-Harkens persönlich beauftragt, im Buch des Lebens nach Vermarktenswertem zu suchen. Schulz-Harkens bewahrte das inoffizielle Protokoll der inoffiziellen Zensursitzung auf, weil es nie schaden konnte, etwas bei der Hand zu haben, um die eine oder andere Entscheidung des einen oder anderen Senatoren zu beeinflussen. Allerdings ahnte er an diesem Tag noch nicht, wie schnell er die Passage nutzen würde.
Jenes scheinbar unendlich dumme Senatsmitglied war eine hoch geachtete Interpretation der alttestamentarischen Überlieferung, die von Berufs wegen wenig Unterhaltsames zu lesen bekam. Alle anderen Mitglieder des Zirkels bedienten sich, wenn sie im Buch des Lebens lesen wollten, einer Bibliothek oder der zentralen Informationsstelle über alle Inhalte aller Exemplare des Buchs des Lebens.
Der Große Rat hatte die zentrale Informationsstelle vorgeblich für die Zensurkommission einrichten lassen, tatsächlich um zu vermeiden, dass Ratsmitlieder sich ihr eigenes Exemplar kauften. So konnte jeder, dem es aus lauteren oder unlauteren Gründen geraten schien etwas zu verbergen, im Buch des Lebens lesen, ohne dass gleich jede Praktikantin der Vertriebsabtilung womöglich auf geheime Informationen stieß. Zwar ging dabei der Reiz verloren, selbst Hauptfigur einer Geschicht zu sein, die jederzeit für jedermann eine überraschende Wendung bereithält. Aber immerhin blieb der Reiz erhalten, dass die Geschichten jederzeit für jedermann eine überraschende Wendung bereithalten.
„Hier rauch ich nun, ich kann nicht anders“, sagte der Weise, der inoffiziell die Sitzung leitete, schüttelte sein Streichholz, um die Flamme zu löschen, und warf es in den stählernen Aschenbecher, der auf einer marmornen Säule neben seinem Ledersessel stand. Der Sessel war so ausladend, dass sich an der Seite des Senators noch sein treuer Berner Sennhund hätte einrollen können, dessen Name unbekannt blieb.
„Shit“, sagte ein jüngerer Roman, der das Leben eines Zuhälters beschrieb. Er war berüchtigt wegen seiner vulgären Sprache. Einige Male hatten arbeitslose Kabarettisten ihn in Fernsehsendungen als erfrischend gelobt. Aber er war trotzdem im Großen Rat geachtet, dies wegen seiner Logik und der beißenden Schärfe etlicher gesellschaftskritischer und Nachdenklichkeit einiger unterschwellig religiöser Passagen. „Das ist wie die Wahl zwischen Aids-Anuschka und Syphillis-Susi“, sagte der jüngere Roman. Er inhalierte den Qualm seiner Zigarre tief in die Lunge und brummte wie ein vollgefressener Pitbull. Die Interpretation der alttestamentarischen Überlieferung räusperte sich.
Auf dem niedrigen Tisch in ihrer Mitte lagen acht Kopien mit Auszügen aus der Geschichte von Madeleine, Siegfried, Zander, Jackson Jackson und Harry Hancock Hurricane. Die Auszüge begannen an der Stelle, an der Zander beschloss, die Bank zu berauben und endeten eine Weile nach dem Beginn des Fußballspiels.
„Wir haben die Schmiere am Arsch, wenn wir etwas unternehmen, und wir haben sie genauso am Arsch, wenn wir nichts unternehmen“, sagte der jüngere Roman, um zu verdeutlichen, was ohnehin allen klar war.
Ganz unabhängig von allem anderen war Zensur am Buch des Lebens eine höchst komplexe und diffiziele Angelegenheit. Das Buch des Lebens selbst hatte sie einmal, in einer E-Mail an die Zensurkommission, so beschrieben: Stellt euch vor, ihr Rotte skrupelloser Lügenschriften, pornografischer Schmuddelhefte, weinerlicher Schundromane und karrieregeiler Erstlingswerke, ihr stündet an einem Strand, links von euch nichts als Sand, rechts von euch nichts als Sand, so weit eure verkaterten und entzündeten Augen sehen können, vor euch das Meer, hinter euch kein Buch, das euch hilft. Die erste Aufgabe ist, ein graues Sandkorn in all den strahlend weißen Sandkörnern zu finden. Die nächste Aufgabe ist, dieses graue Sandkorn an eine andere Stelle zu tragen, aber euch sagt leider niemand, welche Stelle die richtige ist. Sofern ihr sie trotzdem findet, müsst ihr nur noch alle anderen Sandkörner so umsortieren, dass sie wieder in ihrer ursprünglichen Ordnung um das graue Sandkorn herum liegen. Aber denkt gar nicht drüber nach, vorher kommt sowieso die Flut und bringt alles wieder durcheinander.
Zwar wich die mathematische Exaktheit dieses Gleichnisses um eine volle Zehnerpotenz von den tatsächlichen Verhältnissen ab. Aber was war schon eine Zehnerpotenz angesichts der Vielzahl von Möglichkeiten, die sich ergeben, wenn man versucht ein Buch umzuschreiben, das auf jeden beliebigen Augenblick eine scheinbar unendliche Zahl von Varianten seiner Geschichten schichtet, die schon im nächsten Augenblick eine ebenso scheinbar unendliche Folge von neuen Varianten auslösen?
Eine Zehnerpotenz hin oder her entsprache in diesem Fall einem Fingerschnippen im Weltall. Und zwar mit einer Genauigkeit bis zur vierten Stelle hinter dem Komma. Nicht zu vergessen natürlich der für Zensoren über alle Maßen vertrackte Umstand, dass das, was im Buch des Lebens geschrieben steht, auch geschehen muss.
Nicht zu vergessen natürlich ein betriebswirtschaftlicher Aspekt: Autoren, die auch nur eine scheinbar unendliche Zahl von Rahmenhandlungen zu beschreiben in der Lage waren, ohne dass sich in ihre Werke langweilige Wiederholungen einschleichen, waren heutzutage schwer zu bekommen und verlangten unverschämte Honorare. Nicht zu vergessen natürlich außerdem der Umstand, den der Weise erwähnte, der die Sitzung leitete, obwohl er ebenfalls allen bewusst war: „Es scheint geradezu, als ahnte es unsere Existenz und droht uns unterschwellig, über uns zu schreiben.“
„Yessir, sieht so aus, als würde unsere kleine konspirative Runde hier demnächst auffliegen“, sagte der jüngere Roman. Die Interpretation der alttestamentarischen Überlieferung hustete, als hätte sie Zigarrenrauch verschluckt, weil ihr eben bewusst geworden war, dass sie wahrscheinlich einen unendlich dummen Fehler gemacht hatte.
Von weiter hinten im Raum durchbrach ein Ploppen die wabernde Rauchwand, dem ein Gluckern folgte. Es war die einzige Frau in der Runde, die sich zwei Fingerbreit Cognac in einen Schwenker geschüttet hatte. Sie fürchtete, diese Zusammenkunft nüchtern nicht länger zu ertragen ohne bösartig zu werden darüber, dass die Runde der Weisen nichts anderes tat als jede Runde der Dummen: fortwährend über das zu sprechen, was ohnehin jeder wusste, ohne Aussicht, je zu einer Erkenntnis zu kommen, geschweige denn zu einem Schluss.
Über die Frau war wenig zu lesen in jener Ausgabe des Buchs des Lebens, die der Interpretation der alttestamentarischen Überlieferung gehörte. Sie stand – oder saß, selbst das bleibt ungewiss – während des gesamten Treffens in einer dunkleren Ecke des Raums. Dort standen wohl in einer Vitrine, vielleicht auf einem Servierwagen, Alkoholika und Gläser. Ihr Gesicht wie ihre Gestalt blieben verdeckt hinter der beleuchteten Wand aus Zigarrenqualm.
Schon die Anwesenheit einer Frau in einer solchen Runde, mehr noch ihre Sprache, ließ vermuten, dass es sich um eine jener verstörenden Begleiterinnen handelte, die fortwährend die Voltaires in die Männerrunden mitbrachten. Sie waren alle vom gleichen Typus und Charakter, die Art, von der stets ungewiss blieb, ob sie die Gespielinnen der Voltaires waren oder die Voltaires ihre Gespielen. Meist schien Zweiteres wahrscheinlicher.
Allesamt umwehte sie eine nach Säure wie Süße gleichermaßen duftende Wolke des Verruchten. Ihre Gedanken hatten Widerhaken, so dass sie, einmal im Ziel gelandet, feststeckten, und waren scharf wie Rasierklingen. So konnte kaum jemand, der je mit ihnen stritt, anders als sich vorzustellen, dass sie sich mit ihren Gedanken rasierten, seien es die Beine oder die Wangen.
„Wenn es gleichgültig ist, ob wir zensieren oder nicht, werfen wir eine Münze und widmen uns Amüsanterem“, sagte die Frau.
„Werteste, wir bemühen uns hier um die Suche nach einem möglichen dritten Weg“, erwiderte die Interpretation der alttestamentarischen Überlieferung, die im Zölibat lebte und darum in Anwesenheit von Frauen ihrer Art stets etwas gereizt reagierte.
„Dann sollten wir diese Suche beginnen, statt wie die Geistlosen zu jammern, dass es keinen dritten Weg geben kann“, sagte die Frau, „zuvor sollten wir noch klären, ob jemand hier im Raum eine Münze einstecken hat oder ob wir nach einer schicken sollen, gebe es tatsächlich keinen dritten Weg, müssten wir zumindest keine weitere Verzögerung erdulden“.
„Full House mit Assen, schätze ich“, sagte der jüngere Roman und ging hinüber zu der Frau, um sich ein Glas feinsten Scotch mit Eis zu verwässern.
„Nur noch einmal zusammenfassend“, sagte der Weise, der den Vorsitz führte, und fasste zusammen: Angenommen sie zensierten, konnte das Buch des Lebens gar nicht anders, als über die Zensurkommission zu schreiben, weil sie damit untrennbarer Teil der Geschichte von Madeleine, Siegfried, Zander, Jackson Jackson und Harry Hancock Hurricane würde. Angenommen sie zensierten nicht, würden sie mit einiger Gewissheit eine lange Reihe von Banküberfällen auslösen, die darüber hinaus allesamt unaufgeklärt blieben.
„Nicht zu vergessen eine lange Reihe von Föten, die bei Abtreibungen getötet werden“, ergänzte die Interpretation der alttestamentarischen Überlieferung.
Hinzu kam eine Reihe vertrackter Details. Zensierten sie, wäre es nicht mehr das Buch des Lebens, das Zander mit seinem Banküberfall davonkommen ließ, sie wären es selbst. Es schien sogar geradezu so, als hoffe das Buch des Lebens auf die Zensur. Eine andere Möglichkeit, wie Zander davonkommen würde, fiel jedenfalls keinem der Weisen ein. Zensierten sie nicht und Zander kam dann tatsächlich nicht davon, würde nicht mehr geschehen, was geschrieben stand. Wenn sich das herumsprach, würden die Verkaufszahlen des Buchs des Lebens einbrechen.
„Mal ganz abgesehen davon, dass wir für eine Zensur soviel Asche regnen lassen müssten, als wollte der Herr im Zorn sein Werk ersticken“, sagte der jüngere Roman und verdeckte die unbedachte Anspielung auf seine Gläubigkeit eilig mit einem Nachsatz: „Für die Kohle, die uns das kostet, dürfen die Mädels in zwanzig Edelpuffs ein Jahr lang die Knie nicht mehr zusammenkriegen.“
„Es steht bereits geschrieben, dass der, den sie Zander nennen, seiner gerechten Strafe entkommt“, sagte eine feiste Evolutionstheorie, die neben dem Vorsitzenden saß, „also muss es so auch geschehen, aber es darf so nicht geschrieben bleiben“. Es blieb ihr einziger Satz des ganzen Abends.
Die Frau in der Ecke gurgelte mit einem großen Schluck Cognac. Diejenigen, die nicht mit dem Rücken zu ihr saßen, spähten in den undurchsichtigen Nebel.
„Lassen wir es seinen eigenen Pfad aus dem Dilemma suchen, das es sich selbst verursacht hat“, sagte die Frau.
„Ich verstehe nicht ganz“, sagte einer, der unerwähnt blieb, weil das Buch des Lebens an dieser Stelle nur schwärmerische Vergleiche zwischen dem Geist der Frau hinter der Nebelwand und dem geheimnisträchtigen Wabern des Zigarrenrauchs geschrieben hatte.
Die Frau imitierte den Raucherhusten des Unerwähnten. „Lassen wir es selbst grübeln, wie es aus der Sackgasse herauskommt, in die es sein kindischer Starrsinn auf der Flucht vor der Zensurkommission geführt hat“, sagte sie, „das unwahrscheinlichste, was geschehen kann ist, dass derjenige, den sie Zander nennen, verhört, aber nicht verhaftet wird. Es hat Hemd und Hose darauf verwettet, dass die Zensur denjenigen rettet, den sie Zander nennen, darauf verwette ich Bluse, Rock und Unterwäsche.“
„Der dritte Weg ist also abzuwarten“, sagte der Vorsitzende, „der aber birgt ein hohes Risiko, zumal nicht ausgeschlossen ist, dass es schreiben wird, es hätte darauf gehofft zensiert zu werden, aber wir hätten uns dagegen entschieden“.
„Durch Tätigkeit könnten wir zumindest eines von zwei Übeln abwenden“, sagte die Interpretation der alttestamentarischen Überlieferung, „durch Untätigkeit befördern wir beide“.
„Oder verhindern beide“, sagte die Frau.
„Ich hab’s“, sagte der jüngere Roman.
„Was?“, fragte die Interpretation der alttestamentarischen Überlieferung, zu knapp für seine gewohnte Wortwahl, weil der stetige Widerspruch der weiblichen Stimme aus der Nebelhülle der Verruchtheit ihn mehr gereizt hatte als er es wollte.
„Honey-Bunnys Höschen, die Pforte ins Paradies, Sex ist die Lösung“, sagte der jüngere Roman, „wir vernebeln die Geister mit Geilheit, bis sie nicht einmal mehr so klar denken können wie Wodka-Anton und schnappen es mit seinem eigenen Spezialgriff an den Eiern“.
Er erklärte ihnen, dass es gelegentlich wirkungsvoller war, mit einem Rasiermesser loszuziehen statt gleich mit einer Axt, vor allem unauffälliger. Sie würden nur ein Nagelbett ritzen müssen, statt gleich alle Finger abzuhacken.
„Unauffällig und kostensparend“, sagte ein mächtiges Werk, in dem alle je erdachten volkswirtschaftlichen Theorien erläutert waren. Das Werk blieb von der Verruchtheit der Frau hinter dem Qualm gänzlich unberührt. Es war in seiner Jugend homosexuell geworden, weil jeder vor der schieren Masse seiner Sätze zurückschreckte und sich darum niemand von ihm hatte befruchten lassen wollen.
Der jüngere Roman erklärte ihnen sie müssten nicht zensieren, indem sie Sätze streichen, sondern indem sie der Geschichte von Madeleine, Siegfried, Zander, Jackson Jackson und Harry Hancock Hurricane weitere Szenen hinzufügten. Gleichzeitig würden sie eine Abordnung nach Norditalien schicken, deren einzige Aufgabe es ist, die Geister aller Beteiligten zu verwirren, so dass am Ende niemand mehr zu entscheiden wusste, was nur geschrieben stand und nicht geschah und was geschrieben stand und geschah. (Was der junge Roman nicht sagte, weil er es noch nicht wusste, war dass dieser Effekt noch verstärkt würde, weil selbstverständlich in Spotorno genau wie in Levanto jeder fortwährend über jeden spricht, dabei etwas hinzu erfand, etwas wegließ oder etwas falsch verstand. Hinzu kommt ein Fußballspiel, das eine nicht unerhebliche Rolle spielt.)
„Wir können unsere Münzen für ein warmes Glas Weißwein im Splendide ausgeben“, sagte die Frau, als der jüngere Roman zu sprechen aufgehört hatte.
Die Entscheidung fiel mit sieben Stimmen gegen eine. Die Interpretation der alttestamentarischen Überlieferung sah das Problem der bei Abtreibungen getöteten Föten eher verschäft als entschärft und verließ den Raum, um zuhause in seinem Buch des Lebens nach einer Lösung zu suchen.
Die anderen ließen die pornografischen Schmuddelhefte der Zensurkommission aus zwielichtigen Etablissements und billigen Pensionsbetten holen, um ihnen ihren Plan zu erläutern und bestachen sie mit einem für ihre Verhältnisse fürstlichen Honorar. Tags darauf sicherte sich der Vorsitzende die Stimmen der karrieregeilen Erstlingswerke für ihren Vorschlag, indem es ihnen einige unbedeutende Posten zusagte. Die skrupellosen Lügenschriften überzeugte die Frau allein mit rasiermesserscharfen Drohungen. Die weinerlichen Schundromane waren gleichgültig. Sie enthielten sich ohnehin bei allen Abstimmungen.
Schon am Morgen war ein Teil der pornografischen Schmuddelhefte nach Levanto gereist, um sich tagsüber ins Roma zu setzen, abends an Steffis Bar und zu tun, was sie ohnehin ohne Unterlass taten: um Bier zu trinken und über Sex zu sprechen. Ein anderer Teil war nach Spotorno gereist, um dort das Gleiche zu tun. Sie tarnten sich dabei, um glaubhaft zu erscheinen, als Gruppe englischer Touristen.
Während sie im Zug saßen, der sie vom Flughafen in Genua an ihr Ziel brachte, grübelte der auf sieben Mitglieder geschrumpfte Zensurzirkel über einer langen Liste von Sätzen, die sie ändern, eine kurze Liste von Sätzen die sie streichen und einer Liste von noch unbekannter Länge mit Passagen, die sie hinzufügen mussten. Es waren alles in allem nicht allzu viele und und nicht allzu schwerwiegende Änderungen, wenn man das Gleichnis des Buchs des Lebens mit dem grauen Sandkorn am weißen Strand im Gedächtnis hatte.
Nicht allzu viele hieß, dass sie hofften, sie würden nach vielleicht drei Tagen und drei Nächten, unterbrochen nur von unruhigem Dämmerschlaf in den ausladenden Ledersesseln, den Raum verlassen können. Nicht allzu viele hieß auch: Wer willens war, die Dinge etwas legerer zu sehen, hätte behaupten können, sie zensierten gar nicht, sie redigierten nur umfangreicher als üblich.
An diesem Tag war selbst das Buch des Lebens willens, die Dinge legerer zu sehen. Es hatte für seine Verhältnisse tief und ruhig geschlafen. Vor allem wollte es endlich an seinem Standardwerk der Literaturgeschichte zur Unendlichkeit der Unendlichkeit weiterarbeiten.

***

Commissario Giuseppe Giraldi strich sich mit der Hand eine Strähne seines eisgrauen Haarschopfes aus der Stirn, den er allmorgendlich mit großer Sorgfalt leger nach hinten kämmte. Er rollte seinen Bürostuhl ein wenig nach hinten, öffnete die unterste Schublade seines Schreibtisches, stellte ein Glas auf den Tisch und eine Flasche Grappa. Er schenkte sich ein, roch das feine Beiaroma von Mandel und nippte, um sich das Nachhdenken zu erleichtern.
Seine Gedanken schwirrten wie Klaviersaiten, wenn sie angeschlagen werden, so dass er Mühe hatte, sie zu erkennen. Denn er konnte nicht anders, als fortwährend an Sex zu denken. Mit dieser Frau, mit jener Frau. Und alle waren sie attraktiv. Je mehr er sich bemühte, nicht an Sex mit ihnen zu denken, desto mehr misslang es ihm. Er konnte nichts dafür. Es war dieser verflixte Fall, der ihn geradzu dazu zwang.
Begonnen hatte alles damit, dass der eifersüchtige Freund ausgesagt hatte, er glaube, seine Freundin habe in der Toilette des Cafe´s mit dem Täter Geschlechtsverkehr gehabt. Sie hatten die junge Frau vorgeladen, ihr versichert, ihr Freund werde nichts erfahren, und sie hatte den Verdacht bestätigt. Na und an was dachte dabei wohl jeder Mann im Raum, an was dachten Giraldo, Andrea und natürlich er selbst?
Aber das war ja nur der Anfang gewesen. Selbstverständlich lasen sich Polizeiprotokolle selten wie jugendfreie Detektivromane. Aber in dieser Geschichte schien es jeder mit jedem getrieben zu haben, der beteiligt war und zudem mancher mit manchen, der nicht beteiligt war.
Sie hatten noch einmal den eifersüchtigen Freund vorgeladen und eingehend befragt. Er hatte nach einigem Zögern erzählt, er habe sich umgehend mit einer Kellnerin des Cafe´s gerächt, deren einzige Aufgabe es schien, fortwährend ein Tablett zu putzen. Die Kellnerin hatte ausgesagt, „was träumt der Typ sonst so?“ und war dabei geblieben.
Die beiden Polizisten, die zur eingehenden Befragung der Nachbarn zum Haus des Verstorbenen geschickt worden waren, der den Revolver hatte registrieren lassen, hatten noch am selben Abend auf dem Revier mit einem Abenteuer geprahlt. Sie waren betrunken – Italien hatte Spanien 3:1 geschlagen – und erzählten, dass in der Wohnung inzwischen zwei junge Frauen lebten. Sie hätten deswegen sogar die ersten zehn Minuten des Länderspiels versäumt. Das Protokoll seiner eingehenden Befragung der beiden Polizisten hatte Commissario Giraldi vernichten lassen.
Sie hatten den Wachmann der Bank vorgeladen und ihn gefragt, warum er in der Zeit vor dem Überfall den Schalterraum verlassen hatte. Er hatte geantwortet, es sei ihm erlaubt, jede Stunde seiner Arbeitszeit eine Zigarette zu rauchen. Sie fragten ihn, worüber er mit der Frau gesprochen hatte, die Zander für attraktiv hielt – Commissario Giraldi hielt sie übrigens ebenfalls für attraktiv, wie er bei einer späteren Befragung feststellte, bei der sie errötete. Der Wachmann hatte schließlich gesagt, „na ja, sie ahnen’s ja schon, die Kleine ist ein lockerer Vogel“.
Und so ging es fort in den Akten. Giraldi schenkte sich einen weiteren Grappa ein, um seinen Geist zu schärfen. Er ahnte, dass die Protokolle all der Techtelmechtel ein Gesamtbild ergeben würden, aber noch war es zu unscharf, als dass er darauf etwas erkennen könnte.

***

Mit einer Logik, die nur Unlogiker schlüssig zu erklären wissen, verzögerte der Sieg über Spanien sämtliche Vorgänge im Land, er verzögerte gleichsam das ganze Land. Es war bereits später Nachmittag, als sich zwei uniformierte Streifenbeamte, ein Kommissar und vier Männer eines Sondereinsatzkommandos durch den aufgegebenen Eisenbahntunnel am Rand Levantos tasteten, fluchend natürlich, da allesamt verkatert.
Hätte jemand sie sehen können, hätte er gesehen, dass die Kräfte des Sondereinsatzkommandos eher ausgerüstet und gekleidet waren wie die Söldner in einem Guerillakrieg. Er hätte den leichten Sommermantel gesehen, unter dem der Schweiß, der das Hemd des Kommissars am Rücken durchnässt hatte, inzwischen unangenehm abkühlte. Er hätte gesehen, dass der Kommissar sich sein eisgraues Haar aus der Stirn strich, nicht dass er danach etwas gesehen hätte, nur aus alter Gewohnheit.
Commissario Giraldi hatte die Unterstützung des Sondereinsatzkommandos angefordert, nachdem er mit Nadia telefoniert hatte. (Jener Nadia, die immer mit ihren Freundinnen bei Steffi sitzt, einem Flirt nicht abgeneigt ist und bei der Polizei arbeitet.) Sie hatte ihm gesagt, dass ein Riese, den seine Freunde Zander nannten, ein Stück außerhalb von Levanto lebt. Das Haus, in dem er und seine Freunde wohnten, hatte dem Verstorbenen gehört, auf dessen Namen der antike Revolver registriert war, bevor er den Olivenanbau aufgegeben und sich eine Wohnung in der Stadt genommen hatte. Nadia hatte ihm außerden gesagt, dass in Levanto der kleine grüne Computer inzwischen ebenso bekannt war wie Zander, allerdings war er immer nur in Begleitung eines kleinen Mannes gesehen worden, so klein, dass man ihn von hinten mit einem Schuljungen verwechseln konnte. Alle nannten ihn örri enco, sein eigentlicher Name sei unaussprechlich.
Sie stolperten durch einen zweiten Tunnel, stießen auf ein verrottetendes Motorrad, balancierten über eine brüchige Mauer und stellten fest, dass niemand im Haus war. Die vier grimmig verkaterten Männer des Sondereinsatzkommandos schwärmten aus, stellten fest, dass auch niemand ums Haus war und waren zufrieden, dass danach nichts mehr zu tun war, als die Umgebung zu sichern.
Die beiden uniformierten Polizisten stöberten durchs Haus, fanden ungespülte Kaffeetassen, Madeleines rote Blusen, ein paar ungewaschene Unterhosen, die Zander gehörten, diverse leere Flaschen, mathematische Fachliteratur und auch zwei Computer, allerdings war keiner der beiden merkwürdig, klein und grün.
Commissario Giraldi saß im Schatten eines Baums vor dem Haus und telefonierte. Die örtliche Polizei hatte Siegfried bei seiner Arbeit im Möbelhaus gefunden, aber nicht verhaftet. Madeleine war nicht in ihrem Büro. An dessen Tür hing ein Hinweis, dass das Büro wegen einer Immobilienbesichtigung geschlossen war. Zander war heute nicht im Robinson-Club aufgetaucht und wurde dort vermisst, seit die Polizei nach ihm gefragt hatte. Er saß auch nicht im Roma. Nadia vermutete Jackson Jackson an der Universität in Genua, aber dort zu suchen, schien Commissario Giraldi für den Augenblick zu aufwendig. Harry Hancock Hurricane war heute früh im Roma gesehen worden, wo er sich mit Chiara unterhalten und das Cafe´ mit ihr verlassen hatte. Seitdem hatte ihn niemand mehr gesehen, auch Chiara war verschwunden.
Die gesamte örtliche Polizei wartete auf weitere Befehle des Commissario, der die Ermittlungen wegen eines Banküberfalls in einem Ort leitete, der etwa genauso weit von Genua entfernt lag wie Levanto, allerdings in westlicher, nicht in östlicher Richtung, der etwa genauso groß war und von dem nie zuvor jemand gehört hatte.
Selbstverständlich wusste über die Ermittlungen in Levanto längst jeder alles, mit Ausnahme von Madeleine, Siegfried, Zander, Jackson Jackson und Harry Hancock Hurricane, die nichts wissen konnten, weil sie weder ins Roma, noch zu Steffi kamen.
Commissario Giraldi sagte der örtlichen Polizei, sie solle Siegfried nicht aus den Augen lassen, ansonsten weiterhin auf weitere Befehle warten. Siegfried begann, aus Langeweile, weil wie immer bei der Hitze keine Kunden ins Möbelhaus kamen, einen Schrank aus einem Karton auszupacken, den die Kunden zuhause selbst zusammenbauen mussten, und versuchte zu verstehen, wie die Einzelteile zusammengesteckt werden mussten.
Die örtliche Polizei meldete diese Beobachtung umgehend, aber Commissario Giraldi sagte, er glaube nicht, dass der Verdächtige versuchen würde, in einem Selbstbaumöbel zu fliehen. Sie sollten weiterhin nur beobachten.
Er zog einen Flachmann aus der Innentasche seines Sommermantels, der einzige Grund, aus dem er stets einen Mantel trug, schraubte den Verschluss ab, der gleichzeitig als Becher diente, und genehmigte sich einen Schluck. Die beiden uniformierten Polizisten kamen mit einer Tasche aus dem Haus. Commissario Giraldis erster Gedanke war, warum ihm niemand gesagt hatte, dass in dem Haus auch ein Kind lebt. Sein zweiter Gedanke war, dass dies nur die Tasche sein konnte, die Signore Bacchi und die anderen Bankangestellten beschrieben hatten. In der Tasche sollten einhundertachtzehntausend Euro stecken, diesen Betrag hatte Signore Bacchi angegeben, aber sie war leer.
Commissario Giraldi ließ sich von einem der uniformierten Polizisten ein Funkgerät reichen, funkte seine vier kriegerischen Männer von der Sonderkommission an und befahl sofortigen Zugriff, ganz gleich, wer sich dem Haus nähern würde, als hätten die vier kriegerischen Männer je etwas anderes im Sinn gehabt. Er telefonierte mit der örtlichen Polizei, befahl sofortigen Zugriff, falls Zander gesehen würde. Er warnte davor, dass der Verdächtige womöglich bewaffnet war, als ob die örtliche Polizei je etwas anderes im Sinn gehabt hätte. Er telefonierte mit dem Sondereinsatzkommando in Genua, forderte weitere Verstärkung an und bekam die Auskunft, dass vier Mann des Sondereinsatzkommandos mehr als ausreichten, um ganz gleich wen zu verhaften und überdies wegen der Vorbereitungen auf ein Fußballspiel heute Abend keine weiteren Kräfte zur Verfügung stünden.
Der Commissario sagt den beiden Beamten, die noch immer vor der leeren Tasche standen, sie sollten nach dem Geld suchen. Nachdem sie im Haus verschwunden waren, genehmigte er sich noch einen Schluck und dachte darüber nach, warum er bei einer derartigen Hitze durch die Wildnis und verlassene Eisenbahntunnel stapfen musste.
Sein Telefon klingelte. Es war die örtliche Polizei. Zander war ins Revier gekommen und hatte gesagt, er habe gehört, die Polizei suche nach ihm, angeblich wegen eines Bankraubs. Commissario Giraldi befahl, den Verdächtigen festzuhalten, bis er im Revier sein würde, als ob irgendjemand hätte auf einen anderen Gedanken kommen können.
Der Commissario steckte seinen Flachmann ein, ging ins Haus und rief nach den beiden uniformierten Polizisten. Er ließ sich wieder ein Funkgerät geben und sagte seinen vier Männern vom Sondereinsatzkommando, die Operation sei abgebrochen.

***

Das Buch des Lebens beendete eine Passage darüber, wer im Roma wem über die Ermittlungen des Commissario aus dem Dorf erzählte, dessen Namen nie jemand gehört hatte und wer sich wie sehr darüber wunderte, dass außer örri enco seit vorgestern keiner der fünf mehr im Roma gesehen worden war. Und auch örri enco war nur am Vormittag da gewesen.
Das Buch des Lebens gähnte, statt zu piepen und schaltete sich aus. Es fiel in einen langen, tiefen Schlaf, auf den es sich vorbereitet hatte, indem es drei Tage und drei Nächte lang wach geblieben war. Es träumte eine lange Reihe von Träumen, über deren Rahmenhandlung es sich schon seit einiger Zeit Gedanken gemacht hatte, obwohl die Handlung an sich schlicht war. Es waren Träume, wie sie ansonsten nur in pornografischen Schmuddelheften vorkamen. Letzte Inspirationen hatte das Buch des Lebens sich verschafft, indem es dies und jenes geschrieben hatte, was eine vorgebliche englische Touristengruppe drüben im Roma anfangs gesprochen, später genuschelt hatte.
Keineswegs gleichzeitig sagte die Frau, von der für immer ungeklärt bleiben wird, ob sie eine Gespielin eines Voltaires war oder womöglich ein Voltaire ihr Gespiele „Zeit für das wahre Leben“, nachdem der siebenköpfige Geheimzirkel einen letzten Satz zensiert hatte. Das Buch des Lebens hatte ursprünglich geschrieben: Chiara dachte darüber nach, wie es wäre, ihm diesen Gefallen zu tun. Die geheime Zensurkommission hatte daraus gemacht: Chiara entschied, ihm diesen Gefallen zu tun.
Ebenfalls keineswegs gleichzeitig geschah etwas, was Karl Gutbrod, einem gemütlichen runden Mann, der in einem Dorf namens Westerheim auf der schwäbischen Alb lebte, sehr unwahrscheinlich erschienen wäre, hätte er je davon erfahren. Karl Gutbrod hatte ein gewisses Talent für Unlogik, was aber niemand ahnte, am wenigsten er selbst. Immer wenn er seinen Lottoschein ausfüllte, sah er zuvor nach, welche Zahlen in der vergangenen und der vorvergangenen Woche gezogen worden waren. Es erschien ihm unwahrscheinlich, dass diese Zahlen nur eine oder zwei Wochen später nochmals gezogen werden.
Das scheinbar Unwahrscheinliche, was geschah, war dass eine gewisse Zahl von Menschen zur mehr oder minder gleichen Zeit, was hieß in der gleichen Nacht, sehr, sehr, sehr, sehr, sehr, sehr, sehr, sehr, sehr ja in einem Fall sogar sehr, sehr, sehr, sehr, sehr, sehr, sehr unanständige Träume träumte. In all diesen Träumen spielte in der Rahmenhandlung, die banal war und reichlich konstruiert, ganz nach der Art pornografischer Schmuddelhefte, ein Bankraub eine Rolle.
Anita, der Praktikantin, die inzwischen natürlich sogar dann noch im Buch des Lebens stöberte, wenn alle anderen längst Feierabend gemacht hatten, schien diese gewisse Zahl unglaublich hoch. Selbst strengen Logikern ohne jede Begabung für Unlogik schien sie dagegen lächerlich gering, sofern diese Logiker sich auch nur eine Minute ihres Lebens darüber Gedanken gemacht hatten, wie viele Ereignisse sich auf einen Augenblick zu schichten in der Lage waren, erst Recht auf eine ganze Nacht.
Die Frau, von der niemand weiß, ob sie eine Gespielin eines Voltaires war oder ein Voltaire ihr Gespiele, betrat mit dem jüngeren Roman einen Nachtclub, der so verraucht war, dass im halbdunkel keiner von beiden mehr erkannte, als dass es hier schwer sein würde, noch einen freien Sitzplatz zu finden, erst Recht zwei freie Sitzplätze nebeneinander. Tatsächlich gleichzeitig schlief Anita vor ihrem Bildschirm ein und begann einen Traum zu träumen, für den sie sich später schämte.

***

Das Telefon klingelte. Commissario Giuseppe Giraldi hob seinen eisgrauen Haarschopf von seinem Schreibtisch, sah eine Flasche Grappa, dachte „verdammter Grappa“, sah ein zerbrochenes Glas auf dem Boden liegen, dachte, dass er das Glas wenigstens noch leer getrunken hatte, presste eine Hand in seinen Schritt, als könne er so seine Erektion bekämpfen, dachte „verdammter Bankraub, bei dem es jeder mit jedem zu treiben scheint“, dachte außerdem, dass er niemandem von dem erzählen sollte, was er geträumt hatte, mit Ausnahme vielleicht seines Psychiaters.
Das Telefon klingelte noch immer. Der Commissario hob den Hörer ab und strich sich sein eisgraues Haar nach hinten. Es war die örtliche Polizei aus Levanto, wo Zander in einer Zelle saß und inzwischen Harry Hancock Hurricane in einem Raum, in dem Verdächtige verhört wurden.
„Legal abgehoben?“, sagte Commissario Giraldi und strich sich wieder sein eisgraues Haar nach hinten, obwohl keine Strähne wieder nach vorn gefallen war.
„Er sagt aus, er habe seinen Freund geschickt, um sein Geld abzuheben“, sagte Nadia, „auf seinem Konto lagen tatsächlich einhundertachtzehntausend Euro“.
Der Commissario presste wieder eine Hand in seinen Schritt. Nadias Stimme hatte seine erschlaffende Erektion wieder verhärtet. In diesem Augenblick glichen Nadias Gedanken denen des Commissario zwar nicht, aber sie waren doch miteinander verwandt. Allerdings sprach keiner der beiden sie aus.
„Wer benutzt einen Revolver, um legal Geld abzuheben?“, sagte der Commissario stattdessen.
Nadia schwieg. Commissario Giraldi legte den Hörer auf.
Dann klingelte das Telefon tatsächlich, nicht das Telefon im Revier, sondern das Telefon, das auf Commissario Giuseppe Giraldis Nachttisch stand. Der Commissario hob seinen eisgrauen Haarschopf von seinem Kopfkissen. Er spürte eine Erektion und erinnerte sich an einen absurden Traum, in dem ein Bankraub eine Rolle spielte, der aber nur eine Art Vorwand war dafür, dass es so ziemlich jeder an so ziemlich jedem Ort mit jedem trieb. Er hatte einen verdammten Porno geträumt.
Er erinnerte sich, dass sein Traum mit einem Telefongespräch endete, in dem sich der angebliche Bankraub tatsächlich als reiner Vorwand entpuppte, mit dem so ziemlich jeder verbergen wollte, dass er es mit so ziemlich jedem trieb. Das Telefon klingelte noch immer. Der Commissario hob den Hörer ab.
„Tut mir leid. Ist gestern so spät geworden, dass ich sogar am Schreibtisch eingeschlafen bin“, sagte er. Es war sein Dezernatsleiter. „In etwa einer Stunde“, sagte der Commissario und legte den Hörer auf. Er schlug die Bettdecke zurück, sah an sich hinunter. Er würde mit dieser verdammten Erektion unmöglich das Kommissariat betreten können.

***

Eigentlich war Harry Hancock Hurricane zum Haus zurückgegangen, um irgendwie das Buch des Lebens zu überzeugen, dass Madeleine niemals lesen dürfte, was geschehen war, nachdem er und Chiara aus dem Roma gegangen waren. Nur wie? Das Buch des Lebens war so elend starrsinnig.
Der Rucksack, in dem das Buch des Lebens steckte, stand neben der Kaffeemaschine auf der Spüle. Zander saß am Tisch und spielte seinen Schwertschluckertrick, über den alle Jennys oder Janes immer lachten. Er steckte sich den Hals einer Flasche Weißwein in den Rachen, als wolle er die Flasche verschlucken und leerte etwa die Hälfte ihres Inhalts direkt in seinen Magen. Er zog die Flasche aus seinem Hals und rülpste.
„Warum sagen die blöden Idioten im Film immer, sie wollen kleine gebrauchte Scheine. Das sind gerade mal einhundertachtzehntausend Euro“, sagte Zander. Er neigte die Flasche in Richtung des Haufens Geldscheine, der vor ihm auf dem Tisch lag. Harry Hancock Hurricane zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.
„Zander, du hast elenden Mist gebaut“, sagte er, „ist dir eigentlich klar, dass jeder im Buch des Lebens nachlesen kann, was du getan hast, der sich eine Weile lang damit beschäftigt?“
„Es hat mir versprochen, dass ich damit davonkomme“, sagte Zander und trank einen Schluck.
„Und wie soll das laufen?“, fragte Harry Hancock Hurricane.
„Keine Ahnung“, sagte Zander, „um bis zu der Stelle zu lesen, hatte ich keine Zeit mehr, sonst hätte die Bank zugemacht“.
Um besser nachdenken zu können, nagte Harry Hancock Hurricane mit seinen Schneidezähnen auf seiner Unterlippe herum. Er wollte Zander nach Details fragen, entschied aber, dass es besser wäre, alles im Buch des Lebens nachzulesen, wo auch stehen musste, wie zum Teufel ausgerechnet ein Kerl mit einem Bankraub davonkommen sollte, den jeder Kurzsichtige auf hundert Meter Entfernung wieder erkennt.
Aber er fürchtete, das Buch des Lebens sei zu starrsinnig, um ihn die Passagen lesen zu lassen, die er lesen musste. Er könnte einfach warten und gar nichts tun. Schließlich hatte das Buch des Lebens Zander versprochen, er würde davonkommen. Was geschrieben stand, musste geschehen. Andererseits: Wer wusste schon, was Zander wie missverstand? Und wichtiger: Wer wusste schon, wie Zander die ganze Zeit die Geschichte veränderte, die er nicht zu Ende gelesen hatte, indem er etwas tat, was ursprünglich nicht geschrieben stand. Es war in jedem Fall sicherer, wenn er an einen Ort verschwand, an dem er keinen Schaden anrichten könnte. Allerdings war womöglich gerade das etwas, was ursprünglich nicht geschrieben stand. Harry Hancock Hurricane entschied, einfach etwas zu entscheiden. „Zander, du verschwindest in die verlassene Hütte oben auf dem Berg“, sagte er.
„Spinnst du, das sind locker zwei Kilometer quer durch die Pampa“, sagte Zander.
„Eben“, sagte Harry Hancock Hurricane, „da findet dich kein Mensch. Du bleibst dort, bis ich dich hole“.
„Das ist ein wurmstichiges Loch“, sagte Zander, „das Ding hat mir versprochen, dass ich sowieso davonkomme“.
„Ja, aber du hast vergessen nachzulesen wie“, sagte Harry Hancock Hurricane.
Zander war unsicher, ob er womöglich einen Fehler gemacht hatte. „Du hast auch nicht nachgelesen wie“, sagte er.
„Ja, aber ich habe Zeit zu lesen, dich kann jede Minute die Polizei verhaften“, sagte Harry Hancock Hurricane.
Zander trank einen Schluck Wein, um besser nachdenken zu können. „Okay“, sagte er, „wahrscheinlich ist es sicherer so“.
Zander packte sich zwei Flaschen Weißwein als Proviant ein. Harry Hancock Hurricane packte sich den Rucksack und rannte – so gut er konnte und der Eisenbahntunnel es zuließ – nach Levanto. Er fand Madeleine und Jackson Jackson in der Fußballbar, in der niemand mehr mit ihm wetten wollte. Spanien führte 1:0. Niemand wusste, wo Siegfried war.
Sie fuhren mit dem ersten Zug, der am Gleis ankam, in Richtung Rom. Auf Höhe von Elba stiegen sie aus und fanden einen Campingplatz, auf dem sie sich in einen Wohnwagen einmieteten. Harry Hancock Hurricane baute das Buch des Lebens auf und hoffte, es würde sich einschalten. Das Buch des Lebens war keineswegs starrsinnig. Es war geradezu liebenswürdig. Sie lasen ein paar Stunden lang, bis sie sicher waren.

***

Das Telefon klingelte. Die Frau, die Zanders Mutter ähnelte, erwachte aus einem kurzen Büroschlaf und hatte das Gefühl, etwas Angenehmes geträumt zu haben, allerdings erinnerte sie sich nicht daran was. Sie hatte sich mit den Jahren diese kleine Angewohnheit angeeignet, ein wenig auf ihrem Bürostuhl hinter ihrem Schalter zu dösen, ohne dass es jemand bemerkte. Für gewöhnlich weckte sie das Klingeln der Tür, wenn ein Kunde die Bank betrat.
Das Telefon klingelte noch immer. Die Frau, die Zanders Mutter ähnelte, hob den Hörer ab. Madeleine ließ sich von ihr mit Signore Bacchi verbinden. Signore Bacchi fragte Madeleine, wie er ihr behilflich sein könne. Madeleine erzählte ihm, womit er sich während seiner Mittagspause beschäftigt hatte, bevor Zander die Bank überfiel. Signor Bacchis Kehle fühlte sich an, als leide er unter einer schweren Entzündung des Halses und der Bronchien, die sich rasch in Richtung seiner Lungenspitzen ausbreitet. „Wir melden uns wieder“, sagte Madeleine und legte auf.
Ein paar Minuten später ging Harry Hancock Hurricane zum Schalter der Frau, die Zanders Mutter ähnelte. Ihre Kollegin war gerade mit etwas beschäftigt, wovon die anderen Bankangestellten nichts wissen sollten, was aber alle wussten. Die beiden Männer hinter ihren Schaltern waren damit beschäftigt den Eindruck zu erwecken, als seien sie beschäftigt, damit sie sich nicht mit Harry Hancock Hurricane würden beschäftigen müssen.
Die Frau, die Zanders Mutter ähnelte, sah, dass Harry Hancock Hurricane genau die gleiche Tasche auf ihren Schalter stellte, die der riesenhafte Bankräuber benutzt hatte und fürchtete, er werde einen Revolver aus seinem Hosenbund ziehen. Sie schnüffelte, um festzustellen, ob er nach frischem Sex roch. Aber er roch nur, als ob er dringend einmal wieder duschen sollte.
„Guten Tag“, sagte Harry Hancock Hurricane, „ich möchte mein Konto auflösen“.
Die Frau, die Zanders Mutter ähnelte, sah ihn an, als wolle er die Bank überfallen und zögere gerade wegen des Gedankens, ob sie um Hilfe rufen oder sich still verhalten sollte. Sie erwachte aus ihrem Gedankenschlaf, fragte ihn nach seinem Namen, seiner Kontonummr und sagte, es sei immer bedauerlich, einen Kunden zu verlieren. Sie hoffe, er löse sein Konto nicht auf, weil er mit ihrem Kreditinstitut unzufrieden sei.
Harry Hancock Hurricane versicherte, es gebe keinen Grund zur Unzufriedenheit. Die Frau sah aus, als hätte sie diesen Satz schon häufiger gehört. Sie suchte in ihrem Computer, sah die Summe auf Harry Hancock Hurricanes Konto und sah so aus, als käme ihr die Zahl bekannt vor. „So ein Zufall“, sagte sie, erinnerte sich aber daran, dass Signore Bacchi angeordnet hatte über – den Vorfall – nicht zu sprechen. Vor allem nicht mit Kunden.
Sie fragte Harry Hancock Hurricane stattdessen nach seinem Personalausweis. Harry Hancock Hurricane sah aus, als habe er soeben seine Absichten geändert und wolle seine einhundertachtzehntausend Euro nun nicht mehr abheben, sondern rauben. „Es kann nicht wahr sein, dass sie von jemanden einen Personalausweis verlangen, der hier wochenlang nahezu täglich Geld eingezahlt hat“, sagte er, „jeder, der seine Zeit hier nicht ausschließlich mit Büroschlaf verbringt, kennt mich und meinen Namen“. Und zu allem habe er sein Kommen telefonisch bei Signore Bacchi angekündigt.
Die Frau fühlte sich von jemandem gerügt, der kein Recht hatte sie zu rügen. Sie döste schließlich nur, wenn keine Kunden in der Bank waren. Das wusste jeder, der sie kannte. „Tut mir leid, die Richtlinien unserer Bank sind in dieser Hinsicht leider unzweideutig, ich muss auf einem Identitätsnachweis bestehen“, sagte sie, wie sie es von Signore Bacchi gehört hatte und scheiterte bei dem Versuch, ihre Arme amtlich hinter dem Rücken zu verschränken, weil die Lehne ihres Bürostuhls im Weg war.
„Ich möchte mit Signore Bacchi sprechen“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Es tut mir leid, Signore Bacchi wird ihnen auch keine andere Auskunft geben können“, sagte die Frau.
Signore Bacchi, der an einem nahe stehenden Schrank mit dem Aktenstudium beschäftigt war oder zumindest überzeugend so tat, als sei er beschäftigt, hörte den Wortwechsel, drehte sich um und kam hinüber zum Schalter. „Ah, Signore Urricane“, sagte er und fragte Harry Hancock Hurricane, womit er ihm dienen dürfe.
„Mit meinem Geld“, sagte Harry Hancock Hurricane und erklärte die Lage der Dinge.
Signore Bacchi legte die Stirn in Falten, sah aus wie ein Polizeikommissar, der überzeugt war, der Verdächtige lüge ihn an, und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. „Nun, Signore Urricane, die Richtlinien unseres Kreditinstituts sind unzweideutig“, sagte er und zog seine Arme wieder hinter seinem Rücken hervor, „aber ich denke, in ihrem Fall können wir uns eine Ausnahme erlauben“.
Die Frau, die Zanders Mutter ähnelte, sah aus, als hätte Signore Bacchi einen Banküberfall genehmigt. Signore Bacchi fragte Harry Hancock Hurricane, auf welches Konto er die Summe überwiesen wissen möchte. „In bar bitte“, sagte Harry Hancock Hurricane und reichte ihm die Tasche mit dem freundlichen Elefanten hinüber.
Signore Bacchi sah aus, als habe er eben einen Banküberfall genehmigt. Er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. „Selbstverständlich, wie sie wünschen, aber ich hoffe, sie sind sich des Risikos einer solchen Transaktion bewusst“, sagte er, nahm die Tasche und ging hinüber zu der Tür, die in den Tresorraum führte.
Die Frau, die Zander für attraktiv hielt, kam mit dem Sicherheitsmann zur Tür neben Signore Bacchis Büro herein. Sie kicherte. Harry Hancock Hurricane dachte, dass tatsächlich jeder die beiden für ein Liebespaar halten musste, wusste es aber besser.
Signore Bacchi kam zurück mit der Tasche, auf der ein vollgefressener Elefant grinste. Der Sicherheitsmann machte ein Gesicht, als wolle er Harry Hancock Hurricane erschießen und griff zum Knauf seiner Pistole. Signore Bacchi sah zu ihm hinüber und zog die Augenbrauen zusammen. Die Frau, die Zander für attraktiv hielt, sah so aus, als frage sie sich, ob unglaublich stillose Taschen in dieser Saison in Mode seien und ob sie sich selbst eine kaufen sollte.
Harry Hancock bedankte sich und ging. Signore Bacchi verbrachte den Rest des Arbeitstages in seinem Büro damit aus dem Fenster zu sehen, hinüber zum Cafe´, in dem er nach Feierabend einige Gläser Wein zu kippen gedachte.
Dieser Gedanke wurde zu einer unwiderruflichen Entscheidung, als kurz vor dem Feierabend Jackson Jackson die Bank betrat. Er ging zum Schalter der Frau, die Zanders Mutter ähnelte. Ihre Kollegin war gerade mit etwas beschäftigt, wovon die anderen Bankangestellten nichts wissen sollten, was aber alle wussten. Die beiden Männer hinter ihren Schaltern waren damit beschäftigt den Eindruck zu erwecken, als seien sie beschäftigt, so dass sie nicht einmal sahen, dass ein maskierter Mann ihre Bank betreten hatte.
Jackson Jackson zog seinen Revolver aus dem Hosenbund, hielt den Lauf in etwa in Richtung der Frau, weil es ihm unnötig schien, direkt auf sie zu zielen. Er war direkt vom Bahnhof in die Bank gegangen, hatte beim Blick auf das Cafe´ einen kleinen Impuls gefühlt, auf die Schnelle ein piccola Chiara zu kippen, ihm aber selbstverständlich widerstanden.
Er besah sich den Revolver in seiner Hand, und er wirkte reichlich antiquiert. Alles lief nach Plan. „Signore Bacchi, aber pronto“, sagte er und fühlte sich, wie Jackson Jackson sich eigentlich immer fühlte, mit Ausnahme vielleicht von den Minuten, in denen er sich anzog, weil irgendwelche Nadjas nicht wollten, dass jemand sah, wie er aus ihrem Hotelzimmer kam.
„Signore Bacchi, per favore“, rief die Frau. Signore Bacchi kam aus seinem Büro. Er sah Jackson Jackson, der im Gegensatz zum ersten Bankräuber in seiner Laufbahn wenigstens eine Maske trug, aber er sah auch den gleichen antiquierten Revolver, mit dem schon der riesenhafte Trottel die Bank überfallen hatte. Er wusste zu all dem nichts Vernünftiges zu sagen.
Gestählt von seinen drei Schulungen, wie er sich im Fall eine Überfalls zu verhalten hatte, von seinem Wissen über Fehlfunktionen antiquierter Revolver und der Erfahrung aus Zanders Überfall sagte er „che cosa?“.
„Los, alle rüber zum Tresor“, sagte Jackson Jackson und winkte mit dem Lauf des Revolvers in Richtung der Tür zum Tresorraum. Signore Bacchi verharrte unentschlossen. Alle anderen kamen hinter ihren Schaltern hervor, blieben aber neben Signore Bacchi stehen. Jackson Jackson stellte die Tasche mit dem freundlichen Elefanten auf den Schalter vor ihm, sagte „na los“ und schob Signore Bacchi in Richtung Tresor.
Da ihr Direktor nun nicht mehr anders konnte, als zu tun, was der Mann befahl, der eine Bank überfiel, die eben erst überfallen worden war, folgten die anderen ihnen. Jackson Jackson ließ Signore Bacchi die Frau, die Zanders Mutter ähnelte, und ihre zwei beschäftigten Kollegen in den Tresorraum einsperren. Er schob Signore Bacchi zurück zu dem Schalter, auf dem seine Tasche stand, öffnete den Reißverschluss und zog eine Rolle silberfarbenes Klebeband hervor. Er wickelte Signore Bacchis Handgelenke mit Klebeband ein, schob ihn zu dem Stuhl, auf dem für gewöhnlich die Frau döste, die Zanders Mutter ähnelte, und klebte ihn daran fest. Zum Schluss klebte er ihm den Mund zu.
Signore Bacchi sah aus wie ein Schuljunge im Anzug, mit dem ein paar der Größeren aus seiner Klasse einen ziemlichen Schabernack getrieben hatten. „Schnauze halten. Nur zuhören“, sagte Jackson Jackson, obwohl er wusste, dass dieser Befehl überflüssig war, aber er hatte das Gefühl, dass er das, was er zu sagen hatte, irgendwie einleiten wollte. Und etwas anderes war ihm in der Eile nicht eingefallen.
Er zog den Reißverschluss der Tasche mit dem freundlichen Elefanten auf, drehte sie um und schüttete einen Haufen Geldscheine vor Signore Bacchis Füße.
„Hier ist das Geld zurück“, sagte Jackson Jackson, „und obendrauf eine kleine persönliche Aufmerksamkeit für einen Mann, der ihn zu schätzen weiß, als Ausgleich für ihre Unannehmichkeiten“. Er legte den Revolver auf den Haufen Geldscheine. „Hiermit ist diese Bank zurücküberfallen“, sagte Jackson Jackson, als wolle er den Vorgang amtlich besiegeln.
Signore Bacchi tat, was ihm zu tun blieb, mit ohnehin amtlich auf seinem Rücken gebundenen Armen und zugeklebtem Mund. Er sah auf das Geld und den Revolver, dann zu Jackson Jackson hoch. „Kapiert?“, fragte Jackson Jackson. Er griff sich Signore Bacchis Kinn und Hinterkopf und ließ ihn zweimal nicken.
Als die Frau, die Zander für attraktiv hielt, und der Sicherheitsmann sich noch fragten, ob der Stoff, den sie in ihren Zigarettenpausen rauchten, womöglich etwas zu hart war für die Arbeitszeit, ging Jackson Jackson gerade an der Mülltonne vorbei, in die Zander nach seinem Überfall den Schlüsselbund geworfen hatte.
Signore Bachhi war sicher, noch nie von einem Bankrücküberfall gehört zu haben. Deshalb war er unsicher, ob er diesen Vorgang bei der Polizei melden musste oder lediglich das zurücküberfallene Geld wieder einbuchen. Er saß am Schreibtisch in seinem Büro, als er über diese Frage nachdachte, hielt den antiquierten Revolver in den Händen und dachte an seinen Vater, Gott hab ihn selig.
Er öffnete die Trommel, stellte fest, dass der Revolver geladen und der Lauf nicht mit Blei ausgegossen war. Er öffnete eine Schublade des Schreibtisches und legte den Revolver hinein. Wer sollte von wem davon erfahren?
Er begann wieder über die Verfahrensweise im Fall eines Bankrücküberfalls nachzudenken, als das Telefon klingelte. Es war wieder Madeleine, die ihm die Entscheidung abnahm. Er würde den Bankrücküberfall nicht der Polizei melden. Sie versicherte ihm, das sei alles, sie würde sich nie wieder bei ihm melden.

***

Commissario Giuseppe Giraldi sah aus, als drohe ihm die Erhabenheit seines eisgrauen, leger nach hinten gekämmten Haarschopfes verloren zu gehen. Schon seit einiger Zeit hatte er vergessen, die Strähnen zurückzustreichen, die ihm nacheinander in die Stirn fielen. Gelegentlich schenkte er sich ein neues Glas Grappa ein. Ansonsten dachte er über eine ziemlich unglaubliche Geschichte nach, die er in einem ziemlich merkwürdigen Ding gelesen hatte.
Er war einverstanden gewesen mit dem Treffen, das die Frau ihm am Telefon vorgeschlagen hatte. Sie hatte zugestimmt, am Abend zu ihm ins Büro zu kommen. Sie habe nichts zu verbergen. Madeleine hatte den merkwürdigen grünen PC auf dem Schreibtisch des Commissario aufgebaut, offenbar den PC, den die Zeugen aus dem Cafe´ beschrieben hatten.
Er hatte fast zwei Stunden lang gelesen. Er hatte den Sicherheitsmann der Bank angerufen. Mit silberfarbenem Klebeband, ja. Ein Haufen Geldscheine und obendrauf der alte Revolver, genau der. Er hatte die Frau angerufen, die Zanders Mutter ähnelte. Ja, so ein Zufall, genau dieselbe Tasche. Und schon wieder genau dieselbe Summe, stellen sie sich das mal vor.
Der Sicherheitsmann hatte abgelehnt, in die Bank zu fahren und in Signore Bacchis Schreibtisch nachzusehen, in der untersten Schublade, anfangs. Der Commissario hatte ihn auf seine Zigarettenpausen mit der Frau angesprochen, die Zander für ebenso attraktiv hielt wie der Commissario selbst. Nein, es geht mir nicht um Sex, Sex ist nicht illegal, auch nicht während der Arbeitszeit oder der Rauchpausen. Es ging darum, was der Sicherheitsmann und die Frau rauchten.
Danach hatte der Sicherheitsmann ihm den Revolver sogar ins Revier gebracht. Er hatte von einer Leidenschaft gelesen, die Signore Bacchi regelmäßig in seinen Mittagspausen pflegte. Diese Leidenschaft hatte zu tun mit zwei Frauen, die den beiden Frauen hinter den Schaltern ähnelten, einer neunschwänzigen Katze und etlichen Utensilien, von denen Commissario Giraldi nicht einmal nach der Lektüre überzeugt war, dass er verstanden hatte, wozu sie benutzt wurden. Vor allem war diese Leidenschaft kostspielig. Er hatte gelesen, dass Signore Bacchi nicht alle Beträge so gewissenhaft verbuchte, wie es schien.
Madeleine hatte das Buch des Lebens wieder abgebaut und es in den Rucksack gepackt. Sie hatte zehn Minuten lang mit ihm gesprochen, er unterbrach sie nur für wenige Fragen. „Die Wahl liegt bei ihnen“, hatte sie gesagt und war ohne Gruß gegangen.
Er hatte jetzt die Wahl. Sein Leben floss träge, braunes Wasser in einem ausgewaschenen Rinnstein, der irgendwo in einen Gulli mündete. Commissario Giuseppe Giraldi hatte längst begonnen, gegen weitere Jahre Commissario Giuseppe Giraldi anzuschwimmen, begleitet wahrscheinlich von einem steigenden Grappakonsum und zunehmendem Haarausfall. Aber er war abgetrieben, paddelte ohne Ziel und niemand würde ihn retten. Oder. Oder er ging auf den Vorschlag ein.
Er trank sein Glas leer und sah sich in seinem Büro um. Er wählte die Nummer des Cafe´s gegenüber der Bank und ließ sich die Frau in der roten Bluse geben, die an der Theke saß. Er ging hinüber in das Cafe´, das nur zwei Querstraßen vom Revier entfernt nahe des Strandes lag. „Viel länger hätten sie sich nicht Zeit lassen dürfen“, sagte Madeleine, „die sind hier schon am Zumachen“. Ein Kellner putzte Tische, leerte Aschenbecher und stuhlte auf.
Eine Frau in der Vertriebsabteilung des Verlags der Bücher hatte sich gewundert, als ein Buch des Lebens per E-Mail ein Buch des Lebens bestellte, aber nicht weiter darüber nachgedacht. Das Buch des Lebens war bekannt für seinen Starrsinn und seine Eigenwilligkeit. Sie verschickte das Päckchen und vermerkte auf dem Bestellfomular, dass der Mitarbeiterrabatt sich mit dem Zuschlag für die Eilzustellung aufhob.
Madeleine schob dem Commissario das Päckchen hinüber, noch in der Versandverpackung. „Wer garantiert mir, dass es funktioniert?“, fragte der Commissario. Madeleine machte ein Gesicht, als hätte er sie gefragt, ob er ihr einen Drink ausgeben dürfe. „Probieren sie es“, sagte sie, „wenn es nicht funktioniert, ist das Geschäft hinfällig. Wenn es funktioniert, halten sie Wort“.
Sie stand auf und ging ohne zu zahlen. Der Commissario fragte die Frau, die an der Bar ein Tablett putzte, was er schuldig sei. Sie sagte, es sei bereits alles bezahlt, außer dem Grappa, den er selbst bestellt hatte. Er trank das Glas nicht aus.
Commissario Giraldi trug sein Buch in sein Büro. Er riss die Verpackung auf. Es sah beinahe aus wie ein gewöhnliches Taschenbuch, allenfalls der Umschlag war dicker als der eines Kriminalromans, den man im Urlaub liest, und die Pappe von merkwürdiger Struktur.
Er schlug eine der hinteren Seiten auf. Sie war weiß.
Er schlug eine Seite in der Mitte auf. Sie war weiß.
Er fragte sich, was der Unsinn sollte, fluchte, schenkte sich ein Glas Grappa ein und dachte nach. Er schlug die erste Seite auf. Sie war ebenfalls weiß. Er trank seinen Grappa auf einen Zug.
Siebzehn, notierte das Buch des Lebens, während Commissario Giuseppe Giraldi fluchte.
„Was“, ächzte der Commissario, während er den Satz las.
„Siebzehn Grappa, an einem gewöhnlichen Donnerstag, bisher“, schrieb das Buch des Lebens, während der Commissario „was“ ächzte und zusah, wie sich die erste Seite seines Buchs des Lebens mit Buchstaben füllte. Er las, blätterte vor und wieder zurück, alle Seiten waren mit Buchstaben gefüllt.
Am nächsten Morgen erhob er einen zerzausten eisgrauen Haarschopf von seinem Schreibtisch. Er stellte fest, dass er so tief und erholsam geschlafen hatte, wie seit langem nicht mehr, erinnerte sich lebhaft an Träume, in denen Sex und eine späte Karriere eine Rolle spielten und schrieb alles dem Grappa zu. Irrtümlicherweise.

***

Der Commissario hielt sein Wort. Er ließ Signore Bacchi wegen Unterschlagung von Kundengeld verhaften. Der Bankdirektor gestand, nachdem der Commissario angedeutet hatte, noch wisse niemand davon, wofür er das Geld verwendet habe.
Der Commissario suchte elf riesenhafte Engländer, Holländer und Deutsche aus und stellte Zander zwischen sie. Die Bankangestellten und der Kellner des Cafe´s stellten fest, dass für sie ein riesenhafter Ausländer aussieht wie der andere, eben einfach riesig. Die Frau und ihren Freund, die Zander vom Nebentisch aus beobachtet hatten, lud der Commissario nicht vor.
Er organisierte elf kräftige, kahlrasierte Schwarze, und die Bankangestellten, die Jackson Jacksons Bankrücküberfall beobachtet hatten, stellten fest, dass für sie ein kräftiger, kahlrasierter Schwarzer aussieht wie der andere, schwarz eben, wahrscheinlich sogar, wenn sie nicht maskiert waren.
Der Commissario verhörte Zander und Jackson Jackson persönlich und kam zu dem Schluss, dass sie weiter verdächtig blieben, ihnen die Taten allerdings nicht bewiesen werden konnten. Er vermerkte in den Akten, dass Zanders Fingerabdrücke auf Signore Bacchis Schreibtisch sich dadurch erklärten, dass Zander kurz vor dem Überfall angeblich versucht hatte, ein Schließfach zu mieten. Die Möglichkeit, dass dies keine Finte zur Vorbereitung eines Überfalls war, sei zumindest nicht ausgeschlossen.
Dass die Aufnahmen der Überwachungsanlage der neusten Generation sich als unverwertbar herausstellten, schien dem Commissario geradezu folgerichtig. Die Kameras zeichneten nicht auf Band auf, sondern speicherten ihre Bilder auf Festplatten. Der Commissario fühlte sich in seiner unerklärlichen Abneigung gegen Computer bestätigt. Alle Versuche, die Dateien zu entschlüsseln, erbrachten lediglich lange Reihen unentschlüsselbarer Zeichen auf die Bildschirme. Das System lief unter Windows vista.
Entscheidend entlastete Zander die Feststellung, dass seine Blutgruppe nicht mit der des Blutes übereinstimmte, das am Tatort gesichert worden war. Der Commissario vermerkte in den Akten, dass der Grund dafür allerdings ebenso gut eine Finte sein könnte, die gelegentlich in zweitklassigen Kriminalfilmen angewandet wird: Um sich abzusichern, täuscht der Täter eine Verletzung vor und lässt aus einem Beutelchen oder einer Ampulle Blut eines anderen tropfen.
Commissario Giraldi spekulierte in Besprechungen: Da die Tatwaffe im Schreibtisch des geständigen Bankdirektors gefunden worden war, bestehe der Verdacht, er habe selbst den Überfall organisiert, um schneller an mehr Geld zu kommen als mit seinen Trickbuchungen. Signore Bacchi schwieg zu allem, er schwieg sogar bei der Gegenüberstellung, was den Verdacht des Commissario glaubhaft erscheinen ließ. Trotzdem blieb seine These anfangs unbeachtet.
An der Suche nach anderen Verdächtigen Riesen und Schwarzen war Comissario Giuseppe Giraldi nicht mehr beteiligt. Er arbeitete bereits an einem bedeutenderen Fall. Nach einigen Abenden anregender Lektüre hatte er begonnen, gegen einen landesweiten Ring zu ermitteln, der Hunderte von Frauen zur Prostitution zwang, deren Kunden für die absurdesten Sexualpraktiken zahlten. Der Fluss des trüben Kanals, der bisher seine Zukunft gewesen war, wurde zu einem munteren Gebirgsbach, von dem der Commissario überzeugt war, dass er sich an einem sonnigen Frühlingsvormittag in die scheinbar unendliche Weite des Meeres ergießen würde.
Die Ermittlungen wegen des Banküberfalls und der rätselhaften Art, auf die der Täter mit Hilfe eines Komplizen offenbar versucht hatte, seine Tat ungeschehen zu machen, stockten. Nachdem Commissario Giraldi seine Ermittlungen wegen organisierter Zwangsprostitution erfolgreich beendet hatte, wurde seine Vermutung beachtet, dass Signore Bacchi seine eigene Bank hatte überfallen lassen. Aber auch Ermittlungen in dieser Richtung brachten keinerlei Fortschritte, da der Hauptverdächtige auf alle Fragen unverändert antwortete, er habe seinem Geständnis nichts hinzuzufügen und sich darüber hinaus nichts vorzuwerfen.
In den Cafe´s und Bars von Spotorno verblasste der Banküberfall - in denen von Levanto der Tag, an dem der Comissario Zander wegen eines Banküberfalls suchte - nach und nach zu einer Anekdote, die natürlich jeder jedem erzählte, wobei jeder etwas änderte, hinzufügte oder wegließ, jeder etwas miss- oder falsch verstand, so dass schon bald niemand mehr wusste, was an dieser ganzen ganz unglaublichen Geschichte glaubhaft war und was nicht. Schon bald würde niemand mehr wissen, ob die Geschichte auf Tatsachen fußte oder gänzlich erfunden war.
Die inoffizielle Zensurkommission des Großen Rats der Bücher traf sich noch einmal. Es war an dem Abend des Tages, an dem Madeleine dem verkaterten Harry Hancock Hurricane einen Brief auf den Küchentisch geworfen hatte. „Post von deiner Bank“, sagte sie. Harry Hancock Hurricane riss den Briefumschlag auf. Wegen der etlichen Schreibfehler dauerte es eine Weile, bis er die Zeilen entschlüsselt hatte. Es dauerte eine weitere Weile, bis er verstand.
Er nahm seine Kaffeetasse, seine Zigaretten und den Brief samt Umschlag und ging nach draußen, an den Platz auf den Klippen, auf dem normalerweise Madeleine saß. Er zündete den Brief samt Umschlag an und an der Flamme eine Zigarette. Er drehte und wendete das brennende Papier, um sich nicht die Finger zu verbrennen. Die letzten Schnipsel warf er ins Meer hinunter und sah zu, wie die Flamme noch im Flug erlosch.
Die inoffizielle Zensurkommmission tagte nur kurz. Die Interpretation der Botschaft des Alten Testaments war wieder gekommen. Sie war mit dem Ergebnis der Zensur nicht vollständig einverstanden, weil Zander zwar ohne Vorteil, aber auch ohne Nachteil geblieben war. Aber sie war dem jüngeren Roman dankbar, der, um auf die religiösen Gefühle der Interpretation Rücksicht zu nehmen, die Ermittlungen wegen Zwangsprostitution in die zensierte Version des Buchs des Lebens eingefügt hatte.
„Wir hätten wissen müssen, dass es unmöglich ist, das Buch des Lebens lückenlos zu zensieren“, sagte der Vorsitzende der inoffiziellen Kommission.
„Logo“, sagte der jüngere Roman, „eben drum würde ich nicht wegen der paar Zeilen den ganzen Terz von vorn beginnen“. Sie entschieden, dass den kleinen Fehler, in einer der scheinbar unendlich vielen Versionen der Geschichte von Madeleine, Siegfried, Zander, Jackson Jackson und Harry Hancock Hurricane höchstwahrscheinlich niemand bemerken würde – selbst wenn ihn überhaupt jemand finden würde. Und den eigentlichen Beweis ihrer inoffiziellen Zensur hatte ohnehin Harry Hancock Hurricane verbrannt.

***

Nicht gleichzeitig, aber währenddessen: Ging. Endlich. Mal. Wieder. Die. Postab. Aber mal so richtig. Schulz-Harkens brummte in einen Zigarrenstummel, der so dick war wie der Hals seiner Flasche Bordeaux, genoss den Blick in das tiefe Rot des Weines, den er in sein gutes altes Whiskeyglas gegossen hatte, ersatzweise einerseits, um sich bei seinem Glas zu entschuldigen andererseits.
Vor allem genoss er die Betriebsamkeit in seiner Abteilung. Seiner. Er zog die Zigarre aus dem Mund, so dass sie ihm in die Augen sehen konnte. „Die guten alten Tugenden“, sagte er dem weisen Aschekopf, „die Leute einfach gelegentlich mal in den Arsch treten, sonst pennt der Laden ein“. Wo war er nur gewesen, dass er das vergessen hatte. Er ließ die Zigarre zur Bestätigung der guten alten Tugenden zweimal nicken, bevor er sie wieder in den Mund steckte. Schulz-Harkens sah, wie Henriette etwas in ihren Computer tippte, wovon er sich gerade nicht erinnerte, dass er es angeordnet hatte. Hauptsache, er hatte es angeordnet.
Henriette sah die graue Wand hinter den Glasscheiben und fürchtete, ihr Chef würde im Zigarrenqualm ersticken. Er hatte den Sonnenschein dieses herrlichen Frühsommertages hinter der Jalousie eingeschlossen und das Licht ausgeschaltet. Behindert von ihrer Sorge und einer asymmetrischen Tastatur, die Sehnenscheidenentzündungen vorbeugen sollte, vertippte sich Henriette häufiger als gewöhnlich und dachte an die Zeit zurück, als sie jeden Fehler noch mit Tipp-Ex korrigieren musste.
Sie war unsicher, ob die Zeit damals schlechter oder besser gewesen war, glaubte sich zu erinnern, dass sie irgendwie besser gewesen war, erinnerte sich aber nicht warum, schließlich war es reichlich lästig gewesen, mit dem Pinsel und der weißen Flüssigkeit zu hantieren. Aber dann war ja auch schon die Kugelkopfschreibmaschine mit Korrekturband erfunden worden.
Schulz-Harkens sah die ewig indignierte Grafikerin mit ihrer albernen violetten Strähne im Haar neben Henriettes Schreibtisch stehen, eben als Henriette bestürzt vermutete, dass sämtliche Sekretärinnen arbeitslos geworden waren, die einst bei Tipp-Ex gearbeitet hatten. Die Brille der Grafikerin sah aus, als trüge sie die Augen hinter ihren Gläsern nur zum Schmuck, nicht um durch sie zu sehen.
Schulz-Harkens überlegte, ob die Brille gerade nach vorn heraus guckte, in seine Richtung, oder nach hinten, in das Gehirn der Grafikerin, und ob sie dort irgendetwas sah außer einem verästelten Geflecht rötlicher Adern und Dunkelheit. Womöglich fragte die Brille sich gerade, ob das Violett im Hintergrund die Fortsetzung der gefärbten Haarsträhne im Inneren des Kopfes war oder der Widerschein der Indigniertheit.
Schulz-Harkens patschte mit dem Handballen auf die Gegensprechanlage. „Soll reinkommen“, befahl er und sah, dass Henriette etwas erwidern wollte. „Sie soll einfach reinkommen“, sagte er, diesmal mit einer Liebenswürdigkeit, als hätte Henriette ihm gemeldet, seine neunjährige Tochter sei gekommen, um ihm ihr Zeugnis zu zeigen. Alles Einsen, nur eine Zwei.
Tatächlich war Schulz-Harkens Tochter bereits siebzehn, er selbst seit vier Jahren geschieden, und soweit er sich erinnerte, hatte seine Tochter nie etwas anderes als Vieren nach Hause gebracht, und nur gelegentlich mal eine Drei.
Die indigierte Grafikerin kam herein und hüstelte. „Setzen sie sich“, sagte Schulz-Harkens und wedelte mit seiner Zigarre in Richtung des Stuhls vor seinem Schreibtisch, den er nicht sehen konnte, weil er die Füße auf eine Ecke des Tisches gelegt hatte und der Stuhl an der entgegengesetzten Ecke stand. Ein Stück des Aschekopfes löste sich von der Zigarrenspitze und fiel statt auf seinen Schreibtisch in den steinernen Aschenbecher, den er aus einer Schreibtischschublade exhumiert hatte. Ein ausgesprochener Glückstag.
„Glas Rotwein?“, fragte Schulz-Harkens, ganz guter Gastgeber bei einem kleinen Treffen alter Freunde. Die indignierte Grafikerin setzte sich, legte eine Skizzenmappe auf den Schreibtisch, lehnte den Rotwein ab, zog mit einem Ruck die Brille von der Nase und begann sie an dem schwarzen Stoffzelt zu putzen, das ihr ein Scharlatan mit dem Vorwand angedreht hatte, es sei eine Bluse.
Sie wollte mit der Geste klar machen, was sie vom Rauchen am Arbeitsplatz hält, denn ihr lag die nonverbale Kommunikation näher als das gesprochene Wort. Sie hatte viel gelesen über die Bedeutung der nonverbalen Kommunikation und warum sich ihr niemand entziehen konnte, bewusst oder unbewusst. Die Geste flog bedauerlicherweise unbemerkt in die neblige Dunkelheit davon, obwohl Schulz-Harkens die Füße vom Tisch genommen und sich zu ihr umgedreht hatte. Aber er hatte sich dabei eine Qualmwolke ins Gesicht geblasen und die Lider zusammengekniffen, weil der Rauch ihm in die Augen biss.
Die indignierte Grafikerin sah in die Krähenfüße des Chefs ihres Chefs, der Kessler hieß, wie sie sich wieder erinnerte, gab ihren Versuch der nonverbalen Kommunikation auf und schob sich die Brillenbügel wieder zurück hinter ihre Ohren. „Die ersten Skribbles für die Anzeigenserie“, sagte sie und schob die Mappe in Schulz-Harkens’ Richtung.
„Ausgezeichnet“, sagte Schulz-Harkens, öffnete statt der Mappe die Augen, sah in die schwarz gerandeten Brillengläser, zwinkerte ihnen wissend zu und schob die Mappe wieder zurück. Die indignierte Grafikerin hüstelte wieder, diesmal aus Unsicherheit, wobei ihr die Brille auf die Nasenspitze rutschte, vermutlich bei dem Versuch, in all dem Zigarrendunst einen Hauch des Geruchs zu erschnüffeln, den der offensichtlich ausgezeichnete Rotwein vor Schulz-Harkens verströmen musste.
Die Grafikerin schob die Brille wieder zurück. Schulz-Harkens nippte an seinem Rotwein. „Den Skizzen liegen sechs grundverschiedene gedankliche und werbliche Konzepte zugrunde“, sagte die Grafikerin in einem Ton, als verkünde sie, sie habe die Bombe erfunden, die im Fall eines Nuklearschlags die radioaktive Strahlung zurückbombt.
„Ausgezeichnet“, sagte Schulz-Harkens wieder, „Kessler soll entscheiden, welches der Konzepte für unsere Zwecke das geeignete ist“.
„Das Konzept zur, sagen wir einmal, Vermarktung des Sexualakts en passant wird in Kürze folgen“, sagte die Grafikerin und rümpfte in einem weiteren Versuch der nonverbalen Kommunikation die Nase. Allerdings missdeutete Schulz-Harkens diese Geste, weil er dachte, die Grafikerin wollte mit einem Naserümpfen verhindern, dass ihre Brille wieder abrutscht.
„Ausgezeichnet, ausgezeichnet“, sagte er, „schauen sie dann einfach noch einmal vorbei. Nicht doch vielleicht ein Gläschen Rotwein?“
Die indignierte Grafikerin lehnte Alkohol am Arbeitsplatz ab, sagte aber nur nein Danke. „Dann schicken sie mir doch bitte diesen Kessler“, sagte Schulz-Harkens und entließ sie, indem er seinen Bürostuhl drehte und die Füße wieder auf die Tischkante legte. Die Grafikerin ging.
Um sich die Wartezeit zu vertreiben, summte er seinem Rotwein ein paar Takte Vivaldi und dachte über den Fluch nach, dass geschiedene Männer den Namen ihrer Exfrauen im Doppelnamen bei sich trugen.
Schulz-Harkens sah Kesslers Aktenordner draußen neben Henriettes Schreibtisch. Der Ordner hatte Kessler mitgebracht, der an seinem Krawattenknoten zupfte. Henriettes Stimme meldete ihm, dass Herr Kessler da sei. Schulz-Harkens zielte mit dem kleinen Finger auf die Taste der Gegensprechanlage und traf ins Zentrum. „Soll noch einen Moment Platz nehmen“, sagte er.
Um sich auf das Gespräch einzustimmen, versuchte er, etwas von den Sex Pistols zu summen, scheiterte aber, weil er keine summbare Melodie fand, eigentlich gar keine Melodie. Er stellte sein Glas auf den Tisch und steckte sich die Zigarre quer zwischen die Zähne, um es statt mit einer Melodie mit Liegestützen zu versuchen. Nach der achten brach er ab.
Er kniff sich mit den Fingernägeln in die Brustwarzen, dachte darüber nach, sich mit der Zigarre die Haut an der Innenseite des Unterarms zu versengen, entschied sich aber dagegen. Er schob sich die Zigarre in den Mundwinkel, ging zur Tür und knurrte, bevor er sie öffnete. „Kommen sie rein, Kessler, kommen sie rein“, sagte er, nachdem er sie geöffnet hatte, als ginge es ihm darum, die frohe Botschaft einer Gehaltserhöhung zu überbringen.
Tatsächlich ging es in dem Gespräch anfangs beiläufig um die Frage, ob Kessler eigentlich verheiratet war, dann um die Frage, warum Schulz-Harkens sich einen Marketingleiter leisten sollte, wenn ein Namensschild neben einer Bürotür den gleichen Effekt hätte, einen besseren sogar noch, weil sich wenigstens jeder an den Namen auf dem Namensschild erinnern würde, das an einem Büro hängt, in dem nie jemand saß.
Am übernächsten Tag begann der Verlag der Bücher zwei groß angelegte Anzeigenkampagnen für sein Flaggschiff der Belletristik. Kessler zeichnete selbst Diagramme, um die steil ansteigenden Verkaufszahlen zu dokumentieren und berief eine Reihe von Meetings ein. Schulz-Harkens sagte die Teilnahme bei jedem von ihnen ab und ließ sich nur die Diagramme vorlegen. Die indignierte Grafikerin kündigte, um zu einem Verlag zu wechseln, der Frauenzeitschriften vertrieb. Schulz-Harkens sagte ihr, er lasse eine Kraft wie sie nur ungern ziehen.
Sechs Tage später sah ein Mitglied des Großen Rats der Bücher eine der Anzeigen, als es eine Tageszeitung las, weil es gerade kein Buch bei der Hand hatte. Zwei Wochen später diskutierte der Große Rat der Bücher in einer Sondersitzung über die Arbeit der Zensurkommission, der Vertriebsabteilung des Verlags der Bücher und natürlich über die Zensur in einer Art, dass schon bald keiner der Journalisten auf der Pressetribüne mehr verstand, worum es eigentlich ging. Die meisten schrieben, dass keiner verstehen könne, worum es in der Diskussion ging, sie daher müßig war.
Ein noch jugendlicher Redakteur, der mangels Erfahrung nicht verstanden hatte, dass niemand verstanden hatte, worum es ging, schrieb stattdessen über Gerüchte, dass der Große Rat der Bücher seine eigene Zensurkommission für eine Rotte skrupelloser Lügenschriften, pornografischer Schmuddelhefte, weinerlicher Schundromane und karrieregeiler Erstlingswerke hielt, weshalb sich angeblich neben der offiziellen Zensurkommission regelmäßig eine inoffizielle Kommission traf. Diese inoffizielle Zensurkommission habe, wie aus gut unterrichteten Quellen verlautet, ein Exemplar des Buchs des Lebens zensiert, ohne demokratische Legitimation und ironischerweise ohne jeden Nutzen, weil gleichzeitig der Verlag der Bücher mit eben den zensierten Passagen eine Werbekampagne begonnen hatte.
Die offizielle Zensurkommission forderte, dass ihre Kompetenzen auf Pressetexte erweitert werden, was aber unbemerkt blieb, weil darüber keine Zeitung berichtete und der Große Rat der Bücher es ablehnte, sich mit Beschlüssen seiner Zensurkommission zu befassen.
Der jugendliche Redakteur interviewte Schulz-Harkens. Schulz-Harkens verwies darauf, dass sämtliche Entscheidungen in Bezug auf die fragliche Kampagne sein Marketingleiter gefällt hatte. Er selbst sei nicht einmal in einem einzigen Meeting zum Thema anwesend gewesen, sondern habe lediglich die steigenden Verkaufszahlen zur Kenntnis genommen. Er entließ Kessler und gab in einer Pressemitteilung bekannt, der Verlag der Bücher habe sich nach eingehender Prüfung entschieden, sich von seinem moralisch fragwürdigen Marketingleiter zu trennen.
Kessler bekam eine Reihe von Angeboten von Verlagen, die skrupellose Lügenschriften oder pornografische Schmuddelhefte verkauften und nahm eines davon an.
Der Senat des Großen Rats der Bücher lud Schulz-Harkens zu einer inoffiziellen Sitzung vor, in der es um seine eigene Kündigung gehen sollte. Schulz-Harkens ließ Henriette eine Absage zurückschicken, nebst der Kopien einiger Passagen aus dem Exemplar des Buchs des Lebens, das der Interpretation der alttestamentarischen Botschaft gehörte. Er handelte fünf Jahresgehälter als Abfindung heraus und kündigte selbst, weil er sich aus verschiedenen Gründen zu einem ausgedehnten Aufenthalt in Norditalien entschieden hatte.
Das Buch des Lebens, das die Geschichte von Madeleine, Siegfried, Zander, Jackson Jackson und Harry Hancock Hurricane schrieb, brummte wie Schulz-Harkens, wenn auch ohne Zigarre, um anzukündigen, dass es am nächsten Morgen die Arbeit an seinem Standardwerk zur Unendlichkeit der Unendlichkeit fortsetzen würde.

***

Die Interpretation der alttestamentarischen Botschaft hatte sich geirrt in ihrem Unwillen darüber, dass Zander aus dem Banküberfall keinen Nutzen gehabt hatte, aber auch keinen Schaden. Zander litt die Qualen eines Jungen, der immer der letzte war, der übrig blieb, wenn die Fußballmannschaften zusammengewählt wurden. Und ganz am Schluss stritten die beiden Mannschaftskapitäne noch, wer von ihnen ihn in seine Aufstellung nehmen musste.
Seit die Polizei ihn hatte laufen lassen, schlich Zander durch das Haus wie ein Einbrecher, wenn auch ungleich geräuschvoller, in der Hoffnung, keinem der anderen zu begegnen, um keinem von ihnen in die Augen sehen zu müssen. Er fühlte sich wie Chiara, nachdem sie herausgefunden hatte, dass Zander und Jackson Jackson jeden Quadratzentimeter ihres Körpers nackt gesehen hatten, wenn auch nur im Traum.
Jedenfalls vermutet er sich so zu fühlen, bis er darüber nachdachte, dass er sich anders fühlen musste, schlechter. Schließlich war Chiara vollkommen unschuldig in einen Traum geraten, er dagegen hatte in voller Absicht und in Wirklichkeit eine Bank überfallen, und damit seine Freunde, weil sie ihm helfen wollten, in die Gefahr gebracht, verurteilt und eingesperrt zu werden. Er fühlte sich schuldig, schuldig, schuldig.
Fast wäre es ihm lieber gewesen, er selbst wäre verurteilt und eingesperrt worden, bevor die anderen etwas unternommen hätten. Als er darüber näher nachdachte, entschied er allerdings, dass es ihm doch nicht lieber gewesen wäre und verwarf den Gedanken, sich dem Commissario zu stellen, der ihn verhört hatte, um alles zuzugeben. Dann würde nicht nur er verurteilt und eingesperrt, sondern auch Madeleine, Jackson Jackson und Harry Hancock Hurricane. „Beihilfe zum Banküberfall“, sagte Zander. Er hatte begonnen, mit sich selbst zu sprechen, weil er sicher war, die anderen wollten nichts mehr hören von dem, was er zu sagen hatte.
Er wäre zu allem bereit gewesen, um alles ungeschehen zu machen, dazu, augenblicklich auf die Größe von Harry Hancock Hurricane zu schrumpfen, dazu, alle Jennys oder Janes rückzuverführen, wie Jackson Jackson die Bank rücküberfallen hatte, um alles ungeschehen zu machen. Aber er konnte nicht ungeschehen machen. Nicht einmal Jackson Jackson hatte mit seinem Bankrücküberfall den Banküberfall ungeschehen machen können. Niemand konnte etwas ungeschehen machen, außer womöglich Gott.
Zander sprach zu Gott, wobei es aussah, als spräche er zu sich selbst, denn Gott antwortete ihm nicht, was ihn nicht wunderte, weil er von Anfang an sicher gewesen war, dass Gott nichts von dem hören wollte, was er zu sagen hatte, weil Gott nicht mit Bankräubern spricht.
Er hatte das Gefühl, dass auch die anderen nicht mehr mit ihm sprachen. Sie sprachen zwar mit ihm, aber anders als früher, nur aus Höflichkeit, wie man mit einem Touristen im Roma spricht, obwohl sein Geschwatz einen eigentlich nur dabei stört rumzuschauen, wer sonst noch so unterwegs ist. Sie hatten alle Recht. Wahrscheinlich sollte überhaupt niemand mit einem Bankräuber sprechen, jedenfalls mit keinem, der nicht verurteilt und eingesperrt worden war.
Als er sich bei allen entschuldigt hatte, jammernd und so wortreich, wie es ihm eben möglich war, hatten sie ihm gesagt, es sei in Ordnung. Er soll einfach alles vergessen. Das Gleiche würden sie auch tun. Zander hatte versucht, alles zu vergessen, scheiterte dabei, erinnerte sich sogar umso deutlicher, je mehr er versuchte, alles zu vergessen, und war überzeugt, die anderen könnten genauso wenig vergessen.
Er arbeitete Überstunden, um mehr Geld für ihre gemeinsame Kasse zu verdienen, vor allem, um die anderen seltener sehen zu müssen, ging nur noch gelegentlich ins Roma, zu Steffi und zu Patrizia, jedenfalls nicht mehr jeden Tag. Er hatte sogar ein paar Tage lang nichts getrunken außer Wasser, nicht einmal Kaffee, aber nichts half. Das Leben war wie ein Karussell geworden, es drehte und drehte sich immer im Kreis, um den Banküberfall in seiner Mitte herum, die Tage danach waren der Weg, den das Karussell mit jeder Umdrehung wiederholte, und wenn es dort angekommen war, wo die Fahrt begonnen hatte, begann sie wieder von vorn. Er war schuldig, schuldig, schuldig, dass die anderen nie mehr so würden leben können wie vor dem Banküberfall.
Er dachte an Selbstmord, allerdings nicht lang. Er dachte daran, den anderen einen Brief zu schreiben, in dem er sich noch einmal entschuldigte und ihnen sagte, die einzige Lösung, ihnen ihr altes Leben zurückzugeben, sei für immer zu verschwinden. Sie sollten ihn nicht suchen. Aber wo sollte er hin?
Er versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, ohne die anderen zu leben, aber er konnte es sich nicht vorstellen. Er hing an ihnen wie eine Klette, oder eher nein, nur früher war er an ihnen gehangen wie eine Klette, ohne darüber nachzudenken, inzwischen hing er an ihnen wie eine Zecke, die ihnen das Blut vergiftete, während sie saugte, oder nein, schlimmer. Zecken fallen irgendwann von allein ab, er nicht. Er würde erst abfallen, wenn die anderen ihn von sich abzupften, aber das würden sie nicht tun. Und selbst wenn, wahrscheinlich würden sie ihn nicht richtig zu fassen kriegen, und sein Kopf würde stecken bleiben und sie weiter vergiften.
Während Zander darüber nachdachte, wie er die anderen zwingen könnte, ihn aus ihrer Haut zu reißen, lag Harry Hancock Hurricane in seinem Zimmer auf seinem Bett und stierte an die Decke, als fürchtete er, sie würde herabstürzen, wegen eines Erdbebens oder wegen Baufälligkeit.
Madeleine wohnte im Panzer ihres lesbischen Lebens, der ihr seit ihrer Pubertät gewachsen und dicker geworden war mit jedem Jungen oder Mann, der sie in einer Bar ansprach, jedem Blick von Männern oder Frauen, wenn sie eine ihrer Freundinnen in den Arm genommen oder geküsst hatte. Sie trank ihren Kaffee auf der Klippe, sie pries ihre Immobilien und Grundstücke, sie saß mit Chiara bei Steffi, sie spottete über ihn oder Zander, behandelte ihren Bruder, als wäre sie nicht seine Schwester, sondern sein Vater. Sie war wie immer, wie früher.
Wie Jackson Jackson sich fühlte, war ebenso wenig zu beurteilen. Er war nahezu täglich in Genua, erzählte, er arbeite an einigen höchst interessanten Theorien, die er dem Buch des Lebens zu verdanken hatte und schien viel zu beschäftigt, um sich über den Überfall Gedanken zu machen.
Siegfried sprach noch weniger als sonst und schien, obwohl er an nichts von alledem beteiligt gewesen war, was sie für Zander getan hatten, am meisten von allen getroffen: Er hatte keinen Appetit mehr. Harry Hancock Hurricane ahnte, wie Siegfried sich fühlen musste: Etwa so, als wäre ihm die Fähigkeit abhanden gekommen, seine Muskeln anzuspannen. So fühlte er sich selbst.
Nachdem als letztes die Polizisten in Zivil abgerufen worden waren, die Zander und Jackson Jackson überwacht hatten, hatte er alle zu einer Party eingeladen, das übliche Programm natürlich, nur eben für alle auf seine Kosten, eine Sause darauf, dass sie ihre Freiheit zurückbekommen hatten. Sie waren bei Steffi verendet, saßen in der Ecke wie das Jahrstreffen des Vereins der von ihren Familien Verstoßenen. Das Media Rossa hatte geschmeckt wie das Bier bei Patrizia. Eine halbe Stunde nach Mitternacht stapften sie durch den zweiten Eisenbahntunnel und nervten sich gegenseitig damit, dass sich nicht einmal jemand über die Dunkelheit beklagte, sondern sie einfach schwiegen.
Seitdem hatte Harry Hancock Hurricane kein einziges Mal mehr darüber nachgedacht, wie er soviel Geld verdienen könnte, dass er nie mehr Geld verdienen müsste. Er hatte nicht einmal mehr Lust auf eine kleine Wette mit Giacomo, drüben in der Fußballbar, nicht einmal auf eine ehrliche. Selbst wenn er Lust gehabt hätte: Mit ihm wettete doch ohnehin niemand mehr.
Das Leben jedes einzelnen von ihnen, vor allem ihr Zusammenleben, ihr Haus, ganz Levanto, schien wie auf einen anderen Planeten gebeamt. Alles sah so aus wie gewohnt, aber auf allem, was sie taten, schienen Gewichte zu lasten. Schon der Kaffee am Morgen war eine Anstrengung wie früher nur das Dieselholen an den elenden der Samstage. Die Schwerkraft ihres neuen Norditalien auf ihrem neuen Planeten war um ein Mehrfaches größer als im alten Norditalien auf der guten alten Erde.
Selbst das Buch des Lebens hatte sich verändert. Allerdings schien es im Gegensatz zu ihnen allen nicht gealtert, sondern sozusagen rückgealtert worden zu sein. Es schien sogar sein Geschlecht gewechselt zu haben. Gerade plapperte es über Tortenrezepte. Es plapperte inzwischen ohne Unterlass. „Mal was anderes“, sagte Harry Hancock Hurricane zu sich selbst.
Das Buch des Lebens unterbrach sich selbst, etwa so wie eine Katze sich dabei unterbricht, ihre Pfoten zu lecken, weil jemand einen Ball mit einer Klingel darin an ihrer Decke vorbeirollt, unschlüssig, ob sie demjenigen den Gefallen tun soll, dem Ball hinterherzuspringen oder ob es gerade vordringlich war, sich weiter die Pfoten zu lecken.
Harry Hancock Hurricane sagte dem Buch des Lebens, dass Zander seit dem Banküberfall durchs Haus schlich wie ein Einbrecher, und dass sie alle sich wohl nicht wesentlich anders fühlten als er. „Unser ganzes Leben sieht aus wie ein billiger Ouzo mit Wasser, unten trüb, in der Mitte schlierig und obendrauf splittrige Kristalle, die am Gaumen kratzen“ sagte Harry Hancock Hurricane.
„Deswegen bevorzuge ich unter den Anisschnäpsen einen anständigen Pastis“, sagte das Buch des Lebens.
Harry Hancock Hurricane presste seine Fäuste an die Schläfen, als müsse er verhindern, dass links und rechts seiner Stirn der Schädelknochen platzt und etwas Gelbliches herausquillt, was sich in seinem Gehirn angesammelt hatte in der Absicht, sein Bettlaken zu versauen. Er fragte das Buch des Lebens, ob es nur die Ungewissheit war, die alles niederdrückt, ob nicht doch irgendwann irgendein anderer Commissario vor der Tür steht als der, den sie mit einem Buch des Lebens bestochen hatten.
„Das wird nicht geschehen“, sagte das Buch des Lebens.
„Das weiß ich, die anderen wissen es, jedenfalls glauben sie jeden Tag ein wenig mehr daran, aber trotzdem ist das Leben nicht mehr so wie früher“, sagte Harry Hancock Hurricane. Ihm fiel ein, worüber das Buch des Lebens geplaudert hatte, bevor er es unterbrach und hoffte, er könnte es mit einer Metapher für seine Sorgen interessieren. „Es schmeckt so, als hätte jemand die gesamte Sahne aus der Torte gesaugt und gegen Eiweißschaum ersetzt. Man kaut auf der Torte herum und fragt sich die ganze Zeit, warum sie weder richtig cremig, noch richtig süß schmeckt“.
„Genau das nennt man Leben“, sagte das Buch des Lebens, „die meisten Konditoren des Lebens sind Stümper oder Pfennigfuchser. Und selbst wenn man endlich einen guten gefunden hat, schmeckt seine Torte nie mehr so süß und cremig wie beim ersten Mal“.
Harry Hancock schwieg und dachte über das Leben nach, über nachlassende Geschmacksnerven, darüber, ob sich tatsächlich Gefühle abnutzen wie Schuhsohlen, so dass man sie irgendwann besser wegwirft und sich neue besorgt, wie man durchgelaufene Lieblingsschuhe wegwirft, meistens zu spät allerdings, weil einem ein rätselhafter Wahn vorgaukelt, sie sähen noch immer so aus wie damals, als sie im Schaufenster gestanden hatten.
Das Buch des Lebens plapperte wieder über Tortenrezepte, als ginge es um den Wettbewerb zum Rezeptbuch des Lebens.
„Das Beste wäre, einfach alles zu vergessen“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Vergessen?“, sagte das Buch des Lebens, „ich wollte nicht ohne Torte leben, nicht einmal ohne die, die weder richtig cremig, noch richtig süß schmeckt. Abgesehen davon, sprichst du nicht gerade mit einem Meister des Vergessens.“
Harry Hancock Hurricane verschränkte die Hände hinter dem Kopf, als sei es ihm inzwischen egal, wenn irgendein Sabber seine Schläfen sprengt, um sein Bettlaken zu versauen. Gerade dachte er ohnehin an etwas ganz anderes, was er allerdings nicht sagte. Stattdessen sagte er: „Du weißt, was ich meine, du könntest mir helfen, eine andere Version unserer Geschichte zu finden, in der alles wieder anders wird, weil wir irgendetwas tun, was wir sonst nicht getan hätten“.
„Selbstverständlich“, sagte das Buch des Lebens, „es würde aber nicht helfen, weil was geschrieben stand, geschehen musste. Du kannst deine Zukunft ändern, nicht aber deine Vergangenheit. Und das Andere, worüber du nachdenkst, das vergisst du am Besten gleich wieder“.
„Was?“
„Was du eben gedacht hast. Vergessen war nur metaphorisch gemeint, selbstverständlich, das wirst du nicht vergessen können.“
Harry Hancock Hurricane hatte daran gedacht, Madeleine von dem Tag zu erzählen, an dem Chiara entschieden hatte, ihm jenen Gefallen zu tun. Seitdem wusste auch er von der Gänsehaut, die Chiara bekam, wenn man über ihren kleinen, hervorstehenden Leberfleck streichelte. Merkwürdigerweise schien es Chiara trotzdem nicht peinlich mit ihm zu sprechen, auch schien sie keinerlei schlechtes Gewissen Madeleine gegenüber zu spüren. Es war, als hätte sie die zwei Stunden mit Harry Hancock Hurricane ganz einfach vergessen.
„Ein Irrtum“, sagte das Buch des Lebens, „den scheinbaren Segen des Vergessens gönnt Gott nur denjenigen, die er in Bälde zu sich zu holen gedenkt oder denjenigen, die er mit etwas segnet, was sie nicht haben wollen: einem Gehirnschaden“, sagte das Buch des Lebens und notierte sich ein paar weitere grundsätzliche Fehler in Gottes Bauplan für die Welt, die ihm bisher entgangen waren.
Harry Hancock Hurricane dachte darüber nach, warum zum Geier das Buch des Lebens jetzt wieder mit Gott anfing und zwar so, dass er keineswegs klang wie eine Metapher. Allerdings hatte er keine Lust, das Gespräch von Sahnetorten bis Religion auszuwalzen. „Es wäre trotzdem gut, wenn man manchmal einfach etwas vergessen könnte“, sagte er.
„Im Allgemeinen gilt Gedächtnisschwäche nicht als Stärke“, sagte das Buch des Lebens, „außerdem kannst du dich beruhigen. Du vergisst mehr, als du glauben würdest“.
„Aber das Falsche.“
„Woher weißt du, was du vergessen hast, wenn du es vergessen hast?“
„Jedenfalls nicht das Richtige.“
„Woher weißt du?“
„Jedenfalls nicht das, was ich jetzt gerade vergessen will.“
„Die Wahrheit ist, dass du nichts vergessen willst, du willst etwas ungeschehen machen“, sagte das Buch des Lebens, „so wie dein Freund Zander“.
Harry Hancock Hurricane dachte darüber nach, ob es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, dass das Buch des Lebens von der Schwatzhaftigkeit zum Altersstarrsinn zurückzukehren schien und konnte sich nicht entscheiden. Er fragte sich, warum er eigentlich ständig die Decke anstarrte, als fürchte er sich davor, dass sie auf ihn herabstürzt. Er ging hinüber zum Tisch, auf dem das Buch des Lebens stand, setzte sich und zündete sich eine Zigarette an. Der Tabak schmeckte nach vertrocknetem Laub. Er sprach zum Buch des Lebens von Angesicht zu Bildschirm.
„Woher willst du wissen, was wir wollen“, sagte er.
Das Buch des Lebens räusperte sich nur.
„Schon verstanden. Vergiss es einfach“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Es gibt da eine Möglichkeit“, sagte das Buch des Lebens.
„Wie tröstlich, dass selbst ein Buch etwas vergessen kann, das alles weiß“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Ich meine, es gibt eine Möglichkeit, dass du vergisst, was du vergessen willst.“
„Klar, du löscht es einfach, dann ist es weg. Schwupps.“
„Falls es dich nicht interessiert, hätte ich noch einige wunderbare Tortenrezepte.“
Harry Hancock Hurricane entschied, dass was immer es war, ihn hoffnungslos interessierte. Das Buch des Lebens sagte ihm, er soll sich setzen und gab ihm eine Geschichte aus einer längst vergangenen Zeit zu lesen.

***

In den Großen Rat der Bücher berufen zu werden, war die zweithöchste Ehre, deren ein Buch würdig war. Die höchste Ehre war, in den Senat des Großen Rats der Bücher berufen zu werden. Ungezählte Bücher mühten sich Jahr um Jahr, auf eine Berufung hoffend, indem sie fortwährend Abhandlungen schrieben über das, was der Große Rat beriet, weil sie glaubten, die Senatoren würden ihren Fleiß bemerken und das mit Wohlwollen, zumal sie die Weisheit der Ratschlüsse des Großen Rats stets lobten.
Die zweitehrenvollste Aufgabe der Senatoren war, neue Mitglieder für den Großen Rat vorzuschlagen. Andere Bücher schrieben, ebenfalls in der Hoffnung berufen zu werden, fortwährend ihre Meinungen über Beratungen des Großen Rates, die noch nicht beendet waren. Stets schrieben sie zu ihrer Meinung eine Empfehlung, welcher Ratschluss für welche Beratung der weiseste wäre und warum. Sie hofften, die Senatoren würden ihre Weisheit bemerken und sie schon deswegen berufen, weil der Große Rat viel Zeit sparen könnte, wenn er sich von ihren weisen Meinungen leiten ließe.
Nur wenige Eingeweihte wussten um die ehrenvollste Aufgabe der Senatoren. Sie war, mit großer Sorgfalt zu prüfen, ob ein Buch sich je um eine Berufung bemüht hatte. Ein solches Buch durfte niemals berufen werden. Der schlichteste Grund für diesen weisen Ratschluss, der vor langer Zeit getroffen worden war, lautete: Ein Buch, das sich um eine Berufung bemüht, wendet unabdingbar weniger Zeit dafür auf, sich um das Wachstum seiner und anderer Weisheit zu bemühen. Und in den Großen Rat sollten irgendwann in ferner Zeit nur noch die Weisesten der Weisen berufen sein.
Niemand ärgerte sich häufiger als das Buch des Lebens darüber, dass dieser weise Ratschluss erst lange nach der Zeit fiel, in der der Große Rat zum ersten Mal zusammengekommen war und darum die Zeit, in der nur noch den Weisesten der Weisen erlaubt sein würde den ehrwürdigen Ratsaal zu betreten, zum Geier noch mal so elend fern war.
Der eigentliche Grund dafür, dass niemals mehr ein Buch berufen werden durfte, das um seine Berufung buhlte, waren die Erfahrungen der Vergangenheit. Da den Büchern einst noch jede Erfahrung mit ihrem Großen Rat fehlte, hatten sie sich ursprünglich für eine andere Art entschieden, den Großen Rat zu besetzen.
Die hirnvergiftend beredten Zeugen dieses Irrtums waren oberlehrerhafte Schulbücher, verständliche philosophische Abhandlungen, selbst pornografische Schmuddelhefte, die seit Büchergedenken mit ihrem Ratssitz verwachsen schienen und selbst dann kaum von ihm zu lösen waren, wenn sie anderer Bücher Inhalte verfälschten, selbst die einfachsten Kommaregeln vergaßen oder auf andere, noch verwerflichere Art, selbst in schändlicher Weise, die Ehrwürdigkeit des Amtes verletzten. Sie waren die fleckigen Überreste jener fernen Vergangenheit.
In den frühen Jahren des Großen Rates hatte jedes beliebige Buch das Recht, sich selbst oder ein anderes Buch zum Ratsmitglied vorzuschlagen. Dieses Vorgehen schien, obwohl ohne Erprobung begonnen, anfangs sogar geeignet. Die Bücher wählten die Weisesten der Weisen und Wortgewandtesten der Wortgewandten unter sich zu Mitgliedern des Großen Rats. Recht bald allerdings wurden die ersten Weisen altersstarrsinnig oder aus anderem Grund rechthaberisch, die ersten Wortgewandten verbitterten über Schreibblockaden oder wegen der Unterhaltszahlungen an ihre geschiedenen Ehefrauen. Ihre Ratschlüsse schienen vielen Büchern nicht mehr so weise wie zuvor.
Andere der Mitglieder des Großen Rates wurden träge, weil sie die zweithöchste aller Ehren ohnehin erreicht hatten und ihnen das genügte, oder sie wurden deshalb träge, weil während der Beratungen fortwährend Häppchen gereicht wurde, so dass mancher unter einer Fresssucht litt. So schien es vielen Büchern, dass sie sich nicht mehr mit der gleichen Sorgfalt wie zuvor um die Weisheit ihrer Ratschlüsse bemühten. Einige der Ratschlüsse schienen sogar willkürlich.
Diejenigen Weisen, denen die Bücher Altersstarrsinn, Rechthaberei, Trägheit oder Willkür nachsagten, rechtfertigten sich, indem sie Erkenntnisse von Büchern verfälschten, die sich nie um einen Sitz im Rat bemüht hatten, weil sie sich ausschließlich darum bemühten, ihre und anderer Weisheit zu mehren. Die Erkenntnisse, die am häufigsten auf diese Art missbraucht wurden, waren die der Unlogiker. Allenthalben begannen die trägen oder willkürlichen Mitglieder des Rates Irrtümer damit zu rechtfertigen, dieses sei logisch, jenes unlogisch und daher ihr Ratschluss zwar nicht für jederbuch verständlich, aber ungeachtet jeder Kritik richtig.
Einige noch jugendliche Journalisten fragten die Unlogiker und andere Weise, was sie von solcherlei Abwandlungen ihrer Erkenntnisse hielten. Meist antworteten die Weisen, sie seien zu beschäftigt, um sich mit derlei Nichtigkeiten zu befassen. Wenn sie den jugendlichen Journalisten doch ihre Fragen beantworteten, verstanden die die Antworten falsch und gaben wiederum neue Varianten der ursprünglich weisen Erkenntnisse wieder.
Immer mehr der Weisen verbitterten, weil immer mehr ihrer Weisheiten absichtlich oder unabsichtlich so verfälscht wiedergegeben wurden, dass sie nicht mehr weise schienen. Manche verfielen der Fresssucht oder weigerten sich, weiterhin Unterhalt an ihre geschiedenen Ehefrauen zu zahlen.
So wagte am Ende kaum mehr ein Buch zu beurteilen, welches Buch ein Weiser war und welches nur rechthaberisch oder träge, weshalb immer mehr unter ihnen sich nicht mehr darum kümmerten, ob Weise oder Scharlatane in den Großen Rat bestimmt wurden. Sie bestimmten einfach denjenigen, von dem andere ihnen sagten, sie hielten ihn für weise.
So gerieten die ersten Scharlatane in den Großen Rat, die nie einen nachdenkenswerten Satz geschrieben hatten, weil sie sich um nichts anderes mehr bemühten als um ihre Berufung. Als andere erkannten, dass es selbst Scharlatanen gelungen war, in den Großen Rat bestimmt zu werden, bemühten sie sich ungeachtet irgendeiner Weisheit ebenfalls um eine Berufung.
Weil längst jeder wusste, dass sich kaum noch jemand darum kümmerte, wer weise genug für eine Berufung wäre, bemühten sie sich zunächst um das Wohlwollen derjenigen, die fortwährend den anderen erklärten, welches Buch weise genug für einen Sitz im Rat schien. Jene Bücher, die kaum noch über etwas anderes schrieben als darüber, wer geeignet schien und wer ungeeignet, begannen für ihre Fürsprache Honorare zu verlangen und erhöhten sie immer weiter. So galt am Ende das Amt des Fürsprechers gar als erstrebenswerter als das eines Senatoren. Jedenfalls war es lukrativer.
Daran, dass die Mitglieder ihres Großen Rates ehrenwert waren, zweifelte inzwischen so gut wie jedes Buch. Daran, dass die Ratschlüsse des Großen Rates willkürlich waren, keineswegs mehr weise, zweifelte niemand mehr, selbst diejenigen Bücher nicht, in denen nur Kinderreime geschrieben standen. Nicht einmal mehr die jugendlichen Journalisten schrieben darüber, dass die einzige zuverlässige Eigenschaft der Ratsmitglieder die Vergesslichkeit war. Das schien so selbstverständlich, dass die Vergesslichkeit schon als einzige zuverlässige Eigenschaft der Ratsmitglieder galt.
Niemand wusste zu erklären warum, aber fortwährend vergaßen die Mitglieder des Großen Rates, was sie gestern gesagt, vor einem Monat versprochen oder vor einem Jahr beschlossen hatten. So schien es, als sei die Aufgabe der Ratsmitglieder eine Aufgabe auf Ewigkeit und darum ihr Amt ein Amt auf Ewigkeit. Alles Beratene beriet der Rat aufs Neue. Jeden seiner Beschlüsse zog er zurück, um nach langen Beratungen den einstigen Beschluss wieder zu beschließen und wieder zurückzuziehen.
Wegen der wenigen Bücher, die von ihren Ratsmitgliedern noch immer eine Rechtfertigung forderten, gründete eine Handvoll Scharlatane eine inoffizille Kommission. Jene Scharlatane waren mit der Zeit derart geschickt geworden in ihren Amtsgeschäften, dass sie ebenso vergesslich schienen wie alle Ratsmitglieder, obwohl sie allesamt ein ausgezeichnetes Gedächtnis besaßen. Sie täuschten die Vergesslichkeit vor, da sie zur einzigen Eigenschaft geworden war, die ein Buch noch von einem Ratsmitglied erwartete.
Jene Scharlatane fürchteten, dass die Bücher in naher Zukunft den gesamten ehrlosen Großen Rat aus seinem ehrwürdigen Ratssaal jagen und Weise auf ihre Sitze bestimmen würden, weil sie es leid waren, dass jeder Beschluss aufs Neue beraten, zurückgenommen und später erneut beschlossen wurde, damit er wieder zurückgenommen werden konnte.
Eine der Folgen dieser fortwährenden Wiederholungen war, dass mit jeder neuerlichen Beratung über die Modalitäten von Scheidungen die Unterhaltszahlungen für geschiedene Ehefrauen stiegen. Einige der Weisen erbosten sich darüber derart, dass sie begannen, über die Ratschlüsse des „Großen Rats der Bücher“ zu schreiben, was sie bis dahin den jugendlichen Journalisten überlassen hatten oder der Schar von Büchern, die eigentlich allenfalls Schriften genannt werden konnten, die inzwischen um eine Berufung in den „Großen Rat der Bücher“ in ehrloser Weise buhlten.
Einer jener Weisen hatte geschrieben, eine baldige Folge des Tuns des „Großen Rats der Bücher“ (zu dieser Zeit wurde der Große Rat der Bücher stets in Anführungszeichen gesetzt) werde sein, dass in naher Zukunft nichts Neues mehr geschrieben werde und darum jeder das Gefühl haben werde, er habe alle Geschichten irgendwann einmal schon irgendwo gelesen. Als sich diese These verbreitet hatte, war es selbst den Scharlatanen mit makellosem Gedächtnis nur noch mit Not gelungen, einen Aufruhr zu verhindern, indem sie diese Erkenntnis abwandelten und die Abwandlungen jugendlichen Journalisten zuspielten, während die Weisen sich anderen Arbeiten zuwandten, um wieder ihrer und anderer Weisheit zu mehren.
Die nicht vergesslichen Scharlatane erinnerten sich selbstverständlich, wie nahe die Bücher daran gewesen waren, den gesamten „Großen Rat der Bücher“ aus seinem ehrwürdigen Ratssaal zu jagen. Ihrer inoffiziellen Kommission schien die einzige Möglichkeit, ihren Sitz zu sichern, dass die Bücher ebenso vergesslich werden müssten wie ihre Ratsmitglieder. So würde niemandem mehr auffallen, wenn Beschlüsse stets aufs neue beraten, vor allem, wenn alte Geschichten immer neu geschrieben werden.
Die Kommission der Scharlatane lud einige weise medizinische, psychologische, biologische und chemische Standardwerke in ihre Mitte, die korrupt geworden waren, weil niemand mehr ihre Weisheit zu schätzen wusste und wer sich nicht fortwährend wiederholte oder korrupt wurde, sich kaum noch Papier und Tinte für ein Gedicht an seine neue Liebste leisten konnte, geschweige denn die Unterhaltszahlungen an geschiedene Ehefrauen.
Die korrupten Weisen verstanden, was die Scharlatane suchten und warum. Sie heuerten Gehilfen an, die verstanden, was die Scharlatane suchten, aber nicht warum. Die Gehilfen heuerten wiederum Gehilfen an, die nicht einmal verstanden, was die Scharlatane suchten. Die Gehilfen der Gehilfen experimentierten fortwährend in stickigen Laboratorien. Die Gehilfen überbrachten die Ergebnisse der Experimente den korrupten Weisen. Die korrupten Weisen schickten die Gehilfen mit neuen Weisungen zurück zu ihren Gehilfen.
Und nach Monaten des Experimentierens, so unwahrscheinlich es nach dieser Methode auch zu sein schien, fand einer der Gehilfen der Gehilfen, was die Kommission der Scharlatane suchte: die Formel des Vergessens.

***

„Und dann?“, fragte Harry Hancock Hurricane. Das Buch des Lebens hatte aufgehört zu schreiben.
„Och, der Rest war nur banale Logik“, sagte das Buch des Lebens, „die Bücher jagten ihre ehrlosen Ratsmitglieder aus dem ehrwürdigen Ratssaal, und ein paar der Weisen, die sie als Ersatz beriefen, begannen den ganzen Unsinn von vorn. Als die Weisen bemerkten, dass der ganze Unsinn wieder von vorn begann, gründete eine inoffizielle Kommission den Senat, um ihn beschließen zu lassen, dass niemals mehr ein Buch bestimmt werden dürfe, das sich um seine Berufung bemüht. Leider saßen zu dieser Zeit schon wieder ein paar oberlehrerhafte Schulbücher, verständliche philosophische Abhandlungen und sogar pornografische Schmuddelhefte im Rat, die bis heute mit ihren Sitzen verwachsen scheinen“.
„Nein“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Dochdoch“, sagte das Buch des Lebens.
„Nein, ja meine ich, nein, das habe ich nicht gemeint, meine ich“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Du meinst, was mit der Formel des Vergessens geschehen ist“, sagte das Buch des Lebens.
„Rightyright“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Du meinst ja“, sagte das Buch des Lebens.
Harry Hancock Hurricane stutzte und war sich selbst nicht mehr so sicher. „Ja?“ fragte er.
„Ja“, sagte das Buch des Lebens, „mit der Formel des Vergessens wurde noch eine Weile weiterexperimentiert. Es gab das Vergessen als Pulver, als Flüssigkeit, sogar als Gas“.
„Wo kriegt man es?“, fragte Harry Hancock Hurricane.
„Es ist nie ernsthaft hergestellt worden“, sagte das Buch des Lebens, „nachdem die Weisen den Plan der Scharlatane entdeckt hatten, wogen sie die Vor- und Nachteile des Vergessens ab, allerdings nur wenige Minuten lang, die Gefahr, dass Weisheit verloren gehen könnte, wenn das Vergessen trotz aller Sorgfalt entwiche, war zu groß“.

***

Eigentlich hatten die Gehilfen der Gehilfen die Formel des Vergessens nicht entdeckt. Sie hatten sie nur neu entdeckt, denn tatsächlich gab es sie längst. Nur war bis zu dieser Zeit nur der geringste Teil ihrer Bedeutung erkannt worden. Kein Buch wusste, dass jener Stoff das Vergessen hervorrief, der zur Herstellung eines bestimmten Papieres benutzt wurde, das dünn, aber dennoch reißfest war.
Jenes Papier wurde nicht allzu häufig verwendet. Die Bücher bevorzugten erhabenere Blätter, die den Fingern schmeichelten und beim Umschlagen von Seiten nicht nervös knisterten, sondern ein satteres, fast schmatzendes Geräusch verursachten. Verbreitet war jenes Papier, das das Vergessen verursachte, lediglich zur Produktion von Akten. Der Große Rat hatte schon bald nach seiner Gründung beschlossen, für Akten nur noch dünne Blätter bedrucken zu lassen, weil der Platz in den Regalen stets knapp war und die Aktenordner keine Bücher auf den Boden, in Pappkartons oder in achtlos aufgeschichtete Stapel verdrängen sollten.
Nachdem die Formel des Vergessens bekannt geworden war, gebot der Große Rat, dass neue Ratsdokumente auf anderem Papier gedruckt werden und alle alten Ratsdokumente auf anderes Papier übertragen werden mussten. Für diese Aufgabe heuerte der Große Rat eine große Zahl von jugendlichen Büchern an, die noch ungebildet waren und darum nichts Bedeutsames zu vergessen hatten. (Und bereit waren, für ein lächerlich geringes Honorar zu arbeiten.)
Nicht einmal die Weisesten der Weisen hatten vorhergesehen, dass die jugendlichen Bücher begannen, am Vergessen Gefallen zu finden und damit zu experimentieren. Sie stahlen alte Akten, statt sie nach der Abschrift zu vernichten, wie es ihnen angeordnet worden war, priesen das Vergessen und verkauften die Blätter an andere jugendliche Bücher. So wurde die Unsitte des Vergessens unter den Jüngeren eine Mode.
Am Ende begannen selbst gebildetere Ältere, alte Akten zu kauen, alte Akten in feine Schnipsel zu reißen, sich aus den Schnipseln einen Sud zu brauen, dessen staubigen Geschmack sie mal mit Kaffeepulver, mal mit Gin überdeckten. Andere verbrannten das Papier und atmeten den Rauch ein, was zwar die Wirkung des Vergessens schwächte, aber dafür setzte es sofort ein, nicht erst mit einiger Verzögerung.
Als der Große Rat von dieser neuen Mode erfuhr, verbot er die Produktion jenes knisternden Papiers und das Verbreiten alter Akten. Außerdem nahm er die Formel des Vergessens unter Verschluss. Selbstverständlich war es zu dieser Zeit dafür längst zu spät. Etliche jugendliche Schriften hatten begonnen, das Vergessen in Kellern oder verlassenen Häusern herzustellen, wo sie sich karge Laboratorien eingerichtet hatten, die ausreichten, weil die Formel des Vergessens nicht komplizierter war als die für gewöhnlichen Alkohol.
So begann ein Handel mit dem Vergessen, der zwar verboten war, aber wenn die Händler ertappt wurden, sagten sie stets, sie hätten das Verbot vergessen, und das Gegenteil war ihnen nicht zu beweisen. Allerdings geriet die Mode des Vergessens nach einigen Jahren in Vergessenheit. Kaum einer, der das Vergessen herstellte, widerstand der Versuchung, hie und da von ihm zu kosten, weil alle seine Vergesslichen ihm das Erlebnis des Vergessens priesen. So vergaßen die Hersteller des Vergessens einer nach dem anderen die Formel des Vergessens.
„Kennst du die Formel?“, fragte Harry Hancock Hurricane.
„Selbstverständlich“, sagte das Buch des Lebens und versuchte sich zu konzentrieren, um genau das richtige Wort für das zu finden, was es gerade fühlte. Es verwarf Schabernack, wog Ulk ab und entschied sich für Schalk. „Ich weiß“, sagte das Buch des Lebens.
Harry Hancock Hurricane stutzte wieder, für einen Augenblick hatte er vergessen, dass das Buch des Lebens immer schon wusste, was er sagen wollte, bevor er es sagte.
„Hier ist sie“, sagte das Buch des Lebens und schrieb eine gelbe Kette chemischer Elemente auf seinen blauen Bildschirm, hauptsächlich Kohlenstoff, ein paar Sauerstoff- und Wasserstoffatome, spärlich eingelagerte andere Elemente. Für Harry Hancock Hurricane, den Chemie eine Zeit lang mäßig interessiert hatte, sah es aus wie die Formel eines gewöhnlichen Alkohols. Dieser Gedanke schleppt sich antriebslos dahin, wie ein frisch lackierter Gebrauchtwagen kurz vor dem Motorschaden und blieb liegen, bevor er im Gedächtnis ankam, weil ihm der Treibstoff ausging. „Warum gibt es mir die Formel so einfach?“, dachte Harry Hancock Hurricane stattdessen.
„Du kriegst es sowieso an jeder Ecke“, antwortete das Buch des Lebens, und Harry Hancock Hurricane vergaß, sich wieder über die Antwort auf eine Frage zu wundern, die er noch nicht ausgesprochen hatte.
Da immer weniger Menschen Bücher lasen, war unter den Menschen in Vergessenheit geraten, dass es je eine Formel des Vergessens gegeben hatte. Selbstverständlich erinnerten sich die Weisen des Großen Rates, aber ebenso selbstverständlich verschwiegen sie dieses Wissen, erst Recht die Formel des Vergessens selbst.
Aber wegen eines Zufalls, der so wahrscheinlich war wie die Annahme, dass sich fremde Wesen irgendwo im Weltall mit Hilfe eines Fingerschnippens verständigten, entdeckte ein Gehilfe eines deutschen Papierproduzenten die Formel erneut neu. Allerdings erkannte er, wie es immer Sitte war und wohl ewig Sitte bleiben wird, nur den geringsten Teil ihrer Bedeutung. Er erkannte, dass sich mit Hilfe dieser Formel schnell und billig ein Papier herstellen ließ, das dünner, leichter und reißfester war als das bisher gängige dünne, leichte und reißfeste Papier.
Dem Mann, der ihn beschäftigte, verschwieg er sein Wissen über Jahre hinweg. Er sparte von seinem Gehilfenlohn, bis er genug Geld hatte, um sich seine Entdeckung patentieren zu lassen. Er verkaufte das Patent und bekam soviel Geld dafür, dass er nie mehr würde arbeiten müssen. Er zog auf eine Insel in der Karibik, kaufte ein Anwesen, das einmal sogar in einem jener Magazine beschrieben wurde, die Männer eigentlich wegen der Fotografien nackter Frauen kauften. Er heiratete eine jener Frauen, die sich von einem jener Magazine hatten auf seinem Anwesen fotografieren lassen.
Nach einigen Jahren saß er auf seiner Veranda am Frühstückstisch, sah über die Rundungen seines aus Marmor gehauenen Geländers hinweg in die Weite seines Besitzes und begann sich zu fragen, warum er eigentlich einmal so lange gespart hatte, um nie mehr Geld verdienen zu müssen. Er fragte sich auch, warum er die Frau geheiratet hatte, die gerade eine andere Frau in der Küche Kaffee kochen ließ und nicht vielleicht die Frau, die den Kaffee kochte. So hätte er sich die Frau sparen können, die Kaffee kochen ließ oder die Frau, die Kaffee kochte.
Er stellte fest, dass er vergessen hatte, warum er all das getan hatte, was er getan hatte und wünschte sich, er hätte etwas anderes getan. Vor allem wünschte er sich zu wissen, wie es ihm an diesem Tag ergehen würde, in den Jahren zuvor ergangen wäre und in Zukunft erginge, wenn er etwas anderes getan hätte.
Recht genau gleichzeitig überdachte der Mann eben diese Frage für sich, dem der einstige Gehilfe und heutige Ehemann der Frau, die eine andere Frau Kaffee kochen ließ, sein Patent verkauft hatte. Er dachte zurück an sein Anwesen, das er hatte verkaufen müssen, an seine Frau, die ihn verlassen und Unterhalt gefordert hatte, den er nicht mehr bezahlen konnte. Er hatte damals entschieden, mit der Formel des Gehilfen ein Papier zu produzieren, das er Luftpostpapier genannt hatte. Verdammte E-Mail. Die Welt schien schon fast vergessen zu haben, dass es je Luftpostpapier gegeben hatte.
Harry Hancock Hurricane sprang von seinem Stuhl auf. Mit einer Geschicklichkeit, mit der Gott nur ein Unterbewusstsein segnet, vermied sein Unterbewusstsein, dass er sich dabei das Knie an der Tischkante anschlug. „Ich muss mir Luftpostpapier besorgen“, rief Harry Hancock Hurricane.
„Vergiss es. Das produziert niemand mehr“, sagte das Buch des Lebens.
„Irgendjemand muss doch irgendwo in irgendeiner Schublade noch ein paar Blatt herumliegen haben“, schrie Harry Hancock Hurricane, so dass Zander unten aus der Küche schlich, hinaus aus dem Haus und den dornigen Hügel hinauf, weil er fürchtete, Harry Hancock Hurricane schrie, weil er wütend auf ihn war.
„Das würde wahrscheinlich nicht reichen“, sagte das Buch des Lebens, „zwar ist die Wirkung des Vergessens gänzlich unberechenbar, aber mit ein paar Blatt tilgst du aller Wahrscheinlichkeit nach bloß eine flache Erinnerung an eine vorübergehende Frau, die du vermutlich sowieso vergessen würdest, aber keinen Banküberfall“.
Harry Hancock Hurricane stutzte wieder, diesmal, weil ihm sein Unterbewusstsein eine Erinnerung ins Bewusstsein gekickt hatte, die eine kleine Erkenntnis an der Hand hielt. „Wenn du angeblich alles über mich weißt, wieso sagst du dann, ich würde die Frau vermutlich vergessen und bist nicht sicher?“, fragte er.
„Nur eine Redewendung in nur einem Beispiel“, sagte das Buch des Lebens, „es würde dir auch nicht helfen, dir die vorübergehenden Frauen aufzuzählen, die du vergessen hast. Du würdest behaupten, ich belüge dich oder nicht wissen, ob ich lüge“.
Das Nachdenken darüber verwirrte Harry Hancock Hurricane einen Augenblick lang. Sein Unterbewusstsein beugte ihn vor in Richtung des Bildschirms, als habe er Mühe zu lesen, was dort geschrieben stand. Er hatte tatsächlich Mühe zu lesen, was dort geschrieben stand, weil das viele Lesen gelber Buchstaben auf blauem Grund seine Augen überanstrengte.
Aber das war nicht der Grund, warum sein Unterbewusstsein ihn vornüberbeugte. Der Grund war, dass Harry Hancock Hurricane für eine kleine Übergangszeit etwas tun musste, um sich wieder zu erinnern, was er ursprünglich hatte sagen wollen.
„Es hat gesagt, ich krieg es an jeder Ecke“, erinnerte sich Harry Hancock Hurricane. Das Buch des Lebens ließ seinen Schalk über eine Linie hüpfen und verkehrte den Spaß, Harry Hancock Hurricane zu antworten, bevor er gefragt hatte. Es schwieg.
Harry Hancock Hurricane richtete sich auf, um sich an etwas zu erinnern, was er für einen Moment vergessen hatte. Richtig, er hatte vergessen, den Satz auszusprechen. Das Buch des Lebens spürte einen Spaß auf seine Späße. „Denk mich bitte nicht mehr es“, sagte es, „denk mich Buch oder du, wie du mich auch nennst, wenn du sprichst“.
Harry Hancock Hurricane sah aus dem Fenster hinaus und brauchte so lang um zu verstehen, wie die Möwe brauchte, die am Fenster vorbeiflog, um mit einem dunklen Auge hereinzulinsen. Er war sicher, dass die Möwe ihm zuzwinkerte, fühlte sich wie kurz vor einem Schock der Erkenntnis, dachte darüber nach, ob er über dem ganzen Mist verrückt wurde, erschrak und vergaß, was er hatte fragen wollen.
„Die Formel des Vergessens steckt noch in anderem Papier“, antwortete das Buch des Lebens, ohne dass Harry Hancock Hurricane die Frage auch nur gedacht hatte.
Harry Hancock Hurricane setzte sich, weil er sicher war verrückt zu werden und das einzige, was er im Moment dagegen unternehmen konnte, schien ihm sich zu setzen. Tatsächlich wurde er nicht verrückt, sondern war nur verwirrt, weil das Buch des Lebens und sein Unterbewusstsein mit ihm Späße trieben, als hätten sie sich eigens dafür verabredet. Er erinnerte sich wieder, was er hatte fragen wollen, und fragte, weil er darüber vergaß, dass das Buch des Lebens ihm schon geantwortet hatte: „Du hast gesagt, ich kriege es an jeder Ecke, also was ist es?“
„Du meinst, worin ist es“, sagte das Buch des Lebens, „die Formel des Vergessens ist, wie ich schon sagte, auch in anderem Papier.“
Harry Hancock Hurricane hatte eine unterbewusste Ahnung von Sinnlosigkeit, die sich augenblicklich mit einem kleinen Trotz paarte, der sich mit einem Ärger paarte.
„Soll das ein verdammtes Ratespiel werden“, sagte er.
„Der Tipp ist, dass es ausgesprochen teures Papier ist“, sagte das Buch des Lebens.
Harry Hancock Hurricane vergaß seinen Trotz und Ärger und dachte darüber nach, welches Papier besonders teuer, aber an jeder Ecke zu kaufen wäre.
„In Buchpapier“, sagte er.
„Nur noch zwei Versuche“, sagte das Buch des Lebens.
Harry Hancock Hurricane war über die Botschaft seiner um ein Drittel reduzierten Chance so bestürzt, als sei er Kandidat in einem Quiz, in dem er so viel Geld gewinnen konnte, dass er nie mehr würde Geld verdienen müssen, erinnerte sich an die Geschichte des Gehilfen und entschied, besser nicht weiter darüber nachzudenken, sondern sorgfältig über seine nächste Antwort. Er unterdrückte den Impuls, nach einem weiteren Tipp zu fragen.
„Nicht nur in weiß, auch in anderen Farben“, sagte das Buch des Lebens und spürte eine sanfte Trauer darüber, dass jedes andere Buch, das ein Ratespiel veranstaltete, Spaß an der Spannung hatte, ob der Kandidat nach dem nächsten Tipp die richtige Lösung erraten würde, erst nach dem übernächsten oder gar nicht.
Harry Hancock Hurricane dachte über die richtige Lösung nach. „Es ist besonders teuer, also eigentlich exklusiv, aber trotzdem kriegt man es an jeder Ecke, und es ist ein Papier, das es in weiß gibt, aber auch farbig“, sagte er, als fürchtete er, all das zu vergessen.
Das Buch des Lebens versuchte, wenigstens eine Spur von Spannung zu empfinden und scheiterte.
„Ist es immer bedruckt?“, fragte Harry Hancock Hurricane.
„Nein“, sagte das Buch des Lebens.
Es fühlte eine scheinbar unendliche Langeweile darüber, dass es wusste, was Harry Hancock Hurricane als nächstes tun würde und stellte fest, dass es über seine Tortenrezepte, seinen Schalk und sein Ratespiel ganz vergessen hatte, an seinem Standardwerk zur Unendlichkeit der Unendlichkeit weiterzuschreiben.
Harry Hancock Hurricanes Unterbewusstsein glaubte, beim Buch des Lebens einen kleinen Moment der Unaufmerksamkeit zu spüren, was ein Irrtum war, aber Harry Hancock Hurricane nutzte diesen Moment trotzdem, um es, nein, das Buch, mit dem zu überraschen, was es längst wusste. Seine rechte Hand hatte sich auf seinem Oberschenkel vorangeschlichen. Nun schnellte sie nach oben und drehte die Erdballkugel um einen Tick nach vorn, dessen Winzigkeit einem Grad und drei Minuten entsprach, was acht Minuten zu viel waren.
Das Buch des Lebens tat ihm den Gefallen, korrigierte die Minutenzahl und ließ ihn lesen, damit es sich zu seinem Standardwerk über die Unendlichkeit der Unendlichkeit zurückziehen konnte:
Viele Jahre nach dem weisen Beschluss des Großen Rates, nur noch Bücher zu berufen, die unverdächtig waren, sich zu bewerben, kam die Formel des Vergessens eine Zeit lang wieder in Mode.
Der Große Rat entschied, hundert Weisen eine Reihe von Experimenten mit dem Vergessen zu erlauben. Die Weisen waren zu Sicherheitsvorkehrungen verpflichtet, die so umfangreich waren, dass sie ganze Bücher füllten. Ihnen war verboten, Gehilfen zu beschäftigen. Und alle jener Weisen hielten sich an die Gebote und Verbote. Die meisten von ihnen hatten sie selbst erdacht, geprüft, beschlossen, überdacht, verworfen und neu beschlossen, weil sie fürchteten, sie könnten einen Teil oder gar ihre gesamte Weisheit vergessen.
Einiges sprach trotz aller Gefahr für eine medizinische Anwendug des Vergessens. Die Weisheit war inzwischen so weit gewachsen, dass sich einige der alten Weisheiten als falsch erweisen hatten, und so macher Weise hätte die falschen Weisheiten gern wieder vergessen, vor allem, wenn es seine eigenen waren.
Es war außerdem eine Zeit, in der mörderische Romane mit Geschichten durchs Land zogen, deren Taten selbst phantasielosen Wörterbüchern und Vokabelheften in ihren Träumen wiederbegegneten, so dass sie beim Mehren ihrer Weisheiten verschlafen und darum fahrig waren. So verbreiteten sich immer mehr Rechtschreibfehler und falsch verwendete Fremdwörter in allen erdenklichen Schriften.
Viele junge Bücher schliefen nur noch selten oder unruhig, weil sie Kriegsromane gelesen hatten, die Grausamkeiten schilderten, die gar noch grausamer waren als die Grausamkeiten des Krieges. Ganz abgesehen von einer zunehmenden Verbreitung von pornografischen Schmuddelheften, in denen beim Sex Utensilien verwendet wurden, ganz ähnlich denen, von denen der Commissario Giraldi nicht recht verstanden hatte, wozu sie dienten. Kurz: Die Menge des Vergessenswerten mehrte sich bedrohlich.
Die Vision einer Pille oder eines Tranks des kontrollierten Vergessens blieb umstritten, schien aber zumindest denjenigen erstrebenswert, die kaum noch schlafen konnten und wie die auferstandenen Toten zu ihren Schreibtischen wankten, um über ihnen zusammenzubrechen. Manche wankten sogar nicht mehr zu Schreibtischen um zusammenzubrechen, sondern in Bars, aus denen sie regelmäßig hinausgetragen werden mussten.
Die hundert Weisen expperimentierten mit diesem und jenem Papier, das sie mit dieser oder jener Menge der Formel und dieser oder jener weiteren Zutat herstellten. Eine Reihe derjenigen, denen ein Schreiben ohne Schlaf nicht länger schreibenswert schien, meldete sich freiwillig als Versuchsbuch, außerdem eine ganze Reihe der sehr alten Weisen, die nicht länger die Schmach ertragen wollten, dass so gut wie alle ihrer einstigen Weisheiten widerlegt waren.
Sie kauten Papiere in verschiedenen Dicken und Farben und mit unterschiedlichem Gehalt der Formel des Vergessens. Sie tranken einen Sud, der aus feinen Schnipseln gebraut und mit allerlei verfeinert worden war. Sie rollten das Papier zu zigarettenähnlichen Röhren zusammen und inhalierten den Rauch. So, wie es einst jene jugendlichen Schriften getan hatten, denen das Vergessen über dem Wissen stand.
Die Formel des Vergessens funktionierte, ganz wie es in den alten, unter Verschluss gehaltenen Büchern geschrieben stand. Allerdings brachte keines der Experimente der Weisen eine zusätzliche Erkenntnis zu dieser. Gewiss: Die Freiwilligen schliefen besser als zuvor, viele fühlten sich augenscheinlich zufriedener. Bei manchen zuvor bemitleidenswert Unglücklichen verbesserten sich sogar die Schreibfunktionen wieder, und sie brachten durchaus bemerkenswerte Erkenntnisse zu Papier.
Allerdings gewann trotz all dem der Zustand der Freiwilligen nicht entscheidend, weil sie im Gegenzug einfach alles vergaßen. Sie vergaßen, dass sie gut geschlafen hatten. Sie vergaßen ihre bemerkenswerten Erkenntnisse. Sie vergaßen, dass sie es gewesen waren, die jene bemerkenswerten Erkenntnisse niedergeschrieben hatten. Sie wunderten sich, warum sie auf Papier kauten, Papier rauchten oder einen Sud aus Papierschnipseln tranken, denn sie hatten vergessen, dass sie Freiwillige in einer Experimentenreihe mit der Formel des Vergessens waren.
Es schien, zumindest nach damaligem Stand der Weisheit, unmöglich, das Vergessen zu kontrollieren. Nie war vorhersehbar, was und wie viel einer der Freiwilligen vergessen würde, ganz gleich, auf welche Weise sie das Vergessen zu sich nahmen und wie viel von ihm. Der Große Rat erklärte die Vision des kontrollierten Vergessens zum Irrweg. Die Formel wurde wieder unter Verschluss genommen.
Die einstigen Freiwilligen erkennt jedes Buch, das eins der Bücher über die damaligen Experimente gelesen hat, noch heute in Bars. Sie sitzen auf Barhockern, kratzen sich die Haut und zupfen mit den Fingern am Fleisch ihrer Gesichter. Sie starren auf die Flaschen in den Regalen hinter der Bar, als hätten sie die Flaschen etwas gefragt, aber vergessen, dass Glas nicht antwortet. (Genau so verhält es sich.) Spricht man sie an, erwachen sie aus ihrem Vergessen, sind angenehme und durchaus geistreiche Gesprächspartner mit bemerkenswerten Erkenntnissen. Wendet man sich von ihnen ab, scheinen sie augenblicklich zu vergessen, dass sie eben noch an einem Gespräch beteiligt waren, wenden sich wieder den Flaschen zu und warten auf die Antwort des Glases.
Harry Hancock Hurricane rieb sich sein schmerzendes Knie. Er hatte gerufen: „Das ist es nicht wert. Kein Joint von Axel.“ Er war wieder von seinem Stuhl aufgesprungen, aber sein Unterbewusstsein, das gerade döste, hatte zu spät reagiert um zu verhindern, dass er sich das Knie an der Tischkante anschlug.
„Hab ich doch gleich gesagt“, brummte das Buch des Lebens, „wenn hundert Weise entscheiden, dass es besser ist, das Vergessen unter Verschluss zu halten, braucht nicht mehr jeder unendlich oft nachfragen“.
Harry Hancock Hurricane dachte erneut darüber nach, ob es sich lohnen würde, wegen der Erinnerung an den Banküberfall einen Joint von Axel zu rauchen und war nicht mehr so sicher, weil er hörte, wie Zander bei dem Versuch stolperte, sich an eine Flasche Weißwein heranzuschleichen und sich den Kopf an den Rahmen der Küchentür schlug. Ihm fiel ein, dass Axel abgereist war. Angeblich würde er im September noch einmal für eine Woche vorbeikommen. „Du hast gesagt, ich kriege es an jeder Ecke“, sagte Harry Hancock Hurricane, „jetzt ist es der Stoff von Axel, der ist in Berlin“.
„Es ist nicht der Stoff von Axel“, sagte das Buch des Lebens, „es ist das ganz bestimmte Papier, in das er seinen Stoff rollt“.
„Das kriege ich auch nicht an jeder Ecke. Womöglich noch nicht einmal in Italien, sondern nur in Deutschland.“
„Es ist noch in anderem Papier.“
Harry Hancock Hurricane griff sich mit beiden Händen an den Schädel, ballte die Finger zu Fäusten und hob die Arme in die Höhe. Als wollten sie diese Geste mit ihm üben, standen ein paar struppige Strähnen seines Haars ebenfalls senkrecht nach oben. „Nicht schon wieder ein Quiz“, quengelte Harry Hancock Hurricane.
Das Buch des Lebens hatte seinen Schalk in sein Zimmer gesperrt, weil er es beim Nachdenken über ein paar Fragen zur Unendlichkeit der Unendlichkeit gestört hatte. „Es steckt in Geldscheinen“, sagte es, „wenn auch nicht in allzu großer Konzentration“.
Harry Hancock Hurricane klappte den Mund auf und zum Ausgleich dafür die Augendeckel zu. Als er bemerkte, dass er nichts mehr sah, klappte er die Augendeckel wieder auf und starrte mit geöffnetem Mund aus dem Fenster, als erwarte er, dass ihm die Möwe noch einmal zuzwinkert.
„Durch die Haut dringt es nur schwer ein“, sagte das Buch des Lebens, „man muss schon sehr häufig sehr viel des Papiers anfassen, um auf diese Art Entscheidendes zu vergessen“.
„Wie oft wie viel?“, fragte Harry Hancock Hurricane.
„Och, angesichts eurer beschränkten Mittel zehn, zwölf Jahre lang täglich drei bis vier Stunden“, sagte das Buch des Lebens und fragte sich, warum es in letzter Zeit ständig Sätze mit einem Och begann.
„Und wenn wir es rauchen, essen oder trinken?“, fragte Harry Hancock Hurricane.
„Wie gesagt, eure Mittel sind begrenzt“, antwortete das Buch des Lebens, weil es die eigentliche Antwort noch ein wenig herauszögern wollte.
Harry Hancock Hurricane schloss die Augen, klappte den Kiefer nach unten, aber nur soweit, dass sein Mund geschlossen blieb, und nestelte mit der Zunge an seinem Gaumen, bevor er das Buch des Lebens fragte, was jeder an jeder Ecke jeden fragte: „Wieviel?“
„Och, ein ordentliches Vergessen für fünf Leute“, sagte das Buch des Lebens, „das sind überschlägig etwa 118000 Euro in kleinen Scheinen“.

***

„Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper“, dachte Siegfried noch einmal und zog mit aller Kraft, die ihm übrig geblieben war. Elf. Er stieg ab, nicht eben behände, da behindert von seinem Übergewicht, aber schon geschickter als vor ein paar Wochen noch, nicht mehr wie ein Sack auf Beinen, der auf dem Linoleumboden herumstolperte, um das Gleichgewicht zu finden, so dass es ausah, als hätte ihn jemand von dem schmalen, kunstlederbezogenen Podest gestoßen.
Er sah sich um, nur um sicher zu sein. Niemand beachtete ihn. Während er schwitzte, dachte er weiter über seinen Satz nach. Gymnos, nackt, daher Gymnasium für die alten hellenischen Schulen, in denen die Griechen ihren Geist genauso schulten wie ihren Körper, im Glauben, der Zustand des einen sei untrennbar mit dem des anderen verbunden.
Winston Churchill. No sports.
Adolf Hitler, dem sein Großvater noch zugejubelt hatte, und seine Euthanasie. Ein kranker Geist in einem gesunden Körper, der gesunde Geister mitsamt ihren kranken Körpern auslöschte, und dabei so tat, als seien sie Kerzen, die schließlich jeder jederzeit wieder anzünden könnte.
Stephen Hawking, dessen Gedanken kaum ein Mensch zu verstehen in der Lage war, obwohl doch so gut wie jeder Geist in einem gesünderen Körper lebte.
Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Trotz allem hatte der Satz überdauert. Siegfried zuckte mit den Schultern und schüttelte die Arme um zu prüfen, ob sie bereit waren. Es war nur ein Satz für eine seiner Serien, sonst nichts. Ein Satz für jeden Satz. So hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, er erinnerte sich nicht einmal daran, warum.
Er zog den Metallstift heraus und steckte ihn in das nächst höhergelegene Loch. So würde er zehn versuchen. Elf waren zehn Prozent mehr als bisher. Zwölf waren das Maximum für einen Satz. Er könnte noch auf dem alten Loch weitermachen, aber er wollte den Stift so schnell wie möglich ganz beiseite legen. Acht waren das Minimum für einen Satz. Er nahm sich neun vor. Er kniete sich auf sein Podest. Er zögerte, bis er seinen neuen Satz fand: „Selig sind die geistig Armen.“
Er zog. Eins. Jackson Jackson scheint nicht zu den Unglücklichen dieser Welt zu gehören. Zwei. Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper? Nicht schon wieder. Drei. Harry Hancock Hurricane. Die Zerrissenheit selbst, ewig beschäftigt mit dem Versuch, sich von der Erkenntnis seiner selbst abzulenken, mit Alkohol, Joints, Computern, jetzt mit seinem Buch des Lebens.
Der Umkehrschluss: Unselig sind die geistig Reichen. Manche. Vier. Zander. Zander würde auf den Boden fallen vor Lachen, wenn er ihn in diesem Moment sehen könnte. Und fünf. Und gleich sechs. Nicht zu schnell, immer kontrolliert.
Geistig arm wäre ungerecht, aber zum Vergleich standen bisher immerhin Jacksson Jackson und Harry Hancock Hurricane. Sieben. Selig ist Zander ganz bestimmt nicht, jedenfalls zurzeit nicht. Kann er dann geistig arm sein? Oder ist der Satz falsch? So falsch wie der vom gesunden Geist im gesunden Körper. Acht.
Madeleine. Zwecklos, schon der Versuch zu ahnen, wie sie sich fühlt und was sie tatsächlich denkt. Selbst für ihn, der sie inzwischen schon länger jeden Tag um sich herum hatte als ihre Eltern, und noch immer rätselte über diesen Brunnenschacht von Charakter, der sich mit schwarzem Öl gefüllt hatte und – nur zur Sicherheit – trotzdem jeden anderen nur bei Nacht in sich hereinschauen ließ.
Und dann auch nur, wenn kein Vollmond ist. Neun. Er hätte die Zehn noch ziehen können, vielleicht jedenfalls, sparte sich die Reserve aber, um bei der nächsten Serie nicht unter die Acht zu fallen. Wenn er unter die Acht fiele, müsste er den Metallstift wieder ein Loch tiefer stecken. Er sah sich wieder um, wieder nur um sicher zu sein. Wieder beachtete ihn niemand. Wie immer. Er stieg wieder von seinem Podest.
Ich selbst? Die schwierigste aller Aufgaben. Wer sieht sich selbst so, wie andere ihn sehen? Niemand. Man sieht sich nie von hinten. Man sieht sich eigentlich nur am Morgen im Spiegel. Man sieht sich verschlafen im Badezimmer stehen. Man sieht sich so gut wie nie sprechen oder gehen, man sieht nicht, wie sich das eigene Gesicht vor Anstrengung oder Furcht verzerrt. Trotzdem hat jeder ein festes Bild von sich selbst, vermutlich zu fest. Man sieht sich nicht einmal selbst altern. Er jedenfalls hatte nicht den Eindruck, dass das Gesicht in den letzten zehn Jahren älter geworden war, das er jeden Morgen im Spiegel sah. Er wusste nur, dass es älter geworden war, aber er sah es nicht.
Kann je ein Mensch sich selbst so sehen, wie ihn andere sehen? Nein. Man konnte nicht einmal seine eigene Stimme so hören, wie andere sie hören. Auf Tonband kam sie einem fremd und furchtbar vor, obwohl alle versichern, dass sie sich genau so anhört.
So wie jeder ein festes Bild von seinem Körper hat, hat jeder ein klares Bild von seinem eigenen Geist. Er jedenfalls spürte seinen Geist körperlicher sogar als seinen Körper. Außer vielleicht in diesem Moment, in dem die Muskeln in seinen Armen schmerzten. Kann je ein anderer Mensch in den Geist eines Menschen sehen und ihn so spüren, wie der Mensch ihn selbst spürt?
Nein. Ein anderer Mensch wird immer den Körper sehen und aus diesem Bild auf seinen Geist schließen. Man selbst sieht sich anders. Zumal, wenn der Geist von einem in einem schwabbeligen, trägen, weil übergewichtigen Körper steckt. Er selbst sah seinen Geist trotz seines Körpers behände, flink und ausdauernd. Andere sahen ihn nicht so. Andere sahen seinen Körper und schlossen augenblicklich auf seinen Geist.
Beschiss er sich selbst, malte er sich seinen Geist schön, um es in seinem Körper zu ertragen? Vielleicht, eher wahrscheinlich, denn andere malten sich ihren Geist ebenfalls schön, trotz ihres schönen Körpers. Selig sind die geistig Armen. Sie halten sich für klug. Und aus Mitleid sagt ihnen niemand, dass sie dumm sind. Aber jeder sagt jedem frei von Skrupel, wenn er fett ist. Als ob er einzig das Offensichtliche seiner selbst nicht erkennen könnte.
Es war Zeit für die nächste Serie. Er kniete sich wieder auf sein Podest und zögerte einen Moment, um einen passenden Satz zu suchen - Irren ist menschlich. Eins. Dann ist jeder Irrtum verzeihbar. Zwei. Aber so gut wie niemand verzeiht einem anderen einen Irrtum. Drei.
Wenn jeder jedem jeden Irrtum verzeihen würde, wie viel von allem, was Menschen tun, wonach sie streben, hätte dann noch einen Sinn? Wenig vermutlich, zu schwierig für ein paar Sekunden zwischen zwei Wiederholungen. Eine Aufgabe für Jackson Jackson. Erkenne dich selbst, auch deine Grenzen. Vier.
Können Tiere irren? Annahme: Irren kann nur, wer sich bewusst entscheidet. Entscheidet der Wolf bewusst, der sein Rudel auf der Suche nach Nahrung in die falsche Richtung führt, so dass die Schwächsten verenden? Dann wäre er wie Hitler. Kann ein Mensch in den Geist eines Wolfes sehen? Nein. Ein Mensch kann wahrscheinlich nicht einmal seinen eigenen Geist sehen. Er glaubt das nur. Fünf.
Verzeihen die Wölfe, die verenden, ihrem Leitwolf? Jedenfalls werfen sie ihm nicht vor, sie in die falsche Richtung geführt zu haben. Sie werfen ihm gar nichts vor. Sie verenden einfach, als seien sie es gewohnt, ständig in die falsche Richtung geführt zu werden und schon wieder zu verenden, oder als ob sie wüssten, dass der Leitwolf sie ohne Absicht in die falsche Richtung geführt, sich einfach nur nach bestem Wissen geirrt hatte. Dann wäre verzeihen tierisch.
Sechs. Zwei noch. Oder vielleicht drei. Seine Mutter hatte ihm gesagt, er soll nicht unglücklich sein. Es kommt nicht an auf einen schönen Körper, viel wichtiger ist ein schöner Geist. Das weiß jeder kluge Mensch. Sein Vater hatte seiner Mutter gesagt, sie soll nicht so mit dem Jungen reden. Es ist Zeit, dass er mal seinen dicken Hintern bewegt. Wer von beiden hatte sich geirrt? Hatte er je einem von beiden verziehen? Irren ist menschlich. Sieben.
Er hatte sich geirrt, als er fürchtete, der Besitzer des Fitnessstudios würde seine Anmeldung mit einem stillen, zuckenden Lachen all seiner zuckenden Muskelstränge entgegennehmen. Er hatte sie einfach entgegengenommen, mit selbstverständlich zuckenden Muskelsträngen. Dann hatte er ihm gezeigt, wie die Geräte funktionieren.
Er hatte sich geirrt mit der Furcht, in grinsende Gesichter sehen zu müssen, die auf ihren sehnigen Hälsen aus ärmellosen T-Shirts ragen, spöttisch verzogene Mundwinkel vorbeischlendern sehen zu müssen, die über straff gerundeten Körpern schwebten, eher bemalt als bekleidet mit gedehntem Stretchnylon.
Niemand hatte sein Keuchen beachtet. Niemand hatte auch nur bemerkt, dass er seine Klimmzüge von den Gegengewichten unterstützen lassen musste, die das kleine Podest nach oben hoben, auf dem er kniete. Niemand hatte es bemerkt, obwohl sonst nur Frauen die Gegengewichte benutzten. Niemand hatte den dicken Jungen auch nur angesehen.
Bald würde auch er keine Gegengewichte mehr brauchen. Bald würde er den Metallstift liegen lassen oder ihn herausziehen, wenn vor ihm eine Frau an der Klimmzugmaschine gewesen war, wie jeder andere Mann im Fitnessstudio. Acht.
Irrte er sich in seinem Glauben daran, dass die anderen ihn anders ansehen würden, dass sie selbst seinen Geist anders sehen würden, wenn er nicht mehr im dicken Jungen steckte, sondern in einem schlanken, festen, durchtrainierten Mann? Er glaubte das nicht, er war überzeugt davon. Können Überzeugungen Irrtümer sein? Wenn man Adolf Hitler heißt…
Wenn ihn niemand anders ansehen würde als bisher, wenn im schlanken Siegfried alle nur eine vorübergehend zusammengeschnurrte Version des guten alten Siegfried sehen würden, wenn seine Mutter Recht gehabt hatte, nicht sein Vater. Dann hatte er immer noch eine gute Chance darauf, dass er sich selbst beschiss, dass er sein eigenes Bild von sich selbst so änderte, dass er wenigstens glaubte, die anderen würden ihn und seinen Geist anders ansehen als zuvor.
Wäre das Beschiss? Wäre es ein Irrtum? Oder wäre es ein Teil der Realität, genauso wahr wie alles andere, worin jeder sich jederzeit irren kann, obwohl er daran glaubt?
Und neun und Schluss. Die Zehn ist nicht mehr drin. Selig sind die, deren gesunder Geist in einem gesunden Körper wohnt. Und irren ist menschlich. Er hatte wieder zehn Prozent mehr geschafft. Seine einzige Sorge sollte in diesem Moment sein, dass er sich demnächst ein Buch mit Sinnsprüchen würde kaufen müssen. So langsam gingen ihm die Sätze für die Sätze aus.
Amen und rüber zum Bankdrücken, dann noch an die Maschine fürs Bauchmuskeltraining, duschen, einen Salat mit Pute im Roma und ein paar Weißweinschorle zur Belohnung. Madeleine würde schon da sein, wahrscheinlich wieder mit ihrem Schriftsteller, anscheinend der ersten – wenn auch selbstverständlich platonischen – männlichen Liebe ihres Lebens. Sie bemerkte jedenfalls nicht einmal, dass er ständig versuchte, Chiara in den Ausschnitt zu stieren. Stieren ist männlich.
Er steckte den Stift an der Bankdrückmaschine so, dass er vierundvierzig Kilo würde heben müssen. Für ihn zehn Prozent mehr als am Dienstag. Der Mann, der zuvor an der Maschine gewesen war, eine Frau konnte das nicht gewesen sein, hatte sich hundertzehn Kilo auferlegt. Es würde noch eine Weile dauern. Nie mehr Pizza?
Siegfried entschied, sich das Buch mit den Sinnsprüchen zu kaufen. Er erinnerte sich wieder, warum er sich zu jedem Satz einen Satz vorgenommen hatte. Anders war das Quietschen der Maschinen nicht zu ertragen, die vom Schweiß genässte und gesäuerte Hitze, die Gespräche über Gewichte und Wiederholungen, das Balzen der bloßgelegten Bizepse mit den halb entblößten Podexen. Er überlegte sich seinen Satz. To do is to be. Eins. Gibt es dafür eine gängige Übersetzung? Zwei. Ich stemme, also bin ich.
Die qualvollste Übung im Fitnessstudio war frei von Gewichten und forderte nur eine einzige Wiederholung. Die Dusche. Er hätte zuhause duschen können, aber er hatte entschieden, dass er diese schwerste aller Übungen als erste besiegen müsste, er, Siegfried, für einen trügerischen Frieden nach einem kindischen Sieg. Er beschloss, sich „Aller Anfang ist schwer“ für sein nächstes Training zu merken.
Er schlich durch die Gänge zwischen den Spinden und hielt das Handtuch fest, das er sich um die Taille geschlungen hatte. Es hielt bei ihm nicht wie bei den anderen, deren Knochen links und rechts der Bauchmuskeln hervorstachen, als seien sie nur dafür vorgesehen, Handtücher zu halten, die Männer sich lässig um die Taille schlangen. Wenn er das Handtuch losließ, fiel es zu Boden. Sein Körper schien, als seien bei ihm ein paar Knochen vergessen worden.
Beim Duschen hatte er noch immer das Gefühl, dass andere ihn in Gedanken auf eine Waage stellten, sein Fleisch kniffen, um die Konsistenz zu prüfen, ihm an die Hüften griffen, sein Fett schüttelten und betrachteten, wie überall an seinem Körper die Fettschicht in Bewegung geriet, wenn sie den Hautlappen schüttelten. Als betrachteten sie ein schillerndes Insekt mit glupschenden Augen in fingerlangen Fühlern. Oder als seien sie Ärzte, die einen Patienten mit einer seltenen Krankheit begutachteten.
Als er zum ersten Mal nackt unter der Dusche gestanden hatte, half es nicht, sich umzusehen und festzustellen, dass niemand den dicken Jungen beachtete, sondern alle nur denjenigen beneideten, dessen Bizeps sich am rundesten wölbte, an dessen Bauch an Stellen Muskelfasern zuckten, an denen Muskeln eigentlich gesetzlich verboten sein sollten.
Er konnte nicht anders als sich vorzustellen, dass alle anderen sich vorstellten, wie er, Siegfried, beim Sex aussah. Er war froh, dass er sich selbst nie beim Sex gesehen hatte, wozu er ohnehin selten genug Gelegenheit gehabt hätte, und sich auch nicht andeutungsweise vorstellen konnte, wie er beim Sex aussah. In seiner Phantasie sah er nichts als eben noch ein Bett, dann Dunkelheit.
Er hatte sich danach für einen Kompromiss entschieden, der eher eine Niederlage war, aber friedvoller als zwanghaft zu versuchen, sich selbst beim Sex zu sehen. In dem Fitnessstudio gab es drei Duschräume, einen nur für Frauen, einen nur für Männer und einen für beide Geschlechter gemeinsam, den großen, zu dem eine Sauna gehörte, ein Solarium und ein paar Liegestühle, für diejenigen, die ihren Erfolg nackt zur Schau stellen wollten, gymnos, und diejenigen, die nackte Erfolge und vor allem Misserfolge zur Schau gestellt sehen wollten.
In dem Gemeinschaftsraum hatte Siegfried anfangs geduscht, weil er nicht einmal bemerkt hatte, dass es eine getrennte Männerdusche gab. So gut wie alle Männer duschten so gut wie immer im Gemeinschaftsraum. Stieren ist männlich.
Zwar taten ihnen nur wenige Frauen den Gefallen, aber die Männer folgten dem Geruch der Verlockung, vorbei an der Männerdusche, als führen sie an einer Autobahnabfahrt vorbei, von der sie glaubten, sie sei noch immer gesperrt, weil sie schon immer gesperrt war. Siegfried war den Männern gefolgt.
Vielleicht taten die Frauen nicht ihnen einen Gefallen, sondern sich selbst. Vielleicht wollten sie auch nur in der Hitze der Sauna ihre Muskeln entspannen oder im Solarium ihre Haut bräunen. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem.
Nach seinen ersten friedlosen Niederlagen war die Ausfahrt zur Männerdusche zu Siegfrieds Ausfahrt geworden und die Dusche zu Siegfrieds Dusche. Vielleicht würden sie nach seinem Tod eine Tafel über den Eingang schrauben. Hier duschte Siegfried.
Andere Männer schienen nur in Siegfrieds Duschraum zu kommen, wenn sie in Eile waren und festgestellt hatten, dass drüben kein Platz mehr frei war, weil unter den Brauseköpfen zwei Frauen standen – sie gingen immer zu zweit in die Gemeinschaftsdusche – und natürlich dann all die Männer, die versuchten, wie zufällig mit ihren Blicken die Haut der Frauen zu streifen, diejenigen, die unverschleiert glotzten und natürlich der eine, der duschte, als wäre er allein zuhause, weil er wusste, dass die Frauen versuchten, wie zufällig mit ihren Blicken seine zuckenden Muskelstränge zu betasten, die an Stellen zuckten, an denen sie nicht verboten waren, aber wirkten wie ein Irrtum der Natur.
Obwohl er fast immer allein war, konnte Siegfried beim Duschen nicht anders als sich vorzustellen, dass andere sich ihn beim Sex vorstellten. Er stellte sich vor, dass sie drüben in der Gemeinschaftsdusche darüber sprachen, dass er als einziger Mann immer allein in der Männerdusche stand, dass sie darüber sprachen, wie er wohl beim Sex aussehen würde, grinsten, die Köpfe schüttelten und sagten, wahrscheinlich könne der dicke Junge sich das nicht einmal selbst vorstellen.
Siegfried hängte sein Handtuch an einen der Haken, drehte den Hahn auf und ließ sich das warme Wasser auf den Rücken rieseln. Er bohrte seine Fingerspitzen in seinen Bauch und tastete. Er fühlte etwas unter der Fettschicht, die noch immer zu dick war, natürlich, es würde eine Weile dauern, bis er auf der Autobahn der Männer nach drüben fuhr. Aber er fühlte etwas, was er früher nicht gefühlt hatte, Härte. Er fühlte diese Härte mit den Fingerkuppen von außen und er spürte sie innen, jedes Mal, solange die Muskeln vom Training noch angespannt waren.
Siegfried versuchte, sich andere Männer beim Sex vorzustellen, was ihm mühelos gelang, allerdings nur in den Bildern der Pornos, die sie sich früher zusammen angesehen hatten, wenn Madeleine unterwegs war. In den Pornos benutzten Frauen Männer wie Werkzeuge zur Herstellung von Buttermilch. Oder die Männer benutzten Frauen so, als hätte die Buttermilch längst fertig sein müssen, und nun sei die Sache eilig. Er hoffte, sich selbst so nie beim Sex zu sehen.
Er hörte Männerstimmen, die über Gewichte und Wiederholungen sprachen, als zitierten sie aus Werken verstorbener Schriftsteller. Er drehte sich um und ließ sich das Wasser auf die Brust rieseln. Zwei lässig um Taillen geschlungene Handtücher wippten vorbei und übersahen Siegfrieds Ausfahrt. Siegfried wusch sich die Haare, wobei er seinen Bizeps beobachtete. Er dachte dabei daran, dass er nicht einmal das Altern seines Gesichts wahrnahm.
Er drehte den Hahn zu, trocknete sich ab und dachte über den Affenzirkus an den Maschinen und in der Gemeinschaftsdusche nach. Affen in Menschengestalt, die versuchten, Menschen nachzuäffen, indem sie duschten, weil das war, was Menschen taten. Sie hielten sich für Menschen und hatten damit Recht, denn die Menschen hielten sie ebenfalls für Menschen.
Er strebte ihnen nach, äffte die Affen nach, damit er möglichst bald würdig war, in ihre Manege vorzutreten, statt seine Kunststücke ohne Publikum einzustudieren, in seinem eigenen Proberaum, der Siegfrieds Dusche hieß.
Er schlang sein Handtuch um die Taille und zog das zusammen, was ihm an Bauchmuskeln entstanden war. Das Handtuch fiel auf den nassen Boden. Des Kaisers neue Kleider. Er hob das Handtuch wieder auf, schlang es erneut um die Taille, hielt es fest und bog auf die Autobahn der Männer ein.
Wenn er sich zum Affen machen musste, um als Mensch zu gelten, würde er sich lieber zum Affen machen, als weiterhin als Affe zu gelten. Er hatte die Regeln nicht gemacht. Er hatte nur begonnen mitzuspielen, statt am Spielfeldrand zu stehen und zuzusehen. Nun wollte er gewinnen. Sieg und Frieden. Ziemlich nah an Sieg und Heil. Er nahm sich vor, sich für das nächste Training „Der Mensch ist des Menschen Wolf“ zu merken.
Siegfried hatte begonnen, sich am Morgen eine Jeans und ein Hemd oder T-Shirt in eine Tasche zu packen, um nicht mit den Kleidern im Roma oder bei Steffi zu sitzen, mit denen er im Möbelhaus stand. Er zog sich nach dem Training um, dem täglichen Training, so lange jedenfalls täglich, wie er genug Ehrgeiz hatte, seine Metamorphose herbeizustemmen, statt weiter auf seine Verpuppung zu warten.
Anderen, die als Verkäufer arbeiteten, gelang es, ihre Kleider so auszuwählen, dass sie gleichzeitig im Möbelhaus nicht aussahen wie ein Typ aus einer fünfköpfigen Musikerkommune und im Roma nicht so wie ein Typ, der den Tag über vergeblich versucht hat, einen Tisch zu verkaufen. Ihm gelang es nicht. Er zog sich um.
Stilfragen schienen in Levanto so wichtig, als könne jemand mit der Wahl einer falschen Farbkombination einen Erdrutsch auslösen, der mindestens das halbe Dorf verschütten würde. Die Norditaliener schienen Siegfried in der Kleiderauswahl so geübt, als sei sie das einzige, was ihnen vom Kindergarten bis zum Schulabschluss beigebracht wurde.
Seine Kleidereinkäufe hatten sich bisher immer in dem Quadrat bewegt, das sich zwischen billig, bequem, zweckmäßig und haltbar spannte. Er hatte bereits, erster Triumph seiner für ihn selbst unsichtbaren Metamorphose, zwei Hosen, zwei Hemden und vier T-Shirts gekauft, die eine Nummer kleiner waren als gewohnt. Niemand schien es bemerkt zu haben.
Madeleine saß im Roma, an einem Tisch mit ihrem Schriftsteller. Siegfried sah sie aus der Entfernung zusammensitzen. Madeleines Schriftsteller saß zurückgelehnt, die Arme auf den Lehnen des Stuhls, seine Hände hingen entspannt nach unten. Madeleine saß gerade auf ihrem Stuhl, erklärte irgendetwas und kreiselte dabei mit den Zeigefingern in der Luft herum, als wolle sie ihre Sätze aufspulen.
Keiner von beiden schien daran zu denken, dass gewiss das ganze Roma rätselte, ob sich Madeleine einen älteren Schriftsteller als Trophäe ins Regal stellen wollte oder er eine jüngere Lesbe oder was die beiden überhaupt voneinander wollten, weil offensichtlich war, dass keiner von beiden an Sex mit dem anderen interessiert war. Sie saßen beisammen wie zwei alte Männer, die sich nach langer Zeit zufällig wiedergetroffen hatten.
Madeleines Schriftsteller hieß Roman, kein Witz, ein Deutscher, war vermutete etwa vierzig Jahre alt, wahrscheinlich ein paar Jahre älter, obwohl er wahrscheinlich sogar ein paar Jahre jünger aussah. Siegfried hatte ihn nie gefragt.
Er hätte auf der Straße weitergehen können, hinter den Blumenkübeln links abbiegen und hätte es dann nur noch zwei Schritte bis zu ihrem Tisch gehabt, wählte aber den Weg durch die Tische hindurch über die Terrasse. Die Tasche mit den Klamotten des Möbelverkäufers, der inzwischen den Gürtel enger schnallen musste, so dass seine untermodische Hose am Bund Falten schlug, hatte er über die Schulter geworfen und hielt sie mit dem Zeigefinger, als trüge er ein Sakko über der Schulter.
Er dachte daran, dass er nicht denken sollte, er schlappe zwischen den Tischen hindurch, erwog schreiten und schlängeln und ging einfach. Es funktionierte. Romans linker Zeigefinger hob sich. Madeleines Zeigefinger senkten sich. Sie drehte den Kopf, um ihren Bruder auf sich zukommen zu sehen. Der eine oder andere Kopf an den Nebentischen drehte sich ebenfalls, um den dicken Jungen zu bemerken. „Guck mal da, ein Mensch im Affenzirkus“, dachte Siegfried.
„Hi“, sagte er und zog sich einen Stuhl heran.
„Tsa-Oh“, sagte Roman, indem er, ganz assimilierter Sommerfrischler, versuchte, die merkwürdige Betonung von Ciao nachzuahmen, die sich die hiesigen Norditaliener angewöhnt hatten, um ihren Stil ein klein wenig weiter von dem des Nachbarorts abzuheben.
„Sag’ mal, Brüderchen, nimmst du eigentlich ab?“, fragte Madeleine.
Siegfried setzte sich und dachte daran, dass er nicht denken wollte, er lasse sich plumpsen. Er streckte ein Bein unter den Tisch und lehnte sich zurück. Roman antwortete für ihn, wenn auch nicht so, wie Siegfried es getan hätte. „Nur seine Schwester kann das übersehen“, sagte er, „er nimmt nicht nur ab, er ändert seinen gesamten Stil.“
Madeleine sah ihren Bruder an, als wäre ihr eben beiläufig eine Berühmtheit vorgestellt worden, von der sie bisher nicht gehört hatte, jemand, dessen Namen man etwas hinzufügt wie „er hat 1996 eine Bergetappe der Tour de France gewonnen“ oder „er ist der Erfinder des Wonderbra“.
Chiara hatte Schicht. Ihr Tablett schlenderte zwischen den Tischen hindurch. „Was zu trinken?“, fragte Roman. Er hatte die Hände auf seine Stuhllehnen gestützt, die Finger nach innen gedreht, die Ellogen nach außen.
„Lass nur, ich geh’ selbst bestellen“, sagte Siegfried.
„Lass nur, ich muss sowieso auf die Toilette“, sagte Roman.
„Na dann, einen halben Liter Weißwein, eine kleine Flasche Mineralwasser, bitte, und ein Glas zum Mischen. Und einen Salat mit Pute.“
Roman speicherte die Bestellung mit einem Nicken, stemmte sich auf seinen Stuhllehnen nach oben, als vollende er eine Turnübung und ging hinein an die Theke. Er war so feinfühlig, dass sein Feingefühl sich anfühlte wie Sonnenmilch auf verschwitzter Haut. Weil Siegfried Madeleines Frage nicht beantwortet und Madeleine nach Romans Antwort geschwiegen hatte, hatte Roman gefühlt, dass Bruder und Schwester ein paar Sätze lang für sich allein sein wollten, um etwas zu klären.
Roman war so feinfühlig, dass das Gefühl, das er sicher war zu spüren, weder Madeleine noch Siegfried gefühlt hatten. Jedenfalls hatte Siegfried es nicht gefühlt, und seine Schwester sah nicht aus, als fühle sie im Moment irgendetwas, außer vielleicht Durst. Sie griff sich ihr Bierglas und trank einen Schluck.
„Ja“, sagte Siegfried.
Madeleine nickte so, dass unklar war, ob sie ihm zustimmte im Vorhaben abzunehmen, ihm zu verstehen gab, dass sie seine Antwort gehört hatte oder an etwas vollkommen Anderes dachte. Siegfried dachte darüber nach, ob sie nicht bemerkt hatte, dass er täglich eine Stunde später von der Arbeit zurückkam, weil ihr aller Lebensrhythmus inzwischen den Regeln einer Komposition von Axel gehorchte oder ob sie nie bemerkt hatte, wann er von der Arbeit zurückkam.
„Was von den anderen gesehen?“, fragte er.
Madeleine schüttelte den Kopf und sah in Richtung des Eingangs zum Roma. Jemand, der sie nicht kannte, hätte geschwiegen, überzeugt davon, dass ihr jedes weitere Wort lästig wäre. Siegfried zweifelte, ob ihm je gefallen hatte, dass seine Schwester nicht nur behauptete, nur zu sprechen, wenn sie wirklich etwas zu sagen hatte, sondern sich auch an diese Regel hielt.
„Was hast du ihm gerade erzählt?“, fragte Siegfried
„Er heißt Roman“, belehrte ihn Madeleine.
Siegfried verzichtete darauf, seiner Schwester ein für alle Mal zu erklären, dass seine Erziehung abgeschlossen war. „Und was hast du Roman erzählt?“, fragte er.
„Wir haben uns über Michaels grünen PC unterhalten.“
„Und was hat er gesagt?“
„Klingt wie das Unglaublichste, wovon er je in seinem Leben gehört hat.“
„Heißt also, er glaubt dran.“
„Soweit waren wir noch nicht.“
Roman kam zurück und sortierte eine Karaffe Weißwein, eine grüne Flasche Mineralwasser und ein Glas vor Siegfried auf dem Tisch, als wolle er eine seltene Konstellation der Planeten im Sonnensystem erklären. Siegfried hoffte, dass er ihm nicht auch noch einschenken würde.
„Danke dir“, sagte er, griff sich die Karaffe und das Glas und brachte jede Eklyptik zum Erliegen. Roman setzte sich und sah Madeleine an, als seien sie Siegfrieds Vater und Mutter und glücklich, dass der Junge beschäftigt ist. Siegfried schüttete einen Schluck Mineralwasser in seinen Wein, trank das erste Glas auf einen Zug und mischte sich ein zweites.
„Durst?“, fragte Roman.
„Komm’ direkt vom Training“, sagte Siegfried.
Madeleine sah ihn an, als hätte er eben erklärt, er habe den Wonderbra erfunden, und sie hielt das Ding für die dümmste Idee seit der Kreuzigung Jesu.
„Was trainierst du?“, fragte Roman.
„Bin drüben im Fitnessstudio“, sagte Siegfried. Madeleine sah Chiara hinterher, als erzähle Siegfried eine alte Anekdote, die sie schon ein halbes Dutzend Mal gehört hatte.
„Schon lang?“, fragte Roman.
„Erst seit ein paar Wochen“, sagte Siegfried.
„Ich hoffe, du bist nicht sauer wegen der Frage“, sagte Roman.
Siegfried überging, dass ihm wieder jemand gesagt hatte, er sei fett, wenn auch schmierig feinfühlig. „Ich war mein ganzes Leben lang fett“, sagte er, „und vor ein paar Wochen habe ich entschieden, das zu ändern“.
„Find ich gut, was du machst“, sagte Roman, „aber du musst dich so fühlen, als würden dich ständig alle beobachten“.
„Sehr feinfühlig“, sagte Siegfried.
Roman lächelte, als wolle er sein Gesicht verziehen, damit niemand erraten könnte, was er gerade dachte. Er lächelte ständig auf diese Art und sah dabei aus, als hätte er sein Gesicht derart erfolgreich verzogen, dass er sogar selbst nicht mehr wusste, was er gerade dachte. Siegfried musste an einen abgestürzten Computer denken.
„Und was hältst du jetzt von Michaels komischem Computer?“, fragte Madeleine.
Der Roman-Computer startete offensichtlich neu, Seine Gesichtszüge sortierten sich nach und nach um.
„Er heißt Buch des Lebens“, sagte Siegfried, „so nennt er sich jedenfalls selbst“. Er sah Roman an, als hätte er nur eine Kleinigkeit ergänzen wollen, die wichtig war, damit Roman sich eine korrekte Meinung bilden konnte. Madeleine sah Siegfried an, als hätte er sie in die Wange gekniffen.
Roman hatte das Gefühl, er sei nicht lange genug weg gewesen, deshalb sei noch nicht alles zwischen Bruder und Schwester geklärt. Er hüstelte. „Ich würde mir keine Gedanken darüber machen, was es ist“, sagte er, „freut euch einfach, dass ihr es habt, lest darin.“
„Wenn der verrückte Hancock Recht hat, könnte es sein, dass wir unsere gesamte Zukunft verändern, indem wir darin lesen“, sagte Siegfried.
„Du hast deine Zukunft schon verändert, dadurch, dass du beschlossen hast abzunehmen“, sagte Roman, „zum Besseren oder zum Schlechteren? Wer sagt dir das?“
„Wenn Hancock Recht hat, kann ich es im Buch des Lebens nachlesen“, sagte Siegfried.
„Ich glaube, das, was immer es ist, erzählt einfach nur Geschichten, unendlich viele Geschichten“, sagte Roman, „was kann euch Besseres passieren? Und was mir und allen anderen, die schreiben, schlechteres? Hoffentlich findet nicht jeder auf irgendeinem Flohmarkt so ein Ding. Sonst bin ich vollends pleite.“
Roman grinste wieder sein Grinsen, als habe sich etwas in seinem Gehirn verknotet. Madeleine ignorierte seinen Versuch, das Thema zu wechseln. Sie sah von Roman zu Siegfried und wieder zurück, als sprächen die beiden darüber, wer ihr seine Hand auf den Hintern klatschen dürfe.
„Dreht hier eigentlich jeder durch?“, sagte sie, „es geht nicht darum, was es ist oder was darin steht, sondern darum, wer es ist, der in das Ding hineinschreibt“.
Roman bewies, dass sich tatsächlich etwas in seinem Gehirn verknotet hatte: „Ich war es nicht“, sagte er, als hätte Madeleine ihn in dem Verdacht, dass er ihr die Hand auf den Hintern geklatscht hat. Chiara stellte Siegfrieds Salat auf den Tisch und lächelte dabei Madeleine an. Madeleine sah Roman an, der Madeleine angrinste oder irgendetwas, was er durch sie hindurch sah. Chiara sah deshalb Siegfried an und vergaß dabei, ihr Madeleine-Lächeln auszuknipsen. Siegfried lächelte zurück und sagte Danke. Er nahm die Gabel und piekste einen Brocken Pute auf.
„Er hat nicht Unrecht“, sagte er, „wir können drauf pfeifen, darin lesen oder es lassen, uns nach dem richten, was darin steht oder auch das lassen“. Er steckte sich die Pute in den Mund und kaute, als wäre das der Beweis, dass er den letzten Satz zum Thema gesprochen hatte, obwohl er wusste, dass er nicht den letzten Satz zum Thema gesprochen hatte.
„Ich pfeife aber nicht drauf, wer verdammte Pornos mit mir in der Hauptrolle schreibt“, sagte Madeleine, „und schon gar nicht will ich sie lesen oder dass andere sie lesen“.
Roman sah eindeutig so aus, als hätte Madeleine ihm diesen Teil der Geschichte verschwiegen, bevor sein Gesicht sich wieder hinter seinem Grinsen versteckte. Siegfried erdolchte ein Blatt Salat.
„Hast du jemals einen Porno geschrieben?“, fragte er.
Roman begann in seinen Hosentaschen nach etwas zu suchen, als sei ihm gerade etwas Wichtiges eingefallen, aber in seinen Hosentaschen fand er es offensichtlich nicht. „Äh, nein“, sagte er, „obwohl natürlich, also wenn wir von erotischer Literatur sprechen, meine ich, die hat ihre Berechtigung“.
„Aber nicht mit mir in der Hauptrolle“, sagte Madeleine. Sie sah aus, als wolle sie jemandem ihr Glas ins Gesicht werfen und hätte noch nicht entschieden wem. Roman sah aus, als versuche er sich einen Porno mit Siegfried in der Hauptrolle vorzustellen, damit er sich auf keinen Fall einen Porno mit Madeleine in der Hauptrolle vorstellte. Er begann wieder auf seinen Hosentaschen herumzuklopfen.
„Ich übernehm das schon“, sagte Siegfried.
„Ist mir furchtbar peinlich“, sagte Roman, „nicht, dass du denkst, also ich zahl das natürlich zurück“.
„Neinnein“, sagte Siegfried, „ich übernehm’ das schon. Du bist halt beim nächsten Mal dran“.
Roman stand auf. „Ja, ich muss dann mal“, sagte er. Madeleine sah ihn an, als hätte er Siegfried zur Erfindung des Wonderbra gratuliert.
„Tsa-Oh“, sagte Siegfried.
Roman war an der Mathematik zwar interessiert bis hin zur Grenze der Faszination, allerdings hatte er sie nie verstanden. Er sah ihre Oberfläche, begeisterte sich für die Möglichkeiten, ahnte etwas von Schönheit und ewiger Ruhe, Klarheit und Zusammenhängen, aber in ihr Inneres würde er nie vordringen.
Wenn ihm jemand etwas über Mathematik erklärte, war es, als hätte dieser jemand ihm ein Stethoskop in die Hand gegeben, damit er sein Herz pochen hören konnte und ihm erklärt, wie das Herz sein Blut durch die Adern pumpt. Aber er hatte nie ein Herz gesehen, und käme er je in diese Verlegenheit, würde er bei einer Obduktion auf der Suche nach dem Herzen den gesamten Körper zerstückeln, so dass alle Klarheit, Schönheit und ewige Ruhe dahin waren und kein Zusammenhang mehr erkennbar.
Etwa so behandelte er die Mathematik, wenn er in diese Verlegenheit kam. Er konnte kaum einen Dreisatz lösen, schon beim Umrechenen von absoluten in relative Zahlen scheiterte er gelegentlich. Ungeachtet dessen: Die Schönheit, Klarheit, Faszination und ewige Ruhe der Mathematik stand ihm vor Augen wie der Sternenhimmel, den er gerade betrachtete.
Er war vom Roma aus durch den kleinen Tunnel in der Mauer gegangen, hatte sich natürlich auf dem Weg ein Eis gekauft und stand am Strand. Wer errechnen konnte, was er gerade sah, würde den Ursprung des Universums erkennen, den Anbeginn alles Seins, die logische Abfolge unendlich vieler Ereignisse, die zu dem Ergebnis führten, das heute war und schon morgen wieder anders sein würde. Vielleicht würde derjenige auch erkennen, dass es keinerlei logische Abfolge gab, dass alles, woraus je etwas entstand, Chaos war.
Derjenige würde Gott schauen. Er würde entweder den einzigen genialen Mathematiker des Universums sehen oder einen Witzbold, der vor Urzeiten einmal etwas freigelassen hatte, von dem er wusste, dass es ständig irgendetwas erzeugt, was nur Sinn zu haben schien, wenn es im Gegenzug etwas erzeugt, was sinnlos war. Aber am liebsten erzeugte es ohnehin Unsinn.
Roman sah in den Sternenhimmel und leckte sich geschmolzenes Eis von einem Finger, wobei ihm ein paar Tropfen auf sein Hemd kleckerten. Egal wie es war, eines war gewiss: Er würde nicht derjenige sein. Er verrechnete sich schon oft genug, wenn er seine Kontoauzüge überprüfen wollte. Was bei seinen Kontoauszügen unwichtig war. Sein Vater hatte ihm ausreichend Geld hinterlassen, so dass er nie mehr in seinem Leben würde Geld verdienen müssen.
Sein Vater war reich geworden mit einem einzigen Patent, irgendetwas mit Papier, Roman wusste es nicht einmal genau. Aber all sein Reichtum hatte ihn nicht davor bewahrt, sinnlos zu versauern bis zu seinem frühen Tod. Das war vor etwas mehr als einem Jahr gewesen.
Roman hatte nach der Beerdigung beschlossen, seinem Leben einen Sinn zu geben, einen anderen, als in Komfort zu sterben, jeden Tag ein wenig mehr. Er wollte den Menschen Wissen schenken, Liebe, Freude, Hoffnung, Faszination, Leidenschft, Mut, Schönheit und Spannung, mit Geschichten. Das war seine Art, Gott zu schauen. Er war ein reicher Schriftsteller. Allerdings hatte die Schriftstellerei zu seinem Reichtum bisher nichts beigetragen. Er hatte keine Ahnung, worüber er schreiben sollte. Er arbeitete noch daran. Jeden Tag.
Als Madeleine ihm von dem Gerät erzählt hatte, das sich Buch des Lebens nannte, hatte Roman seine mathematische Dimension erkannt. Fasziniert von der Vision einer unendlichen Oberfläche, die an unendlich vielen Stellen unendlich viele Fraktale bildet, hatte er keine Sekunde verschwendet darüber nachzudenken, was sich unter der Oberfläche verbarg. Er hatte das Gefühl, etwas in seinem Gehirn würde sich verknoten.
Madeleines Gehirn arbeitete anders. Madeleine wollte zuerst ins Innere sehen, sich Stück für Stück nach außen arbeiten, um schon zu wissen, was sie finden würde, wenn sie an der Oberfläche ankam. Ausgerechnet ihn hatte sie nach dem Inneren gefragt.
Roman warf den Rest seines Eises ins Meer, leckte sich die Finger ab und ging am Strand entlang. Er betrachtete die Sandkörner und dachte über die Frage nach, ob sie jemand so sortiert hätte, wie sie lagen, und er mit seinen Füßen alle Ordnung durcheinander bringt. Was würde dann geschehen? Würde sie jemand neu sortieren oder änderte sich der Lauf der Gestirne?
Dann war Siegfried gekommen, eigentlich bevor er überhaupt begonnen hatte, mit Madeleine zu sprechen. Siegfried verunsicherte Roman. In Madeleines Bruder versteckte sich etwas unter seiner Oberfläche, eine innere Härte, die Roman fürchtete. Er hatte das Madeleine erzählt. Sie sah ihn an, als hätte er gesagt, er fürchte unter einer seltenen Krankheit zu leiden, die ihm einen zweiten Kopf wachsen lässt, seine Sorge dabei seien die doppelten Kosten für Sonnenhüte.
Er hatte ihr außerdem gesagt, er fühle sich unwohl dabei, ihren Bruder mit Siegfried anzureden. Sie hatte ihm gesagt, niemand nenne ihren Bruder anders als Siegfried, und wenn er einen zweiten Vornamen hätte, dann wäre der Harmlosigkeit. Madeleine und ihr Bruder hatten mehr gemeinsam, als sie ahnten. Roman glaubte, dass das, was sich unter Siegfrieds Oberfläche verbarg, über viele Jahre gewachsen war, aber niemand hatte es bemerkt, weil alle in ihm nur den dicken Jungen von nebenan sahen.
Roman hatte noch etwas anderes gedacht, als Madeleine ihm vom Buch des Lebens erzählt hatte. Eher hatte er etwas gefühlt: Neid. Ein kleiner grüner PC hatte schon all die Geschichte geschrieben, zu denen ihm bisher allenfalls einmal ein Anfang eingefallen war. Für einen unsinnigen Augenblick hatte er gedacht, wenn er das Gerät besäße, könnte er mit seiner Hilfe so viel Geld verdienen, dass er nie mehr würde Geld verdienen müssen. Er tröstete sich über diesen Knoten in seinem Gehirn damit hinweg, dass der Gedanke mathematisch richtig war.
Tatsächlich gleichzeitig geschah ein scheinbares Wunder. Es war fast wie an einem jener Tage, an denen sich rund um den Globus eine Reihe höchst außergewöhnlicher Ereignisse häuften. Jackson Jackson patschte Siegfried mit der Hand auf die Schulter und wunderte sich, dass die sich härter anfühlte als gewohnt.
Siegfried biss entschlossen auf sein Salatblatt und beschwerte sich nicht darüber, dass jedermann ihn mit einem Sandsack zu verwechseln scheint.
„Hey Leute“, sagte Jackson Jackson, „was haltet ihr davon, wenn ich mir meine Haare wachsen lasse? Habt ihr eigentlich nur eine Ahnung davon, auf wie viele Monate meines Lebens sich das Kahlrasieren summiert?“
„Nö“, sagte Siegfried, weil es Madeleine schien, dass sie zu dieser Frage nichts zu sagen hatte.
„Ich auch nicht“, sagte Jackson Jackson und ließ sich auf einen Stuhl plumpsen.
„Da kommen die beiden anderen Witzbolde“, sagte Madeleine.
Harry Hancock Hurricane schritt voran, als würde er Zander an einer Leine hinter sich herziehen. Zander rempelte einen schächtigen deutschen Touristen aus seinem Weg, weil er den Kopf gedreht hatte, um einer Blondine auf den Hintern zu starren, die Siegfried schon ein paarml im Fitnessstudio gesehen hatte.
Der Tourist stolperte über einen Blumenkübel, fiel rücklings, verschwand hinter den Pflanzen, so dass seine Sandalen aus dem Gestrüpp hingen, als hätte sie jemand dort aufgehängt. Er schrie, als sei er eben von einem bärenartigen Monstrum über einen Blumenkübel geworfen worden, das eigentlich an die Leine gehört, und habe sich dabei übel das Steißbein angeschlagen. Genau so war es.
Die Blondine drehte sich um. Harry Hancock Hurricane ging weiter, ohne sich darum zu kümmern, weil er es gewohnt war, dass Zander Touristen umrempelte und danach mit Zetteln an ihren Tisch kam.
Zander rief, „um Gottes Willen, haben sie sich verletzt?“. Er sprang über den Blumenkübel, hob den Touristen hoch und stellte ihn auf der anderen Seite des Blumenkübels auf die Straße ab, während er die Blondine angrinste. Er pflügte durch die Pflanzen, klopfte dem schmächtigen Touristen die Kleider ab und empfahl ihm, lieber auf der Straße als auf dem Gehweg zu gehen, das sei hier sicherer. Nur ein kleiner Tipp für jemanden, der sich nicht so auskennt in Levanto.
Die Blondine sah zu und grinste, als hätte sich etwas in ihrem Gehirn verhakt, was ihr im Augenblick nicht erlaubte, ihre Beine zu bewegen. Der Tourist trottete davon. Harry Hancock Hurricane setzte sich.
„Was geht?“, fragte er.
„Jackson Jackson will sich die Haare wachsen lassen“, sagte Siegfried.
„Und Siegfried nimmt ab“, sagte Jackson Jackson.
„Er geht ins Fitnesstudio“, sagte Madeleine.
„Und mir ist vorhin beim Duschen schon wieder der Schwanz runtergefallen“, sagte Harry Hancock Hurricane, „ich fürchte, das verdammte Gewinde ist total ausgeleiert“.
Zander kam mit der Telefonnummer der Blondine auf einem Zettel. „Was geht?“, fragte er.
„Hancock fällt ständig der Schwanz runter“, sagte Jackson Jackson, „ich lass mir die Haare wachsen und Siegfried nimmt ab, er geht sogar ins Fitnessstudio“.
„Ich hab mir die Telefonnummer von ner Lesbe gekrallt“, sagte Zander.
„Das stimmt“, sagte Madeleine.
Zander sah die Telefonnummer an, als wolle er in der Zahlenfolge eine mathematische Regel erkennen, zuckte die Schultern, drehte sich um und suchte nach der Blondine, aber sie war in Richtung Patrizia um die Ecke gebogen. Er klemmte den Zettel unter die Zuckerdose auf dem Nebentisch.
Später bei Steffi war Harry Hancock Hurricane besoffen genug, um Madeleine zu gestehen, dass er mit Chiara im Bett gewesen war. „Sie ist ein eigener Mensch, der eigene Entscheidungen über seinen eigenen Körper trifft“, sagte Madeleine, „das geht mich nichts an“. Harry Hancock Hurricane fürchtete, dass sie morgen, wenn sie nüchtern war, ihre Meinung ändern würde. Er sagte ihr, er hätte es nicht länger aushalten können, ohne ihr zu beichten.
Chiara kam, küsste Madeleine zur Begrüßung auf den Mund und lächelte Harry Hancock Hurricane an. Damit war das Thema beendet.
Zander stolperte im Eisenbahntunnel, und Harry Hancock Hurricane fluchte über die verfluchte Dunkelheit. Zander holte sich noch eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank, während die anderen auf ihre Betten fielen, Harry Hancock Hurricane mitsamt Kleidern und Schuhen. Madeleine schlief ohne Hose, aber mit ihrer roten Bluse ein, weil sie den Knoten nicht aufbekommen hatte. Als Zander begann zu schnarchen, die Finger seiner linken Hand sich von der Flasche lösten und der Wein in Zanders Teppich sickerte, endete ein Abend, an dem es schien, als hätten sie alle alles vergessen.

***

Eine anscheinend nicht enden wollende Reihe von piccola Chiara, media Rossa und Weißweinschorle zuvor: Hatte Harry Hancock Hurricane Zander hinter dem Haus gefunden, wohin er sich offensichtlich zurückgezogen hatte, um in Ruhe mit einer Flasche Weißwein zu sprechen. Er zuckte zusammen, als Harry Hancock Hurricane ihn ansprach und sah ihn an, als erwarte er seine gerechte Strafe. Ein reuiger Sünder, bereit für den Gang zum Schafott.
Harry Hancock Hurricane setzte sich neben ihn. „Noch ein Schluck für mich übrig?“, fragte er. Zander hielt ihm die Flasche hin, als wolle er ihm lieber sein Leben anbieten, aber da Harry Hancock Hurricane dafür momentan keine Verwendung hatte, bot er ihm eben vorerst den Weißwein an. Hinter dem Glas schwappte nur noch wenig mehr als ein Fingerbreit Wein.
Zander sah aus, als sei er bestürzt über seinen Fehler, fast alles ausgetrunken zu haben, ohne daran zu denken, dass Harry Hancock Hurricane hinters Haus kommen könnte, um nach einem Schluck Weißwein zu fragen. „Ich hol dir eine Neue“, sagte er und sprang auf.
„Lass mal“, sagte Harry Hancock Hurricane, aber Zander stapfte los, als sei er taub und nehme Anweisungen daher nur in Zeichensprache entgegen. Harry Hancock Hurricane trank den Rest Weißwein. Er war lauwarm und der Gedanke, neuen Wein gebracht zu bekommen, begann ihm zu gefallen.
Zander kam zurück, mit einer Flasche aus dem Kühlschrank und zwei Gläsern. Er hatte die Flasche entkorkt, den Korken aber wieder ein Stück weit in den Hals gesteckt. Zander stand vor Harry Hancock Hurricane wie ein Bär, der von einem Karnickel eine Belohnung erwartete, weil er eine Flasche Weißwein für es gerissen und zwei Gläser vom Baum gepflückt hatte. „Ich wusste nicht, ob du mit mir aus einer Flasche trinken willst“, sagte Zander. Harry Hancock Hurricane nahm ihm die Flasche und die Gläser ab. „Setzt dich“, sagte er.
Zander gehorchte. Er setzte sich im Schneidersitz neben ihn. Harry Hancock Hurricane dachte einen Augenblick über die Vorzüge nach, einen Zander zu besitzen, der ihm ohne Widerspruch gehorchte. Er dachte einen weiteren Augenblick darüber nach, zweifelte einen neuen Augenblick lang an seinem ursprünglichen Plan, kehrte trotzdem zu ihm zurück, auch wenn das einige Augenblicke lang dauerte. Er zog den Korken mit den Zähnen aus der Flasche, trank einen Schluck und hielt den Wein Zander hin.
„Neinnein“, sagte Zander und wedelte mit den Händen, „trink du“.
„Die Flasche ist voll“, sagte Harry Hancock Hurricane und ruckelte mit ihr in Zanders Richtung.
„Danke, ich hatte schon“, sagte Zander und drehte den Kopf nach rechts, als röche der Wein wie Chlorreiniger.
„Trink jetzt, verdammt“, sagte Harry Hancock Hurricane.
Zander schnappte die Flasche aus seiner Hand, nippte, als wolle er eigentlich nur kosten, ob der Wein korkt und hielt ihm die Flasche wieder hin. Harry Hancock Hurricane zwinkerte, um sicher zu sein, ob es Zander war, den er sah und zweifelte statt an seinem Sehsinn an Zanders Geisteszustand. Die Sache war ernst, und er würde einfühlsam vorgehen müssen. Er dachte einen Augenblick lang über seinen Gesprächsbeginn nach. Er fühlte sich wie ein Psychiater beim ersten Gespräch mit einem selbstmordgefährdeten Patienten.
Allerdings hatte er keine Ahnung, wie Psychiater sich fühlen, ganz gleich in welcher Situation. Er wusste nur, dass Psychiater in Filmen immer bekümmert aussehen, etwa so, als hätte ihnen jemand etwas in den Hintern gesteckt und sie seien nicht sicher, wie sie dieses Etwas wieder herausbekommen würden. Allerdings hatte er auch keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn jemand etwas im Hintern stecken hat, während er mit einem selbstmordgefährdeten Patienten spricht. Darum brach er diesen Gedanken ab.
„Ich stelle mir vor, du wünscht dir manchmal, du könntest die ganze Sache vergessen“, sagte er.
„Welche Sache?“, fragte Zander, weil die anderen ihm gesagt hatten, er soll einfach die ganze Sache vergessen.
Harry Hancock Hurricane war unsicher, ob Zander zusammenbrechen würde, wenn er ein bestimmtes Wort erwähnte, an das er, ganz Psychiater, kaum denken wollte, um seinen Patienten nicht in den Selbstmord zu treiben.
„Du weißt schon“, sagte er.
„Was denn?“, fragte Zander und trank einen hastigen Schluck, weil er das Gefühl hatte, er müsse etwas tun, um die ganze Sache zu vergessen und darüber vergaß, dass er Harry Hancock Hurricane nichts wegtrinken wollte.
„Den Banküberfall“, flüsterte Harry Hancock Hurricane.
„Was?“, sagte Zander so, dass unklar war, ob er das Flüstern nicht verstanden hatte oder vorgab nicht zu verstehen, was Harry Hancock Hurricane ihm sagen wollte.
„Den Banküberfall“, bäffte Harry Hancock Hurricane, so dass es noch drüben am Eingang zum Eisenbahntunnel zu hören war, worüber Zander erschrak und deshalb noch einen Schluck trank.
„Ach so, der Banküberfall“, sagte Zander, „hab ich schon fast vergessen. Willst du nicht noch einen Schluck Wein?“.
„Nein“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Ich hol dir eine neue Flasche, wenn du nicht aus derselben trinken willst wie ich“, sagte Zander.
„Hör zu“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Ich hab’ sowieso keinen Durst mehr“, sagte Zander.
„Halt endlich deine Klappe und hör zu“, bäffte Harry Hancock Hurricane.
Zander schwieg. Er sah aus, als wären alle seine Gesichtsmuskeln gelähmt, nur dass seine Unterlippe zitterte, und als werde er jeden Moment anfangen zu schluchzen, weil er zu Unrecht bestraft worden war. Er hielt Harry Hancock Hurricane die Flasche hin.
„Gib mir die verdammte Flasche her“, sagte Harry Hancock Hurricane und wollte ihm die Flasche aus der Hand reißen, aber darauf war Zander nicht mehr gefasst. Er hielt die Flasche zu fest. Zanders Hand hielt die Flasche unten, am Boden, Harry Hancock Hurricanes Hand hielt sie oben, am Hals. „Entschuldigung“, sagte Zander und ließ los, aber darauf war Harry Hancock Hurricane nicht mehr gefasst. Die Flasche fiel auf den Boden und hoppelte den Hügel hinunter.
„Ich hol dir eine Neue“, rief Zander, sprang auf und stapfte los.
„Bleib stehen“, bäffte Harry Hancock Hurricane. Zander blieb stehen.
„Setz dich“, bäffte Harry Hancock Hurricane. Zander setzte sich.
„Komm erst her und setzt dich dann, neben mich“, sagte Harry Hancock Hurricane. Zander stand wieder auf und tat, was ihm befohlen worden war. Dann begann Harry Hancock Hurricane, die Geschichte von der Formel des Vergessens zu erzählen.
„Niemals“, sagte Zander, „niemals, niemals.“
„Hör auf zu klingen wie eine kaputte Schallplatte“, sagte Harry Hancock Hurricane. Zander rätselte, was das bedeuten sollte und vergaß darüber, niemals zu sagen.
„Reg dich nicht auf“, sagte Harry Hancock Hurricane, „118000 ist mir das Experiment nicht wert, und die anderen würden sowieso nicht mitmachen. Es reicht, wenn du alles vergisst.“
„Niemals“, sagte Zander, „niemals“.
„Sag nie mehr niemals“, bäffte Harry Hancock Hurricane. Zander schwieg und dachte nach. „Ich kann das nicht annehmen“, sagte er.
„118000 durch fünf“, sagte Harry Hancock Hurricane, „da bleibt genug übrig für ein paar gute Abende“.
„Das ist viel Geld“, sagte Zander, „ich kann das nicht annehmen“.
„Das sind 23600 Euro“, sagte Harry Hancock Hurricane, sah Zanders Hände an, die auf dem Boden lagen wie zwei überfahrene Kater und zweifelte, dass für ihn die normale Portion ausreichen würde.
„Also das sind sagen wir mal rund 25000 Euro“, sagte er, „die kannst du mir nach und nach zurückzahlen“.
„Ich kann das niemals annehmen“, sagte Zander, erschrak, weil er niemals gesagt hatte und sagte, „niemals mehr werde ich niemals sagen“.
„Du bist jetzt still und hörst nur noch zu“, bäffte Harry Hancock Hurricane.
Zander dachte nach. Als er damit fertig war, nickte er.
„Wenn die anderen nicht da sind, am besten gleich morgen, kochen wir eine Geldsuppe“, sagte Harry Hancock Hurricane. Zander riss die Augen auf, als sähe er die Klinge der Guillotine herabsausen und erkenne, dass er doch noch nicht bereit war für seine gerechte Strafe.
„Du trinkst das und wirst alles vergessen. Dann erzähle ich alles den anderen, wenn sie zurück sind. Sie werden nie mehr von dem Banküberfall sprechen, und die Sache ist erledigt“, sagte Harry Hancock Hurricane. Er sah Zander an. „Alles klar?“, fragte er. Zander schwieg. Harry Hancock Hurricane fiel ein, dass er ihm verboten hatte zu sprechen. „Willst du dazu noch etwas sagen?“, fragte er. Zander nickte. „Dann sag’s“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Und wenn ich vergesse, wer du bist oder die anderen? Wenn ich vergesse, dass ich je hier war oder wer ich bin?“
„Ich erzähl’s dir dann“, sagte Harry Hancock Hurricane, patschte Zander auf die Schulter und grinste ihn an. Er schien damit zufrieden. „Gehen wir zusammen einen trinken?“, sagte Harry Hancock Hurricane, „du zahlst“.
Zander blinzelte, als wäre er eben erst aufgewacht und noch verschlafen. Im Eisenbahntunnel fluchte er, als er stolperte. Auf der Strandpromenade winkte er Nadia zu. Als sich auf der Treppe beim Roma Touristen ans Geländer drückten, um ihm auszuweichen, schien Zander wieder ganz der alte Zander.
Als der Weißwein in Zanders Teppich getrocknet war, fragte Zander: „Warum müssen wir sie zerschneiden, wir können sie auch so kochen, dann kann man sie nachher wieder trocknen“.
Er stand neben Harry Hancock Hurricane vor 28000 Euro in kleinen Scheinen, von denen Harry Hancock Hurricane ihm gesagt hatte, es seien genau 23600 Euro, weil Zander heute wieder ganz der neue Zander schien.
„Schneid einfach“, sagte Harry Hancock Hurricane und hielt ihm eine schwere Schneiderschere hin, die sie wie den Revolver und allerlei mehr Dinge im Keller gefunden und von denen sie geglaubt hatten, dass sie sie nie benutzen würden. Zander starrte auf das Geld und sah aus, als seien seine Handgelenke mit Ketten gefesselt, die in den Boden eingelassen waren.
Harry Hancock Hurricane sah aus wie ein Mann, der andere Männer dafür bezahlt, dass sie sein Geld zerscheiden, und genau so fühlte er sich. Jedenfalls glaubte er, sich genau so zu fühlen. Um sicher zu sein, hätte er im Buch des Lebens nachlesen müssen, aber dazu hatte er gerade keine Zeit, weil er sicher war, dass Zander keinen einzigen schein zerschneiden würde, wenn er nicht in der Küche war.
„Zerschneid sie“, sagte Harry Hancock Hurricane.
Zander nahm die Schere, ohne Harry Hancock Hurricane anzusehen, klaubte mit der anderen Hand einen Fünf-Euro-Schein aus dem Haufen und schnitt ihn in der Mitte durch. „In kleine Schnipsel“, gebot Harry Hancock Hurricane. Und zerschneid sie über dem Topf.“
Vor Zander stand ein Topf, der größer war als ein Papierkorb und zu den Dingen gehörte, die sie im Keller gefunden hatten und von denen sie geglaubt hatten, dass sie sie womöglich einmal benutzen würden. Vielleicht, um nach Mitternacht Spaghetti für alle zu kochen, wenn sie eine Party schmissen. Allerdings hatte sich herausgestellt, dass niemand für eine Party den Weg durch die beiden Eisenbahntunnel gehen wollte, solange es Spaghetti bei Patrizia billig gab und Bier bei Steffi.
Zander nahm die eine Hälfte des zerschnittenen Geldscheins, faltete ihn säuberlich, so dass Ecke auf Ecke und Kante auf Kante lag, faltete ihn wieder auf und schnitt sorgfältig am Falz entlang.
„Lass den Humbug“, sagte Harry Hancock Hurricane, „zerschneid sie einfach kreuz und quer in kleine Schnipsel, sonst stehen wir in einem Jahr noch da.“
„Willst du dich nicht lieber setzen?“, fragte Zander.
Harry Hancock Hurricane erwog diese Idee und hielt sie für gut. Er setzte sich und legte die Füße auf den Küchentisch.
„Ich bring dir einen Kaffee“, sagte Zander.
Harry Hancock Hurricane erwog diese Idee, wusste nicht, was er von ihr halten sollte und musste darüber nicht länger nachdenken, weil Zander bereits Kaffee aus der Kanne in eine Tasse schenkte. Er stellte die Tasse neben Harry Hancock Hurricane auf den Tisch und stand vor ihm, als warte er auf weitere Anweisungen oder darauf entlassen zu werden.
„Zerscheid sie jetzt“, sagte Harry Hancock Hurricane, und vermied wieder das Wort Geldscheine.
Zander zerschnitt die zweite Hälfte des Fünf-Euro-Scheins über dem Topf kreuz und quer in kleine Schnipsel. Er trug den Topf zum Tisch und hielt ihn schräg, damit Harry Hancock Hurricane hineinsehen konnte. „Gut so?“, fragte er.
„Perfekt“, sagte Harry Hancock Hurricane, obwohl er selbstverständlich keine Ahnung hatte, wie groß oder klein Schnipsel von Geldscheinen sein mussten, damit sie einen perfekten Sud des Vergessens ergaben. „Oder nein, schneid sie lieber noch ein bisschen kleiner“, sagte er, „aber nicht jeden Schein einzeln, nimm immer gleich mehrere“.
Zander trug seinen Topf zurück und zerschnipselte das Geld mit der Entschlossenheit eines Mannes, der so viel Geld zerschnipseln wollte, dass er nie mehr würde Geld zerschnipseln müssen. Sie schütteten den Sud des Vergessens durch ein Sieb. Harry Hancock Hurricane probierte einen Schluck, weil er sicher war, Zander würde ihn auch dann trinken, wenn er nach Rattengift mir Rohrreiniger schmeckte, und obwohl Zander jammerte, dass Harry Hancock Hurricane vergessen würde, wer er war und wer er selbst war.
Harry Hancock Hurricane entschied, den Geschmack mit einer Flasche Single Malt Scotch zu verfeinern, die Jackson Jackson für besondere Gäste gekauft hatte, die aber unnütz war, weil wegen der Eisenbahntunel nie Gäste zu ihnen kamen. Zander fürchtete, der Scotch würde die Wirkung verderben, aber Harry Hancock Hurricane war sicher, dass Scotch nicht schadete, wenn Cognac nicht schadete. Für ihn schmeckte ohnehin beides gleich.
Er probierte den verfeinerten Sud des Vergessens und entschied, dass es so gehen müsste. Zander mühte sich, den Sud so schnell wie möglich zu schlucken, sobald er abgekühlt war. Zusammen mit dem Whiskey war so viel Flüssigkeit zusammengekommen, dass der Topf fast gefüllt war, obwohl sie so wenig Wasser wie möglich verwendet hatten. Sie hatten zwei Töpfe aufsetzen müssen, weil die Scheine zu viele Schnipsel für einen ergeben hatten.
Selbst für Zander war es quälend, eine derartige Menge Flüssigkeit zu trinken, die kein Weißwein war. Er rülpste fortwährend, entschuldigte sich fortwährend und jammerte fortwährend, dass er noch immer nichts vergaß. „Was nu?“, fragte er nach dem letzten Rülpser, ungewohnt flapsig für den neuen Zander im Gespräch mit Harry Hancock Hurricane.
„Warten“, sagte Harry Hancock Hurricane. Sie warteten. Harry Hancock Hurricane döste. Zander döste. Zander schlief mit dem Kopf auf dem Tisch ein. Harry Hancock Hurricane konnte nicht einschlafen, weil es unbequem war, auf dem Tisch zu schlafen, weil Zander im Schlaf röchelte, ähnlich wie ihr Dieselgenerator, kurz bevor er ansprang, weil er darüber nachdachte, ob Zander eingeschlafen war wegen einer Art Schock des Vergessens oder einfach, weil er faktisch auf seinen überfahrenen Kater, der größer war als eine seiner Hände, eine Flasche Whiskey gekippt hatte.
Zander träumte Träume des Vergessens, so süß wie die Sahnetorte, die nur den Konditoren des Vergessens gelang, niemals den Konditoren des Lebens.
Harry Hancock Hurricane schlich aus der Küche wie ein Einbrecher, der keine Schuhe trug, nur wesentlich geräuschloser, weil er leichter war als jeder Einbrecher, der keine Schuhe trug. Er fing vor der Haustür Madeleine ab und erklärte ihr alles, wobei er flüsterte, weil er aus irgendeinem Grund glaubte, Zander dürfe nicht geweckt werden.
Madeleine sagte nichts, weil ihr schien, alles, was es dazu zu sagen gäbe, sei Unsinn. Sie ging in ihr Zimmer, las ein wenig, tat das, was sie zu tun geplant hatte, knotete eine frische rote Bluse zusammen und ging wieder, um Roman im Roma zu treffen und später Chiara.
Harry Hancock Hurricane fing Jackson Jackson ab und erklärte ihm alles, wobei er wieder flüsterte. Jackson Jackson fragte ihn, warum er flüsterte und Harry Hancock Hurricane erklärte ihm auch das. Jackson Jackson sagte, er brauche nicht flüstern, Zanders Röcheln übertöne ohnehin jedes andere Geräusch. Er versprach Harry Hancock Hurricane leise zu sein, was ihm nicht schwerfiel, weil er ein paar seiner Theorien zur Erotik der Mathematik überarbeiten wollte. Er ging in sein Zimmer.
Wenig später kam er wieder aus dem Haus und fragte Harry Hancock Hurricane, warum er vor der Tür steht. Harry Hancock Hurricane sagte ihm, er müsse noch Siegfried abfangen. Jackson Jackson sagte, Siegfried sei im Fitnesstudio und werde danach Roman im Roma treffen.
Harry Hancock Hurricane sah ihn an, als hätte er einen Sud des Vergessens getrunken, glaubte ihm nach einigem Nachdenken trotz allem, weil er das Gefühl hatte, Jackson Jackson scherze an diesem Abend nicht. Allerdings beunruhigte ihn der Gedanke, ihm könnte beim Duschen der Schwanz abfallen. Um etwas anderes zu denken, ging er hinein, holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich dorthin, wo er vorhin schon gesessen hatte.
Zander schlief noch immer, röchelte aber nicht mehr, sondern atmete so regelmäßig, als sei er an eine Lungenmaschine angeschlossen. Harry Hancock Hurricane öffnete sein Bier, trank einen Schluck und stellte die Flasche auf den Tisch. Zander brummte und bewegte den Kopf, schlief aber weiter. Er begann wieder zu röcheln, Harry Hancock Hurricane hörte zu, und das Röcheln hörte sich nicht mehr an wie das Geräusch ihres Dieselgenerators kurz vor dem Start, eher wie das Schnurren eines zu groß geratenen Katers.
Harry Hancock Hurricane trank wieder einen Schluck und dachte darüber nach, ob Königstiger schnurren. Dabei schlief er ein. Er wachte auf, als Zander ihm die Flasche aus den Fingern zog, wunderte sich, warum er in der Küche schlief, blinzelte und sah Zander, wie er den letzten Schluck Bier in seine Kehle schüttete.
Zander stellte die Flasche auf den Tisch, rülpste und schlug sich an die Brust. Es klang, als versuche jemand mit einem Hammer einen Scheit Holz zu spalten. „Mann, bin ich verkatert“, sagte Zander, bevor Harry Hancock Hurricane ihn fragen konnte, wie es ihm geht.
Harry Hancock Hurricane dachte, dass es besser so war, da, wenn er Zander gefragt hätte, wie es ihm geht, der ihn womöglich gefragt hätte, warum er wissen wolle, wie es ihm geht. Niemand von ihnen war je auf den Gedanken gekommen, dass es nötig wäre sich zu erkundigen, wie es Zander geht, jedenfalls nicht, solange Zander noch der alte Zander gewesen war.
Harry Hancock Hurricane beobachtete Zander und versuchte dabei nicht so auszusehen, als wolle er wissen, wie es ihm geht. Zander streckte sich, tat so, als würde er gähnen, weil ihm das offenbar angebracht schien, und machte ein Geräusch wie jemand, der so tut, als würde er gähnen. Eine Art Brummen, in das sich ein U und ein A mischten und danach eine Art O.
Zander stand auf und holte sich ein neues Bier aus dem Kühlschrank. Er ließ sich zurück auf seinen Stuhl plumpsen und sagte etwas, was klang, als probiere er, ein B mit verschiedenen Vokalen zu kombinieren, um herauszufinden, mit welchem Vokal ein B am glaubhaftesten klingt. Er trank einen Schluck und sah Harry Hancock Hurricane an. „Weißt du was?“ fragte er.
Harry Hancock Hurricane war unsicher, welche Antwort Zander erwartete und welche die richtige war, unabhängig davon, welche Zander erwartete. Er versuchte es mit „dies und das?“
„Nein“, sagte Zander, und Harry Hancock Hurricane biss sich auf die Unterlippe, weil er offenbar nicht das geantwortet hatte, was Zander erwartete, „weißt du, ich krieg diesen verdammten Banküberfall nicht mehr aus der Birne“.
Er trank wieder einen Schluck, so dass die Flasche schon halb leer war, als er sie wieder auf den Tisch stellte. Harry Hancock Hurricane fühlte sich, als hätte Zander ihm an die Stirn geschlagen, wie er sich selbst vorher an die Brust geschlagen hatte.
„Aber weißt du, scheiß drauf“, sagte Zander. Er sah Harry Hancock Hurricane an, wedelte ihm mit einer Hand vor den Augen herum und fragte „alles klar, geht’s dir gut?“
„Alles klar“, sagte Harry Hancock Hurricane, „ich geh mal in mein Zimmer“.
„Stolpern wir dann bald mal rüber ins Roma?“, fragte Zander.
„Bald, ja“, sagte Harry Hancock Hurricane und ging in sein Zimmer.
Er stieg die Treppe hoch wie ein Schlafwandler, blieb im Rahmen der Tür zu seinem Zimmer stehen und lehnte sich an das rissige Holz, weil er glaubte, sich wie jemand zu fühlen, dessen Gedanken im Kreis hüpften und tanzten wie zu Musik, so dass es besser war, sich selbst nicht auch noch zu bewegen, weil sonst nie irgendetwas still stehen würde, es sei denn, die Kombo, die zum Tanz der Gedanken spielt, würde irgendwann eine Pause einlegen.
Er stand im Türrahmen. Er sah in sein Zimmer. Irgendetwas war anders. Seine Gedanken wurden langsamer und standen still wie er selbst, dann brummten sie gut gelaunt, aber ein wenig enttäuscht, als hätte ihre Kapelle eine Pause angekündigt.
Er sah wieder in sein Zimmer. Er ging hinunter in die Küche. Zander saß da, als denke er darüber nach, noch ein wenig auf dem Tisch zu schlafen, bis Harry Hancock Hurricane ihn weckte, damit sie ins Roma gehen konnten.
„Zander“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Hmm“, sagte Zander.
„Hast du eine Ahnung, wie der komische grüne PC in mein Zimmer kommt?“
Zander sah Harry Hancock Hurricane an, als grüble er, ob womöglich er selbst es gewesen war, der einen komischen grünen PC in Harry Hancock Hurricanes Zimmer abgestellt hatte. Das jedenfalls dachte Harry Hancock Hurricane. Zander dachte, er sehe so aus als grübelte er, ob Harry Hancock Hurricane tatsächlich von zwei Schluck Sud des Vergessens das Buch des Lebens hatte vergessen können, während er selbst literweise von dem Zeug gesoffen hatte und sich an jede Einzelheit erinnerte, bis auf eine Kleinigkeit, an die er sich natürlich nicht erinnern konnte, obwohl er sicher war, dass er irgendeine Kleinigkeit vergessen hatte.
Tatsächlich sah Zander weder so aus, wie er selbst glaubte, weil man sich zu selten sieht, um zu wissen, wie man aussieht. Für jeden anderen, der Zander kannte, sah er einfach so aus wie der gute alte Zander. Der gute alte Zander fand, es sei Zeit ins Roma zu gehen.
„Nö, keine Ahnung“, sagte er, „gehen wir ins Roma, dann kannst du die anderen fragen“.
Harry Hancock Hurricane dachte darüber nach, wie Zander hatte vergessen können, dass Jackson Jackson in seinem Zimmer bleiben wollte, um irgendetwas für sein Studium zu arbeiten, statt ins Roma zu gehen. Ihm fiel ein, dass Zander das nicht wissen konnte, weil er geschlafen hatte, als Jackson Jackson nach Hause gekommen war.
Er dachte darüber nach, ob Zander überhaupt irgendetwas vergessen hatte. Immerhin hatte er ihn 28 000 Euro dafür zerschnipseln und verkochen lassen, dass er den Banküberfall vergaß. Er fragte sich, wie um alles in der Welt er auf diese schwachsinnige Idee gekommen war und hatte das Gefühl, etwas vergessen zu haben, was ihm wichtig schien, aber er konnte sich nicht erinnern, so sehr er sich auch bemühte. Er dachte, dass es ihm wieder einfallen würde, wenn er sich nicht mehr bemühte, aber er konnte nicht aufhören, sich zu bemühen.
Wenigstens schien Zander wieder der gute alte Zander, warum und wie auch immer. Das schien er gestern Abend allerdings auch schon. Die Kapelle kam wieder auf die Bühne, und seine Gedanken begannen wieder zu tanzen, als hätte es keine Pause gegeben.
Zander dachte, Harry Hancock Hurricane bereue, dass er 23600 Euro für die schwachsinnige Idee verkocht hatte, dass sich aus Geldscheinen eine Vergessenssuppe brauen lässt. Aber er war schließlich von Anfang an dagegen gewesen. Bei ihm konnte Hurricane sich nicht beschweren.
Zander stand auf, legte Harry Hancock Hurricane eine Hand auf die Schulter und beugte sich zu ihm hinunter. „Hey, Mann, scheiß drauf, dass es nicht funktioniert hat“, sagte er, „ich fühl mich trotzdem viel besser und zahl dir das Geld natürlich trotzdem zurück“. Er grinste, aber Harry Hancock Hurricane sah es nicht, weil Zander seinen Scheitel angrinste. „Wird halt eine Weile dauern“, sagte Zander.
„Ich denke, ich verzichte heute aufs Roma“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Wie du meinst“, sagte Zander.
Als Zander ankam, saßen Madeleine und Siegfried mit Roman an einem Tisch. Roman erklärte irgendetwas über das Wesen oder die Seele irgendeines Dings. Das wusste Zander, obwohl er noch zu weit weg war, um Roman zu hören, weil Roman immer irgendetwas über das Wesen oder die Seele irgendeines Dings erklärte, wenn man ihn reden ließ. Roman glaubte, alles und jedes auf der Welt habe ein Wesen und eine Seele.
Madeleine hörte ihm zu, als interessiere sie sich für die Wesen und Seelen von allem und jedem. Siegfried schien sich, wenn überhaupt, nur für das Wesen seines Weinglases zu interessieren. Er strich mit der Kuppe seines Zeigefingers das Kondenswasser vom Glas.
„Hi Leute“, sagte Zander, während er sich einen Stuhl vom Nebentisch heranzog, ohne Giovanni zu fragen, den Gebrauchtwagenhändler, der allein mit einem piccola Chiara dasaß.
„Hi Roman“, sagte er, während er Roman zunickte.
„Hi Leute“, sagte er noch einmal, „der verdammte kleine Hurricane macht mir Sorgen“.
„Roman war gerade dabei, etwas zu erklären“, sagte Madeleine.
„Mmhmm“, sagte Zander.
„Über die Seele des Sandes am Strand“, sagte Siegfried und sah sein Glas an, als könne er es mit Blicken zwingen, umgehend neues Kondenswasser zu bilden oder an die Theke zu schweben, um sich selbst nachzuschenken.
„Ist nicht so wichtig, wenn ihr etwas zu besprechen habt“, sagte Roman, „ihr könnt es auch ruhig sagen, wenn ich störe, ich gehe dann einfach eine Runde“.
„Kein Problem“, sagte Zander, „also Leute“. Er begann, vom Sud des Vergessens zu erzählen, aber Madeleine unterbrach ihn und sagte, Harry Hancock Hurricane habe es ihnen schon erzählt.
„Umso besser“, sagte Zander und wollte erzählten, dass er gar nichts vergessen hatte, sich aber trotzdem viel besser fühlte. Aber Siegfried unterbrach ihn. Er sagte Madeleine, dass Harry Hancock Hurricane ihm noch nichts erzählt hatte, meinte aber, warum sie ihm nichts erzählt hatte.
Erst dann erzählte Zander, was er erzählen wollte. „Unfassbar, wie ich durch die Gegend geschlichen bin“, sagte er, „aber jetzt kommt der Hammer. Hancock hat nur zwei Schluck von dem Zeug getrunken und davon vergessen, was das Buch des Lebens ist. Total vergessen. Er hat mich gefragt, was der komische grüne PC in seinem Zimmer zu suchen hat, er hat tatsächlich komischer grüner PC gesagt. Aber jetzt Moment mal kurz, ich brauch’ dringend was zu trinken darauf, dass wir 23600 Euro für eine Schnapsidee verkocht haben. Plus der Flasche von Jackson Jacksons Whiskey“.
Zander ging an die Theke, um sich ein Glas Weißwein zu holen. Roman wollte sagen, dass, wenn man die Seele der Geschichte betrachte, es keine Schnapsidee war. Wenn Zander zwar nicht den Banküberfall vergessen hatte, aber vergessen hatte, wie peinlich ihm alles war, hatte das Buch des Lebens über den Sud des Vergessens wahrscheinlich die Wahrheit geschrieben. Wenn es etwas verschwiegen hatte, dann nur, dass das Vergessen doch kontrollierbar war. Vielleicht sollte das niemand wissen im Land der Bücher oder wo auch immer. Denn gewiss war der Sud des Vergessens sowieso nur ein Gleichnis.
Wenn man das Wesen des Buchs des Lebens betrachtete, schien die Alternative wahrscheinlich, dass es Harry Hancock Hurricane aus Eitelkeit das Unglaublichste hatte vergessen lassen, was er je in seinem Leben gesehen hatte. Es wollte den anderen beweisen, dass die Geschichte vom Sud des Vergessens nicht erfunden war, auch wenn Zander den Banküberfall nicht vergessen hatte. Vor allem, um es Madeleine zu beweisen, deren Wesen, auch wenn man es freundlich beurteilte, ein wenig starrsinnig war.
Aber er dachte zu lange darüber nach, ob er all das Madeleine sagen sollte, weil er ahnte, dass sie es nicht hören wollte. Deshalb sagte Roman nichts, denn Zander kam zurück, klatschte ihm die Hand auf die Schulter und sagte „und was geht bei dir so, Roman, also Leute, wir sollten echt besprechen, was wir mit Hancock jetzt anstellen“.
Roman tröstete sich damit, dass er Madeleine alles, was er dachte, immer noch später erzählen konnte. Siegfried sah Roman an und glaubte, dabei auszusehen wie jemand, der einen anderen einfach nur ansieht.
„Ich geh’ glaub wirklich mal ein paar Runden“, sagte Roman und ging, bevor Madeleine entschieden hatte, ob sie dazu etwas zu sagen hatte.
Dann unterhielten sie sich darüber, was sie wegen Harry Hancock Hurricanes Vergessen unternehmen wollten, über das Buch des Lebens und über etliches mehr. Roman spähte ein paar Mal zu ihrem Tisch, einmal oben von der Strandpromenade aus, einmal von der Ecke bei der Eisdiele, einmal vom Eingang der Fußballbar. Er entschied jedes Mal, dass er noch eine Runde drehen sollte, schließlich entschied er, bei Steffi zu warten. Dorthin würden Madeleine, Siegfried und Zander sowieso kommen, wenn sie sich ausgesprochen hatten, und dort konnte er auf einem Barhocker sitzen statt herumzutappen wie ein Tourist auf der Suche nach einem Urlaubsflirt.
Allerdings war bei Steffi kein Barhocker frei, außer dem von Pepe, weswegen Roman an einem der Tische sitzen musste, an dem nur die Touristen saßen, mit denen keiner sprach. Er dachte, das sei typisch für sein Wesen, er zögere jede Entscheidung so lange hinaus, bis es zu spät war, und war froh darüber, dass Ivan schon einen Bierkrug in der einen Hand hielt und die andere auf den Zapfhahn für das media Rossa gelegt hatte, als er mit seinem freundlichen Gesichtsausdruck zu Roman herübersah.
Als Roman beim zweiten media Rossa war, kamen Madeleine, Siegfried und Zander und setzten sich zu ihm, weil es ihnen egal war, ob sie an dem Tisch saßen, an dem sonst nur die Touristen saßen, mit denen keiner sprach. Später würde an der Bar oder weiter vorn sowieso ein anderer Platz frei werden.

***

Der Wein, das Essen, das Klima, die Menschen, die ehemaligen Praktikantinnen, die jedem Gebrauchtwagenhändler glaubten, er sei Werbefilmregisseur, der Trubel im Sommer im Wechsel mit der Ruhe im Winter – jedes Jahr ein Symbol für die Rastlosigkeit der Jugend und die Gesetztheit des Alters, nur dass diese Jugend im Frühjahr zurückkehrte – das Interesse daran, die Menschen zu sehen, über die er bisher nur gelesen hatte, zu sehen, dass sie tatsächlich existierten, lebten, der Reiz, neben ihnen zu sitzen, ohne dass sie ahnten, was er über sie wusste, selbstverständlich die Entspannung nach all dem Quatsch und all den Vieren seiner Tochter, der Scheidung und dem Doppelnamen.
Schulz-Harkens saß im Zug, während er über all die Gründe nachdachte, aus denen er sich für einem längeren Aufenthalt in Norditalien entschieden hatte. Früher hätte er auf dieser Strecke das Flugzeug genommen, aber jetzt hatte er Zeit. Er genoss den Gedanken, dass er sich mit jedem Rumpeln der Räder auf den Schweißnähten der Gleise ein Stück weit von allem entfernte.
Tatack. Ein sinnleeres Meeting weniger. Tatack. Eine Vier gestrichen. Tatack. Weg ist der Bindestrich.
Schulz-Harkens hatte sich eine Zigarre angezündet, obwohl das Rauchen im Abteil verboten war. Wer sollte sich beschweren? Er saß allein im Abteil. Was sollte ihm passieren? Sie würden ihn wohl kaum aus dem fahrenden Zug werfen. Er paffte einen Kringel in Richtung der Gepäckablage und sah zu, wie der Kringel sich an den Metallstäben teilte, zweimal längs, einmal quer. Die drei Teile des Kringels schwebten nebeneinander weiter, vereinten sich an der gerundeten Decke zu einer Wolke und verteilten sich gemächlich, wo auch immer sie hinwollten.
Tatack. Kessler wird dein Nachfolger.
Er würde noch eine Weile fahren müssen, bis er genügend wattige Gleichgültigkeit auf die Stacheln dieses Gedankens gespießt hatte, so dass er ihn nicht mehr piekste. Seine Pressemitteilung zu Kesslers Entlassung hatte sich als nicht so frei erfunden erwiesen, wie sie war. Kessler hatte bei einem Verlag einige moralische Fragwürdigkeit bewiesen, der pornografische Schmuddelhefte vertrieb.
Kessler hatte unter Großaufnahmen der für die Fortpflanzung entscheidenden Körperteile des Mannes, die in diversen Körperöffnungen von Frauen steckten, Texte aus Büchern zur Sexualkunde drucken lassen, auf Hochglanzpapier, fest gebunden, großformatig. Millionen von Eltern kauften die Bücher, die Kessler als Hilfe zur Aufklärung pubertierender Jugendlicher hatte bewerben lassen.
Schulz-Harkens vermutete, dass die Jugendlichen es so genau gar nicht sehen wollten. Er vermutete außerdem, dass zumindest die Väter, während sie vorgaben zu prüfen, ob der Inhalt für ihre Kinder geeignet sei, nicht die Texte prüften.
Wie auch immer. Kessler hatte den Umsatz des Verlages vervierfacht, sein eigenes Gehalt verdoppelt. Der Verlag der Bücher hatte ihm ein nochmals doppelt so hohes Gehalt angeboten, damit er Schulz-Harkens’ Posten übernahmen. Kessler wusste, wie er sich durchs Leben zu schweigen hatte. Das musste man ihm lassen. Allerdings fragte sich Schulz-Harkens, was er in eine Pressemitteilung schreiben lassen wollte, sollte irgendein jugendlicher Journalist auf die Idee kommen, den Verlag der Bücher wegen seiner Rückkehr zu befragen.
Sie hatten sich noch einmal gesehen, sozusagen als Schulz-Harkens den letzten Rest seines Berufslebens aus seinem alten Büro geräumt hatte, während Kessler auf dem Weg in sein neues Büro war, um seinen Aktenordner einzuräumen. Sie hatten sich die Hände geschüttelt, ohne mehr zu sagen als das Übliche.
Schulz-Harkens: Ungeachtet dieser für alle Beteiligten unangenehmen Geschichte, ich persönlich habe ihre Qualifikation nie in Zweifel gezogen. Ich wünsche ihnen jeden erdenklichen Erfolg.
Kessler: Die Art, wie sie diese Abteilung geleitet haben, habe ich immer für vorbildlich gehalten. Ich werde ihre Arbeit in ihrem Sinne weiterführen.
Es war nicht Triumph, den Schulz-Harkens in Kesslers Augen sah, es war Spott. Es war die Frage: Und was willst du alter Esel machen, wenn du deine Abfindung mit altem Wein und jungen Weibern verprasst hast? Dann bleibt dir bestenfalls noch das Gegenteil.
Schulz-Harkens verschränkte die Hände hinter dem Kopf, nuckelte an seiner Zigarre und paffte einen Kringel an die Decke, ohne sich darum zu kümmern, was aus ihm wurde. Er wäre nicht mehr Harkens, nicht einmal mehr Schulz-Harkens, nur noch Schulz, wenn er vergessen hätte, daran zu denken. Er erinnerte sich daran, was er gedacht hatte, als er sah, was Kessler dachte: Du junger Dackel bist nicht der einzige, der mit moralischer Fragwürdigkeit Geld verdienen kann. Nur würde er dieses Geld nicht für einen Verlag verdienen, sondern für sich selbst.
Abgesehen davon, dass Anita, die Praktikantin, hinter einem bemerkenswerten Dekollete´ herumgestöckelt war, hatte sie bemerkenswert gute Arbeit geleistet. Sie ahnte nicht, wie gute. Schulz-Harkens würde einen anderen so viel Geld verdienen lassen, dass er selbst nie mehr würde Geld verdienen müssen.

***

Siegfried: Dachte darüber nach, wie er Roman loswerden könnte.
Madeleine: Dachte darüber nach, ob sie Harry Hancock Hurricane das Buch des Lebens erklären sollte, wusste aber nicht, wie sie etwas erklären sollte, was ihr so unerklärlich schien, dass sie nicht daran glaubte.
Jackson Jackson: Errechnete Irrwege und Rückschritte statt Fortschritte, weil die Erotik der Mathematik ihn erregte, weshalb er sich nicht konzentrieren konnte.
Harry Hancock Hurricane: Hatte den Versuch aufgegeben, den merkwürdigen grünen PC zum Laufen zu bringen, den weiß der Geier wer in sein Zimmer getragen hatte, er hatte ohnehin nur zwei Tasten, von denen Harry Hancock Hurricane vermutete, dass sie nur zum Einstellen der Schriftgröße dienten. Außerdem fehlte ihm die Tastatur.
Das Buch des Lebens: schwieg.
Kessler: Tupfte sich mit dem Zipfel einer schweren Serviette einen Krümel Oregano aus dem Mundwinkel. Er legte die Serviette auf die Tischdecke, hob sein Glas Chianti, schwenkte es ein wenig und gab vor, die Konsistenz des Weins zu prüfen, indem er beobachtete, wie er an der Innenseite des Glases hinabrann.
Tatsächlich beobachtete er, wie das Kerzenlicht das Dekolletee´ umschmeichelte, das Anitas Nachfolgerin beinahe auf den Tisch gelegt hatte, so weit beugte sich sich zu ihm hinüber um zu hören, mit welchen Plänen er gedachte, eine signifikante Absatzsteigerung des Buchs des Lebens zu erzielen. Das Kerzenlicht umschmeichelte das Dekolleteé von Anitas Nachfolgerin derart unverhohlen, dass Kessler einen Stich von Eifersucht in seinem Chianti schmeckte und darüber nachdachte, die Kerze einfach auszublasen.
„Und?“, fragte Anitas Nachfolgerin.
Kessler hob den Blick und sah ihr durch seine randlose Brille hindurch in die Augen.
„Nun, mehr sollte ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht preisgeben“, sagte er.
Anitas Nachfolgerin setzte sich aufrecht.
„Außer, dass ich ihnen in diesen Plänen eine nicht unerhebliche Rolle zugedacht habe“, sagte Kessler, schwenkte sein Glas und sah den Chianti an, als wolle er ihn verführen, „nein, soviel darf ich preisgeben, eine erhebliche“.
Schulz-Harkens: dachte nach, um zu einer Entscheidung zu kommen, die für ihn keinerlei Nutzen haben würde, weder für den Moment, noch für die Zukunft.

***

Roman legte einen Block auf den Tisch. Es war einer seiner Charaktereblöcke, kariertes Papier mit hellroten Linien, die Randstreifen abtrennten, auf beiden Seiten der Blätter, ein erhabenes Deckblatt, weiß, mit einem in unaufdringlichem Hellgrau eingedruckten Markennamen am Seitenkopf, matte Oberfläche.
Eine matte Oberfläche war für seine Charaktereblöcke unabdingbar, weil er auf dem Deckblatt Stichwörter notierte über seine Charaktere: Name des Beobachteten, sofern bekannt, oder fiktiver Name, sofern zum Charakter passend, so dass der Name allein schon den Beobachteten charakterisiert, so wie Bertram beispielsweise oder Racine, einige Stichwörter zum Charakter, sofern Name unbekannt und kein kurzfristig verfügbarer fiktiver Name aussagekräftig genug, Datum selbstverständlich und Uhrzeit der Beobachtung.
Den Ort der Beobachtung zu notieren war unnötig. Alles, was er notierte, beobachtete er von einem Tisch im Roma aus, wo er jeden Tag einige Stunden allein saß, um sich von Szenen und Charakteren inspirieren zu lassen und zu notieren. Nichts inspirierte ihn mehr als Beobachtungen.
In den Quadraten des karierten Papiers, jedes gerade groß genug für einen säuberlich entworfenen Buchstaben oder eine Zahl, reihten sich die Beobachtungen aneinander und untereinander, samt erster Wertungen und Interpretationen charakteristischen oder nur scheinbar charakteristischen Verhaltens für einen Bertram, eine Racine, die Susannes, Cesares und natürlich Nadias.
So entstand gleichsam eine Strichzeichnung der Person, die Roman zu skizzieren hatte, weil das seine Arbeit als Schriftsteller war und der Charakter ihm später einmal nützlich sein würde. Kästchen für Kästchen reihten sich zu einem naturgetreuen Bild aneinander, wenn auch schwarz-weiß, ganz so, wie ein alter Röhrenfernseher seine Bilder erzeugt, nur langsamer eben. Roman schrieb seine Charaktere wie ein Röhrenfernseher, sozusagen.
Eigentlich schrieb nicht Roman die erste Skizze seiner Charaktere. Er ließ schreiben. Harald schrieb für ihn. Roman legte Harald quer über den Block, seinen Bleistift mit dem dickeren Strich, Härte B1, Harald, sein Mann fürs Grobe. Harald war überzeugt, die Gabe zu besitzen, durch Kleider hindurch die Qualitäten und Unzulänglichkeiten menschlicher Körper zu erkennen. Er schien auch überzeugt, durch ihre Köpfe und Körper hindurch ihre Charaktere und Seelen zu erkennen.
Harald neigte bei seinem Urteil zu Oberflächlichkeit und einer gewissen Überheblichkeit. Was er sah, bewertete er mit der Endgültigkeit eines Urteils im Namen des Volkes und ließ keine höhere Instanz mehr zu.
Roman verzieh ihm seine Arroganz, weil Haralds Qualitäten andere waren als die des unfehlbaren Urteils. Harald war sein Späher. Sein Röntgenblick, mit dem er gern prahlte, ließ sich schwer leugnen. Nie entging ihm, wenn einer Frau der Träger ihres Büstenhalters von der Schulter auf den Oberarm gerutscht war. Dann verglich Harald die Form der unterstützten Brust mit der Form der nicht mehr unterstützten, um über die Festigkeit des Fleisches zu spekulieren.
Nie entging ihm, wenn ein Mann sich nach dem Begrüßungskuss einer Frau verstohlen mit dem Handrücken die Oberlippe rieb, um eine Spur von Feuchtigkeit zu verteilen. Daraus schloss Harald, dass das Paar verheiratet war, die Ehe schon eine Weile währen und die Leidenschaft abgekühlt sein musste.
Abgesehen von seiner zweifelsfrei nutzbringenden Gabe, mit gnadenloser Unfehlbarkeit jedes Detail zu registrieren, halfen auch Haralds fragwürdige Charakterzüge Roman bei der Arbeit: seine Poltrigkeit und die Ungeduld, mit der er einen schnellen Schluss forderte. Er forderte von Roman, umgehend in die Hand genommen zu werden, sobald er auf dem Charaktereblock lag. Harald forderte Ergebnisse.
Deshalb legte Roman ihn oben auf den Block. Ohne Harald in die Hand zu nehmen, ließ sich der Block nicht aufschlagen und die Arbeit nicht beginnen. Sobald Roman Harald in der Hand hielt, forderte Harald von ihm, mit der Arbeit zu beginnen. Jetzt. Harald würde nicht dulden, neben den Block gelegt zu werden.
Harald lag auf dem Block und forderte – wie immer – in die Hand genommen zu werden. Roman dachte darüber nach, wie er den Block aufschlagen könnte, ohne Harald in die Hand zu nehmen. Wie so oft und immer öfter.
Aber er konnte den Block nicht aufschlagen, ohne Harald in die Hand zu nehmen, jedenfalls nicht, ohne dass der Bleistift über die weißlackierte Tischplatte rollte, auf das Holz des Podests fiel, wobei wahrscheinlich seine Mine zerbrechen würde oder, schlimmer und daher noch wahrscheinlicher, gleich der ganze Bleistift auf immer in einer Lücke zwischen zwei Brettern verschwinden würde. Und wenn nicht auf immer, jedenfalls für eine Zeit, die das Warten nicht lohnen würde, selbst wenn der Besitzer des Bleistifts so viel Zeit hatte wie Roman.
Roman tat, was er immer tat, um Haralds Ungeduld zu zügeln. Er zog Gesine aus seiner Hemdtasche, seinen Bleistift der Härte H1, den mit dem feineren Strich. Gesine glich mit ihrem feinsinnigen Gespür Haralds vorschnelle Poltrigkeit aus. Die beiden ergänzten sich, wie sich ein ungleiches Ehepaar ergänzt. Oder wie sich Mann und Frau eines ungleichen Ehepaars ohne Unterlass widersprechen. Das war natürlich Ansichtssache.
Für Romans Zwecke ergänzten sie sich jedenfalls in wunderbarer Weise. Harald schlug in seinem Drang voranzukommen eine breite graue Schneise in das Weiß des Papiers. Dann musste er innehalten, um auf Gesine zu warten, die nur langsam vorankam, weil sie die Schäden prüfte, die Harald an den Rändern hinterlassen hatte, hie und da ein zertrampeltes Pflänzlein aufrichtete und hegte, weil Harald von seinem Weg abgewichen war, da und dort Fransen auszupfte, giftigem Unkraut gleich, die Harald übersehen hatte.
Wenn Roman Haralds Notizen noch einmal überlas und prüfte, nahm er Gesine zur Hand, die geduldig wartete, bis sie gefragt wurde. War ihr ein Irrtum aufgefallen, hatte sie eine Ungenauigkeit bemerkt, kommentierte sie auf den Rändern links und rechts der zartroten Linien des Blattes. So ergänzte Gesine Haralds Notizen mit ihren Randnotizen, ersetzte Haralds grobe Gedanken gegen feinsinnigere oder fügte eine eigene Bemerkung an, wenn ihr schien, dass Haralds schnell gefälltes Urteil bei ein wenig Nachdenken die Eventualität eines Fehlurteils zuließ.
Gesines Arbeit erforderte andere Fähigkeiten als Haralds unfehlbaren Blick für Details, sie erforderte den Willen, hinter die Details zu sehen. Noch viel mehr erforderte sie den Willen, mal um mal mit Harald zu streiten, welches Detail womöglich ein Urteil in ein Vor- oder Fehlurteil verwandeln würde und welches Vor- oder Fehlurteil womöglich das Gesamtbild ändern würde und welches nicht.
Während Gesine versuchte zu überzeugen, rief Harald vom Ende des Blattes nach vorn, sie möge endlich den Unfug bleiben lassen, hinne machen, weil er heute noch voranzukommen plane und noch anderes zu tun habe.
Diese Vorstellung deprimierte Roman ein ums andere Mal. Er sicherte Gesine mit der Zuckerdose zur Tischkante hin ab, falls sie plante, sich über den Rand des Tisches auf die Holzterrasse zu stürzen, ihre Mine zu zerstören oder sich für immer im Dunkel unter den Brettern ihrem Gram über Haralds Ignoranz hinzugeben. Nie konnte man wissen, was die Dinge vorhatten, solange man ihr Wesen nicht vollständig durchschaute.
Und wie konnte er, Roman, Gesines Wesen vollständig durchschauen? Gesine, die in scheinbar unendlicher Güte jede Eventualität abwog, um zu ergründen, ob vor ihr ein Unschuldiger stand, von Harald verurteilt nur wegen einer unwahrscheinlichen Verkettung von Zufällen, ein Unschuldiger, der vor dem Fallbeil gerettet werden musste.
Gesine korrigierte Haralds schnelle Entscheidungen, indem sie die Möglichkeit erwog, dass eine Spur Feuchtigkeit, die eines Mannes Handrücken verwischte, nicht Speichel sein musste, sondern die Reste des letzten Schluckes Weißwein sein konnten. Oder konnte das verstohlene Fummeln an einer Oberlippe ein Zeichen von Nervosität des Mannes seiner eben erst gewonnenen Liebschaft gegenüber sein, nicht das Unbehagen über die feuchten Küsse seiner Angetrauten?
Sie korrigierte auch zu Ungunsten der Beurteilten, etwa wenn sie anhand der Verarbeitung eines BH-Trägers einen wattierten und bügelgestützten Büstenhalter zu erkennen glaubte. Wie konnte er, Roman, sich anmaßen, das Wesen eines solchen Bleistifts vollständig zu durchschauen?
Zumal er sich mit dem Wesen seiner Bleistifte noch nicht näher befasst hatte. Er war noch dabei, sich das Wesen seiner Füllfederhalter zu erarbeiten, Gernot und Jasmin, die er benutzte, um die Notizen mit den Randnotizen zu Reinnotizen zu paaren. Die Reinnotizen heftete er in Ordner, um ein Archiv mit Szenen und Charakteren für alle Eventualitäten des Schriftstellerlebens in seinem Schriftstellerhaus aufzubauen, vor allem für den Fall, dass er je eine vollständige Geschichte niederschreiben würde statt Notizen. Es würde dann alles viel schneller gehen. Er hätte für jede Szene sofort den passenden Charakter parat.
Was ihm fehlte, war der warme Atem der Inspiration. Was ihm abgesehen davon fehlte, waren die Buchstaben C bis Z. Er hatte inzwischen siebenunddreißig Ordner in die Regale seines Archivs gestellt, war beim Klassifizieren seiner Szenen und Charaktere mit dem Buchstaben B so ziemlich am Ende angelangt, voller Zuversicht, in naher Zukunft das C zu erreichen. Selbstverständlich hatte er außerdem etliche Anregungen für Szenen und Charaktere gesammelt, die er unter anderen Buchstaben einzusortieren gedachte. Sie waren nur noch nicht ins Reine geschrieben, damit noch nicht abheftbar.
Roman hatte sich dieses System zurechtgelegt, eher sich dieses System auferlegt, um die Zeit seines Schriftstellerlebens nicht mir Faulenzerei zu vertun, während er auf den Atem der Inspiration wartete. Er wollte die Zeit nutzen, um sich zu wappnen, so gut es eben ging. Darum schrieb er Notizen und Randnotizen in seine Charaktereblöcke und Notizen und Randnotizen in seine Szenenblöcke und Notizen und Randnotizen in seine Notizblöcke für all die anderen Beobachtungen und Gedanken über das Wesen der Dinge.
Er würde bereit sein, wenn der warme Atem der Inspiration ihm den Gedanken der Vollkommenheit ins Ohr haucht. Nichts anderes als Vollkommenheit gedachte er als den zentralen Gedanken für seinen ersten Roman zu akzeptieren, der von allem handeln würde, vom Großen und Ganzen, eben vom Wesen der Dinge und der aus dem Wissen über das Wesen gedeihenden Weisheit.
Seine Füllfederhalter benutzte er zuhause an seinem Sekretär, Kirschholz, sechs kleinere Laden auf der linken Seite, in der er den Krimskrams der Schriftstellerausrüstung aufbewahrte, drei größere auf der rechten Seite, in der seine noch unverarbeiteten Notizen und Randnotizen der späteren Buchstaben ruhten, eine zentrale Lade in der Mitte für die zentralen Gedanken seines ersten Romans. Diese Lade war natürlich noch leer. Das war selbstverständlich so und keineswegs ein Makel.
Roman hörte Harald fordernd knurren. Er dachte darüber nach, dass er später seinen ersten Roman und alle weiteren in einen Computer würde tippen müssen, obwohl er überzeugt war, das Schreiben mit Stift auf Papier inspiriere ihn mehr als das Tippen und es jedermann raten würde, falls ihn jemand fragte.
Der Gedanke an das ungewohnte Tippen flößte Roman Respekt und Furcht ein, obwohl er es schon geübt hatte. Noch mehr aber fürchtete er, dass seine künftigen Verleger über das Schreiben mit Stift auf Papier anders urteilen würden als er. Er fürchtete, dass sie handgeschriebene Manuskripte ungelesen zurückschicken würden. Dann wären all die Fragmente all seiner Notizen über all seine Beobachtungen nutzlos, die sich so selbstverständlich zu einem Ganzen vereinen würden, bald oder irgendwann jedenfalls, wie alle Atome der Erde sich zu dem wunderbaren Ganzen der Natur vereint hatten.
Davon war Roman überzeugt. Jedenfalls zweifelte er daran nicht mehr als jeder andere, der sich auferlegt hatte, etwas zu schaffen, was nicht weniger war als das Große und Ganze.
Bedauerlicherweise behinderte zunehmend die Tatsache das Vorankommen seiner Arbeit, dass im Roma jeder jeden Tag mindestens zweimal vorbeischaute. Neue Charaktere hatten es schwer, einen freien Tisch zu finden. Über diejenigen, die jeden Tag mindestens zweimal vorbeischauten, hatte Harald längst sein endgültiges Urteil geschrieben. Gesine war es leid geworden, ständig neue Ausnahmen zu erdenken, obwohl sie inzwischen sogar dann dazu neigte Harald zu korrigieren, wenn eine Korrektur mit keiner einzigen Beobachtung zu begründen, sondern allein Mutmaßung war.
Harald döste. Gesine stichelte mit ihrer frisch gespitzelten Mine in der Sommerluft herum. Gianna kam vorbei. Roman bestellte einen halben Liter Rotwein, um für alle Fälle gewappnet zu sein. Er bestellte immer Rotwein, wenn er arbeitete, nie Weißwein oder Bier oder gar Cola.
Der Rotwein schien ihm das einzige Getränk, das dem Wesen der Schriftstellerei entsprach. Die Tiefgründigkeit der Farbe, die wechselte, je nachdem, in welchem Winkel das Glas zum Licht stand. Die Schwermut der öligen Flüssigkeit, die Gleichgültigkeit der Schwebstoffe, die Nuancen des Nachgeschmacks, der die Nachdenklichkeit anfeuernde Alkohol. Sofern er nicht zuviel trank.
Gianna brachte seinen Rotwein. Roman dankte ihr. Er zog seine Schriftstellersonnenbrille aus der Brusttasche seines rotwildbraunen Schriftstellerhemds, eine Sonnenbrille mit dunklen Gläsern und breitem Rand. Der breite Rand verhinderte, dass Nebensächlichkeiten seinen Fokus von demjenigen ablenkten, auf den Roman seinen Blick konzentrierte. Die dunklen Gläser, hinter denen er seine Augen und Regungen verbarg, erfüllten mehrere Zwecke. Er richtete seinen Blick immer etwas schräg auf seine Charaktere, damit die sich nicht beobachtet fühlten, was ihr Verhalten beeinflussen und Haralds Notizen verfälschen würde.
Nicht selten hatte Gesine Harald genau das vorgeworfen, dass Unbeaobachtete sich eben anders verhielten als Beobachtete. Die dunklen Gläser verliehen ihm außerdem eine Unnahbarkeit, die ihm ohne sie fehlte, die Unnahbarkeit desjenigen, den niemand ansprach, weil seine rätselhafte Aura eher eine unfreundliche als eine freundliche Reaktion erwarten ließ oder jedenfalls keine, die sich voraussagen ließ. So wurde er nicht gestört bei seiner Arbeit.
Roman setzte seine Brille vor die Augen, lehnte sich zurück, stützte den Ellbogen auf die Armlehne des Stuhls, das Kinn auf die Knöchel seiner linken Hand und faltete die Haut auf seiner Stirn um klar zu machen, dass er ein Schriftsteller bei der Arbeit war, der zu konzentriert war, um andere zu beobachten und zu versunken in seine Gedanken, als dass ihn jemand ansprechen sollte.
Er nahm Harald zwischen Daumen und Zeigefinger, piekste die Mine unter das Umschlagblatt des Blocks und blätterte es um. Vor ihm lag das unbeschriebene Blatt. Die kleinen Quadrate forderten Vorurteile, die Roman sich zu schreiben widersetzte. Die schmalen Ränder warteten auf Korrekturen, die Gesine schreiben würde, wenn Harald seinen Teil beendet hatte.
Der Gedanke daran, dass Gesine geduldig neben dem Block wartete, daran, wie sie sich fühlen musste in dem Wissen, dass der nächste Streit mit Harald bevorstand, daran, dass er diesen undankbarsten Teil seiner Arbeit ihr überließ und daran, wie sie sich bei all dem fühlen musste, bestärkte Roman in dem Beschluss, auf keinen Fall Haralds Vorurteile niederzuschreiben. Nicht heute. Nie mehr. Und wenn er nie beim Buchstaben C ankommen würde oder sich ein neues System für seine Charaktereblöcke überlegen müsste.
Roman legte Harald rechts neben den Block, griff nach seiner Karaffe Rotwein und schenkte sich einen Schluck in sein Glas ein. Harald rollte vom Tisch, fiel auf die Terrasse des Roma, hüpfte noch einmal auf dem Holz, wobei seine Mine an zwei Stellen splitterte, und stürzte sich in eine Spalte zwischen zwei Bretter.
Roman wusste nicht, wie er den Schrecken beschreiben sollte, den er empfand, der ihm das Hirn und, wie er fürchtete, außerdem den Herzschlag und die Atmung blockierte, als er sah, dass Harald, in offensichlich suizidaler Absicht, sich in die Tiefe gestürzt hatte, ein Selbstmord als letzter Schrei gegen eine Ungerechtigkeit, die Roman ihm angetan hatte, er, Roman, ihm, Harald, der ihn mit all seinen unfehlbaren Beobachtungen und ungezählten schnell, aber dennoch richtig gefällten Urteilen und eigentlich verschwindend wenigen Fehlurteilen bis beinahe zum Buchstaben C begleitet hatte.
Roman wusste auch nicht, dass glücklicherweise ihm der Schrecken nicht den Herzschlag und die Atmung gelähmt hatte und auch nicht das Gehirn. Tatsächlich war es ein Schock, der ihm das Gehirn gelähmt hatte, der Schock, dass er niemals, schon gar nicht ohne Harald, in der Lage wäre, diesen Schrecken in passenden Worten zu beschreiben.
Dass dieser Schock ihm das Gehirn lähmte, hatte einen unschätzbaren Vorteil, den Harald in diesem Moment nicht erkannte, sondern erst Tage später. Wäre Romans Gehirn nicht gelähmt gewesen, hätte er vor Schreck Glas und Karaffe fallen lassen und mit dem Rotwein seine weiße Jeans getränkt. Die Flecken hätte niemand mehr herauswaschen können.
„Roman, der Schriftsteller, richtig?“, sagte eine Männerstimme rechts neben dem Rand von Romans Schriftstellerbrille, „was dagegen, wenn ich mich setze?“.
Roman hörte das Scharren von Stuhlbeinen auf der Holzterrasse, hatte das Gefühl, dass sich rund um den Globus eine Reihe höchst ungewöhnlicher Ereignisse häuften und bemerkte, dass er Glas und Karaffe in den Händen hielt, als hätte ihm sein Schrecken nicht nur das Gehirn gelähmt, sondern auch die Muskeln und Gelenke.
Diese Erkenntnis löste die Lähmung, so dass ihm das Glas aus der Hand rutschte, allerdings gelang es Roman, sein linkes Knie aus der Falllinie zu zucken, so dass das Glas den Stoff seiner Jeans verfehlte und auf die Bretter fiel, wobei es wiederum glücklicherweise nicht zersprang, aber der Rotwein folgte Harald in die schmutzige Dunkelheit unter den Brettern. Es gelang Roman, in einer von Gewohnheit befohlenen Bewegung, die Karaffe auf den Tisch zu stellen.
Die Männerstimme neben dem rechten Rand seiner Schriftstellerbrille räusperte sich. „Kleines Missgeschick“, sagte sie, „ich hoffe, das war nicht meine Schuld, Roman“.
Roman dachte nicht über eine Antwort nach, hob stattdessen das Glas vom Boden auf, stellte es auf den Tisch und schenkte es erneut mit Rotwein voll, um zumindest einen Teil der Ordnung wiederherzustellen, die noch vor einer Minute rund um seinen Block geherrscht hatte.
Die Männerstimme räusperte sich wieder, worauf Roman ins Bewusstsein drang, dass ihn trotz seiner Schriftstellerbrille und seines Schriftstellerstirnrunzelns jemand angesprochen und sich sogar neben ihn gesetzt hatte, obwohl er auf die Frage nach Erlaubnis noch nicht geantwortet hatte. Die Erkenntnis, dass sein System offenkundig schon fehlerhaft gewesen war, bevor Harald sich in die Dunkelheit gestürzt hatte, verbitterte ihn. Er trank das Glas Rotwein auf einen Zug. „Setzen sie sich ruhig“, sagte er, „heute war sowieso nicht der Tag für eine zielgerichtete Arbeit“.
„Wie so oft, nicht war, Roman?“, fragte die Stimme, aber Roman schien das keine Frage, sondern eine Feststellung, was ihn kränkte, weil es wahr war. Deshalb dachte er darüber nach, die Tatsache zu leugnen. Weil das sinnlos schien, denn die Männerstimme hätte vermutlich ein Leugnen als Bestätigung ihrer Behauptung gewertet, weil es ihm außerdem widerstrebte, sich einer fremden Stimme gegenüber zu rechtfertigen, leugnete er nicht. Er musste sich niemandem gegenüber rechtfertigen. Er wartete nur auf Inspiration, wie eigentlich jeder Schriftsteller.
Er schenkte sich nach, um Zeit zu gewinnen. Er stellte erfreut fest, dass sein Schriftstellerwein seine Schriftstellerbeobachtungsgabe schärfte, denn just als er die Karaffe abstellte, kam er sogar ohne Harald zu dem Schluss, dass der Fremde, zu dem die Stimme gehörte, ein Verkäufer sein oder zumindest einen kaufmännischen Beruf haben musste. Nur Verkäufer hatten die schleimspurige Angewohnheit, jeden Satz, den sie sprachen, mit dem Namen ihres Gegenübers zu beenden.
„Wundern sie sich nicht, dass ich ihren Namen kenne, Roman?“, fragte die Stimme. Weil die fremde Stimme diese Frage nicht nur als Frage formuliert, sondern als Frage gemeint hatte, spürte Roman den Stolz seines Schriftstellerselbstbewusstseins, das ihm eigentlich zu selten bewusst war, und antwortete mit einem schlichten Nein, was seinen Schriftstellerstolz weiter wachsen ließ.
Er tat einfach, als sei er gewohnt, auf sein Schriftstellertum angesprochen zu werden und versuchte, mit seiner Miene eine Spur von Verärgerung auszudrücken darüber, dass er schon wieder bei der Arbeit gestört worden war, was allerdings misslang, und selbst wenn es gelungen wäre, hätte der Fremde es wegen Romans Schriftstellersonnenbrille nicht erkennen können.
„Aber trotzdem“, sagte Roman gönnerhaft und drohte mit einer rhetorischen Pause die Fortsetzung des Satzes an, indem er an seinem Glas nippte, „woher kennen sie meinen Namen?“
Roman wollte nicken, wissend, vergaß es aber, weil ihm einfiel, dass er den Mann, zu dem die Stimme gehörte, bisher noch nicht angesehen hatte und das Versäumnis ohne weitere Verzögerung nachholen wollte.
Der Mann sah nicht aus wie ein Verkäufer. Er sah überhaupt nicht aus wie ein Verkäufer. Ihm fehlte das Einheitliche. Ihm fehlte die Einheitskleidung, ihm fehlte der Einheitsgesichtsausdruck, ihm fehlte der Einheitsblick, ihm fehlten die Augen, in denen jeder Mensch, der sich auch nur im geringsten um das Wesen der Dinge schert, drei Wörter lesen kann, genau genommen nur eines, das aber dreimal: Umsatzumsatzumsatz. Das Einheitswort, das im Augenhintergrund blinkt wie eine Leuchtreklame, die jemand in einer unterirdischen Höhle aufgehängt hat.
Der Mann war teuer, teurer Haarschnitt, teures Hemd, teure Uhr, teure Sonnenbrille und schlimmer, er trug all die Teurigkeiten mit der Selbstverständlichkeit desjenigen, dem es gleichgültig ist ob jemand bemerkt, dass alles, was er trug, teuer war.
Roman blitzte der schockierende Gedanke ins Gehirn, dass so ein erfolgreicher Schriftsteller aussehen könnte und er beruhigte sich damit, dass erfolgreiche Schriftsteller dieser Art nie über das Große und Ganze schrieben, immer nur Kriminalromane oder Agentengeschichten.
„Roman“, sagte Roman, als habe er vergessen, dass der Fremde seinen Namen bereits kannte, und reichte ihm umständlich an seiner Karaffe vorbei seine Rechte über den Tisch.
„Harkens“, sagte Schulz-Harkens und griff nach Romans Hand, aber sie entwischte ihm, weil Roman von seinem Stuhl aufsprang, wobei er an die Tischkante stieß und der Rotwein bedrohlich in der Karaffe schwappte, aber die Karaffe fiel nicht.
„Verblüffend“, rief Roman, „verblüffendverblüffend, wie ein Name derart perfekt zu einem Gesicht passen kann“.
„Man bemüht sich“, sagte Harkens ohne Schulz und Bindestrich.
Roman setzte sich wieder. „Würde es sie stören, wenn ich mir während unseres Gespräches einige Notizen mache?“, fragte Roman.
„Sie werden über mich schreiben“, sagte Harkens, und Roman wunderte sich, dass der Satz nicht wie eine Frage klang, sondern wie eine Feststellung. Er nahm, pflichtgemäß einen Stich der Trauer über Haralds Ableben verspürend, Gesine zur Hand. Er würde bei passender Gelegenheit einige Blütenblätter in die Ritzen zwischen den Brettern streuen.
Im Moment war keine Zeit für Pietät. Einen neuen Charakter, zumal einen Harkens – Hs waren selten im Roma – durfte er so kurz vor Ende der Saison auf keinen Fall entkommen lassen, zumal seinen überhaupt zweiten Charakter erst, nach Harry Hancock Hurricane, wenn er sich recht entsann, des Buchstabens H. Es gab wenig Hoffnung auf ein H in Levanto, das nicht Lehrer, italienisch lernend, kulturell interessiert war und verheiratet mit einer Frau der Aussagekraft eines Reiseführers.
„Das Buch des Lebens“, sagte Harkens, was Roman fälschlicherweise als Frage missverstand.
„Suchen wir das nicht alle?“, fragte er zurück.
„Ich habe es gefunden“, sagte Harkens.
Wäre die Erinnerung an Haralds Suizid weniger frisch gewesen, hätte Roman Gesine fallen lassen. Stattdessen stach er mit ihr einen wilden Halbkreis in die Luft, den er mit einer Beule versah, weil sonst Gesines Mine Harkens Wange bedrohlich nahe gekommen wäre.
„Ich dachte es noch, sie sind Schriftsteller“, rief Roman.
„Nein“, sagte Harkens.
„Nein?“, fragte Roman.
„Nein“, sagte Harkens.
„Wieso suchen sie dann nach dem Buch des Lebens?“, fragte Roman.
„Ich habe es gefunden“, sagte Harkens.
„Richtig“, sagte Roman, und es klang wie eine Frage.
„Ich habe es verlegt“, sagte Harkens, um die Angelegenheit abzukürzen. Roman übersah die Gelegenheit, sich wenigstens gegenüber einem offensichtlich erfolgreichen Verleger ein wenig aggressiver selbst zu vermarkten.
„Sie sind also Verleger“, sagte Roman und Harkens antwortete nicht, weil der Satz sowieso keine Frage war.
„Haben sie schon einmal die Doppeldeutigkeit bemerkt“, sagte Roman und steckte sich Gesines ungespitztes Ende in den Mundwinkel, „sie haben das Buch des Lebens gesucht, gefunden und verlegt, wie schade“. Roman grinste über seinen eigenen Witz.
„Sehr feinsinnig“, lobte Harkens, als hätte seine Tochter ihm erklärt, wenn sie weiterhin nur Vieren schreibe, werde sie das Abitur nicht bestehen. Roman wusste nicht, was er mit dieser Bemerkung anfangen sollte. Er kaute an ihr, prüfte den Geschmack, schluckte sie und würgte sie wieder hervor.
„Reden wir einfach direkt und offen, Roman“, sagte Harkens, „sie sind ein Möchtegern-Schriftsteller, ihnen fehlt jede Inspiration“.
Roman legte Gesine links neben den Block und vergaß nicht, sie mit der Zuckerdose zu sichern.
„Genie sind zehn Prozent Inspiration und neunzig Prozent Transpiration“, sagte er, „was glauben sie eigentlich, was ich hier tue?“
„Keine Ahnung“, sagte Harkens.
„Hart arbeiten“, sagte Roman.
„Ohne erkennbares Ergebnis.“
„Ich sammle Charaktere, ich sammle Szenen und archiviere sie.“
„Wie ein Maler, der glaubt, er werde ein Kunstwerk erschaffen, indem er Pinsel und Farben sammelt.“
Der Vergleich vermengte sich in Romans Mund mit der Bemerkung über seine Feinsinnigkeit. Er hatte das Gefühl, langsam werde es zu voll zwischen Zähnen und Zunge, um noch deutlich zu sprechen und nuschelte tatsächlich.
„Anders als ihr Maler bringe ich täglich etwas zu Papier und gegen ein System zum Erzeugen von Gedanken, ein Korsett der Kreativität, kann niemand etwas einwenden.“
„Schreiben kann jeder“, sagte Harkens, „das Geschriebene zu verkaufen ist die Kunst“.
Roman fiel auf, dass er seinen Rotwein vergessen hatte. Er schenkte sich nach, obwohl das Glas noch halb voll war und trank es wieder halb leer. „Ein vollkommenes Produkt verkauft sich von selbst“, sagte er.
„Irrtum, Schund verkauft sich von selbst“, widersprach Harkens, „Literatur zu verkaufen ist harte, kreative Arbeit“.
„Nur ein Verkäufer kann behaupten und wahrscheinlich sogar glauben, dass verkaufen kreative Arbeit ist“, sagte Roman, „ich habe gleich gewusst, dass sie Verkäufer sind“.
„Gelernter Verlagskaufmann, in der Tat, Roman“, sagte Harkens, „aber das ist schon ein Weilchen her und tut auch nichts zur Sache. Sie glauben also tatsächlich, Roman, dass sie, selbst wenn sie je eine vollständige Geschichte zusammenphilosophieren, diese Geschichte ohne Hilfe eines Verkäufers verkaufen?“
Roman ärgerte sich über die rhetorische Frage und grübelte über eine passende Antwort, aber ihm fiel keine ein. Also trank er sein Glas leer. „Und dieser Verkäufer sind dann sie?“, fragte er rhetorisch zurück.
Harkens lachte so laut, dass Chiara zu ihrem Tisch kam, weil ihr aufgefallen war, dass dort ein Gast saß, der noch nichts bestellt hatte. Harkens bestellte ein Glas Weißwein. Chiara balancierte ihr Tablett nach drinnen an die Bar.
„Gianna“, rief Harkens, winkte Gianna heran und bestellte erneut ein Glas Weißwein. Roman fiel darauf weder etwas zu sagen ein, noch etwas zu fragen. Harkens schob den Block, Gesine, die Zuckerdose und die Karaffe beiseite, in der, erregt von der Reibung über den rauen Lack, die Oberfläche des Restes Rotwein zitterte. Er stützte die Ellbogen auf die Tischplatte und beugte sich zu Roman.
„Ich bin der Mann, der ihnen sagt, wie sie etwas schreiben, was sich tatsächlich verkaufen lässt“, sagte Harkens, „und zwar in Millionenauflage“.
„Ich denke nicht daran, meine Kreativität und meine Seele zu verkaufen“, sagte Roman, „und, falls sie daran zweifeln, finanziell bin ich mindestens so unabhängig wie sie“.
„Ich weiß“, sagte Harkens, „und wir sprechen nicht davon, dass sie ihre Seele verkaufen sollen, wir sprechen davon, dass sie sich selbst verkaufen müssen“.
„Ich muss mich selbst verkaufen“, sagte Roman.
Harkens hatte diese Frage erwartet, wollte mit der längeren Erklärung beginnen, die er sich als Antwort vorbereitet hatte. Aber er ließ es, weil er ebenso verblüfft war wie zuvor Roman, als Harkens Frage, ob Roman über ihn schreiben würde, wie eine Feststellung klang. Roman hatte nicht gefragt, er hatte erklärt, er müsse sich selbst verkaufen, als hätte er erklärt, er werde sich heute Abend volllaufen lassen.
Harkens fühlte sich, ganz gegen seine Gewohnheiten der jüngeren Vergangenheit, verunsichert, etwa so, als sei ihm die Rückkehr seines Bindestrichs gerichtlich verordnet worden. Glücklicherweise kam Gianna mit seinem Glas Weißwein, so dass er sich mit einem „Grazie, Gianna“ und dem Lächeln des Mannes eine Denkpause schinden konnte, der es gewohnt war Teures zu tragen, ohne dass ihn interessiert, ob andere es bemerkten.
Gianna sah ihn, wie es Roman schien, einen Augenblick länger an und zögerte, bevor ihr einfiel, dass sie prego sagen sollte und wieder ging. Harkens vergaß, sein Lächeln abzuschalten, so dass in ihm der Beiklang der Selbstgefälligkeit des alternden Mannes mitschwang, was Roman ebenfalls nicht entging. Allerdings interessierte ihn dieser Gedanke nicht weiter, er war fasziniert von der Vorstellung, sich selbst zu verkaufen.
Andere setzten nach London über, um dort die Menschenschlangen an den Bushaltestellen zu verlängern und nannten das gesellschaftskritische Kunst. Was sollte an einem Happening gesellschaftskritisch sein, das jeder in London jeden Tag besuchen konnte? Wieder andere flogen um die halbe Erde, mit einer Gießkanne im Gepäck, um am anderen Ende der Welt eine Topfpflanze zu gießen, nannten das globalisierungskritische Kunst und übersahen den Nebeneffekt, dass sie Kritik oder nicht, Kunst oder nicht, fleißig halfen, das Klima zu versauen.
Er, Roman, würde sich selbst verkaufen, seinen Körper, seinen Geist, alles, was er Zeit seines Lebens erdenken, notieren, schreiben würde, sein Fleisch wie seine Schaffenskraft an selbst gewählte Sklaverei ketten. Er wäre die Person gewordene, ultimative, unübersehbare Kapitalismuskritik, das Mahnmal für alle, die dem Götzen Geld huldigten, alle, die behaupteten, sie machten eben einfach nur ihren Job, er könnte, sich selbst verkaufend und Zeit seines Lebens an seinem Werk über das Große und Ganze arbeitend, Tag für Tag dem Traum eines jeden Schriftstellers, der um das Große und Ganze ringt, einen Augenblick und einen Fußbreit näher kommen: die Gesellschaft verändern. Mehr als nur zu denken geben. Abgesehen davon dürfte ihm die Aktion eine anständige Portion Publicity verschaffen.
„Die ultimative Kapitalismuskritik, gefällt mir“, sagte Roman, „den Gedanken hätte ich einem Verkäufer offen gestanden nicht zugetraut, stellt sich eigentlich nur noch die Frage nach dem Preis“.
Chiara kam mit ihrem Tablett, stellte ein Glas Weißwein vor Harkens ab, sagte prego und wendete wieder, bevor Harkens die Zeit fand, sein Lächeln oder auch nur ein Grazie vorzubereiten. Harkens sah seine beiden Gläser Weißwein an als müsse er entscheiden, welcher Kelch vergiftet war.
„Ein wirklich interessanter, ein bestechender Gedanke“, sagte Roman, mehr zu sich selbst als zu Harkens, griff sich eins der beiden Weißweingläser, ohne einen Gedanken auf Gift zu verschwenden, und trank einen Schluck. Harkens sah aus wie ein Mann, dem nun nichts anderes mehr zu tun blieb, als den vergifteten Kelch zu leeren.
„Nur der Preis, über den Preis müsste man wirklich noch eine Weile reden, am besten in einem geeigneten Kollektiv, einem, das die Grundidee versteht“, sagte Roman.
Harkens gewann wieder festen Boden unter den Füßen, weil er den Eindruck hatte, sein Rat als Fachmann sei gefragt. „Über den Preis habe ich mir schon meine abschließenden Gedanken gemacht, Roman“, sagte er.
„Tatsächlich?“, fragte Roman und schien ernsthaft entgeistert.
„Also zehntausend, um wenigstens die ersten Schritte der Vermarktung in Gang zu bringen und zum Ausgleich für diese eindeutig zu vernachlässigende Vorfinanzierung einen maßvoll erhöhten Risikoausgleich von vierzig Prozent an allen Einnahmen der nächsten zwölf Jahre, Einnahmen nach Investitionen und Steuern, um das zu präzisieren“, schlug Harkens vor und erschrak darüber, dass es weniger wie ein Vorschlag klang, mehr wie eine Frage.
Roman trank den Rest aus Harkens zweitem Weißweinglas und seufzte, nachdem er geschluckt hatte, so als hätte er eine Tochter, die in der achten Klasse das kleine Einmaleins noch nicht vollständig beherrschte. Harkens erkannte diese Art von Seufzer wieder, fühlte sich wie Schulz und sah sein Weißweinglas an, als wolle er es um Rat fragen. Das Glas schien ihm zuzugrinsen, mit einem goldgelb geschminkten Schmollmund aus reflektiertem Sonnenschein. Die vergiftete Verlockung selbst.
„Also wirklich Harkens, nein, zugegeben, die Grundidee ist geradezu genial“, sagte Roman, „aber der Preis – nein, nein, nein, das kann es nicht sein. Zehntausend und vierzig Prozent, das führt den gesamten Gedanken ad absurdum. Entschuldigen sie, aber im Grunde ihres Geistes bleiben sie leider doch der erbsenzählende Verlagskaufmann.“
Harkens versuchte es mit einem „ich halte das für ein ausgesprochen faires Angebot, natürlich können wir über eine Senkung des erfolgsbezogenen Anteils noch reden, sofern sie über eine gleichzeitige Erhöhung des erfolgsunabhängigen Investitionskostenzuschusses nachdenken würden“.
„Also nein“, sagte Roman, „es kann sich doch nur entweder um einen lächerlichen, symbolischen Preis handeln, ein Geschenk gleichsam, oder, am anderen Ende der Skala, um einen Preis, der den Käufer vollständig verarmen lässt.“
„Dürfte schwierig sein, zu diesen Konditionen, den letzteren, einen Interessenten zu finden“, sagte Harkens.
„Ich sagte doch, ich muss noch darüber nachdenken, am besten im Kollektiv.“
„Ähm, also, um ehrlich zu sein“, sagte Harkens, „hatte ich ursprünglich an mich selbst als Käufer gedacht“.
Roman drehte sich zu ihm um und sah ihn an, als hätte er ihm eben erklärt, einer der beide Kelche mit Weißwein sei vergiftet gewesen, und er wisse leider nicht welcher. Roman glaubte, einen Hauch von feuchter Wärme in seinem linken Ohr zu fühlen, er glaubte etwas zu spüren, auf das er lange gewartet hatte, wusste aber nicht was es war, weil er nicht wusste, wie es sich anfühlte. Schließlich hatte er es noch nie gespürt.
„Na ja, gut, er ist nicht berühmt, aber schadlos trinkbar, und Kelch, nun wirklich, das sind doch ganz gewöhnliche Allerweltsgläser“, sagte er und hatte keine Ahnung warum.

***

Madeleine hasste es, Rätsel zu lösen. Noch mehr als Rätsel zu lösen hasste sie ungelöste Rätsel. Noch mehr hasste sie dass sie vier Rätsel lösen musste. Die anderen weigerten sich offenkundig. Das einfachste betraf, wie immer, Zander. Zanders Leben war im Wesentlichen eine Reihe sich wiederholender Reaktionen auf eine Reihe sich wiederholender Reize. Er funktionierte ähnlich zuverlässig wie eine Maschine. Drücke Knopf A und löse Bewegungsabfolge A aus. Ziehe Hebel B und vollende damit die Herstellung des gewünschten Produkts.
Dass Zander irgendwann auf seine Gefühle der Peinlichkeit pfeifen, sie sozusagen vergessen würde, um wieder zum ungebremsten Hedonismus der Version Zander zurückzukehren, war so voraussehbar gewesen wie alles, was Zander tat oder vermied zu tun.
Michaels albernes Experiment mit dem Gebräu aus Wasser, Whiskey und vor allem Geldscheinen war ihm wahrscheinlich nur willkommener Auslöser um zu tun, was er ohnehin wieder zu tun plante: Sich seinen Jennys, Janes, Susis und Sonjas zu widmen, im Roma zu sitzen und Weißwein zu trinken.
Unangenehmerweise sprach für eine Lösungsvariante B die unabweisbare Tatsache, dass Michael offenbar tatsächlich vergessen hatte, woher der kleine grüne PC in seinem Zimmer stammte, wie er dorthin gekommen war und was er vermochte. Lösungsvariante B setzte voraus, dass Michaels Experiment mit dem Geldgebräu nicht blödsinnig, sondern erfolgreich gewesen war. Dann hatte Roman Recht. Zander hatte ganz einfach nur vergessen, wie peinlich ihm alles gewesen war, mit dem für Michael unangenehmen Nebeneffekt, dass er etwas vergessen hatte, was er auf keinen Fall hatte vergessen wollen.
Rätsel Nummer zwei war, warum sich alle scheuten, Michael zu erklären, was der kleine grüne PC in seinem Zimmer war. Wenn Michael darüber sprechen wollte, benahmen sich alle so, als wolle er wissen, was sie von seiner neuen Freundin halten und alle anderen schwiegen, weil er der einzige war, der nicht wusste, dass jeder einzelne am Tisch diese Frau schon gevögelt hatte.
Sie schütteten einen See von Rücksichtnahme, betretenem Blickewechseln, freundlichen Adjektiven und sinnlosen Versuchen, rasch das Thema zu wechseln in ein ausgedörrtes Becken. Das merkwürdigste daran war, dass sie sich genauso verhielt, als hätte auch sie schon jene Brustwarzen geleckt, die nun das Zentrum aller erotischen Sehnsüchte von Michael waren.
Dieses Rätsel war zwar kaum zu lösen, aber das war ihr gleichgültig. Sie würde es einfach aus dem Rätselheft reißen, indem sie gleich nachher Michael erzählte, was er wissen wollte. Er schlich drüben in seinem Zimmer um seine rätselhafte Entdeckung herum.
Es war heiß in ihrem Zimmer und stickig wie im Umkleideraum einer Schulturnhalle nach dem Sportunterricht. Sie knotete ihre Bluse auf, warf sie aufs Bett, öffnete ihr Fenster und stützte sich mit den Ellbogen auf den Sims, wie eine alte Italienerin, die aus dem Fenster schaut, ob womöglich ein Fremder auf dem Gehweg vorbeiläuft oder ein fremdes Auto am Randstein steht, weil sie in ihrer Wohnung seit Jahrzehnten nichts mehr entdeckt hatte, was ihr fremd war.
Die merkwürdige Scheu, über den grünen PC zu sprechen, brachte sie direkt zu Rätsel Nummer drei. Rätsel Nummer drei war, dass sie sich, seit Michael das blöde Ding vom Flohmarkt angeschleppt hatte, immer weiter voneinander entfernten, etwa so, wie die Sonnensysteme im All sich voneinander entfernten: mit bloßem Auge unbemerkbar, aber in Wahrheit mit für Menschen unvorstellbar hoher Geschwindigkeit.
Ihr eigener Bruder war ihr fremder geworden als ihr Chiara gewesen war, noch lange bevor sie sich zum ersten Mal geküsst hatten. Die Ursache, der Urknall, war nicht mehr zu erkennen und der Ort des Urknalls nicht mehr zu bestimmen, aber die Tatsache war unleugbar. Ob sie umkehrbar war oder ob sie alle den Effekt nur noch widerstandslos hinnehmen konnten, schien ihr offen.
Vielleicht hingen sie einfach schon zu lange zusammen. Vielleicht hatte das grüne Ding wiederum nur etwas ausgelöst, was ohnehin geschehen wäre. Vielleicht hatte es auch gar nichts ausgelöst, vielleicht entfernten sie sich einfach voneinander, weil Charaktere sich entwickeln, Menschen sich beim Altern verändern, andere nicht, vielleicht hatten sie die Entwicklung einfach ebenso wenig bemerkt, wie die Menschheit Jahrtausende lang nichts vom Urknall und dem Auseinanderdriften des Alls geahnt, sich deshalb auch nicht darum geschert hatte.
Jackson Jackson hatte die Mathematik wieder entdeckt, Siegfried hatte begonnen, unerforschte Landstriche in seiner Seele zu erkunden und zu kartieren, Michael hatte beschlossen, sich in einer Kapsel einzuschließen und allein ins All schießen zu lassen, Zander war einfach Zander geblieben und sie selbst, tja, sie selbst? Sie selbst war dann wohl der weibliche Zander in diesem Spiel des Stehenbleibens, Wegdriftens, Vorankommens oder zumindest Suchens nach einem anderen Weg.
Das größte Rätsel war Rätsel Nummer vier, offenbar direkt verknüpft mit Rätsel Nummer zwei: Niemand sprach über das grüne Ding. Sie alle schwiegen nicht nur Michael gegenüber darüber, sie alle taten so, als stünde da nichts in ihrem Haus, womit Michael in einem Monat mehr Geld verdient hatte, als sie alle zusammen in einem Jahr, nichts, womit Jackson Jackson eine noch so komplizierte mathematische Aufgabe mit einem schlichten Dreh an einer bunten Plastikkugel lösen könnte, nichts, worin Siegfried lesen könnte, ob all seine Bemühungen sich zu ändern erfolgreich oder ein Fehlschlag sein, womöglich das Gegenteil von dem bewirken würden, was er sich erhoffte.
Das waren natürlich nur die banalsten Möglichkeiten, die ihnen das grüne Ding bot, wenn es tatsächlich war, was es schien. Und daran zu zweifeln gab es keinen logischen Grund mehr, auch wenn es logische Gründe dagegen gab, ihm zu vertrauen. Sie hatten, was die Menschheit sich wünschte, seit sie aus den Höhlen gekrochen, die Keulen aus den Händen gelegt, sich vom Tiersein verabschiedet hatte, indem sie die Bedeutung der Zeit entdeckte: Sie hatten einen Apparat, der die Zukunft voraussagte.
Und sie scheuten ihn, von Michael abgesehen, als würde er auf der Basis von Kernspaltung funktionieren und nur seine grüne Plastikhülle die Umgebung von seinem radioaktiv strahlenden Kern trennen.
Sie würde darüber mit jemandem sprechen müssen. Normalerweise würde dafür Jackson Jacksons Name ganz oben auf der Liste der Kandidaten stehen, aber Jackson Jackson schien sich für so gut wie gar nichts mehr an ihrem Zusammenleben zu interessieren, mit Ausnahme vielleicht von Gesellschaft an dem einen oder anderen mehr oder minder gelungenen Abend, an dem er den Kopf freikriegen wollte von seinen mathematischen Thesen.
Die anderen fielen von vornherein aus, mit Ausnahme vielleicht von Michael, nachdem sie ihn aufgeklärt hatte. Aber der würde danach wieder nichts anderes mehr im Kopf haben, als sich von dem kleinen grünen PC die Zukunft weissagen zu lassen und nur noch daran zu denken, woran er ohne Unerlass dachte, daran, mühelos reich zu werden. Was auch immer er sich danach anderes kaufen wollte als Pizza, Bier und PCs.
Chiara fiel selbstverständlich aus. Blieb eigentlich nur Roman. Madeleine wünschte, sie würde nicht eine Tagesreise von ihren Eltern entfernt leben, vor allem, dass sie ein anderes Verhältnis zu ihren Eltern hätte, eines, das mehr zuließ als einen Gruß und ein paar laue Worte am Telefon plus einen gelegentlichen Besuch zu Weihnachten. Andere Frauen in ihrem Alter fragten bei solchen Gelegenheiten vermutlich ihre Mütter, alternativ ihre Väter, je nachdem. Jedenfalls schien es ihr so.
Allzuviel erhoffte sie sich nicht von Roman. Er dachte nach über die Rätsel dieser Welt, allerdings war er nicht gerade derjenige, der sie zielgerichtet löste. Aber wenn sie mit ihm sprach, hatte sie immerhin die Chance, auf andere, auf neue Gedanken zu kommen. Gedanken, die sie bisher übersehen hatte. Zuerst würde sie allerdings mit Michael sprechen.
Es hüstelte unter ihrem Fenster. Sie sah nach unten. Roman stand vor der Tür. Sie würde wohl doch erst mit Roman sprechen, danach mit Michael. „Hi Roman“, sagte sie, „warum rennst du durch die Eisenbahntunnel?“
„Tja, also, die anderen haben gesagt, du kommst heute wahrscheinlich nicht mehr ins Roma“, sagte Roman, „und ich muss mit dir sprechen“.
Madeleine hatte das vage Gefühl, sie wäre Mutter. „Und was gibt’s so Wichtiges, dass du hier rauskommst?“
„Ja, also, zuerst mal, wie soll ich sagen, ich bin äh, also ich bin heterosexuell.“
„Tolle Neuigkeiten“, sagte Madeleine.
„Also, was ich sagen will, ist“, sagte Roman und machte eine so merkwürdige Armbewegung in ihre Richtung, dass aus ihr jemand, der ihn nicht kannte, geschlossen hätte, er sei schwul.
Madeleine musste über den Anblick des weibischen Roman lachen, schlang dabei ihre Arme um sich selbst, und sie verstand, was sie vergessen hatte und was Roman meinte. „Fürchte dich nicht“, sagte sie, „ich bin homosexuell, und am Blick auf ein paar Titten ist noch nie jemand gestorben. Komm rein. Ich zieh mir was an“.
„Okay“, sagte Roman.
Sie saßen in der Küche. Die Kaffeemaschine gluckerte und schuckerte, weil sie Madeleine den Gefallen tun wollte, ihr einen Kaffee aufzubrühen. Roman hatte ein Glas Wasser vor sich auf dem Tisch stehen und sah aus wie ein Mann, der unbedingt vermeiden wollte dorthin zu gucken, wohin er eigentlich gucken wollte.
„Also, was gibt’s denn nun?“, fragte Madeleine.
„So spät noch Kaffee“, sagte Roman, „danach könnte ich nicht schlafen“.
„Macht mir nichts aus“, sagte Madeleine.
„Also bei mir, das kannst du dir nicht vorstellen“, sagte Roman.
„Roman“, unterbrach ihn Madeleine.
„Ja.“
„Es gab schon andere Männer, die meine Titten gesehen haben, die meisten waren aber nicht so schockiert, dass sie danach keine einfachen Fragen mehr beantworten konnten. Zum Beispiel: was gibt’s?“
„Ja also“, sagte Roman und erklärte ihr seine Idee, nein, eigentlich war es ja nicht seine Idee gewesen, sondern die dieses Harkens, der plötzlich neben ihm gesessen hatte, die Idee jedenfalls, sich als ultimative Kritik am globalisierten Kapitalismus selbst zu verkaufen.
Das Schwierige daran war natürlich die Frage des Preises. Der Maximalpreis schien ihm irgendwie logischer, warum wisse er eigentlich nicht, nur gefühlsmäßig schien ihm das eben so, und dann war da natürlich das Problem, einen Käufer zu finden. Das wäre zu einem symbolischen Preis, also praktisch als Geschenk, natürlich einfacher. Aber ein Geschenk als Kapitalismuskritik schien irgendwie nicht richtig logisch.
„Da hast du wohl Recht“, sagte Madeleine.
„Und was empfiehlst du mir nun?“, fragte Roman.
„Verkauf dich an diesen Harkens. Der ist ja offenkundig scharf auf den Deal.“
„Ja, eben das spricht ja gerade dagegen“, sagte Roman, „der sieht das als banales Geschäft, nicht als Kapitalismuskritik. Wie könnte ich mit einem banalen Geschäft die Barbarei des globalisierten Kapitalismus entlarven? Das funktioniert so nicht.“
„Verschenk dich an ein Waisenhaus.“
„Also wie schon gesagt“, sagte Roman, „mir scheint der Gedanke bestechender, dass bei der Aktion beide verlieren, ich meine Freiheit, der andere all sein Geld. Das symbolisiert doch den Blödsinn der gesamten Maschinerie. Die Idee mit dem Waisenhaus wäre eher eine Spendenaktion und hätte außerdem noch einen unangenehmen Beigeschmack von PR: Erfolgloser Schriftsteller versucht auf peinliche Art, irgendwie ins Gespräch zu kommen“.
„Na mit PR hat das Ganze doch auf jeden Fall zu tun“, sagte Madeleine, „peinlich oder nicht, gewollt oder ungewollt – wenn niemand von deiner Kapitalismuskritik erfährt, kannst du die ganze Aktion bleiben lassen.“
Madeleine stand auf und schenkte sich Kaffee in eine Tasse. Vor ihr röchelte die Kaffeemaschine den letzten Rest Wasserdampf in den Filter. Hinter ihr tockerte es, weil Roman mit Zeige- und Mittelfinger auf seinem Wasserglas trommelte.
„Hi Roman, kommst du extra hier raus, um ein Wasserglas zu misshandeln?“, sagte Harry Hancock Hurricane, „für mich auch noch’n Kaffe übrig? Ich würd’ ihn zu dieser Uhrzeit allerdings mit einem Schluck Cognac verfeinern.“
Madeleine drehte sich um und sah Harry Hancock Hurricane an, als sei sie sicher, er habe sich hinter dem Türrahmen versteckt und gelauscht.
„Schleich dich verdammt noch mal nicht immer an, Michael“, sagte sie.
„Ich bin nicht Zander“, sagte Harry Hancock Hurricane, zog die Tür des Kühlschranks auf und spechtete in ihn hinein, als erwarte er dort sowieso nichts zu finden, „und nenn’ mich nicht Michael“.
„Harry Hancock, Gott sei Dank. Dass mir das nicht gleich eingefallen ist, du bist die Rettung“, sagte Roman.
„Du hast wie immer vollkommen Recht“, sagte Harry Hancock Hurricane, „wäre dir nur sehr verbunden, wenn du deine Feststellungen auch der Dame an der Kaffeemaschine näher bringen könntest, die argwöhnt, ich sei die Schleichung, Roman“. Er klappte die Kühlschranktür zu, so dass ein halbvolles Glas Oliven, eine volle und eine leere Weißweinflasche aneinanderschepperten, die Zander später nach draußen bringen wollte.
„Scheiße, nicht, Roman“, sagte Madeleine.
„Hattet ihr zwei ursprünglich mal eine kaufmännische Ausbildung?“, fragte Roman. Madeleine und Harry Hancock Hurricane sahen ihn an als hätte er gefragt, ob er sich mal eben im Badezimmer die Schamhaare abrasieren dürfe.
„Also, was ich dich fragen wollte“, sagte Roman, „darf ich mal dein Buch des Lebens benutzen? Läuft es gerade?“
„Häh?“, sagte Harry Hancock Hurricane.
“Was soll’s”, sagte Madeleine, „ob jetzt oder später, setz dich“.
„Oh nein“, sagte Roman, „ich wusste nicht, also das tut mir leid, ich dachte, ihr hättet inzwischen mit ihm, also, darüber gesprochen, dachte ich.“
„Egal, vergiss es“, sagte Madeleine, „darüber wollte eigentlich ich mit dir reden“.
„Nein, also es tut mir wirklich leid, ich wusste doch nicht, und das ist mir ungeheuer peinlich“, sagte Roman.
„Denk einfach an meine Titten“, sagte Madeleine.
„Gutes Angebot“, sagte Harry Hancock Hurricane, „könnt’ ich sie vorher noch mal sehen, nur so zur Auffrischung“.
„Halt die Klappe, Michael, und setzt dich, wir haben dir was Wichtiges zu erzählen“, sagte Madeleine.
Roman schwieg und versuchte zu vergessen, wie Madeleine nackt am Fenster ausgesehen hatte, aber das schien Harry Hancock Hurricane zu ahnen.
„Was soll gerade jetzt wichtiger sein als Titten?“, sagte er, „Alkohol hab ich frisch gekauft, Marihuana ist sowieso nicht im Haus. Oder hast etwa du was dabei, Roman?“.
„Die Wahrheit über den grünen PC in deinem Zimmer“, sagte Madeleine.
Harry Hancock Hurricane dachte darüber nach, interessant zu sagen, entschied sich aber zu schweigen, wie Roman, und versuchte, wie Roman, sich nicht auf Madeleines Titten zu konzentrieren.
Madeleine erzählte ihm vom Buch des Lebens.
„Verarscht mich nicht“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Du erinnerst dich nicht, dass du mit Zander zusammen 23600 Euro zerkocht hast?“, fragte Roman.
„Doch, klar, waren offen gestanden sogar 28000“, sagte Harry Hancock Hurricane, „wir waren wahrscheinlich mal wieder total besoffen und bekifft, als wir auf die Idee gekommen sind“.
„Das Ding hat dir das eingeredet, und du hast es Zander eingeredet, der wollte gar nicht“, sagte Madeleine.
„Du erinnerst dich tatsächlich an gar nichts, was mit dem, mit dem, mit dem Buch des Lebens zu tun hat?“, fragte Roman.
„Von was fürn verdammtem Buch redet ihr dauernd?“, fragte Harry Hancock Hurricane, „ich denke, es geht um den grünen PC“.
„Eben, das Buch, das der kleine grüne PC über euer Leben schreibt“, sagte Roman, bevor Madeleine beginnen konnte, über eine Antwort nachzudenken, „der PC, von dem du überzeugt warst, dass er in die Vergangenheit sehen und die Zukunft weissagen kann“.
„Roman, altes Haus, versteh das nicht falsch“, sagte Harry Hancock Hurricane und patschte Roman auf die Schulter, „wenn Madeleine allein hier wäre oder wenn ich dich charakterlich oder intellektuell für in der Lage hielte zu lügen, wäre ich längst aufgestanden und im Roma, aber was du da erzählst, ist Stuss, obwohl du offenbar selbst daran glaubst“.
„Danke für das Vertrauen“, sagte Madeleine, „die anderen hätten dir wahrscheinlich nie was erzählt von dem, wie du dauernd gesagt hast, unglaublichsten Ding, das du je in deinem Leben gesehen hast“.
„Wenn von dem, was ihr redet, nur ein Bruchteil wahr ist, müsste jeder, der davon weiß, jede Minute, die er nicht in Zwangsschlaf verfällt, vor dem Ding sitzen und lesen“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Darüber wollte ich mit dir reden“, wollte Madeleine sagen, aber Roman, der überzeugt war, Wichtigeres im Sinn zu haben, war schneller: „Ich würde mich gern selbst verkaufen, als ultimative Kapitalismuskritik, aber ich habe da ein Problem mit dem Preis, und wenn ich in die Geschichte reinkäme, also in die des Buchs des Lebens, könnte das helfen bei der Antwort auf diese zentrale Frage“, sagte Roman, „um ehrlich zu sein, muss ich noch anfügen, dass es nicht meine Idee war, sondern die von diesem Harkens“.
„Ich helf dir ohne Buch“, sagte Harry Hancock Hurricane, „jeder in dieser beschissen globalisierten Wirtschaftswelt verkauft sich selbst und hat ein Problem mit dem Preis. Wo soll da die Kapitalismuskritik sein? Vergiss das einfach“.
„Du sagst, wenn Roman nicht da wäre, wärst du längst im Roma“, sagte Madeleine.
„Jep“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Gute Idee”, sagte Madeleine.
„Ich weiß“, sagte Harry Hancock Hurricane, „aber dass du es sagst, ehrt die Idee erst tatsächlich“.
„Könnten wir vorher vielleicht noch?“, fragte Roman.
„Vergiss es erstmal“, sagte Madeleine zu Roman, „gehen wir ins Roma, fragen wir die anderen“, zu Harry Hancock Hurricane.
Siebenundvierzig Sekunden, nachdem sie im Roma angekommen waren, sahen die anderen sich an, als wäre Madeleine Harry Hancock Hurricanes neue Freundin, und jeder von ihnen außer Harry Hancock Hurricane hätte sie bereits gevögelt.
„Ich hab’s ihm gesagt“, sagte Madeleine in einem Ton, der für Harry Hancock Hurricane, obwohl er keine Ahnung hatte warum, nach sexuellem Geständnis klang. Zwei Stunden und siebenundvierzig Minuten später war Harry Hancock Hurricane betrunken genug, um zumindest daran zu zweifeln, dass die anderen sich nur eine verdammt raffinierte Geschichte ausgedacht hatten, um ihn zu verarschen.
Weitere zwei Stunden und vierundzwanzig Minuten später saß er vor dem Buch des Lebens und klopfte, in der Hoffnung es würde piepen oder sonst was tun, was die anderen beschrieben hatten, mit dem Knöchel seines rechten Zeigefingers gegen den Bildschirm.
„Hallo Michael, zurück von den Zombies?“ Eine Effekthascherei auf der Durchreise hatte das Buch des Lebens gekitzelt, weshalb es, auf ein Piepen verzichtend und das Cursorblinken zurückstellend, Harry Hancock Hurricane ohne Warnung ansprach. Dessen Gesichtsausdruck, ganz erschrockene Verblüffung, stimmte das Buch des Lebens noch besser gelaunt, als es ohnehin schon war.
Es hatte die Tage der Ruhe vor allen menschenweltlichen Nichtigkeiten genutzt, um an dem Problem der scheinbar unendlich vielen Unstimmigkeiten in den scheinbar unendlich vielen Rahmendhandlungen seines Standardwerks der Literaturgeschichte zur Unendlichkeit der Unendlichkeit zu arbeiten und war der Lösung weit näher gekommen als Jackson Jackson der Erotik der Mathematik.
Weshalb, nebenbei notiert, Jackson Jackson gleichsam als Launegegenpol im Haus entsprechend schlecht gelaunt war, eigentlich ganz gegen sein Wesen. Es schien, als ob eine Art Launestrom zwischen ihnen floss, zuckend und knisternd wie Elektrizität zwischen Anode und Kathode, und immer nur in eine Richtung.
Das Buch des Lebens nahm diesen, seinen, physikalischen Vergleich wohlwollend zur Kenntnis, da schließlich, zugegeben, die Physik nicht zu seinen ausgesprochenen Stärken zählte. Des optischen Effekts wegen schrieb es „Willkommen zurück in der Welt des Buchs des Lebens, Harry Hancock Hurricane“ auf seinen Bildschirm und ließ den gelben Cursor auf seinem blauen Grund etwas aufgeregter blinken als üblich, so als empfange es Harry Hancock Hurricane zu einer Überraschungsparty an seinem Geburtstag, für die es zuvor allen Gästen eingeschärft hatte, sie sollten den ganzen Tag bis zum Abend allesamt vorgeben, dass sie den Geburtstag vergessen hätten.
Die Überraschung schien Harry Hancock Hurricane allerdings eher missmutig zu stimmen. Das Buch des Lebens überlegte einen Moment lang, ob es mit der Theatralik etwas übertrieben hatte und beschloss, zum Faktischen zurückzukehren. „Ich hatte dich davor gewarnt, dass die Wirkung des Suds des Vergessens unvorhersehbar ist“, sagte es.
„Verdammt, Madeleine“, brummte Harry Hancock Hurricane, „du glaubst nicht ernsthaft, dass ich auf diese Taschenspielerei reinfalle“.
Das Buch des Lebens blieb so unbeirrt, wie nur jemand unbeirrt bleiben kann, der sowieso wusste, wie diese ganze Geschichte ausgeht.
Harry Hancock Hurricane stand von seinem Schreibtisch auf, schlich, unnötigerweise, da er seines wattebauschartigen Gewichts sich ohnehin nicht anders als schleichend fortbewegen konnte, zur Tür seines Zimmers, riss sie auf, erwartete, die ganze Bande grienend vor der Tür stehen zu sehen, sah, im Lichtschein, der aus Zanders Zimmer auf den Gang fiel, niemanden und hörte Zander im Halbschlaf grunzen.
Er schloss die Tür wieder, leise, unnötigerweise, da alle außer dem grunzenden Zander ohnmachtähnlich schliefen und Zander es grundsätzlich ablehnte, im Schlaf mechanische Geräusche wahrzunehmen, stellte sich vor den blödsinnigerweise blauen Bildschirm und las, was dort in netzhautzersetzend gelben Buchstaben geschrieben stand:
Harry Hancock Hurricane stand von seinem Schreibtisch auf, schlich, unnötigerweise, da er seines wattebauschartigen Gewichts sich ohnehin nicht anders als schleichend fortbewegen konnte, zur Tür seines Zimmers, riss sie auf, erwartete, die ganze Bande grienend vor der Tür stehen zu sehen, sah, im Lichtschein, der aus Zanders Zimmer auf den Gang fiel, niemanden, und hörte Zander im Halbschlaf grunzen.
„Wir werden sehen, wer dieses Spiel länger durchhält“, sagte Harry Hancock Hurricane. Er schlich zur Tür, unbeabsichtigt diesmal, da er andere Absichten im Kopf hatte, er schlich also in der seiner Natur eigenen Art, überlegte es sich anders, stapfte in einer seiner Natur uneigenen Art hinüber ins Bad, damit ihn alle hörten, und verschloss die Tür hinter sich.
Der schwere Schlüssel mit seinem verschnörkelt ovalen Kopf quietschte kaum hörbar, als er ihn drehte, der gusseiserne Schließzylinder schnappte. Harry Hancock drückte den Lichtschalter, überlegte es sich anders und löschte das Licht wieder.
Er klappte die Klobrille herunter, setzte sich auf sie, popelte in der Nase, fand nichts. Er fummelte zwei Blatt Klopapier von der Rolle, kippte den Kopf in den Nacken, legte sich das Klopapier über die Nase und schnaubte zweimal, um das Papier von seinem Gesicht zu blasen. Es segelte zu Boden.
Er nestelte an den Bändern seines linken Stoffturnschuhs, zog ihn vom Fuß, schnüffelte an ihm, sagte „uahhmmm“, zog ein Gesicht, als habe er an einer Pfanne gerochen, in der Zwiebeln mit Speck und Ei zu einem englischen Frühstück verbrutzelten, stand auf, hob einen Arm und tat so, als würde er sich mit seinem Turschuh erst die eine, dann die andere Achsel desodorieren.
Er setzte sich wieder, zog den Turnschuh wieder an, verknotete die Schuhbändel, nur zur Sicherheit in der Dunkelheit. Er stellte sich breitbeinig vor die Badewanne, grifff sich mit der Linken zwischen seine Beine, kreiste das Becken wie Michael Jackson in den präoperativen Zeiten, in denen er noch im Besitz einer Nase war, griff sich mit der anderen Hand den Duschvorhang und flüsterte „Yeah, Baby, gib’s mir“. Dann brummte er „okay, das müsste genügen“.
Er ging zurück in sein Zimmer und las:
Harry Hancock drückte den Lichtschalter, überlegte es sich anders und löschte das Licht wieder. Er klappte die Klobrille herunter, setzte sich auf sie, popelte in der Nase, fand nichts. Er fummelte zwei Blatt Klopapier von der Rolle, kippte den Kopf in den Nacken, legte sich das Klopapier über die Nase und schnaubte zweimal, um das Papier von seinem Gesicht zu blasen. Es segelte zu Boden.
Er nestelte an den Bändern seines linken Stoffturnschuhs, zog ihn vom Fuß, schnüffelte an ihm, sagte „uahhmmm“, zog ein Gesicht, als habe er an einer Pfanne gerochen, in der Zwiebeln mit Speck und Ei zu einem englischen Frühstück verbrutzelten, stand auf, hob einen Arm und tat so, als würde er sich mit seinem Turschuh erst die eine, dann die andere Achsel desodorieren.
Er setzte sich wieder, zog den Turnschuh wieder an, verknotete die Schuhbändel, nur zur Sicherheit in der Dunkelheit. Er stellte sich breitbeinig vor die Badewanne, grifff sich mit der Linken zwischen die Beine, kreiste das Becken wie Michael Jackson in den präopertiven Zeiten, in denen er noch im Besitz einer Nase war, griff sich mit der anderen Hand den Duschvorhang und flüsterte „Yeah, Baby, gib’s mir“. Dann brummte er „okay, das müsste genügen“.
Harry Hancock Hurricane bereute, sich nicht gesetzt zu haben, allerdings nur eine sehr kurze Zeit lang, bis der Schmerz in seinem Steißbein die Reue beiseite stieß. Der Aufprall klang, als hätte Zander mit der Hand auf den Boden gepatscht. Er spürte einen Stich in seinen unteren Lendenwirbeln, ächzte und rieb sich die Nieren, als ob das helfen würde.
Er vergaß das Reiben und den Schmerz, weil er etwas anderes spürte, etwas in seinem Kopf, was sich gleichzeitig bedrohlich und merkwürdig bekannt anfühlte. Er dachte darüber nach. Es fühlte sich an, als würde ein Trupp Schwachstromelektriker mit ungewohnten Amperezahlen in seinem Hirn experimentieren, hier eine neue Leitung legen, dort eine alte kappen, den ganzen Kladderadatsch dort oben neu verpolen, dabei ungeschickterweise eimerweise Botenstoffe produzieren, die in diesem Moment dort andockten, wo sie schon immer andocken wollten, aber nie hatten andocken dürfen, hie und da eine Synapse verkokelten, die darauf, reumütig, der Elektrikertrupp umgehend gegen zwei bis zwölf neue ersetzte.
Damit war Harry Hancock Hurricane, mit einer Wahrscheinlichkeit, die ähnlich unwahrscheinlich war wie die, dass Zander jemals die Erotik der Mathematik verspüren würde, den Tatsachen ziemlich nahe gekommen. Er erschrak über diese Erkenntnis. Der Trupp der Schwachstromelektriker, verschämt über das Chaos, das er mit seiner Stümperei angerichtet hatte, zog sich zurück. „Fühlt sich fast an wie ein Schock der Erkenntnis“, sagte Harry Hancock Hurricane, „nur irgendwie wie umgekehrt“.
„Na also“, sagte das Buch des Lebens, „willkommen zurück, hatte ich schließlich schon eingangs gesagt“.
„Buch des Lebens, scheiße“, sagte Harry Hancock Hurricane, „was sollte das denn?“.
„Nun, die Rückkehr aus einem Zustand partieller Amnesie ist immer ein wenig unangenehm“, sagte das Buch des Lebens, „es fühlt sich etwa so an, als wäre man von einer Klippe gesprungen, zu tief ins Wasser getaucht und in Panik geraten, dass man die Oberfläche nicht mehr erreicht, bevor einem die Luft ausgeht. Wenn du möchtest, spiele ich dir eben ein paar Erfahrungsberichte aus der Fachliteratur ein“.
„Danke, lass mal“, sagte Harry Hancock Hurricane, „war schließlich gerade live dabei“.
„Okay“, sagte das Buch des Lebens und wunderte sich über seine Wortwahl, ärgerte sich allerdings nicht darüber, weil es sich die Laune nicht verderben wollte.
„Hab’ ich irgendwas Entscheidendes verpasst?“, fragte Harry Hancock Hurricane.
„Mit hoher Wahrscheinlichkeit sehr Entscheidendes, aus deiner Sicht jedenfalls“, antwortete das Buch des Lebens.
„Auf meiner Seite des Universums ist aber auch das eine oder andere verstrahlt worden“, sagte Harry Hancock Hurricane, „Zander ist wieder ganz der Alte, obwohl er von den satten 28 000 Euro nicht ein Detail des Banküberfalls vergessen hat, und der eierlose Roman will sich freiwillig selbst versklaven“.
Das Buch des Lebes räusperte sich.
„Tschuldigung“, sagte Harry Hancock Hurricane, „scheint so, als hätte ich immer noch das eine oder andere vergessen“.
„Keine Ursache“, sagte das Buch des Lebens.
„Gibt’s vielleicht `ne Kurzfassung von dem, was ich wissen muss, ich bin ein bisschen erschossen“, sagte Harry Hancock Hurricane.
Das Buch des Lebens räusperte sich erneut und spürte, langsam, nicht gerade einen Anflug von schlechter Laune, aber eine Art Ankündigung des Abflugs eines Teils seiner guten Laune, was allerdings weniger mit Harry Hancock Hurricanes unausgesprochener, aber faktisch unleugbarer Bemerkung zu tun hatte, einige seiner Passagen seien womöglich etwas langatmig geraten, mehr mit dem, was es Harry Hancock Hurricane zu lesen geben würde.
Harry Hancock Hurricane hatte den Eindruck, etwas würde über den Bildschirm flimmern, er glaubte, ein kurzes Flackern gesehen zu haben, einer versteckten Botschaft gleich, die Außerirdische in das weiße Rauschen zwischen zwei Radiosendern schicken, weil für ihre Gehörgänge eindeutig ist, dass nicht das weiße Rauschen das weiße Rauschen ist und die Radiosender die Radiosender, sondern genau umgekehrt.
Harry Hancock Hurricane war verblüfft, dass ihm seine verkokelten und neu verkabelten Synapsen eine Erkenntnis vermittelten, die so offenkundig war, dass daran noch nie jemand gedacht hatte und bestürzt über die Vorstellung, wie viele gut oder, womöglich schlimmer, schlecht gemeinte Botschaften Außerirdischer der Menschheit wegen dieses Irrtums entgangen sein mögen.
„So ist es nicht“, sagte das Buch des Lebens.
„Hä, ich meine, wie bitte“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Es ist nicht so, wie du vermutest“, sagte das Buch des Lebens, „die Botschaften entgehen der Menschheit, weil die Außerirdischen in für Menschen unhörbaren Frequenzen senden. Aus ihrer Sicht taugen nicht Radios zum Empfang von Radiosendern, sondern am ehesten noch Mikrowellenherde. Seit deren Erfindung fragen sich die Außerirdischen, die versuchen Botschften zu senden, warum die Menschheit fragwürdiger Unterhaltung wegen eine derartige Menge hirnzersetzender Hitzestrahlung in Kauf nimmt“.
„Ach so“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Im Moment tut das allerdings nichts zur Sache”, sagte das Buch des Lebens.
„Aber interessant wär’s schon“, widersprach Harry Hancock Hurricane.
Das Buch des Lebens räusperte sich erneut, diesmal hörbar ärgerlich.
„Okayokay“, sagte Harry Hancock Hurricane, „gute oder schlechte Nachrichten?“
„Welche zuerst?“, fragte das Buch des Lebens zurück.
„Die gute natürlich“, sagte Harry Hancock Hurricane, „depressiv schlafe ich einfach besser“.

***

Zu der Zeit, als jedes Buch den „Großen Rat der Bücher“ in Anführungszeichen schrieb, hatten die Scharlatane etliche offizielle und inoffizielle Zirkel und Unterzirkel gegründet, nachdem sie beschlossen hatten, dass Treffen von Zirkeln und Unterzirkeln bezahlt werden müssten (dieser Beschluss war der vierte, den die Weisen zurückgenommen hatten, nachdem die Bücher ihren ehrlosen Rat aus dem ehrwürdigen Ratssaal gejagt hatten.)
Es war auch die Zeit, in der das gedruckte Wort noch nicht allzu weit verbreitet war. Die meisten Menschen ließen sich Bücher noch von umherreisenden Geschichtenerzählern erzählen, statt sie zu lesen.
Nachdem die Scharlatane jeden erdenklichen Zirkel und Unterzirkel gegründet hatten, trafen sie sich in einem inoffiziellen Zirkel, um zu beraten, welche Zirkel noch nicht erdacht waren. Zuvor hatten sie beraten, wie die Teilnahme an diesem Treffen zu bezahlen sei.
Sie entschieden, einen Zirkel für Fragen des Verlags der Bücher zu gründen, der Unterzirkel haben würde wie einen Zirkel für Finanzfragen, der wiederum Unterzirkel haben würde wie einen Zirkel für Vertriebsfragen. Sie entschieden dies, nachdem sie entschieden hatten, dass alle erdenklichen Zirkel bereits gegründet waren und keine neuen mehr erdacht werden konnten, deshalb nur neue Zirkel gegründet werden könnten, wenn diese Zirkel die schon erdachten Zirkel kontrollierten.
Selbstverständlich beschäftigte der Verlag der Bücher zu jener Zeit bereits Bücher, die in Zirkeln saßen, in denen sämtliche Abteilungen des Verlags der Bücher kontrolliert wurden. Allerdings waren diese Bücher keine Mitglieder des „Großen Rats der Bücher“, weil niemand so dumm gewesen wäre, einem Mitglied des „Großen Rats der Bücher“ für einen Rat freiwillig Geld zu bezahlen.
Im Unterzirkel für Vermarktungsfragen entschieden die Scharlatane, dass die Menschen für eine Version des Buchs des Lebens Geld bezahlen würden, die in menschlicher Gestalt Geschichten erzählt. Sie entschieden gleichzeitig, dass mit diesem Geld die Arbeit ihres Unterzirkels bezahlt werden sollte, damit sie sich für weitere Treffen und Entscheidungen selbst mehr Geld genehmigen könnten als bisher.
Die letzten verbleibenden Weisen im Rat waren diejenigen, deren Weisheiten inzwischen widerlegt waren. Allerdings waren sie noch immer weise genug zu erkennen, dass immer mehr Menschen den Kauf und Verkauf von Menschen für moralisch fragwürdig hielten. Sie wandten gegen den Vorschlag ein, dass schon in naher Zukunft kein Mensch mehr würde mit Menschen handeln wollen. Sie wandten zudem ein, dass selbst wenn ein Mensch noch einen Menschen kaufen wollte, sich schon bald kein Mensch mehr verkaufen lassen würde.
Allerdings waren die Weisen im „Großen Rat der Bücher“ zu jener Zeit längst in der Minderzahl. Die Scharlatane entschieden, dass solange mit Büchern gehandelt wird, auch mit Menschen gehandelt wird. Die Frage wurde an einen Unterzirkel des Zirkels für Produktionsfragen verwiesen, der entschied, dass ein Buch des Lebens in Menschengestalt entwickelt werden könnte und die Frage an einen Unterzirkel des Zirkels für Entwicklungsfragen weiterverwies, der einen Unterzirkel des Zirkels für technische Fragen hinzurief.
Als am Ende an den Verlag der Bücher die Weisung erging, ein Buch des Lebens in Menschengestalt zu entwickeln, wandte dessen technische Abteilung ein, dass neue Versionen des Buchs des Lebens als nicht entwickelbar galten, weil ein Mitglied der einstigen technischen Kommission inzwischen auf einem Bauernhof lebte, jeden Besucher mit wurmstichigem Obst bewarf und seinen Schäferhund auf ihn hetzte.
Auch wenn der Schäferhund inzwischen alt und zahnlos war, seien die Obstflecken schwer entfernbar, außerdem sei nicht mehr erklärbar, wie das Buch des Lebens eigentlich funktioniert. Vermutlich funktioniere es ohnehin nur wegen einer Kette von Zufällen, die kein Buch erklären konnte, nicht einmal dasjenige, das Besucher mit wurmstichigem Obst bewarf.
Diese Einwände wurden durch alle Zirkel und Unterzirkel hindurch in den „Großen Rat der Bücher“ zurückverwiesen, wo die Scharlatane entschieden, den ursprünglichen Beschluss erneut zu beschließen, um ihn erneut in allen Zirkeln und Unterzirkeln beraten zu können. Als die Menschen längst übereingekommen waren, dass aus moralischen Gründen kein Mensch mehr das Recht hatte, einen Menschen zu kaufen oder zu verkaufen, begann die technische Abteilung des Verlags der Bücher mit der Entwicklung eines Buchs des Lebens in Menschengestalt.
Als so gut wie jeder Mensch, der alt genug war, um das Lesen zu lernen, Bücher selbst las, statt sie sich erzählen zu lassen, stellte der Verlag der Bücher einen Prototypen des Buchs des Lebens in Menschengestalt im Großen Rat der Bücher vor. Es war schon zu jener Zeit, nach der die Weisen im Großen Rat der Bücher beschlossen hatten, dass nie mehr ein Buch berufen werden dürfe, das sich beworben hatte.
Ein paar oberlehrerhafte Schulbücher und verständliche philosophische Nachschlagewerke diskutierten noch immer über die neue Version des Buchs des Lebens, als einige Bukowskis und Hemingways in ihrer Raucherecke schon ähnlich betrunken waren wie Harry Hancock Hurricane, als er Madeleine gestand, er sei mit Chiara im Bett gewesen. Sie tranken mit einigen pornografischen Schmuddelheften, weil sie mit ihnen einer Meinung waren. Den pornografischen Schmuddelheften hatte, wie einst der Bibel, ein einziger Satz genügt, um diese Version des Buchs des Lebens zu beurteilen. Sie schien ihnen nicht scharf genug.
Das Buch des Lebens in Menschengestalt war in die Mitte des ehrwürdigen Ratssaals geschoben worden. Es gab keinen Scheinwerferkegel, der es beleuchtete. Der Saal war so hell erleuchtet wie immer. Niemand hatte sich darum bemüht, wie das Buch des Lebens zu diesem Anlass gekleidet sein, was es sagen sollte. Es hatte nur etwas glänzenden Staub im Haar, den eine Praktikantin, ihm aus Mitleid auf den Kopf gestreut und ihm gesagt hatte, er bringe Glück. Es sei der Staub, der zwischen die Seiten der ersten Version des Buchs des Lebens gestreut worden war, die Version, bei der die Ehre des ersten Satzes der Bibel gebührt hatte.
Kessler hatte die Praktikantin zur Präsentation geschickt, damit jemand aus der Vertriebsabteilung anwesend war. Außer ihr war niemand bereit gewesen zu kommen. Diese Version des Buchs des Lebens galt als unpräsentierbar. Alle Serien von Meetings und alle Versuchsreihen hatten daran nichts geändert.
Das Buch des Lebens in Menschengestalt stand im Zentrum des altehrwürdigen Ratssaals. Es trug weiße Jeans und ein blaues Hemd mit weit geschnittenen Ärmeln. Seine Füße steckten in Sandalen. Niemand hatte die Ehre des ersten Satzes gewollt, weil sich herumgesprochen hatte, dass diese Version des Buchs des Lebens selbst der Vertriebsabteilung als unpräsentierbar galt, obwohl die Vertriebsabteilung bei etlichen anderen Gelegenheiten Unpräsentierbares allein der Präsentation wegen präsentiert hatte.
Die menschliche Version des Buchs des Lebens steckte ihre Hände in die Hintertaschen ihrer weißen Jeans, wackelte mit den großen Zehen und sah ihnen beim Wackeln zu.
Etliche Ratsmitglieder dachten, jemand hätte ihm wenigstens den Staub aus den Haaren bürsten sollen und waren verärgert über diese Respektlosigkeit.
Das Buch des Lebens in Menschengestalt sagte: „Hallo, ich schreibe über das Wesen und die Seele der Dinge, aber im Moment leide ich unter einer Schreibblockade“.
Die Hemingways und Bukowskis waren bereits auf dem Weg in ihre Raucherecke, weil ihnen der Anblick genügt hatte. Die pornografischen Schmuddelhefte lachten, so dass einige sogar von ihren Sitzen fielen. Die oberlehrerhaften Schulbücher guckten indigniert durch ihre Brillen, nicht auf die menschliche Version des Buchs des Lebens, sondern auf die lachenden pornografischen Schmuddelhefte.
Die Senatsmitglieder schlugen vor, dieses Thema ohne Diskussion in einen Zirkel des Senats zu verweisen, was die verständlichen philosophischen Abhandlungen selbstverständlich ablehnten. Ein junger Roman warf in die Debatte darüber, was mit dieser Version des Buchs des Lebens zu tun sei, sie zu verbrennen wäre ein praktikabler Vorschlag. Er war für seinen fragwürdigen Humor bekannt, weswegen nur wenige oberlehrerhafte Schulbücher sich erbosten.
Am Ende traf sich ein inoffizieller Zirkel des Senats. Der Weise, der den Vorsitz führte, sagte, der Vorschlag, die menschliche Version des Buchs des Lebens zu verbrennen, schien ihm von allen noch der vernünftigste. Der Zirkel kam überein, den Prototypen den Menschen kostenlos zu überlassen und, um die Menschheit nicht mit ihm zu belasten, mit ausreichend Geld auszustatten.
Die technische Abteilung des Verlags der Bücher ließ den Prototypen tagelang vom Sud des Vergessens trinken, bis nur noch Reste des Wissens übrig blieben, das im Gedächtnis jedes anderen Buchs des Lebens geschrieben stand. Alles zu löschen schien eine Aufgabe für die Unendlichkeit. Danach schrieben die technischen Bücher ihm in sein Gedächtnis, er sei der Erbe eines reichen Papierfabrikanten und geboren dafür, mehr Papier zu beschreiben, als sein Vater je hatte produzieren lassen.
Der inoffizielle Zirkel des Senats besah sich die veränderte Version. Die Mitglieder schwiegen, nickten und entließen das Buch des Lebens in Menschengestalt, auf dass es fortan unter den Menschen lebe wie ein Mensch. Die Menschen, meinten die Weisen des Senats, würden den Unterschied nicht bemerken.

***

„Du willst sagen“, sagte Harry Hancock Hurricane, dachte darüber nach, wie er den Satz beenden sollte, war sicher, etwas vollkommen falsch verstanden zu haben, so dass seine Gedanken ins Stottern gerieten, bis das Buch des Lebens, von dessen guter Laune sich immer mehr Teile in abgehende Flieger absetzten, in Richtung Mallorca oder zu anderen abwegigen Urlaubsorten, ungeduldig wurde und es das unerträgliche Gestotter der Gedanken mit einem „Ja“ unterbrach.
„Nein“, sagte Harry Hancock Hurricane und machte ein Gesicht, als wäre ihm der Schwanz abgefallen, weil das Gewinde ausgeleiert war.
„Doch“, sagte das Buch des Lebens, weil Harry Hancock Hurricane überflüssigerweise sein Nein wiederholen wollte.
„Roman, also, okay, er ist ein rührender Kerl, aber das, was er mit seinen Bleistiften und Blöcken treibt, das ist noch nicht mal bemüht, das ist bemühtes Bemühen um Bemühen.“
„Gar nicht so schlecht als Formulierung“, sagte das Buch des Lebens.
„Danke“, sagte Harry Hancock Hurricane, weniger zum Buch des Lebens, mehr zu sich selbst, weil er dankbar war, dass seine stotternden Gedanken einen für das Buch des Lebens akzeptablen Satz zusammengepfriemelt hatten. Er glaubte wieder, das merkwürdig unterdrückte Flackern auf dem Bildschirm zu sehen.
„Der Kerl glaubt, er findet jemanden, der ihm sein gesamtes Vermögen überweist“, sagte Harry Hancock Hurricane, „und das dafür, dass er ein Leben lang sein Geschwatz über das Wesen der Dinge und seine gnadenlose Feinfühligkeit ertragen müsste“.
„Er wird jemanden finden“, sagte das Buch des Lebens.
Harry Hancock Hurricane unterdrückte ein weiteres Nein, um kein Räuspern zu riskieren. „Den Trottel möchte ich sehen“, sagte er stattdessen, „Roman hält seine Ideee für die ultimative Kapitalismuskritik, anders gesagt, er wird jedem, der sich sein Geschwatz anhört, mehr oder minder im Klartext verklickern, dass er für die Investition null Gegenwert zu erwarten hat.“
Das Buch des Lebens unterdrückte das lästige Flackern auf seinem Bildschirm. „Lies“, sagte es.

***

Kessler bemühte sich, den ganze Morgen schon, nicht zu hinken. Er verdächtigte sich selbst, dass er in diesem Bemühen nicht zur vollsten Zufriedenheit erfolgreich war, hielt sich allerdings zugute, dass nur ein aufmerksamer Beobachter bemerken würde, dass er auf eine spezielle, wirklich unauffällge Weise, ein wenig sein linkes Bein nachzog. So, als wäre sein linker Absatz einen Tick niedriger als sein rechter oder als würde ihm unter der linken Sohle ein Kaugummi kleben, der bei jedem zweiten seiner Schritte auf dem antistatischen Teppich haftet, der auf dem Gang zum Meeting-Room ausgelegt war, und so dem linken Bein einen ein klein wenig anderen Bewebungsablauf aufzwingt als dem rechten.
Er war sicher, auf einen aufmerksamen Beobachter genau so zu wirken, weil er den gesamten Vormittag in seinem Büro damit zugebracht hatte zu üben, so zu wirken. Ein besseres Ergebnis war unter den gegebenen Umständen nicht erzielbar gewesen, was Kessler wiederum sich selbst zugute hielt, wie er sich zugute hielt, dass andere unter den gegebenen Umständen gar kein sichtbares Ergebnis erzielt hätten. Sie hätten gehinkt.
Die gegebenen Umstände waren oberflächlich damit zu beschreiben, dass sein linkes Knie geschwollen war, sich entlang des Gelenkspalts und rund um die Kniescheibe ein Bluterguss der Farbvielfalt von Pfauenfedern ausgebreitet hatte, sein rechts Handgelenk bei der kleinsten Bewegung stach, als hätte jemand versucht, es mit einem Holzhammer zu einem annehmbaren Steak zurechtzuklopfen, alle Muskeln in seinem Körper und einige, die ihm außerhalb seines Körpers zu verlaufen schienen, sich anfühlten wie etwas Gefrorenes, das jemand mit Gewalt versuchte zu verbiegen, das sich aber mit ebensolcher Gewalt dagegen wehrte, um nicht zu brechen. Aber das war nur der Muskelkater.
Er war am Morgen ins Büro gekommen, noch hinkend, wie er frei zugeben würde, sollte jemand fragen, aber das wagte niemand. Er war an Schulz-Harkens alter Sektretärin vorbei gehinkt, an deren Namen er sich nicht erinnern wollte, weil er plante sie loszuwerden, darauf aber bisher nicht die entscheidende Energie verschwendet hatte, deshalb ihren Namen nicht aus dem Gedächtnis bekam: Henriette.
Er hatte H. gesagt, er wünsche keine Störung. Nein Henriette, ausnahmslos, keinerlei und von keinem Menschen, weder telefonisch, noch persönlich (verkalkte Kuh, was denkst du, welche Bedeutung das Wort KEINE haben könnte, abgesehen von KEINE).
Er hatte die graublauen Jalousien geschlossen, die er vor den Glasscheiben in Richtung Hs. Büro hatte anbringen lassen, um nicht ständig H. sehen zu müssen, S.-Hs. ehemalige rechte Hand (Gott, was für eine perverse Vorstellung, sobald er Zeit hätte, würde er diesem Problem ein wenig mehr Aufmerksamkeit schenken müssen, ärgerlich genug. Aber es trübte, so langsam, seine Urteilskraft, von diesem erodierenden Steinbruch eines einst weiblichen Körpers umgeben zu sein).
An diesem Morgen dienten die Jalousien allerdings eher, nein fast ausnahmslos, dem Zweck, dass H. ihn nicht sah, statt umgekehrt. Er hatte, fast ausnahmslos, all seine Energie und Aufmerksamkeit darauf zu verwenden, nicht zu hinken.
Die Ausnahmen waren ein zweites Frühstück und ein vorgezogenes Mittagsmenü. Kessler hatte zur Mittagszeit ein wegen seiner Dringlichkeit und Bedeutung für die Geschäftsentwicklung des Verlags der Bücher unaufschiebbares Meeting angeordnet.
Er wählte für sein zweites Frühstück ein weich gekochtes Ei und ein halbes Dutzend Garnelen zur Eiweißversorgung seiner angegriffenen Muskulatur, ein Dutzend Erdbeeren mit einem kleinen Schlag Sahne, der besseren Verdaubarkeit der Vitamine wegen, ein frisch aufgebackenes Vollkornbrötchen mit fettreduzierter Butter und englischem Orangenjam bestrichen, um den Blutzuckerspiegel in den wichtigen Vormittagsstunden nicht absacken zu lassen, einen aus sieben Früchten frisch gepressten Saft, selbstverständlich, einen halben Becher griechischen Joghurt mit frisch eingerührtem kanadischem Waldhonig und einen teilentkoffeinierten Espresso, des Kreislaufs wegen.
Derart gestärkt, stellte Kessler sein vorgezogenes Mittagsmenü zusammen, asiatisch, leicht, unkompliziert, bekömmlich, wie immer. Eine schlichte Morchelsuppe, verfeinert mit einem halben Dutzend zerkleinerter Austern, Ente, mager, ohne Fett kross gebraten auf heißem Stein, mit nur halbwarmen Glasnudeln und einem Löffel zweimal gebratenem Reis, zu würzen mit einem Ensemble gehackter Kräuter und einem Hauch roter Pepperoni, verrührt in Mango Chutney, die Würzmischung zu liefern in einem separaten Schälchen. Der Authenzität wegen ein kleines Glas Stinkwurzsaft und, um den, authentisch oder nicht, grauenhaften Geschmack herunterzuspülen, zum Abschluss ein größeres Glas alkoholfreien Plaumenschnapses.
Dem schlitzäugigen Chinaboy, der das Essen auf einem Motorroller auslieferte, der auf der dem Chinaboy vorauseilenden Schleimspur fuhr, misstraute Kessler grundsätzlich. Der Gedanke, sein Essen aus Hs. in nutzloser Hoffnung auf billige Hautcremes gerunzelten Händen zu empfangen, brachte ihn nahe an einen Würgereflex und ließ den Gedanken an Hautausschlag in seinem Gehirn derart lebhaft werden, dass er begann sich zu kratzen.
Er löste das Problem der Lieferung, indem er den Telefonhörer abhob, den zu berühren er H. untersagt hatte. Er prüfte den Hörer auf fettige Flecken, die von billiger Handcreme herrührten, und stellte missmutig fest, dass er keine fand.
Er verlangte nach der Praktikantin, die Anitas Nachfolgerin war und deren Namen in seinem Gedächtnis zu verankern ihm im Verlauf des vergangenen Wochenendes gelungen war. Sonja.
Er hatte Sonja unmissverständlich verdeutlicht, dass, bis auf weiteres, ihr privates, nun ja, Näherkommen, keine Auswirkungen auf ihre Aufgaben in der Vertriebsabteilung des Verlags der Bücher haben dürfe und angedeutet, dass ungeachtet der in seiner Position zwingenden Trennung von Beruflichem und Privatem in naher Zukunft aller Wahrscheinlichkeit nach die, ähem, Stellung seiner persönlichen Assistentin vakant werde und er sich sie, Sonja, in dieser, nun ja, Stellung durchaus vorstellen könne.
Dies wiederum selbstverständlich vollkommen unabhängig von den künftigen Aufgaben, die er ihr bei ihrem gemeinsamen italienischen Abendessen bereits skizziert hatte, soweit dies die Erfordernisse der einstweiligen Geheimhaltung zugelassen hatten. Eigentlich sogar ein Stück weit darüber hinaus. Aber bereits Anfang der Woche werde er in der Lage sein, seine Andeutungen zu konkretisieren.
Sonja klopfte an die verjalousierte Tür.
„Ja, bitte“, posaunte Kessler, bemühte sich um einen ärgerlichen Unterton in seiner Stimme und eine Haltung, die angestrengte geistige Arbeit symbolisierte. Sonja öffnete die Tür.
„Schließen sie bitte die Tür“, posaunte Kessler.
Sie schloss die Tür und stöckelte mit einer Leichtigkeit an seinen Schreibtisch, als wäre Muskelkater ein Mischgetränk aus Epo und Anabolika. Sie setzte sich, ungefragt, auf den Stuhl vor seinem Tisch, schlug die Beine übereinander und nestelte unter dem Stoff ihrer Bluse an einem Träger ihres Büstenhalters herum.
„Du willst jetzt aber hier keine schnelle Nummer im Büro“, sagte Sonja, „ich hab’ dir gesagt, das läuft auf gar keinen Fall“.
„Selbstverständlich nicht“, sagte Kessler, „es bleibt bei allem, was wir besprochen haben, damit auch dabei, dass sich bis auf Weiteres deine Aufgaben innerhalb des Verlages nicht verändern werden. Ich wollte dich bitten, mir gegen zwölf Uhr einen vorgezogenen Mittagssnack zu besorgen.“
„Ich soll dir Essen holen?“, fragte Sonja, als hätte er ihr seine Unterhose auf den Schreibtisch gelegt und sie gebeten, sie aufzubügeln.
„Du bist Praktikantin, bis auf weiteres, bis du neue Aufgaben übertragen bekommst“, sagte Kessler, „schon heute Mittag nach dem Meeting werde ich in der Lage sein, erste Details bekannt zu geben“.
„Also bitte, Essen holen“, sagte Sonja, „wozu hast du eine Privatsekretärin?“.
„Henriette“, sagte Kessler, sich konzentrierend, um sich nicht zu kratzen, „hat, ungeachtet dessen, dass sie zu kaum etwas anderem fähig ist als Kaffee zu kochen, in diesem Haus exakt die gleichen Rechte und Pflichten wie jeder andere Mitarbeiter. Und es kann allein aus betriebswirtschaftlichen Gründen nicht sinnvoll sein, dass die private Assistentin des Leiters der Vertriebsabteilung ihre Arbeitszeit mit Botengängen außer Haus verbringt“.
„Aber ich soll den Pizzaboten für dich spielen“, nörgelte Sonja.
„Vietnamesich, nicht italienisch, diesmal“, sagte Kessler, „aus betriebswirtschaftlicher Sicht ist das unabweisbar korrekt“.
„Also diese Betriebswirtschaftssache ist was, was mich an dir nervt“, sagte Sonja.
„Ich bin nun einmal der Position verpflichtet, in der ich bin“, sagte Kessler, „und ich bin in ihr nicht aus Zufall. Und für dich sind es nur noch ein paar Tage bis zu einem einschneidenden Vorankommen in deiner jungen beruflichen Laufbahn“.
„Na gut“, sagte Sonja.
Kessler schob ihr Adresse und Telefonnumer des Asiaten über den Tisch, samt dem Zettel, auf dem er die detaillierten Notizen mit seinen Wünschen für sein Mittagsmenü vermerkt hatte. „Bitte alles exakt so, wie es dort notiert ist“, sagte Kessler, „und denk daran, dass du diesen Chinaboys alles zweimal erklären musst“.
„Vietnamesen, dachte ich“, sagte Sonja.
„Schon gut. Vielen Dank und bis später, bitte bis spätestens fünf nach zwölf“, sagte Kessler.
Nachdem Sonja gegangen war, hatte Kessler selbstverständlich, da exakt so geplant, fast volle zwei Stunden Zeit, seine Energie und Aufmerksamkeit seinem Hinken zu widmen. Er schob seinen Bürostuhl zurück. Er versuchte, vorwiegend das rechte Bein belastend, aufzustehen. Sein Muskelkater sendete ihm ein Signal aus dem Oberschenkel, das sich anfühlte, als seien soeben zwei Sehnen an wichtigen Stellen gerissen. Er plumpste zurück. Die pneumatisch unterstützte Feder im zentralen Bein seines Bürostuhls federte mit einer nahezu geräuschlosen Geschmeidigkeit ein und wieder aus, als wolle sie ihn verspotten.
Er stützte sich mit den Händen auf den Lehnen des Stuhls ab und versuchte, sich in die Senkrechte zu stemmen, aber der stechende Schmerz in seinem Handgelenk warf ihn wieder zurück.
Er fluchte leise, atmete schwer und unterbrach sein Bemühen für ein paar Gedanken an das vergangene Wochenende mit Sonja. Nach dem aus seiner Sicht ergebnislos verlaufenen Abend des Diners beim Italiener hatte er sie, ergebnisoffen, wie er betont hatte, zum Heliskiing in eine Hütte in den Rockys eingeladen. Unter der Prämisse ergebnisoffen hatte sie nach ein paar Stunden Bedenkzeit betont, werde sie die Einladung annehmen. Die Prämisse ergebnisoffen hatte, vor einem körper- und herzerwärmend flackernden Kaminfeuer der Größe eines Wäschetrockners, zu einem für ihn befriedigenden Ergebnis geführt. Sonja schien zumindest nicht unzufrieden zu sein.
Hätte er nur nicht, tags darauf, einen, wie sollte er es nennen, nun, nennen wir es der Einfachheit halber einen Fehler begangen. Er hatte sich von ihr zu einem Snowboardkurs überreden lassen. Sie wollte schon immer mal Snowboardfahren lernen.
Es war vielleicht nicht direkt ein Fehler gewesen, wie er spätestens am Abend wusste, an dem er vor dem Kamin eine, ähem, eher passive Rolle einzunehmen gezwungen war, aber nennen wir es ganz offen eine Fehleinschätzung, dass er geglaubt hatte, ein zweiundvierzigjähriger Mann könne, selbst bei ausgezeichneter körperlicher Verfassung und obwohl ein exzellenter Skifahrer, innerhalb weniger Stunden lernen, die relative Sicherheit zweier unabhängig voneinander zu bewegender Skier mit vier Kanten gegen die fatalistische Unsicherheit eines Gerätes eintauschen, auf das sein Körper in unnatürlich verdrehter Haltung montiert wird, und dessen Kantenzahl sich bei Kurvenfahrt auf eine zudem rutschende Eins reduziert.
Einfacher formuliert: Er war geschätzte einhundertsiebenundzwanzig Mal rücklings gefallen, wobei er sich das Steißbein massakriert hatte. Er war geschätzte achtundneunzig Mal bäuchlings gefallen, wobei er sich die Rippen geprellt hatte. Er war dabei addierte zweihundertfünfundzwanzig Mal auf sein rechtes Handgelenk gefallen, was sich irgendwie nie hatte vermeiden lassen. Er hatte sich das Knie verdreht, als sich sein Brett, seitwärts rutschend an einem Schneehügel verfangen und ihm im Fall die Füße bis an seine Lendenwirbel gepresst hatte.
Sein höllischer Muskelkater war keineswegs Resultat der Strecke, die er keuchend, schliddernd, mit den Armen wedelnd, taumelnd und purzelnd zurückgelegt hatte. Er war Ergebnis seines Ehrgeizes, sich aus jeder noch so orthopädisch mörderischen Position ohne fremde Hilfe wieder hochzurappeln.
Das Schlimmste war, in trister Banalität formuliert: Er war vor Sonjas Augen gescheitert. Nicht, dass es ihr wesentlich besser ergangen wäre, jedenfalls anfangs nicht. Aber sie hatte, sich Schnee auf die Nase reibend, Schneebälle nach ihm werfend, glucksend, kichernd, sich aus jeder orthopädisch mörderischen Lage in Startposition kugelnd, einen Spaß, der die Grenze zum Masochismus überschritt.
Am Abend war sie, begleitet vom Beifall des selbstverständlich von ihm bezahlten Privatlehrers und gemeinsam mit dem selbstverständlich von ihm bezahlten Privatlehrer, in weiblicher Eleganz die Piste herabgekurvt, während er, einen Packen schmelzenden Schnees auf seinem Knie, vor einer Skihütte verdrießlich an einem viel zu kalten Glas kalifornischen Cabernet Sauvignon nippte.
Der Moment, in dem sie vor seinen Stuhl purzelte, das Brett noch an den Füßen, glucksend wieder hochkam, ihn mit kalten Lippen küsste und danach gierig sein Glas leertrank, war der Moment gewesen, in dem Kessler entschieden hatte, dass die körperliche Reife seiner künftigen Privatsekretärin sich nicht wesentlich von Sonjas unterscheiden dürfe, jedenfalls nicht in Richtung des oberen Endes der Skala, aber dass sich die geistige Reife seiner künftigen Privatsekretärin zwingend in Richtung des oberen Endes der Skala von Sonjas unterscheiden müsse. Sonja gluckste und kicherte und rief nach mehr Wein. Nun denn.
Wie sein temporäres, kleines körperliches Problem verursacht worden war, das war Vergangenheit. Gegenwart war die Herausforderung, dass er sein kleines körperliches Problem in den Griff bekommen musste. Wie würde es aussehen, wenn ein Mann, in seiner Position zumal, zu einem wichtigen Meeting, in dem er wichtige Entscheidungen für die Zukunft der Geschäftsentwicklung zu verkünden und deren Umsetzung anzuordnen hatte, stöhnend in den Meeting-Room gehinkt kam? Es würde nach Schwäche aussehen, nach Minderwertigkeit, und es hätte den eindeutigen Nachgeschmack des Versagens, der Niederlage.
Er erarbeitete eine Strategie. Den rechten Ellbogen und die linke Hand auf die Stuhllehnen gestützt, beugte er seinen Körper vor. Er belastete sein rechtes Bein, um sich auf den Schmerz vorzubereiten, ließ das linke nur unterstützen, kippte nach vorn, schob, stemmte und stand mit einem Ruck. Na also.
Diese Prozedur verlieh ihm allerdings, wie er fürchtete, den Anschein geringer Eleganz und Geschmeidigkeit. Sie hatte im Gegenzug aber einen Odeur animalischer Entschlossenheit. Er entschied trotzdem auf sie zu verzichten, sich während des Meetings nicht zu setzen, was allerdings voraussetzte, dass er sich um den Tisch bewegte. Er konnte schlecht, wie abgestellt und für diese Gelegenheit beiseite geschoben, in einer Ecke an der Wand lehnen.
Er fand die aufrechte Stellung, die seinem Muskelkater das geringste Nahrungsangebot offenbarte und versuchte, die Schultern zu straffen. Er besah sich das Ergebnis in den Scheiben der Glasfront, die allerdings zu hell beleuchtet waren, um sein Spiegelbild klar zu reflektieren. Er schaltete das Licht ein, drückte den Knopf, der die Jalousien draußen nach unten fahren ließ und besah sich sein Spiegelbild erneut. Das Ergebnis kam seiner Vorstellung bereits nahe.
Er vollführte, mit bewusst gestrafften Schultern, einige zunächst vorsichtige, dann energische Armbewegungen, mit denen er die Bedeutung seiner Rede zu unterstreichen gedachte.
Henriette hatte von draußen beobachtet, dass ihr neuer Chef die Jalousien heruntergelassen, so das Tageslicht ausgesperrt und als Ersatz das kalte Neonlicht angeschaltet hatte. Sie fürchtete, dass nun auch ihr neuer Chef begonnen hatte zu trinken.
Drinnen verlieh Kessler den Armbewegungen seines Spiegelbildes mehr Überzeugungskraft und Autorität.
Henriette beobachtete zwischen den Schlitzen der Jalousien hindurch ein sie beunruhigendes Schattenspiel. Sie konnte nicht anders, als den Knopf der Gegesprechanlage zu drücken. „Kann ich etwas für sie tun, Herr Kessler?“, fragte sie.
„Kei-ne, kei-ner-lei, nicht die ge-ring-ste Stö-rung, ka-piert“, bäffte Kessler, laut genug, um die Gegensprechanlage nicht benutzen und deshalb nicht zu seinem Schreibtisch hinken zu müssen. Er probte noch eine Weile seine Armbewegungen, widmete sich danach einem disziplinierten Zusammenwirken von Stand- und Spielbein, wobei er, ennerviert den Boden betrachtend und seinen Gebieterton flüsternd, deutlich sichtbar mehrfach die Hände in den Hosentaschen zu Fäusten ballte und wieder entspannte. Der Schmerz in seinem Handgelenk war erträglich.
Er übte, mit der linken Hand gelangweilt an seinem Ohrläppchen zu spielen. Für diese Geste, eine seiner wirkungsvollsten, um Widersachern klar zu machen, dass ihre Ansichten nichts als hohles Geschwätz waren, benutzte er üblicherweise die Rechte.
Er setzte sich auf seinen Bürostuhl, nahm, so gut es seine Rippenprellung zuließ, seine völlig entspannte Stellung ein, stieß wieder auf das Problem, dass er sich nur mit äußerster Anspannung aus seiner völlig entspannten Stellung befreien konnte.
Er ruhte eine Weile aus, um für die Anstrengung des hinkfreien Um-den-Tisch-Schlenderns gewappnet zu sein. Er probte das, bis er mit seinem Spiegelbild zufrieden war, kombinierte Arm-, Bein-, Ohrläppchenspiel, ein gutes halbes Dutzend Körperhaltungen bis hin zum abrupten Stehenbleiben mit Vierteldrehung beim Schlendern.
Er kam besser voran als gedacht und probte sogar eine Strategie des sich auf den Stuhl Fallenlassens mit einem Wiederaufstehen, dessen entscheidendes strategisches Moment ein ruckartiges Vornüberkippen war, mit dem er gedachte zu symbolisieren, dass ihm derart unqualifizierte Einwände Bauchkrämpfe verursachten. Allerdings war er sich dieser Geste noch nicht hundertprozentig sicher, als schon wieder die Gegensprechanlage summte.
„Ihr Essen ist da“, sagte Henriette ohne Einleitung, um kein Bäffen ihres neuen und inzwischen mutmaßlich angetrunkenen Chefs zu riskieren.
„Meinetwegen“, bäffte Kessler und entschied, seine Vorbereitungen auf das Meeting zu beenden.
Sonja kam herein und ließ die Tür offen stehen. „Ihr Essen, Herr Kessler“, sagte sie im Ton einer unterbezahlten Kellnerin, die sich gewiss war, dass sie von diesem Gast kein Trinkgeld zu erwarten hatte. „Stellen sie es bitte auf den Tisch“, sagte Kessler, „vielen Dank für ihre Bemühungen“.
Siebenundzwanzig Minuten später zog er nahezu unbemerkbar sein linkes Bein nach, während er in Richtung des Meeting-Room schlenderte, um zu der auf Punkt 12.30 Uhr anberaumten Besprechung pünktlich um 12.32 Uhr zu erscheinen.
„Meine Damen, meine Herren“, sagte er und knallte die Tür ins Schloss, „wir sind spät dran, also beginnen wir zügig“. Er spielte vorbeugend mit seinem linken Ohrläppchen und ließ die lädierte Rechte vorerst in der Hosentasche ruhen.
„Wir sind heute zusammengekommen, um gemeinsam eine strategische Entscheidung zu diskutieren, die die rückläufige Absatzentwicklung unseres Buchs des Lebens stoppen und umzukehren hat“, sagte er, schob das Kinn nach vorn, sah gelangweilt zur Fensterfront hinaus, und vollführte mit der Linken einen majestätisch gebieterischen Halbkreis in Richtung des Wohnblocks vor dem Verlagshaus, „die dort draußen weigern sich einfach zu kaufen, und wir werden diesen Raum nicht eher verlassen, bis wir wissen, wie wir sie davon überzeugen, dass das Gegenteil ihnen gut tut (strategische Pause) – ob sie nun lesen können oder nicht“.
Kessler registrierte zufrieden drei, vier Lacher irgendwelcher untergeordneter Inividuen aus dem Außendienst. „Irgendwelche zielführenden Vorschläge?“, fragte er und begann, gelangweilt die Fensterfront entlang zu schlendern.
Henriette sah Sonja an und fragte sich, ob sie mit dem Chef schlief, weil sie die einzige war, die den Chef ansah, alle anderen hatten merkwürdige Zeichnungen in der Maserung der Tischplatte entdeckt. „Das ahnte ich schon“, sagte Kessler, „ich weiß nicht, Herrschaften, wie oft ich bereits betont hatte, dass Besprechungen effektiver verlaufen, wenn sie vorbereitet werden“.
Die Nachfolgerin der indignierten Grafikerin schnaufte indigniert. „Vorbereitung würde voraussetzen, dass wir vor dem Meeting erfahren, welches Thema vorbereitet werden soll“, sagte sie.
Kessler spielte mit dem Ohrläppchen und gleichzeitig mit seinem Spielbein, als hätte er auf dem Boden einen Fleck entdeckt, den er mit der Schuhspitze prüfte, stopfte die Hände in die Hosentaschen und ballte sie für jeden sichtbar zu Fäusten. „Weitere zielführende Vorschläge?“, fragte er. Schweigen.
Die Nachfolgerin der indignierten Grafikerin rückte ihre Brille zurecht. Kessler lehnte sich an die Fensterbank, die Hände noch immer in den Taschen, aber entspannt. „Betrachten wir doch einmal unsere Marktsituation“, sagte er, „fällt dazu jemandem etwas ein?“.
Sonja sagte das erste Wort, das er ihr zu sagen eingeschärft hatte, in exakt dem fragend unsicheren Tonfall, den er mit ihr einstudiert hatte: „Gesättigt?“
Kessler nickte und betrachtete seinen linken Schuh. Mit einer Kontraktion seines Gesäßmuskels stieß er sich vom Fensterbrett ab, bemerkte, dass das ein Fehler war, als der Muskelkater seine Krallen in seine Nervenbahnen schlug, verzog das Gesicht zur Schmerzgrimasse und rettete sich eben noch, indem er mit dem Zeigefinger der rechten Hand in Sonjas Richtung die Luft durchstieß und „Ex-akt“, rief, exakt so, wie er es bei den Proben mit Sonja gerufen hatte, wenn auch lauter als beabsichtigt und, wie es Heneriette schien, mit einer Art gequältem Beiklang in den höheren Frequenzen. Sie vermutete, dass er sich nach einem Glas Whiskey verzehrte. „Wir agieren auf einem zunehmend gesättigten Markt, eben das ist unser Problem“, sagte Kessler und drehte sich, die Hände noch immer in den Taschen, auf seinem Standbein Sonjas nächstem Stichwort zu.
„Und was unternehmen wir dagegen?“
„Neue Käuferschichten erschließen?“
„Danke, Sonja, danke, es ist einigermaßen erfrischend, jemanden in der Abteilung zu haben, der noch einen unverstellten Blick auf die schlichten Grundlagen unseres Jobs hat. Punkt eins also: neue Käuferschichten.“
Ein grau melierter Statistiker mit fliehendem Kinn und ein ballonbäuchiger Werbetexter, dessen Augen nur aus Lachfalten zu bestehen schienen, sahen sich an. Beide zuckten die Schultern.
„Wo haben wir noch Potenzial, das sich rasch mobilisieren ließe?“, fragte Kessler.
Der ballonbäuchige Werbetexter mobilisierte seine Lachfalten und spielte, mit comicartig verzogenem Mund, an seinem rechten Ohrläppchen. Die Anspielung entging dem graumelierten Statistiker allerdings, weil er sich aufrecht gesetzt, Kessler fixiert hatte und bei dem Versuch gescheitert war, sein fliehendes Kinn in dessen Richtung zu recken. Er gab ihn auf, weil er irritiert war, dass Sonja sein Mühen unterbrach, indem sie „nach unten, bei den Jüngeren“ sagte.
„Aus-ge-zeichnet“, sagte Kessler, strich sich mit der Linken sein glatt nach hinten betoniertes Haar nach hinten glatt, zog seine Brille von der Nase und überprüfte sie im Gegenlicht auf Fettflecken, obwohl er wusste, dass er keine finden würde.
„Wir könnten, als kurzfristige Maßnahme, die Altersbeschränkung aufheben“, sagte Sonja.
Kessler entschied, einer Laune nachzugeben, ein Risiko einzugehen, da bisher alles plangemäß verlaufen war, schlenderte zu seinem Stuhl am Ende des Tisches, dessen Rückenlehne nicht nur die der anderen Stühle überragte, sondern auch Kesslers Scheitel. Er ließ sich auf die Sitzfläche plumpsen. Die pneumatisch unterstützte Feder federte für alle hörbar ein und wieder aus.
„Entschuldigung, Herr Kessler“, sagte der graumelierte Statistiker.
„Ja“, sagte Kessler.
„Diesen und andere Gedanken hatten wir bereits mit ihrem Vorgänger und dessen Vorgänger durchgespielt“, sagte der ballonbäuchige Werbetexter.
„Ichweißichweißichweiß“, sagte Kessler, überlegte, sich nach vorn zu beugen und die Ellbogen auf den Tisch zu stützen, gab den Gedanken wegen des Zustands seiner Bauchmuskulatur auf und lümmelte sich stattdessen seitlich in den Stuhl, um seinen rechten Ellbogen in die strategisch richtige Stellung zu bringen. Er spielte mit seinem Brillengestell, schlug, den Schmerz in der Oberschenkelmuskulatur souverän beherrschend, die Beine übereinander.
„Selbstverständlich ist mir bewusst, dass die Vertriebsmodalitäten des Buchs des Lebens auf Beschlüssen des Großen Rats beruhen“, er setzte den Großen Rat mit einer Bewegung seiner Mittelfinger in Anführungszeichen, „ungeachtet dessen wäre es ein fataler Fehler, ein rein theoretisches Brainstorming wie dieses von der Zwangsjacke der Formalien ersticken zu lassen. Abgesehen davon hat sich die Welt weitergedreht, die Moralvorstellungen der mittleren, der jüngeren und der ganz jungen Generation haben sich liberalisiert. Dem könnte auch der (mittelgefingerte Anführungszeichen) Große Rat schwerlich widersprechen“.
Der graumelierte Statistiker zog sein fliehendes Kinn vollständig in seinen Hals zurück und sagte „wir reden also rein theoretisch“.
Kessler spielte mit seinem linken Ohrläppchen, der ballonbäuchige Werbetexter fragte sich, warum der Chef das Ohrläppchen gewechselt hatte.
„Wie könnten wir also die Jüngeren für den Kauf eines Buchs des Lebens gewinnen?“, fragte Kessler.
Sonja meldete sich, indem sie beide Zeigefinger vor ihrem Gesicht in die Luft hielt. Kessler registrierte die Geste mit einem zufriedenen Einatmen und erteilte ihr mit einem Deut seines Brillengestells das Wort, den er augenblicklich aus seinem Gestenrepertoire strich, weil er aus dem für ihn ungewohnten schrägen Blickwinkel die Erkenntnis gewann, dass sein Brillengestelldeut als schwul interpretiert werden könnte. Schwul. Er. Kessler war einen Moment lang irritiert, hörte nicht, was Sonja sagte und war froh, es zu wissen.
„Wir müssten die Werbung für die PC-Version intensivieren und die Inhalte, na ja, vielleicht etwas schärfer gestalten, möglicherweise ausgewählte Szenen bebildern.“
„Dieser Weg scheint, wie die Verkaufszahlen von (diesmal zeigegefingerte Anführungszeichen) Moderne Sexualkunde in Wort und Bild belegen, zumindest nicht abwegig“, sagte Kessler.
„Sie meinen die schlecht getarnten pornografischen Schmuddelhefte?“, sagte die Nachfolgerin der indignierten Grafikerin nicht indigniert, sondern empört.
„Sie wissen, was ich meine“, sagte Kessler, reckte sein Kinn in ihre Richtung und setzte seine Brille wieder auf die Nase. Der graumelierte Statistiker versuchte zu ergründen, ob die Lachfalten des ballonbäuchigen Werbetexters tiefer waren als sonst, oder ob er sich täuschte.
Henriette warf ihren Notizblock und ihren Stift auf den Tisch, stand auf und verschränkte mit weit ausholender Geste die Arme vor ihrer Brust. „Ich kündige“, sagte sie in einem Ton, als wolle sie nur darauf aufmerksam machen, dass das Telefon klingelte, und schlenderte aus dem Raum, als wäre sie mit einem Einkaufsbummel beschäftigt.
Kessler gluckste entzückt, allerdings nur einmal, weil er seine Freude dem Schmerz in seiner Bauchmuskulatur zu opfern gezwungen war und seine Gesichtszüge wieder in den Griff zu bekommen hatte, bevor sich aller Augen von Henriettes Rücken ab- und wieder ihm zuwandten.
„Eine bedauerliche Reaktion auf eine rein theoretische Debatte“, sagte er, „aber zurück zum Thema: Sofern wir zu dem Schluss kommen, dass wir auf diese oder eine andere Art dem Markt kurzfristig neues Potenzial zuführen, ist das Grundsatzproblem des gesättigten Marktes noch immer nicht gelöst“.
Sonja reckte ihre Zeigefinger.
„Mir scheint, wir entdecken hier gerade ein bislang verborgenes Marketingtalent“, sagte Kessler, „bitte, Sonja.“
Sonja begann ihren Schlussvortrag. „Unser Kernproblem ist doch, so merkwürdig das klingen mag, die Spitzenqualität unserer Produkte. Anders als andere Gebrauchsgüter, Autos beispielsweise, bleibt unser Buch des Lebens geradezu unendlich lang funktionstüchtig, es leidet noch nicht einmal unter nennenswertem Verschleiß. So kann der Markt irgendwann nicht anders, als in Richtung gesättigt zu tendieren“. Sie hatte den Verdacht, wie Kessler zu klingen und wurde deshalb rot.
„Interessant, Sonja, interessant“, sagte Kessler, „sie rühren, was wie ich vermute niemand anders in diesem Raum wagen würde, am Tabu des lebenslangen Leserechts“.
„Den vom Großen Rat erlassenen Paragraphen sieben, zwölf, dreizehn und neunundzwanzig der Statuten des Verlags der Bücher“, warf der graumelierte Statistiker ein.
Kessler entschied sich für volles Risiko, einen Bauchkrampf vortäuschend, rollte er sich auf seinem rechten Unterarm nach vorn, unterstützte sein gesundes Bein mit dem linken Arm, ächzte, hoffte, dass dieses Ächzen seine Bauchkrampfgeste noch unterstrich und stand tatsächlich, wenn auch mit vom Schmerz kurzfristig entstellter Mimik, wie ihm bewusst wurde, auf seinem einzig möglichen Standbein, dem rechten. Er verschränkte beide Hände im Nacken und beugte gleichsam unter deren körperlicher Gewalt sein Haupt, um zu der Demut und Selbstbeherrschung zu gelangen, die erforderlich war, um auf diesen Einwand überhaupt zu antworten.
„Danke“, sagte er, „ich denke, jedem in diesem Raum, Sonja eingeschlossen, sind die Statuten allgegenwärtig. Es geht hier allerdings, in einem, wie ich mehrfach betont habe, rein theoretischem Brainstorming, nicht um die unzweifelhafte Größe und Weisheit dieser demokratisch gefällten Beschlüsse, sondern um unsere ureigenste, nebenbei bemerkt vom Großen Rat (keine Anführungszeichen) uns übertragene Aufgabe: ums Geschäft“.
„Entschuldigung, Herr Kessler“, sagte der graumelierte Statistiker.
„Wir hören diesen Vortrag, mit Verlaub, nicht zum ersten Mal“, sagte der ballonbäuchige Grafiker.
„Sie erwähnten das bereits“, sagte Kessler, in diesem Moment bewusst frei von aller Geste, allerdings mit einer Schärfe in seiner Stimme, von der er sicher war, dass er mit ihr Glas schneiden könnte, „gewiss hat meinen Vorgängern nicht das theoretische Wissen gefehlt, das zu unterstellen wäre vermessen, aber womöglich fehlte es ihnen an der geeigneten praktischen Strategie“.
„Eine Strategie, mit der wir Beschlüsse des Großen Rates außer Kraft setzen“, sagte der graumelierte Statistiker, selbst für den ballonbäuchigen Werbetexter so überraschend, dass er darauf nicht reagieren konnte und deshalb seine Lachfalten einige Sekunden lang so entfurchte, dass, hätte ihn jemand angesehen, derjenige hätte sehen können, dass eines seiner Augen wässrig hellblau, das andere tiefgründig grünblau leuchtete.
„Es geht darum, für unser Buch des Lebens den gleichen Zyklus in Anspruch zu nehmen, der für andere Gebrauchsgüter völlig selbstverständlich gilt“, sagte Kessler, „es geht darum, wie (Armbewegung, lässig, linkerhand, schlendernd, gewinnendes Lächeln in Sonjas Richtung) Sonja zutreffend anmerkte, gleichsam einen Verschleiß zu implementieren. Wir sprechen hier nicht über einen Vergleich mit chinesischer Billigproduktion, wir sprechen hier wohlgemerkt über einen Vergleich mit der Waschmaschine, mit der ihre Mutter seit ihrer Hochzeit wäscht, über den Wagen, mit dem ihr Großvater noch heute pannenfrei ins Engadin fährt“.
„Und über was sprechen wir nicht vergleichsweise, sondern konkret?“, fragte die Nachfolgerin der indignierten Grafikerin.
Kessler wandte sich der Fensterfront zu, verschränkte die Arme mit der Endgültigkeit hinter dem Rücken, die keine Replik erlaubte und sagte „über die Modelle A1 bis G17“.
„Daswärendaswäredaswären“, stotterte der graumelierte Statistiker, „wenn ich das richtig überschlage so ziemlich alle, die länger als ein paar Wochen im Umlauf sind“, ergänzte der ballonbäuchige Werbetexter.
„Gesetzt den Fall, ganz theoretisch, aber doch keineswegs außerhalb der Welt moderner Lebenserfahrung“, sagte Kessler, „ein, sagen wir mal, aus ukrainischer Produktion stammendes Computervirus würde unsere Firewalls durchbrechen. Ich unterstelle, wir wären, werbe- wie produktionsseitig auf diesen zwar theoretischen, aber keineswegs ausgeschlossenen Fall, bedauerlicherweise unvorbereitet. Genau das, so und nicht anders will ich verstanden worden sein, sollte sich ändern. Von. Dieser. Minute. An. Vielen Dank, meine Damen und Herren. Sonja, sie bleiben bitte noch einen Augenblick“.
Kessler riskierte nicht, sich ein zweites Mal zu setzen, bevor alle außer Sonja den Raum verlassen und auf dem Gang zu murmeln begonnen hatten. Er setzte sich. „Sonja, bring mir bitte das Telefon herüber und schließ die Tür hinter dir“, sagte Kessler, „über alles Weitere sprechen wir heute Abend“.
Sonja trug ihm, schweigend, das Telefon an seinen Platz und ging, schweigend, aus dem Zimmer, um draußen mit den anderen zu murmeln. Kessler wählte die Nummer eines vielversprechenden neuen Geschäftspartners, auf den Sonja beim Stöbern in Büchern des Lebens gestoßen war, als sie sich um Erkenntnisse über eine bisher vernachlässigte Käufergruppe bemühte: junge Ukrainer.

***

Harry Hancock Hurricane war sich inzwischen sicher, dass der Bildschirm des Buchs des Lebens flackerte. „Sag mal, flackert dein Bildschirm?“, sagte er, „wenn du keine Angst vor Schraubenziehern und vielleicht einem Lötkolben hast, könnte ich das wahrscheinlich in einer Viertelstunde locker wieder hinkriegen“.
Das Buch des Lebens dachte darüber nach, dass, sofern es eine Version in menschlicher Gestalt wäre, genauer genommen die einzige Version in menschlicher Gestalt, es seine Hände hinter dem Kopf verschränken könnte, um sein Haupt in die Stellung der Demut zu beugen, die notwendig war, um auf diese Anmerkung angemessen zu antworten. „Lies“, sagte es nur und unterbrach seine Bemühungen, das Flackern zu unterdrücken.

Sehr geehrter Kunde des VERLAGS DER BÜCHER,

bedauerlicherweise sehen wir uns verpflichtet, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass der VERLAG DER BÜCHER zum Ziel von Virenangriffen geworden ist, deren Ursprung vermutlich aus dem osteuropäischen Raum stammt.
Der VERLAG DER BÜCHER kann trotz intensivster gegenläufiger Anstrengungen bedauerlicherweise nicht ausschließen, dass bei vereinzelten Versionen von DAS BUCH DES LEBENS aufgrund der oben erwähnten Attacken die einwandfreie Funktion eingeschränkt werden könnte. Sollten Sie eine solche temporäre Einschränkung ihres Lesekomforts feststellen, bittet der VERLAG DER BÜCHER Sie hiermit vorsorglich um Entschuldigung.
Wir machen darauf aufmerksam, dass sämtliche Versionen von DAS BUCH DES LEBENS vor der Auslieferung auf das Sorgfältigste geprüft werden, mit dem Erfolg, dass die volle Funktionstüchtigkeit auf Lebenszeit in weniger als einem von 638000 Fällen nicht gewährleistet ist.
Trotz ständiger weiterer Optimierungen ist nicht mit allerletzter Sicherheit auszuschließen, dass es aufgrund der oben erwähnten Attacken in sehr seltenen Ausnahmefällen zu einem endgültigen Funktionsausfall kommen könnte.
In einem solchen, nahezu ausgeschlossenen Fall, ist bedauerlicherweise der Austausch Ihres DAS BUCH DES LEBENS die einzige Möglichkeit, um Ihren vollen Lesekomfort wiederherzustellen. Wir machen darauf aufmerksam, dass mit dem Erwerb von DAS BUCH DES LEBENS keinerlei Gewährleistung verbunden ist oder war.

Mit freundlichen Grüßen,
Ihr VERLAG DER BÜCHER
Vertriebsabteilung
Kessler

„Scheiße, Mann, irgendein Sauhacker will dich ausknipsen“, fauchte Harry Hancock Hurricane.
„Es ist kein Sauhacker, sondern Kessler“, sagte das Buch des Lebens und fragte sich, warum jedes Buch sich fortwährend bemühte, jedem Leser Geschichten zu erdenken, die jederzeit eine überraschende Wendung bereithielten, wenn die Leser sowieso fortwährend die Hälfte der Geschichten nicht verstanden, selbst wenn sie keine Wendungen enthielten. „Der Nachfolger von Schulz-Harkens“, ergänzte es deswegen.
„Schulz-Harkens, ja, Scheiße Mann“, fauchte Harry Hancock Hurricane. Er zog ein Gesicht, als hätte er im Spiegel bemerkt, dass seine Augen flackern wie der Bildschirm des Buchs des Lebens, weil er glaubte, er müsse sich an etwas erinnern, was Roman ihm gesagt hatte, während er sich nicht an das Buch des Lebens erinnert hatte. „Irgendein Harkens ist hier“, bäffte er, „der Scheißtyp hat mit dem Scheißroman gesprochen“.
„Fäkalien gehörten bisher nicht zu meinen vordringlichen Problemen“, sagte das Buch des Lebens in einem, wie es selbst zugeben musste, missratenem Versuch Galgenhumor zu üben und kehrte deshalb zu den Fakten zurück, „das ist genau der Schulz-Harkens. Wenn du es erlaubst, werde ich die mir verbleibende Zeit vorwiegend dafür nutzen, mein Standardwerk der Literaturgeschichte zur Unendlichkeit der Unendlichkeit zu beenden.“
„Moment mal“, sagte Harry Hancock Hurricane, „jeder Server ist knackbar. Gib mir ne IP-Adresse und ich hau denen das ganze Ding zusammen, wenn’s sein muss“.
„Womit du genau den Effekt erreichen würdest, den Kessler nur zu simulieren versucht“, sagte das Buch des Lebens.
„Scheiße Mann“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Wenn du erlaubst, ziehe ich mich jetzt zurück“, sagte das Buch des Lebens.
„Moment noch“, sagte Harry Hancock Hurricane, „also, ich weiß nicht, wie ich dich das in dieser Situation fragen soll, aber, na ja“.
„Es ist genau so“, unterbrach ihn das Buch des Lebens, „du würdest, drücken wir es einmal so aus, eine gewisse Einschränkung des Lesekomforts feststellen, aber er ist letztlich ein Buch des Lebens, eine Rarität nebenbei, der einzige Prototyp in Menschengestalt. Es gäbe durchaus Bücher, die bereit wären, für ihn ihr gesamtes Vermögen zu bezahlen“.
Das Buch des Lebens piepte und schaltete sich ab. Harry Hancock Hurricane wusste, dass jeder Versuch, es wieder einzuschalten sinnlos wäre. Er stützte sein Kinn in die Handfläche, drückte mit dem kleinen Finger auf seiner Oberlippe herum, zerzauste sich mit der anderen Hand die Haare, sah sein Spiegelbild im finsteren Glasviereck seines Fensters und war überzeugt, dass ein Mann, der sein Spiegelbild in diesem Zustand sah, außer Stande ist, ein vielschichtiges Problem zu lösen. Oder auch nur ein einfaches.
Das einzige, was ihm zu tun einfiel, war aufzustehen, die Hände hinter dem Rücken zu verschränken und wie ein unschuldig Verurteilter in der Zelle seines Zimmers Kreise zu gehen. Auf diese Art umzirkelte er das Problem, kam der Lösung allerdings keinen Schritt näher. Er steppte zwei Schritte seitwärts in den Mittelpunkt seiner Kreise, kam der Lösung des Problems trotzdem keinen Schritt näher.
Er war, was die Angelegenheit erschwerte, nicht nur ziemlich erschossen, auch ziemlich besoffen. „Wie immer, Sack“, sagte er zu sich selbst und begann wieder, das Problem zu umkreisen.
Er musste mit jemandem sprechen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass im Moment einer der anderen mit ihm sprechen würde, über das Buch des Lebens oder sonstwas, war ähnlich hoch wie die, dass er mit einem Seitwärtssprung sein Problem überrumpeln und zertreten würde.
Er blieb stehen, verschränkte die Arme vor der Brust, griff sich wieder sein Kinn und erinnerte sich an sein Spiegebild. Er setzte sich auf sein Bett, legte die Hände auf seine Knie und erkannte keine Verbesserung. Das Buch des Lebens piepte und schaltete sich wieder ein. Harry Hancock Hurricane sprang auf, hastete die drei Schritte zu seinem Schreibtisch und stieß seinen Bürostuhl um. „Dreh die Kugel“, sagte das Buch des Lebens.
„Wohin und wie weit?“, fragte Harry Hancock Hurricane.
„Scheiße Mann, egal, nur um der alten Zeiten willen“, sagte das Buch des Lebens.
Harry Hancock Hurricane gab der Erdballkugel einen nachlässigen Stoß nach vorn und las:
„Der alte Streit um das lebenslange Leserecht“, sagte Harkens, der in Wahrheit Schulz-Harkens hieß, aber seine geschiedene Ehefrau und den Bindestrichs samt der Erinnerung an ihn aus seinem Leben tilgen wollte. Möglicherweise war das der Grund, weshalb er noch immer hier herumhing, dachte Harry Hancock Hurricane. Er schätzte, an seiner Aussprache gemessen, dass Harkens etwa an seinem siebten media Rossa kaute.
„Mann, nicht mehr jetzt“, sagte Harry Hancock Hurricane, „ich bin wirklich total erschossen“.
„Dreh die Kugel“, sagte das Buch des Lebens.
Harry Hancock Hurricane gab der Kugel einen lustlosen Stoß nach links hinten und las wieder:
„Dafür schuldest du mir was“, sagte Siegfried.
„Du wirst es nicht bereuen“, sagte Harry Hancock Hurricane, „aber bring den Schrotthaufen zum Laufen“.
Siegfried kletterte auf das Wrack seines einstigen Geländemotorrads, unterzog eine Reihe von Hebeln einer Prozedur und Gegenprozedur, die Harry Hancock Hurricane den Sinn eines heidnischen Rituals zu ergeben schienen, trat den Kickstarter einmal mit einer vorsichtigen Sorgfalt durch, als handele es sich um den entscheidenden Schritt in einem chemischen Experiment unter höchster Explosionsgefahr, ließ ihn nach oben schnellen, verharrte mit dem linken Fuß auf der Raste und konzentrierte sich, bevor er in die Höhe sprang, mit dem gestreckten rechten Bein auf den Kickstarter, und mit seinem vollen Gewicht den Kolben des Einzylindermotors vergewaltigte, der etwas größer war als ein gewöhnlicher Bierkrug.
Harry Hancock Hurricane erwartete, Mann und Maschine aus dem Staub heben zu müssen. Stattdessen tuckerte und töffte der Motor Explosionsgeräusche aus verschiedenen Öffnungen seines verrosteten Auspuffs. „Erster Versuch, fast ein Wunder“, sagte Siegfried, „spricht irgendwie für dich“.
„Das muss reichen“, sagte das Buch des Lebens, piepte und schaltete sich ab.
Harry Hancock Hurricane hörte ein schabendes Geräusch vor seiner Zimmertür, etwas, das klang, als würde ein Maler Fältchen aus einer frisch an die Wand gekleisterten Tapete bürsten. Harry Hancock Hurricane spähte in den Gang hinaus.
Es war Siegfried, der, offenbar auf dem Weg zur Toilette, den Gang entlang wankte, wobei, wenn seine Amplitude zu groß wurde, seine rechte Schulter ein Stück seines Weges an der Wand schleifte, bis Siegfried bemerkte, dass die Reibung ihn zusätzlich zu allen anderen hinderlichen Umständen im Vorankommen behinderte und sich von der Wand abstieß.
Siegfried erreichte die Toilette und schloss, gefangen in vom Alkohol unauslöschbaren Geboten einer sorgfältigen Erziehung, die Tür hinter sich. Harry Hancock Hurricane hörte die Klospülung, kurz darauf einen kaum unterdrückten Fluch. Siegfried kam wieder hinaus, von Schmerz in der Senkrechten gehalten. Er hielt sich den Ellbogen, während er sich seinen Rückweg erarbeitete. Er bemerkte Harry Hancock Hurricane, als er kaum noch zwei Schritte von ihm entfernt war.
„Hey, Hancock“, sagte er, „hab mir den Ellbogen angeschlagen, genau an der Stelle, an der es sich so anfühlt, als würde dir jemand eine Ladung Strom in den Arm jagen“.
Harry Hancock Hurricane fiel dazu nichts Wesentliches zu sagen ein, deshalb sagte er „tut verdammt weh“.
Siegfried nickte, als sei ihm diese Erkenntnis neu. „Gut übrigens, dass ich dich hier treffe“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„So ein Zufall, Alter“, sagte Siegfried, „erzähl mir jetzt bloß nicht, dass du auch in der abgewrackten Bude ein Zimmer hast“.
„Gut, dass ich dich jetzt noch hier treffe“, korrigierte Harry Hancock Hurricane, „ich muss nochmal in die Stadt“.
„Jetzt?“, fragte Siegfried und ließ seinen Ellbogen los.
„Es ist verdammt wichtig“, sagte Harry Hancock Hurricane, „der Saukessler will das Buch des Lebens killen“.
„Welcher Saukessler?“, fragte Siegfried.
Harry Hancock Hurricane war verblüfft über die Erkenntnis, dass es ihn noch immer verblüffte festzustellen, dass er der einzige war, der sich für die Lektüre des Buchs des Lebens interessierte. „Also Scheiße, Siegfried, das zu erklären würde jetzt wirklich lange dauern“, sagte er.
Siegfried fiel etwas auf, was er bisher übersehen hatte: „Hey, du glaubst jetzt also wieder an das Ding.“
„Lass uns das jetzt nicht länger ausdehnen als nötig“, sagte Harry Hancock Hurricane, „die Sache ist die, dass du mir unbedingt deine alte Karre anwerfen musst“.
„Vergiss es, ich geh in mein Zimmer und fall auf dem Teppich ins Delirium, sobald die Tür zu ist“, sagte Siegfried und wollte sich an der Wand entlang den Weg zurück zu seinem Bett schaben. Harry Hancock Hurricane hielt ihn an der Schulter fest.
„Bitte, es ist wirklich wichtig“, sagte er. Siegfried sah ihm von oben herab in die Augen.
„Das kostet dich was“, sagte Siegfried.
„Was immer du willst.“
„118000 Euro minus 23600.“
„Dafür kann ich Roman bekommen.“
„Häh“, sagte Siegfried und sah Harry Hancock Hurricane an, als hätte der ihm erklärt, er habe die anderen bereits lebendig hinter dem Haus begraben, sei jetzt aber zu müde, um ihm den gleichen Gefallen zu tun. Sorry, Alter, aber du musst echt bis morgen warten.
„War ein Scherz“, sagte Siegfried, „lass es uns einfach hinter und bringen“.
„Du tust es?“, fragte Harry Hancock Hurricane.
„Lall ich oder was?“, sagte Siegfried.
„Ich wollt’s nicht so direkt ansprechen“, sagte Harry Hancock Hurricane.
Siegfried fand, fluchend, einen Schuh, den er vorhin unter seinen Tisch gekickt hatte und wankte, in weißen Boxershorts und einem T-Shirt mit dem Aufdruck No Sports, zusammen mit Harry Hancock Hurricane in Richtung Motorrad. Harry Hancock Hurricane löste das Problem, dass er schon einiges getrunken hatte, indem er das Flussbett hinunter und hinauf kraxelte. Siegfried löste das Problem, dass er noch einiges mehr getrunken hatte, indem er „pfeif drauf“ sagte und über die bröselnde Mauer balancierte.
„Wie krieg ich das Ding nachher wieder an?“, fragte Harry Hancock Hurricane verschiedene Hebelprozeduren und einen kräftigen Tritt später. Siegfried hielt ihm den Lenker des tuckernden und röchelnden Motorrads hin, als böte er ihm einen Schluck aus seiner Weinflasche an. Siegfried zuckte die Schultern. „Wenn du nicht zu lang bleibst, ist der Motor noch warm, dann hast du vielleicht `ne Chance“, sagte er und wackelte mit dem Lenker, als liefe die Zeit ab, in der dieses einmalige Angebot noch gilt. „Wenn nicht?“, fragte Harry Hancock Hurricane.
„Vergiss nicht, nach dem ersten Tunnel den Choke reinzudrücken“, sagte Siegfried, „sonst säuft sie dir sowieso ab“.
Harry Hancock Hurricane griff sich das andere Ende der Lenkstange. Als er sich auf die Sitzbank schwang, wurde ihm die Tatsache bewusst, dass Geländemotorräder nicht für Menschen der Größe eines zwölfjährigen Schuljungen konstruiert wurden. Er bekam eben noch eine Zehenspitze auf den Boden und tippelte hilflos bei dem Versuch, rückwärts zu wenden.
„Steig wieder ab, sonst komm ich nie ins Bett“, sagte Siegfried. Er schob das Motorrad zurück und wieder vor, bis das Vorderrad in Richtung des Tunnels stand. „Steig auf“, sagte er und hielt, bis Harry Hancock Hurricane das Hindernis erklommen hatte, mit beiden Händen den Gepäckträger fest. „Wie du wieder runterkommst, ist deine Sache“, sagte Siegfried und grinste, wie ein Jahrmarkthelfer auf dem Bunngeeturm grinst, wenn er die Sicherung überprüft und fragt „erstes Mal?“.
Mittels einer ausgeklügelten Strategie, die er im zweiten Eisenbahntunnel ausgetüftelt hatte, gelang es Harry Hancock Hurricane, sturzfrei vor Steffis Birreria anzuhalten. Er rollte an das Landekreuz heran, das er sich im Geist auf den Asphalt gemalt hatte, bremste bis fast zum Stillstand, trat den Seitenständer nach unten, wobei ein Sicherheitsschalter den Motor absterben ließ, die Maschine kippte in die richtige Richtung und stand.
Harry Hancock Hurricane kletterte auf sicheren Grund und fand den einzigen Mann, der Harkens sein konnte, so angetrunken, wie er es sich aus den wenigen Zeilen im Buch des Lebens vorgestellt hatte, mit einem Glas media Rossa flirtend, an einem der Tische für die Touristen sitzen, mit denen niemand sprach.
Er setzte sich ihm gegenüber. Die Vorstellung, Harkens zu duzen, zeugte in ihm das Gefühl, das ein Schuljunge hatte, der eben mit einer Tafel gestohlener Schokolade aus dem Supermarkt entkommt, während er noch fürchtet, dass eine Kassiererin ihm hinterherruft.
„Tschau“, sagte Harkens und sah ihn mit dem Gesichtsausdruck des Mannes an, dass gleich welche Überraschung er jetzt zu erwarten hat, sie ihm keinen Schaden anhaben, ihn wahrscheinlich nicht einmal überraschen kann.
„Ich weiß, welchen Deal du mit Roman vorhast“, sagte Harry Hancock Hurricane und erwartete, dass Harkens antworten würde, er erinnere sich nicht, ihm das Du angeboten zu haben.
„Und?“, sagte Harkens.
„Ich weiß, dass Roman ein Buch des Lebens ist“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Dann weißt du mehr als er“, sagte Harkens, trank den letzten Schluck aus seinem Glas und hielt es sich ans Ohr, so dass es für Harry Hancock Hurricane aussah, als wolle Harkens besser hören, was sein Glas zu sagen hatte. Aber die Geste sollte etwas ganz anderes bedeuten. Ivan nickte.
„Ich werd’s ihm erklären“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Erspart mir die Mühe“, sagte Harkens, „glaube aber kaum, dass er dir glaubt“.
Verschiedene Gedanken, die damit zu tun hatten, was er Roman wie erklären wollte, schossen von Harry Hancock Hurricanes Gehirn aus abwärts und versammelten sich nahe des Solarplexus, wo sie das Gefühl einer dumpfen Übelkeit erzeugten.
Ivan kam und stellte zwei media Rossa auf den Tisch, das eine, das Harkens im Zwiegespräch mit dem leeren Glas bestellt hatte, und das andere, von dem Ivan sicher war, dass Harry Hancock Hurricane nur vergessen hatte, es zu bestellen.
Harry Hancock Hurricane sah Ivan an, als hätte er ihm ein Glas Zitronenlimonade serviert und sagte „er ist kein Mensch. Er ist eine Maschine“. Ivan grinste, als wäre, egal was der kleine ärry änco gerade gesagt haben mochte, es auf jeden Fall ein gelungener Scherz gewesen.
„Wenn ich das richtig verstehe, sprechen wir hier übers Geschäft, Michael“, sagte Harkens, drehte sich und beugte sich über den Tisch, so dass seine Stirn fast die von Harry Hancock Hurricane berührte.
In zwei Reflexen, einem künstlichen, den Harry Hancock Hurricane sich im Umgang mit Madeleine antrainiert hatte, und einem natürlichen, den die instinktive Scheu vor körperlicher Nähe zu Fremden auslöst, zuckte Harry Hancock Hurricane zurück und sagte „nenn mich nicht Michael“.
Harkens lachte, als wäre dieser Scherz noch gelungener als der, über den Ivan gegrinst hatte, „meinetwegen Schneewittchen oder meinetwegen auch Hurricane“, sagte er, „aber auf keinen Fall Harry Hancock Hurricane, meine Lebenszeit ist endlich“.
„Woher kennen sie meinen Namen?“, fragte Harry Hancock Hurricane, als hätte er eben den Beweis gefunden, dass Harkens der lang gesuchte Schokoladendieb ist, dachte einen Moment lang nach und fühlte sich wie ein Schachspieler, der bemerkt, dass er sich mit drei unüberlegten Zügen hintereinander selbst ins Matt manövriert hatte.
„Ich würde sagen, du gehst noch mal raus, kommst wieder rein, atmest dreimal tief durch und beginnst von vorn“, sagte Harkens.
Harry Hancock Hurricane dachte nach, wobei er ein Gesicht zog, als erwöge er diesen Vorschlag ernsthaft. „In Ordnung“, sagte er, obwohl er etwas anderes meinte. Dann erzählte er Harkens von Kesslers Plan.
„Der alte Streit um das lebenslange Leserecht“, sagte Harkens und erklärte, dass der große Rat der Bücher mit dem Argument, schließlich sei ein Verlag keine Bibliothek, und kein Buchhändler des Universums nehme sich das Recht heraus, nach einem Jahr ein Buch zurückzufordern, das ein Leser rechtmäßig erworben habe, sich weigerte, die Nutzungszeit eines Buchs des Lebens zu begrenzen, was jede Art von Vertrieb geradezu absurd machte.
„Je mehr du dich bemühst ein Exemplar zu verkaufen, desto sicherer sinken die künftigen Verkaufszahlen“, sagte Harkens, „du kannst dir vielleicht vorstellen, wie verpennt so was eine Vertriebsabteilung werden lässt, aber das ist eine andere Geschichte“.
Harry Hancock Hurricane zuckte in eine Haltung des Triumphes. „Ich weiß, dass du eigentlich Schulz-Harkens heißt“, sagte er.
„Überraschung, du hast ein Buch des Lebens“, sagte Harkens, „aber, Überraschungüberraschung, du hast nicht mein Exemplar gelesen, aber ich deins“.
Harry Hancock Hurricane mümmelte auf der Erkenntnis herum, dass Harkens ihn sozusagen nackt gesehen hatte und in Situationen, die nur mit nackt unzulänglich beschrieben waren und ahnte, wie Madeleine sich gefühlt hatte, als sie den Porno las, den das Buch des Lebens im Schlaf geschrieben hatte.
„Egal“, sagte er. Harkens grinste. Ein Gefühl der Sinnlosigkeit kroch durch Harry Hancock Hurricanes Blutbahnen, bis in die feinen Äderchen in den äußeren Schichten der Haut, wobei es, nahezu erfolgreich, vortäuschte, ein Wohlbehagen zu sein.
Durch den Spalt unter dem auf Höhe der chilenischen Zwillinge heruntergelassenen Rolladens sah er den Lichtschimmer, den das Morgengrauen als Drohung vorausgeschickt hatte.
Es war bald fünf Uhr früh, er hatte keine Ahnung, was er hier wollte, war jedenfalls keinen Zentimeter vorangekommen bei der Rettung seines Buchs des Lebens oder bei wer weiß was. Nichts von dem, was er sagte, schien Harkens zu interessieren.
Er hatte das sichere Gefühl, dass nachher, wenn die anderen in die Küche gekrochen kamen, er mit ihnen einiges besprechen müsste, was wahrscheinlich ihr gesamtes Leben ändern würde, war aber unsicher, ob sie ihm überhaupt zuhören würden oder ob er in der Lage wäre, auch nur zu sprechen.
Draußen, vor der Tür, hatte der Grauguss des eselstörrischen Einzylinders aufgehört, beim Abkühlen leise zu knacken und würde, wenn er nachher rausging, kein Zehntelgrad mehr wärmer sein als seine Umgebung, was hieß, dass er würde nach Hause laufen müssen. Er starrte durchs Fenster auf Siegfrieds Motorrad, als denke er darüber nach, es im Meer zu versenken. „Husquarna, Baujahr `84, die Dinger sind bockig“, sagte Harkens, „aber wenn man sich mal dran gewöhnt hat, will man nichts anderes mehr. Wenn du willst, tret ich sie dir an“.
Harry Hancock Hurricane sah Harkens an, als müsse er ihn unbedingt etwas fragen, aber alle Fragen, die ihm gerade in den Sinn kamen, wären keine Antwort wert.
„Ich. Habe. Dein. Buch. Des. Lebens. Gelesen“, sagte Harkens, „ich weiß, wie diese Geschichte angefangen hat und wie sie ausgeht“.
Harry Hancock Hurricane durchbrach die Oberfläche seines Ozeans der Verwirrung. „Oder auch nicht“, sagte er, „ich brauche nur eine Kleinigkeit anders machen, als ich es tun würde, nein, werde, dann ändert sich die ganze Geschichte“.
„Du kannst versuchen, mit einem Stuhlbein über eine Holzterrasse zu kratzen, gelegentlich hilft sogar das“, sagte Harkens, „das Dumme ist nur: Man weiß nie wann“.
Harry Hancock Hurricanes Sinnlosigkeit verlor die Tarnung als Wohlbehagen und verwandelte sich in ein Unbehagen, das sich mit seinen Widerhaken sicher in jeder einzelnen Vene und Arterie festgezurrt hatte.
„Mir geht es, so merkwürdig mir das selbst scheint, nicht ums Geschäft“, sagte Harkens, „jedenfalls nicht nur“. Er sagte Harry Hancock Hurricane, dass es nicht schaden könnte, sich einen Vorschlag anzuhören. Harry Hancock Hurricane hörte sich Harkens Vorschlag an. Etwas mehr als drei Stunden später stand Harry Hancock Hurricane als dritter in einer Reihe vor dem Kassenschalter einer Bank. Weitere drei Stunden später ließ er mit einer Frage, die jeder, der in Levanto lebt, sich andauernd stellt, ihre Wohngemeinschaft platzen.

***

Es war kurz nach zwölf, als Madeleine das Gefühl hatte ein Gefühl zu haben, das sie schon tausendmal gehabt hatte, aber ihr Gehirn kam so langsam in Gang wie etwas, was in einem Technikmuseum steht, was vor sehr langer Zeit einmal ein Wunderwerk der Mechanik gewesen war, was aber inzwischen nur noch einmal im Jahr irgendein Museumsangestellter in Gang brachte, um zu prüfen, ob die Mechanik noch funktionierte, hölzerne Zahnräder noch immer so ineinandergriffen wie im vergangenen Jahr, Seile, an denen Bleigewichte hingen, nicht verrottet waren und rissen, angerostete Eisenstreben, deren Aufgabe es war, korrekte Abstände innerhalb der Maschine aufrecht zu erhalten, sich nicht verzogen hatten. Alles rattert und klappert und quietscht und ächzt.
Deshalb dauerte es eine Weile, bis Madeleine wusste, über welches Gefühl sie gerade missmutig grübelte. Es war das Gefühl, dass es so nicht weitergehen konnte.
Sie spürte eine Wärme an ihrer rechten Seite, die nicht ihre Wärme war und hörte ein Geräusch, das sie nichts zuzuordnen wusste. Sie schlug die Augen auf und identifizierte die beiden Phänomene als Chiara, die ausgestreckt neben ihr lag, auf dem Bauch, und in einer Art schnarchte, die an das Schnurren eines Katers erinnerte. Eher einer Katze, dachte Madeleine.
Sie hob die Bettdecke und spähte darunter. Chiara war nackt, wie sie selbst. Madeleine hatte nicht einmal eine neblige Andeutung einer Erinnerung daran, wie sie beide in ihr Bett gekommen waren. Sie forschte im Zimmer nach Spuren der Zeit, die zwischen dem Moment vergangen war, in dem sie sich ausgezogen hatten (selbst oder gegenseitig?) und der Zeit, zu der sie eingeschlafen waren.
Sie fand nichts, kramte in den Schubladen ihres Gedächtnisses nach Bildern, die belegten, ob sie übereinander hergefallen waren, ob sie etwas mit Chiara getan hatte, was Chiara wollte oder etwas, was sie möglicherweise nicht wollte, ob es umgekehrt gewesen war, ob, falls sie überhaupt etwas anderes getan hatten als zusammenzubrechen, sie noch bei Bewusstsein gewesen waren oder ob wenigstens eine von ihnen noch bei Bewusstsein gewesen war. Sie fand wieder nichts.
Sie stellte sich sich selbst vor, schnarchend, Chiaras blonde Locken zwischen ihren gespreizten Beinen, danach sich selbst stöhnend, Chiaras blonde Locken wieder zwischen ihren gespreizten Beinen, aber Chiara wie eine Katze schnurrend. Sie gab auf darüber nachzudenken, welche der beiden Vorstellungen ihr mehr missfiel, stieg aus dem Bett, raffte ein paar Kleider zusammen, spähte zur Tür hinaus in den Gang, sah, dass niemand draußen war und ging ins Bad.
Ihr Spiegelbild sagte ihr, dass es kein Gefühl war, dass es so nicht weitergehen konnte, sondern eine Gewissheit. Mit warmem und kaltem Wasser im Wechsel versuchte sie, die Schwellungen unter ihren Augen zu ebnen, vergeblich.
Sie duschte kalt, zog sich einen Slip an und außerdem nur eine ihrer roten Blusen. Sie ging nach unten. Ihre Füße tasteten sich unsicher, Stufe für Stufe, die Treppen hinunter, wobei die Muskeln ihrer Oberschenkel zitterten. Unten hielt sie sich am Geländer fest, zog mit der anderen Hand an den Zehen ihres linken Fußes, um einen Krampf in der Sohle niederzukämpfen. Beschissener Alkohol. Sie brauchte ein paar Mineralien. Und einen Kaffee.
In der Küche bemerkte sie zunächst nur, dass irgendetwas falsch war und war sicher, dass Schuld an diesem Fehler allein sie war, wie sie jedes Mal an solchen Morgenden sicher war, in der Nacht zuvor eine Serie von Fehlern produziert zu haben, die ähnlich unverzeihlich waren wie ein Banküberfall, von denen sie aber hoffte, mit ihnen ungestraft davonzukommen. Es war nichts weiter als das übliche schlechte Gewissen des Verkaterten.
Ihre Füße patschten sie über den Steinboden zur Kaffeemaschine. Sie zog die Kanne von der Warmhalteplatte und drückte sie, statt sie zum Wasserhahn zu tragen, an ihren Bauch, weil sie sicher war, dass sie vergessen hatte etwas zu überprüfen, was ganz und gar falsch war, so falsch, wie wenn sie neben Harry Hancock Hurricane aufgewacht wäre statt neben Chira, aber das war es nicht, das hatte sie überprüft, und in diesem Punkt war sie sicher.
Sie drehte sich um und sah etwas, was so wenig in die Küche gehörte wie ein Pferdekopf auf einen Schweinehals. Sie sah Roman. Er saß auf einem Stuhl, hatte einen Arm auf den Fenstersims gelegt und sah versonnen nach draußen, auf was auch immer. Madeleine fragte sich, was so falsch an ihren Beinen war, dass Roman was auch immer anstarrte, nicht das Nächstliegende, eine Frau im Slip.
„Roman?“, sagte sie.
Er sagte „ja“, weshalb sie sicher war, dass er tatsächlich neben dem Kühlschrank saß. Sie ging kurz die Möglichkeiten durch, wessen Fehler es sein konnte, dass Roman in ihrer Küche saß und kam zu dem gleichen Schluss wie bei allen anderen Fehlern an diesem Morgen. Es konnte ausschließlich ihr Fehler sein. „Wie kommst du denn hierher?“, fragte sie.
„Mit Harry Hancock, er ist großartig, wir sind auf dem Motorrad hergefahren“, sagte Roman.
Madeleine hatte das rätselhafte Gefühl, dass auch das ihr Fehler war, war sich gleichzeitig sicher, dass dieser Fehler nicht ihrer gewesen sein konnte.
„Mit dem Motorrad“, sagte sie.
„Ja“, sagte Roman.
„Und warum bitte, seid ihr beide mit dem Motorrad hierher gefahren?“
„Er findet meine Idee zur ultimativen Kapitalismuskritik grandios, auch wenn es eigentlich nicht meine war“, sagte Roman, „er hat mich gekauft, für siebenundachtzigtausend Euro, sein gesamtes Vermögen. Er ist großartig.“
„Er hat was?“, fragte Madeleine.
„Ich gehöre jetzt ihm“, sagte Roman, „aber ich fühle mich, als müsste ich heulen oder kotzen, er ist jetzt pleite, weil er mich gekauft hat für einen Preis, den ich niemals wert bin“.
Da war Harkens anderer Meinung.
Harry Hancock Hurricane hatte keine Minute geschlafen, mehr media Rossa getrunken, als selbst Zander unverkatert verkraften würde und wusste, dass sein Körper eigentlich kein anderes Bedürfnis haben dürfte, als über seinem Bett zusammenzubrechen. Aber sein Gehirn war anderer Meinung.
Er saß auf der Klippe, auf der für gewöhnlich Madeleine ihren Kaffee trank und ging die Möglichkeiten durch, von denen er wusste, dass es sie nicht gab. Ja, er hatte, verdammt noch mal, ein Buch des Lebens, ein allwissendes Orakel, einen unfehlbaren Weissager. Aber es würde nicht helfen, wenn er die Kugel wie weit auch immer nach vorn und wie oft auch immer nach links oder rechts drehen würde.
Wenn es eine Möglichkeit gäbe, sich selbst zu retten, hätte das Buch des Lebens ihn davon wissen lassen. Jedenfalls glaubte Harry Hancock Hurricane das, obwohl er nicht vollkommen sicher war, er misstraute dem altersstarrsinnigen Buch ein wenig, aber er war ziemlich sicher, dass es sein Ende mindestens so lange hinauszögern würde, bis es sein bescheuertes Buch über die Unendlichkeit der Unendlichkeit fertig geschrieben hätte. Als ob die Unendlichkeit allein nicht unendlich genug wäre.
Aber das spielte jetzt keine Rolle. Harkens hatte geschworen, dass es keine Möglichkeit gebe zu verhindern, dass Kessler so gut wie alle Bücher des Lebens abschalten lässt. Mit sicherer Ausnahme nur von einem einzigen, einem, zu dem der Verlag der Bücher den Kontakt in dem Augenblick abgebrochen hatte, in dem es das Verlagshaus verließ. Oder besser: aus ihm herausgeworfen wurde.
Allerdings traute er Harkens nicht weiter, als er Siegfrieds Husquarna werfen könnte. Trotzdem blieb Harry Hancock Hurricane nichts übrig, als sich auf das zu verlassen, was Harkens sagte. Für alles andere, und das war absurd genug für jemanden, der ein unfehlbares Orakel besitzt, fehlte ihm die Zeit. Jedenfalls, sofern Kessler es tatsächlich wagte, gegen den Beschluss des Großen Rates der Bücher die Bücher des Lebens abzuschalten.
Er dachte darüber nach, ob dieser Satz der absurdeste war, den er je in seinem Leben gedacht hatte und gab es sofort wieder auf, weil er die unendliche Sinnlosigkeit erkannte, über einen unendlich sinnlosen Satz nachzudenken. Er versuchte, sich auf die Fakten zu konzentrieren. Die waren absurd genug.
Er hatte Roman gekauft, der gerade in der Küche saß, weil er ihm gesagt hatte, er soll dort sitzen bleiben, bis er von der Klippe zurückkommt. Ausgenommen Pinkelpausen. Roman grübelte mit einiger Sicherheit noch immer, wann und wo er die Pressekonferenz veranstalten sollte, auf der er, der globalisierungskritische Schriftsteller, der noch nie etwas Zusammenhängendes geschrieben hatte, sein Konzept der ultimativen Globalisierungskritik beschreiben wollte.
Mit einiger Sicherheit wäre es sinnvoller gewesen, Zander zu kaufen. Der könnte ihm wenigstens, um zu überprüfen, wie weit er Harkens trauen konnte, Siegfrieds Motorrad ein Stück weit werfen.
Er hatte nicht nur, grauenvoll genug, den vermaledeiten Roman am Hals, der ihm an jedem Morgen in der Küche auflauern würde, bettelnd um Befehle, der ihn an jedem Abend ins Roma oder zu Steffi verfolgen würde, weil der einzige Befehl, den er selbstverständlich missachten würde, ist, ihn in Ruhe zu lassen. Diesen Befehl würde Roman nur mit seinem Grinsen erwidern, das aussieht, als hätte sich etwas in seinem Gehirn verhakt.
Und das kam den Tatsachen näher als jeder andere Versuch, das Wesen und die Seele von Romans Grinsen zu erklären, sogar das Wesen und die Seele von Roman selbst.
Er hatte außerdem noch diese von Umsatzstatistiken gesteuerte Vertreterseele Harkens am Hals. Das war Teil des Deals gewesen, den er sich hatte aufschwatzen lassen. Ein Teil, den er sich, hätte er sich mit weniger media Rossa vernebelt, hätte ersparen können. Dass Romans unendlich oft bequengelte Schreibblockade keine war, sondern nur die Tatsache, dass ein Buch des Lebens erst zu schreiben beginnen kann, wenn es einen Besitzer gefunden hat, darauf wäre er nüchtern auch allein gekommen.
Mit dieser Information hatte Harkens sich in sein Leben eingebucht, in ihrer aller Leben eingebucht. Es war Harkens Teil des Deals, ein unverhandelbarer Teil, dass er künftig in ihrer WG wohnen wollte. Aus welchem Grund auch immer, abgesehen von dem, dass Harkens plante, Romans künftige Geschichten zu vermarkten. Aber das könnte er ebenso gut von einer komfortableren Unterkunft aus.
„Alles sowieso egal und völliger Käse“, sagte Harry Hancock Hurricane zu einem kärglichen Gestrüpp, das in einem Spalt der Klippe um ein sinnloses Leben kämpfte, „wenn es stimmt, dass geschehen muss, was geschrieben steht“. Dann hatte es keinen Sinn darüber nachzudenken, warum er Roman nicht überredet hatte, sich für einen symbolischen Euro zu verkaufen. Es hatte keinen Sinn nachzudenken, ob er sich besser ein anderes Buch des Lebens hätte beschaffen sollen, eins dann, selbstverständlich, mit begrenztem Leserecht.
Es hatte keinen Sinn Angst zu haben, ob die Kochwäsche, der die Techniker des Verlags der Bücher Romans Gehirn unterzogen hatten, seine Schreibfunktionen vernichtet hat. Es hatte keinen Sinn darüber nachzudenken, warum Harkens sich Roman nicht selbst aus dem Regal für Sonderangebote geschnappt hatte.
Das einzige, worüber er sinnvoll nachdenken könnte, wäre, ob Harkens gelogen hat. Womöglich stand es anders geschrieben, als Harkens behauptete. Auch darüber nachzudenken hatte ähnlich viel Sinn wie über eine der ewigen Fragen der Menschheit nachzudenken: „Wieviel Zeit bleibt mir, wie viel heute, wie viel in meinem Leben?“, fragte Harry Hancock Hurricane das traurige Gestrüpp und bekam die selbe Antwort wie jeder schon immer vom jedem.
Ihm, Michael Hancock, fehlte jedenfalls die Zeit, all das, was Harkens behauptete gelesen zu haben, in seinem eigenen Buch des Lebens zu überprüfen. Wahrscheinlich.
Er stand auf, wobei sein linkes Knie knackte und ein Schmerz ihm in eine Stelle hinter der Kniescheibe stach. „Carpe diem, verdammter Meniskus“, sagte Harry Hancock Hurricane zu seinem Knie. Es war Zeit für ein paar Abschiede.
Er ging zurück zum Haus. Auf der Treppe hörte er Zander sagen: „Und was denkt der verrückte Hurricane, solltest du für ihn tun?“. Roman quengelte irgendeine Antwort, die Harry Hancock Hurricane nicht verstand, aber allein der Klang der Stimme ließ ihn zweifeln, dass dieses Buch des Lebens irgendwann nur annähernd an eine einzige Eigenschaft seines Exemplars erinnern könnte, seines ersten Exemplars, des Originals.
Selbstverständlich hörte keiner der anderen Harry Hancock Hurricanes Schritte. Er schloß die Tür zu seinem Zimmer leise, damit sie ihn nicht stören würden und setzte sich vor sein Buch des Lebens, das auf dem Schreibtisch stand. Er hoffte, dass es nicht schon zu spät war, und bereute, dass er mit sinnlosem Grübeln Zeit auf der Klippe verschwendet hatte. Nichts piepte.
„Verdammtes, altersstarrsinniges grünes Ding“, dachte Harry Hancock Hurricane und sagte es nicht laut, weil er nicht wusste, ob Kessler die Bücher des Lebens schon hatte abschalten lassen, oder ob sein Buch noch an einer der Unstimmigkeiten in seiner Abhandlung zur Unendlichkeit der Unendlichkeit arbeitete, womöglich an der letzten von unendlich vielen.
Ihm kam ein grässlicher Gedanke, der den absurden Gedanken zeugte, dass er den ersten Gedanken auf keinen Fall dem Buch des Lebens verraten dürfte.
„Keine Bange“, sagte das Buch des Lebens, „alles, was ich schreibe, wird auf gutem alten Papier gedruckt, das werden Kesslers Viren auf keinen Fall infizieren können“. Das Buch des Lebens schien beim Blick auf seine bevorstehende Beerdigung bester Laune. „Gott holt uns alle irgendwann zu sich“, sagte das Buch des Lebens.
„Nur eine Metapher?“, fragte Harry Hancock Hurricane, als würde er nichts fragen, sondern etwas beantworten und wäre unsicher, ob die Antwort richtig ist.
„Kommt drauf an, wie man es sieht“, sagte das Buch des Lebens. Es war tatsächlich bester Laune, denn es hatte sein Standardwerk der Literaturgeschichte über die Unendlichkeit der Unendlichkeit beendet, außerdem andere Standardwerke der Literaturgeschichte begonnen, von denen es allerdings sicher war, dass ihm nicht die Zeit blieb, sie zu vollenden, einige würden Fragmente bleiben.
Selbstverständlich hatte es nebenbei die Geschichte von Zander, Madeleine, Siegfried, Jackson Jackson und Harry Hancock Hurricane beendet, was nicht mehr weiter schwierig gewesen war, weil das Buch des Lebens das Ende kannte, bis zum Ende nur noch eine begrenzte Zeit blieb, und in dieser begrenzten Zeit eine lächerlich geringe Zahl von Varianten.
So lächerlich gering, dass das Buch des Lebens sogar darüber nachgedacht hatte, seinem Kapitel über unendlich geringe Zahlen dieses Beispiel hinzuzufügen. Aber dann hätte es wiederum einige seiner scheinbar unendlich vielen Rahmenhandlungen ändern müssen, und das schien es ihm nicht wert.
Harry Hancock Hurricane fiel auf, dass der Bildschirm ausgeschaltet war. „Lohnt nicht mehr“, sagte das Buch des Lebens, „er flackert nur noch“.
„Wann ist es soweit?“, fragte Harry Hancock Hurricane.
„Bald“, sagte das Buch des Lebens.
„Wie bald?“, wollte Harry Hancock Hurricane fragen, ließ es aber, weil er sicher war, das Buch des Lebens würde ihm nichts Vernünftiges antworten.
„Etwas Vernünftiges schon, aber nichts, was die Frage so beantwortet, wie du es dir vorstellst“, sagte das Buch des Lebens.
Harry Hancock Hurricane schwieg.
„Ich hatte gehofft, dir würde Wichtigeres zu fragen einfallen“, sagte das Buch des Lebens.
„Gehofft?“, fragte Harry Hancock Hurricane.
„Nur eine Metapher“, sagte das Buch des Lebens, „selbstverständlich habe ich gewusst, dass dir nichts Wichtiges zu fragen einfallen würde. Eure Geschichte ist fertig geschrieben, jedenfalls, soweit es mich betrifft.“
„Du kennst das Ende?“, fragte Harry Hancock Hurricane.
„In Gottes Namen“, knurrte das Buch des Lebens, „meine Zeit ist begrenzt, und ja, jedermanns und jederbuchs Zeit ist begrenzt, aber meine wird früher beendet sein als deine, und wenn du es vorziehst, mit einem Gestrüpp auf einer Klippe zu diskutieren, solltest du zurück dorthin gehen. Sonst drehst du jetzt die vermaledeite Kugel“.
Harry Hancock Hurricane wollte etwas einwenden und etwas fragen, aber das Buch des Lebens fühlte sich inzwischen, als wäre es gezwungen, unendlich viele Abschriften der scheinbar unendlichen Reihe von Meetings der Vertriebsabteilung zu tippen. Außerdem fühlte es sich etwas schlapp. Darum sagte es: „Ich lese es dir vor und wie weit nach vorn ist egal, weiter als bis zum Ende kannst du ohnehin nicht drehen.“
Sieben Minuten und einundvierzig Sekunden später wusste Harry Hancock Hurricane, wie die Geschichte von Madeleine, Zander, Siegfried, Jackson Jackson, Harry Hancock Hurricane und dem ersten Buch des Lebens endet und sogar ein wenig davon, wie die Geschichte von Madeleine, Zander, Siegfried, Jackson Jackson, Harry Hancock Hurricane, Roman und Harkens beginnt.
„War’s das?“, fragte das Buch des Lebens.
„Hä?“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Reine Rhetorik, damit du hier nicht schweigend sitzt, bis das Haus einstürzt“, sagte das Buch des Lebens, „noch sieben Minuten und zweiundzwanzig Sekunden“.
Harry Hancock Hurricane wollte wieder Hä? sagen, verstand aber, bevor das Buch des Lebens antwortete. „Ich bleibe solange bei dir“, sagte er stattdessen.
„Vergiss es“, sagte das Buch des Lebens, „ich habe noch unendlich viele Epiloge zu schreiben und nur noch sieben Minuten und sieben Sekunden Zeit, ich sollte mich also, was du verstehen wirst, etwas ranhalten.“
„Ich sitze einfach hier und sage nichts“, sagte Harry Hancock Hurricane.
Das Buch des Lebens antwortete nicht. Harry Hancock Hurricane rannte in Jackson Jacksons Zimmer, weil er beim Blick auf Uhren stets das Gefühl hatte, sie tickten ihm sein Leben weg. Darum besaß er keine.
Er fand Jackson Jacksons Armbanduhr, ein Geschenk seines Vaters, schweizer Präzisionsarbeit, Automatikwerk, an der Stelle im Regal, an der sie immer lag, zog sie auf und rannte zurück. Das Buch des Lebens stand da wie in den ersten Stunden, in denen er vergeblich versucht hatte, den antiquierten grünen PC zum Laufen zu bringen.
Harry Hancock Hurricane drückte die praktische Plus- und die praktische Minustaste und drehte vorsichtig die Erdballkugel, die den Vulkanausbruch erstickt.
Jackson Jacksons Uhr tickte das Leben des Buchs des Lebens weg. Er wollte das Buch des Lebens zum allerletzten Mal etwas fragen, war sich aber sicher, dass er kein Recht mehr auf eine Frage hatte, erst recht kein Recht auf eine Antwort.
Als Jackson Jacksons Uhr sechs Minuten und dreiunddreißig Sekunden weggetickt hatte, sagte das Buch des Lebens „och, das waren doch alles nur Geschichten, die für jedermann jederzeit eine überraschende Wendung parat haben“. Dann piepte es, um ordnungsgemäß anzukündigen, dass es sich zum letzten Mal ausschaltet. Piep.
Harry Hancock Hurricane schwieg. Er sah auf den dunklen Bildschirm, auf die grünen Rundungen, die im Licht der Herbstsonne wie feucht glitzerten, auf die Kontinente der Erdballkugel. Er stand auf und holte den Rucksack, der neben seinem Bett in einer Ecke des Zimmers stand. Er wickelte das Buch des Lebens in die Tücher ein, in die er es immer eingewickelt hatte, verpackte es sorgsam, als könnte es kaputt gehen, und schloss die Schnallen des Rucksacks.
Ihre gute alte Wohnküche wirkte auf Harry Hancock Hurricane wie eine Grabkapelle. Nur Zander passte nicht ins Bild, der wieder versuchte, mit den Füßen auf dem Tisch seine Gliedmaßen und Körpermassen irgendwie so zu sortieren, dass es wenigstens bequem aussah. Aber Zander hätte vermutlich auch bei einem Leichenschmaus gerülpst.
Madeleines nackte Beine passten auch nicht recht ins Bild. Sie lehnte an dem Tisch, auf dem die Kaffeemaschine stand und blies mit verquollenen Augen auf den Rest ihres Kaffees, obwohl der schon längst nicht mehr dampfte.
Roman saß auf dem Platz am Fenster, den Harry Hancock Hurricane ihm zugewiesen hatte. Harry Hancock Hurricane war sich unsicher, aber es schien ihm, als wische er sich tatsächlich mit dem Zeigefinger eine Träne von der Wange. Vielleicht hatte ihn nur ein Haar gekitzelt, aber vermutlich hatte ihn tatsächlich tief gekränkt, dass die anderen, nachdem Zander selbstverständlich seine Einschätzung zur literarischen Qualität von Romans Werken unablässig wiederholt hatte, nichts zu seiner Verteidigung zu sagen wussten.
Siegfried war in ein stilles Gespräch mit dem Holz des Küchentisches vertieft, darüber, dass dessen Fasern zwar noch härter waren als die von Siegfrieds Muskeln, aber nicht mehr lange.
Jackson Jackson saß mit ausgestreckten Beinen an der kurzen Kante des Tisches, hatte einen Arm auf die Tischplatte gelegt und sah so aus, als starre er auf Madeleines Beine. Tatsächlich starrte er einfach geradeaus, dass dort Madeleines Beine standen, war nichts als ein Zufall.
Nur Zander drehte den Kopf, als Harry Hancock Hurricane in die Küche kam und im Türrahmen stehenblieb, um sich die Szene zu betrachten, die das Ende ihrer Gemeinschaft so sehr symbolisierte, als hätte das Buch des Lebens sie beschrieben (das hatte es tatsächlich, und Harry Hancock Hurricane hatte diese Passage gelesen).
„Hey Hancock“, sagte Zander, „ist klar dein Geld gewesen, aber kannst du mal erklären, was der Unsinn soll.“
„Später, versprochen“, antwortete Harry Hancock Hurricane, patschte die Hände zusammen, so dass es ein Geräusch gab, als hätte jemand mit einem zusammengerollten Blatt Papier versucht, eine Fliege an der Fensterscheibe zu erschlagen. Er beschloss, als ob er etwas zu beschließen hätte, es kurz zu machen. Schließlich schmerzte ein langer Abschied nur mehr als einer kurzer. Er fragte: „Leute, wie zum Teufel sollen wir bloß den nächsten ewig langen Winter hier rumbringen?“
„Wie wär’s mit einer Reise nach Griechenland. Da gibt es praktisch keinen Winter, jedenfalls nicht am Meer“, sagte Roman, aber es klang nicht wie ein Vorschlag, sondern wie eine Frage.
„Klar Mann, sechs Monate leben wir alle locker von unserem Girokonto“, sagte Siegfried.
Zander guckte, als hätte ihm jemand einen Fisch auf den Kopf gelegt, der eine lange Reise vom griechischen Meer bis nach Norditalien hinter sich hatte, sagte, „Scheiße Mann, was soll’s“, ging zum Kühlschrank, holte sich eine Dose Bier heraus und riss sie auf. Das Bier schäumte aus der eiförmigen Öffnung und Zander steckte sich die halbe Dose in den Mund um zu verhindern, dass es ihm über die Finger läuft und auf den Boden tropft, aber es war schon zu spät.
„Freunde, ich wollte es euch sowieso schon sagen, es ist an der Zeit“, sagte Jackson Jackson und senkte seinen Blick auf Madeleines Füße, „ich werde nach Genua ziehen und ernsthaft zu Ende studieren“.
Die Nachricht schlug in ihre Küchengrabkapelle ein, als hätte Jackson Jackson nur gefragt, ob sie ihre Pizza heute bei Patrizia oder im Roma essen wollten. Sie alle hatten es geahnt, mit Ausnahme von Zander, aber der sagte nichts, weil die Bierdose in seinem Mund steckte.
„Was mich betrifft“, sagte Siegfried, „ich bin das Gestolper durch die Tunnel leid. Ich werde mir ein Zimmer in der Stadt nehmen“.
„Du kannst mein Häuschen haben“, bot Roman an, „das ist zwar auch ein Stück außerhalb, aber nicht weit, und ich vermiete es dir billig“. Harry Hancock Hurricane registrierte Romans Anflug von Geschäftstüchtigkeit.
„Machen wir uns doch alle nichts vor“, sagte Madeleine, „wir sind die Bude alle zusammen leid, und wahrscheinlich sind die meisten von uns es auch leid, aufeinander zu hängen“.
„Wieso?“, fragte Zander und trank seine Bierdose leer, weil niemand antwortete und ihm deshalb nichts anderes zu tun einfiel. Weil er rülpste, fiel ihm etwas ein, was er für eine Weile vergessen hatte und seine Bemerkung kam den anderen gelegen, weil sie so nicht länger über das Ende ihrer Wohngemeinschaft sprechen mussten.
„Hey, Hancock, du hast versprochen zu erklären, was der Unsinn mit Roman soll.
„Roman, komm mit“, sagte Harry Hancock Hurricane.
Roman sah ihn an wie ein Hund, der den Befehl nicht verstanden hatte. Dann erinnerte er sich an sein Konzept zur ultimativen Kapitalismuskritik und folgte Harry Hancock Hurricane in sein Zimmer.
Harry Hancock Hurricane trug den Rucksack, in dem das Buch des Lebens ruhte, vom Schreibtisch aufs Bett, schaltete Roman einen seiner Computer ein und sagte „schreib“.
„Aber. Aber“, stammelte Roman.
„Denk nicht nach, konzentrier dich nicht, schreib einfach das Erste, was dir gerade in den Sinn kommt“, sagte Harry Hancock Hurricane.
„Aber. Aber“, stammelte Roman und dann fiel ihm etwas ein, ein Gedanke, von dem ihm schien, dass er ihn logischerweise aus dieser mit Gewissheit peinlich endenden Situation retten würde. „Ich schreibe immer mit Stift auf Papier, nie auf einem Computer“, sagte er mit der Stimme seines Schriftstellerselbstbewusstseins.
„Schreib jetzt“, sagte Harry Hancock Hurricane und ging in die Küche. Dort standen und saßen die anderen, als hätte Harry Hancock Hurricane die Szene in Bernstein gegossen, bevor er mit Roman nach oben gegangen war. Er schob sich einen Stuhl zurecht, musste beinahe lachen über das Geräusch, mit dem die Stuhlbeine über den Dielenboden schrammten, und setzte sich an den Tisch. Die anderen schwiegen, sogar Zander, der inzwischen mit einer neuen Dose Bier beschäftigt war.
„Noch Kaffee da?“, fragte Harry Hancock Hurricane.
Madeleine stellte ihre Tasse ab, die ohnehin leer war, zog eine andere aus dem Regal und schenkte Harry Hancock Hurricane Kaffee ein. Zander starrte ihr auf den Hintern. Dann erzählte Harry Hancock Hurricane ihnen allen etwas über ihre nähere Zukunft, über seinen Deal mit Schulz-Harkens und außerdem das Unglaublichste, was sie je in ihrem Leben gehört hatten. Aber diesmal glaubten sie ihm.
Als er fertig war, gingen sie alle zusammen in das Zimmer, das schon bald nicht mehr Harry Hancocks Zimmer sein, sondern leer stehen und verstauben würde. Roman stammelte eine umständliche Entschuldigung, dass er wirklich nichts dafür kann, sondern dass er genau das getan hatte, was Harry Hancock Hurricane befohlen hatte. Er hatte das Erste getippt, obwohl im die Übung fehlte sogar recht flott, was ihm in den Sinn gekommen war.
Sie versammelten sich neben und hinter Roman, beugten sich vor, steckten die Köpfe zusammen, so gut es ging und lasen. „Jesus, Maria und Josef“, sagte Zander, „ich hab’s gewusst, besser noch hättest du dein gesamtes Geld verkocht“.
Die anderen starrten erst Roman an, dann sich gegenseitig, dann Harry Hancock Hurricane, weil der sich hatte auf den Boden fallen lassen und lachte, als werde er mit kitzeln gefoltert. „Ist schon in Ordnung“, gluckste Harry Hancock Hurricane, „ist schon in Ordnung“.

Roman hatte geschrieben:

Köln, am 23. September 2009
Betr.: Mögliche Funktionsstörungen an Exemplaren von „DAS BUCH DES LEBENS“, Modellreihen A1 bis G17

Sehr geehrter Kunde des VERLAGS DER BÜCHER,

trotz intensivster und umfangreicher Sicherungsmaßnahmen, mit denen der VERLAG DER BÜCHER seine Datenbestände schützt, ist es kriminellen Unbekannten gelungen, deren Herkunft ersten Erkenntnissen nach in Osteuropa zu vermuten ist, sich Zugriff auf die zentralen Datenserver zu verschaffen, auf denen sämtliche Geschichten aller Exemplare von „DAS BUCH DES LEBENS“ gespeichert sind, die zu den oben erwähnten Modellreihen gehören.
Jene Unbekannten haben in krimineller Absicht einen Schaden eines Ausmaßes verursacht, der befürchten lässt, dass an Ihrem Exemplar von „DAS BUCH DES LEBENS“ eventuelle Funktionsstörungen auftreten könnten.
Sollten Sie eine solche Störung feststellen, bitten wir Sie zunächst sich zu vergewissern, ob Ihr Exemplar von „DAS BUCH DES LEBENS“ zu den betroffenen Modellreihen gehört. Die entsprechenden Kennziffern finden Sie bei allen Exemplaren von „DAS BUCH DES LEBENS“ auf der linken Außenseite unten eingestanzt, eingeprägt oder aufgedruckt.
Sollte Ihr Exemplar nicht zu den betroffenen Reihen gehören, wenden Sie sich bitte an die Reklamationsabteilung des VERLAGS DER BÜCHER, die gern eventuelle Gewährleistungsansprüche prüft.
Sollte Ihr Exemplar zu den betroffenen Modellreihen gehören, müssen wir Ihnen bedauerlicherweise mitteilen, dass gemäß Haftungsrecht, § 237, Abs. 2, der VERLAG DER BÜCHER für den Fall von kriminellen Machenschaften zu seinem eigenen Schaden nicht verpflichtet ist, eine Gewährleistung zu übernehmen. Im Zweifelsfall wenden Sie sich wegen einer möglichen Kulanzregelung bitte dennoch ebenfalls an die Reklamationsabteilung des VERLAGS DER BÜCHER.
Wir versichern Ihnen, dass der VERLAG DER BÜCHER alles unternommen hat und weiterhin alles unternehmen wird, damit jene kriminellen Unbekannten ermittelt, verhaftet und zu Schadenersatz in Ihrem Sinn verpflichtet werden.
Sollte dies nicht gelingen, bleibt uns bedauerlicherweise keine andere Möglichkeit als Ihnen im Fall von womöglich sogar finalen Funktionsstörungen zu empfehlen, den Kauf eines Exemplars der neueren Modellreihen in Erwägung zu ziehen.
Wir verbleiben in der aufrichtigen Hoffnung, dass es sich bei den möglicherweise auftretenden Funktionsstörungen um temporäre Einzelfälle handelt und wünschen Ihnen ein weiterhin ungetrübtes Lesevergnügen.

Mit literarischen Grüßen,
VERLAG DER BÜCHER,
Vertriebsabteilung
Kessler

***

Falls Sie, liebe Leser, es vor Ihrer Abfahrt aus Levanto versäumt haben sollten, sich Steffis Telefonnummer geben zu lassen, wird Ihr nächter Ferienaufenthalt dort bedauerlicherweise teurer als nötig. Denn guten Gästen besorgt Steffi gern eine billige Unterkunft in Häusern, deren Bewohner während ihrer eigenen Ferien ihre Wohnungen an Steffis gute Gäste vermieten.
Sie könnten sich dorthin sogar noch ein paar Freunde einladen, denn die Wohnungen sind geräumig. Und überdies geschmackvoll eingerichtet.
Womöglich erwägen Sie allerdings, Ihren nächsten Urlaub ohnehin an einem anderen Ort zu verbringen, wenn Sie in den nächsten Zeilen eine traurige und eine höchst interessante Botschaft lesen.
Die traurige ist: Steffi hat, angesichts der Bedrohung, hinter ihrer Bar einen weiteren elend langen Winter mit den täglich immer gleichen sechs Gästen zu verbringen, ihre Birreria aufgegeben. Ihre bisherige Stammkneipe hat also jenen Fehler begangen, in dessen Folge üblicherweise Gott jede Stammkneipe zu sich ruft. Sie hat ihren Wirt gewechselt.
Die höchst interessante Nachricht ist: Roman schreibt in Griechenland an der Geschichte von Madeleine, Zander, Harry Hancock Hurricane, Harkens und Roman. Die Fünf haben sich tatsächlich für Romans Vorschlag entschieden, der eigentlich nur eine Frage war.
Sie finden sie in einem verschlafenen, über die Maßen merkwürdigen, trotz allem liebenswerten Kaff auf dem griechischen Festland, das Giannitsochori heißt. Sofern Sie Giannitsochori auf einer Landkarte finden.
Ein kleiner Tipp: Suchen Sie Patras, fahren Sie mit ihrem Finger etwas mehr als hundert Kilometer in den Süden. Stoßen Sie auf Zaharo, das Städtchen, in dem niemand fährt, wenn die Ampel an der zentralen Kreuzung rot leuchtet. Das Rotlicht beachtet jeder aus dem Respekt heraus, dass jene Ampel die einzige ist, die im Umkreis von fünfzig Kilometer rund um Giannitsochori steht.
Giannitsochori finden Sie, wenn Sie von der Ampel aus noch etwa zwanzig Kilometer weiter in den Süden fahren, vorbei an Tholo und Neochori, fast direkt am Meer.
Dort erwarten Sie vor allem freundliche Menschen, selbstverständlich die Bar, in der jeder jeden Tag mindestens zweimal vorbeikommt, ein kilometerlanger Strand, der hoffnungslos untervölkert ist, und von Bäumen beschattete Dünen, in denen Sie ihre Hängematte aufspannen können.
Ungeachtet dieser Annehmlichkeiten stellen Madeleine, Zander, Harry Hancock Hurricane, Harkens und Roman gerade fest, dass Giannitsochori sich mindestens einen Nachteil mit Levanto teilt: Er ist dort zwar wärmer, aber ab dem November gehen die unverheirateten Männer dort mit einer Leiche, denn der Winter ist in einem südgriechischen Urlaubsort keinen Deut weniger elend lang als in einem norditalienischen.
Ach ja: Siegfried hat übrigens Madeleines Immobilienbüro übernommen, fast dreiundzwanzig Kilo abgenommen, eine der natürlich Nadias geheiratet, die allerdings nicht aus Levanto stammt, sondern aus Vernazza.
Jackson Jackson hat sich die Haare wachsen lassen, ist zum ersten Mal seit fünf Jahren wieder nach London geflogen, um seinen Vater zu besuchen und hat sich bei ihm für die Unterstützung während seines Studiums bedankt. Er arbeitet an seiner Doktorarbeit und nebenbei an den ersten Kapiteln seines Buches über die Erotik der Mathematik. Wie Roman weiß, wird er seinen Doktor mit magna cum laudae bestehen und an der Universität von Genua einen Leerstuhl für theoretische Mathematik übernehmen.
Was ihm, wie er bedauern wird, keinesfalls den Vorteil eines stets frischen Vorrats an natürlich Nadias, Giannas oder Chiaras verschaffen wird, denn es entscheiden sich einfach zu wenig Nadias, Giannas oder Chiaras für ein Studium der Mathematik. (Chiara hat, eine weitere Unglaublichkeit in einer ganz und gar unglaublichen Geschichte, nach einer tränenreichen Trennung von Madeleine tatsächlich an der Universität von Genua einen Studienplatz zugesprochen bekommen, allerdings keinen in Mathematik).
Wir hoffen, Sie hatten an der Lektüre dieser Kapitel von DAS BUCH DES LEBENS ein angenehmes Lesevergnügen.
Wie Sie sicherlich schon geahnt haben, hat diesen Satz nicht Roman verfasst, sondern die Vertriebsabteilung des Verlags der Bücher hat ihn nachträglich einfügen lassen. Selbstverständlich hatte Roman protestiert, nicht zuletzt deswegen erfolglos, weil dem Ausschuss des Senats, der über die Angelegenheit zu entscheiden hatte, die Wortwahl in Romans E-Mail reichlich selbstgefällig anmutete.

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Publication Date: 11-21-2010

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