DigIt – Das digitale Utopia
„Man kann Weisser’s Buch irgendwo zwischen Huxley’s „Schöne neue Welt“ und Orwells „1984“ ansiedeln. Hier ist ein vielversprechendes Talent entdeckt worden.“
(Südwestfunk)
© Michael Weisser 1983, 2017
Lektorat Renate Laux
Erste deutsche Ausgabe Phantastische Bibliothek Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1983.
Neuauflage 2017 bei WPC.
Der Roman wurde gegenüber der Erstveröffentlichung geringfügig überarbeitet und die E-Book Version wurde ergänzt um einen Essay des Autors zum Thema digitale Identitäten, das SmartPhone als AlterEgo.
Scan mit kostenfreier Reader-App inigma
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„3D-QR-Cube“ - 4:03
Percussion: Cléo de Mallio „Motion“
Produktion: Michael Weisser 2016
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„QR - amoibo - ich verändere mich“ - 6:57
Musik: Software, „Sequenz”
Produktion: Michael Weisser 2016
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„QR-Morph“ - 3:40
Soundrecording: Didgeridoo/Ayers Rock/Cave
Produktion: Michael Weisser 2016
DIGITAL INJECTING
OF GENERAL SECURITY
BY INTELLIGENCE TRANSMUTATION
digit – (lat. digitus) Finger
digital – Darstellung von Informationen durch Zeichen
binary digit – kleinste Einheit codierter Daten
digitalis – (lat. digitale) Giftstoff im Fingerhut
dig it – (engl. Umgangsspr.) versteh’s endlich
DIGITAL
So denkt die Zukunft!
1983ff
INNOVATIONEN PRÄGEN JEDE LEBENSENTWICKLUNG.
NEUE IDEEN, EXPERIMENTE UND ERFINDUNGEN VERTIEFEN DIE WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS UND GEBEN IMPULSE FÜR DEN TECHNISCHEN FORTSCHRITT.
DIE BASISINNOVATION, AUFGRUND DERER SICH UNSERE SOZIO-KYPERNETISCHE GESELLSCHAFT ENTWICKELT HAT, BERUHT AUF DER GEZIELTEN ANWENDUNG DER WISSENSCHAFTLICHEN ERKENNTNIS SUBATOMARER PROZESSE IN UNSEREM KOSMOS.
DIE THEORIE WECHSELWIRKENDER ENERGIEKONFIGURATIONEN ERFASST DIE HUMANWISSENSCHAFTLICHEN BEREICHE EBENSO, WIE DAS WEITE FELD DER NATURWUSSENSCHAFTEN; SIE SCHLIESST DIE LÜCKE ZWISCHEN DER HUMANEN MACRO-WELT UND DEN QUANTENPROZESSEN DER PHYSIKALISCHEN MICROWELT.
DIE THEORIE WECHSELWIRKENDER ENERGIEKONFIGURATIONEN BESCHREIBT DIE WELT ALS EINE FÜNFDIMENSIONALE SITUATION, DIE VON BESTEHENDEN POTENTIALKONTRASTEN BESTIMMT WIRD.
BIOLOGISCHES UND PHYSIKALISCHES LEBEN DEFINIERT SICH IN DIESEM SINN ALS EIN OSZILLATIONSPROZESS, BEI DEM KOMPLEXE ENERGIETRANSFORMATIONEN STATTFINDEN .
DIE VERÄNDERUNG VON ZUSTÄNDEN IN UNSERER FÜNFDIMENSIONALEN ERLEBNISWELT IST IN EINER SYSTEMTHEORETISCHEN BESCHREIBUNG AUSSCHLIESSLICH AUF ENERGIEPARAMETER ZURÜCKZUFÜHREN.
DIE INNOVATION DER ELECTRO-TECHNOLOGIE HAT UNSERE GESELLSCHAFT GEPRÄGT UND SIE ZU DEM OPTIMALEN SOZIALSTAAT AUSGEBILDET, IN DEM WIR LEBEN.
IM RAUM-ZEIT-ENERGIE-KONTINUUM UNSERER WELT ÄUSSERT SICH INNOVATION ALS EIN EINGRIFF IN DEN OSZILLATIONSPROZESS DER ENERGETISCHEN WECHSELWIRKUNGEN.
INNOVATIONEN PRÄGEN JEDE LEBENSENTWICKLUNG.
DIE KYPERNETISCHE THEORIE, DIE UNSERE GESELLSCHAFT ALS EIN HOCHKOMPLEXES REGELSYSTEM MIT WECHSELWIRKUNGEN BESCHREIBT, WARNT VOR DEM ZUSTANDEKOMMEN JEGLICHER BASISINNOVATION.
DURCH INNOVATION WERDEN VERÄNDERUNGEN INITIIERT, DEREN KONSEQUENZEN SICH SELBST MIT DER OPTIMALEN TECHNOLOGIE NICHT HINREICHEND IN ALLEN NUANCEN ERMITTELN UND BESCHREIBEN LASSEN.
DA VERÄNDERUNGEN SICH AUF DEN GESETZMÄSSIGEN VERBUND AUSWIRKEN, DEN MENSCHEN IN FORM EINER GESELLSCHAFT MITEINANDER EINGEHEN, SIND DIESE VERÄNDERUNGEN IN KEINEM FALL ALS NEUTRAL, SONERN IMMER IN DER WERTIGKEIT VON POSITIV UND NEGATIV ANZUSEHEN.
DER WERT UNSERES SOZIALSTAATES ALS OPTIMAL-GERECHTES LEBENSSYSTEM VON MENSCHEN RECHTFERTIGT DIE SICHERUNG DES STATUS QUO UND FORDERT DIE VERMEIDUNG EINES JEDEN RISIKOS, DAS ZUR GEFAHR WERDEN KANN.
WÄHREND NICHT-REFLEXIVE LEBENSFORMEN ALS EIN TEIL VON ENERGETISCHEN PROZESSEN DEN SICH VOLLZIEHENDEN VERÄNDERUNGEN UNTERWORFEN SIND, BESTEHT IM FALL VON REFLEXIVEN, DAS HEISST VON HUMANEN LEBENSFORMEN DIE MÖGLICHKEIT IN ENERGETISCHE PROZESSE EINZUGREIFEN UND GEZIELTE VERÄNDERUNGEN HERBEIZUFÜHREN.
DAS ZIEL EINER JEDEN GEWOLLTEN VERÄNDERUNG IST DIE ERREICHUNG EINES DEFINIERTEN IDEAL-ZUSTANDES; ZUM BEISPIEL IN DER FORM, WIE ER IN UNSERER GESELLSCHAFT REALISIERT IST.
DIE EINZIGARTIGE LEISTUNG DER HUMANEN INTELLIGENZ LIEGT DARIN, DASS SIE ES ALS TEIL ENERGETISCHER PROZESSE VERMAG, REFLEXIVE STRATEGIEN ANZUWENDEN, UM IHRERSEITS IN DIESE PROZESSE STEUERND EINZUGREIFEN.
UNSERE GESELLSCHAFT ALS EINE KOORDINIERTE ZUSAMMENFASSUNG VON INDIVIDUEN HAT DEN ENDZUSTAND EINES GESCHLOSSENEN SYSTEMS
ERREICHT
ERREICHT
ERREICHT
eine handvoll gedanken und zeit
über die felder geworfen
die ähren wiegenden einsamkeiten
umschmeicheln einander
im gelb der sanften stimmen
und versprechen sich mehr
als bilder und klänge
und streicheln die körper
einander näher gerückt
sind weich und warm
mit einem hauch von zittern
sehnsucht in wehmut
ferne in nähe
erfüllt von dem
was unaussprechbar bleibt
weit hinweggeworfen
über die wiegenden felder
einsamer ähren geworfen
vom wind weitergetragen
werden die samen dessen
was wir ahnen
als fragmente unserer selbst
als mahnende worte dringen
über uns
heraus und in uns ein
wie
ausgesprochene ängste drängen
sich in die gefühle hinein
stets und unaufhaltsam sich
näher an uns drängen
und stärker werden
durch verlockende worte
wir mit uns
schmeicheln und widerklingen in den
rachenblüten des roten fingerhutes
und widerhallen dort
in den weiten fluchten
der gänge wie der hall der schritte
derer die gehen und kommen gleich
schmiegen sie sich dichter
in die erker und nischen
aller leeren räume und weiten gänge
die sie finden und teilen mit
unseren träumen
die bilder und klänge und düfte
die sie verstehen wie wir
sprechen und sie sprechen
zu uns als hall
sind sie verwoben als
bewegungen von uns
sind reflektiert
vom tau der gedanken
den wir weit ausgestreckt
von uns halten dann
über die felder werfen
weit hinweg
werden schatten geworfen die
immer wieder
zurück zu uns kommen
die worte und gesten gespiegelt als alles
was wir versucht haben
voller sorge abzustreifen
von unserem körper und versucht haben
fortzuwerfen über die weite
der meere und zu binden
an die pole jener einsamkeiten
ihrer ladung
die sie tragen als last
für uns mehr denn je als
geschliffene kiesel auf dem weg
auf dem boden der landschaft
die wir beschreiten
die wir erstürmen wie die
leere der säle und flure und fluchten
die wir fliehend erobern
wie die weite der
endlosen gänge und die windungen
des bewusstseins durchwandern
den erinnerungen begegnen
die bindend werden
für all jene die
auf der suche sind
aus der welt der fließenden
neuronalen ejakulationen
bis es endlich gelingt
sicher vor allem
wie dich und mich zu sein.
begreif es!
Die Weisesten?
Die Besten?
Die Unbestechlichsten?
Oder das Volk?
Professor Dr. Dr. Stan Point
drückt gegen die Kontaktleiste; die Tür schiebt sich zur Seite und gibt ihm den Weg frei in den großen lichtdurchfluteten Saal, der nach dem Vorbild des antiken Theatron angelegt ist.
Die Einrichtung des Raumes ist in einem matten Weiß gehalten, das keine Reflexe zeigt. Ein gleichmäßig heller Ton verleiht dem Ort etwas Sakrales, etwas Mystisches, etwas bedeutungsvoll Hohes. Professor Dr. Dr. Stan Point schreitet langsam über die Fläche, ohne den Anwesenden einen Blick zu schenken. Frontaleinweisung-3. Absolventen der Prüfungsstufen 1-110. Leises Raunen fließt in Kaskaden von den oberen Rängen herunter und sammelt sich über der runden Plattform, auf derem Mittelpunkt der weißhaarige Sozio-Kybernetiker steht. Das Raunen erstirbt, und der Kontakt der Bodenplatte schaltet die automatische Türverriegelung ein. Die Frontaleinweisung wird ohne eine Störung von außen ablaufen.
Das Licht über den Rängen dimmt langsam ab, und ein Licht-Spot aus der Höhe der Kuppel erhellt die Plattform. Alle Blicke sind gebannt auf den neununddreißigjährigen Spezialisten für Sozio-Kybernetik gerichtet, dessen ruhige, wohlformulierte Ansprache einsetzt:
„Meine Damen und Herren – bevor ich Ihnen einen Abriss über die Entwicklungsgeschichte, die Bedeutung und die konkreten Aufgaben der Sozio-Kybernetik gebe, möchte ich die Grundlagen dieses letzten Blockseminars festlegen, das den Abschluss Ihres langen und intensiven Trainings auf dieser Führungsakademie bildet. Ich rufe in Ihre Erinnerung zurück, dass Sie die Elite unseres Sozialstaates darstellen, dass Sie ausgewählt wurden, um unseren erreichten Standard zu erhalten und in jeder Weise zu sichern.
Die langjährige Beobachtung Ihrer Erziehung und Ihrer Ausbildung hat zu zahlreichen Prüfungen geführt, denen wir Sie unterzogen haben. Wir mussten Sie mit systemgefährdenden Ideen konfrontieren und konnten dabei Ihre unbedingte Loyalität registrieren, die Sie in allen Situationen bewiesen haben. Sie qualifizierten sich für die Aufnahme in diese Führungsakademie. Die Auswahlkriterien haben sich als zuverlässig erwiesen, denn nur drei von den insgesamt sechzig Neuaufnahmen versagten und mussten nach den ersten Härtetests der psychischen Konstitution in die unteren Dienste der aktiven Schutztruppen eingewiesen werden.
Sie – meine Damen und Herren – bilden die Elite, dessen müssen Sie sich ebenso bewusst sein wie der Einmaligkeit Ihrer Aufgabe. Sie fühlen den Puls unseres Sozialsystems, Sie sind der Atem unserer Welt. Sie werden die letzten offenen Daten unserer totalen Computer-Gesellschaft zu interpretieren haben. Sie werden die höchste Aufgabe übernehmen, die einzige Aufgabe, zu der unsere hochorganisierten Datensysteme selbst noch nicht fähig sind.
In Ihren Händen wird die Überwachung und die Sicherung unseres humanen Codex liegen, denn Sie werden letztlich zu entscheiden haben, welche Mitglieder unserer Gesellschaft als Gefahr für den Staat zu eliminieren sind.
Eliminiert werden jene Kräfte, die entweder über ein hohes Potential an irrationaler Zerstörungskraft oder über ein hohes Potential an ideologisch basiertem Fanatismus verfügen und die trotz der programmierten Nacherziehung nicht sozialisiert werden können. Diese letzte Entscheidung wird bei Ihnen liegen, und Sie werden es sein, die im Fall einer positiven Entscheidung das Eliminierungsprogramm aktivieren und alle Personendaten aus dem Basisspeicher löschen.
Sie werden diesen Informationskomplex in den Historienspeicher transferieren und die Person offiziell als ›Auswanderer‹ klassifizieren. Die Auto-Illusions-Programmatik liefert dann den Hinterbliebenen in unregelmäßigen Abständen Nachrichten über den positiven Lebensverlauf des Delinquenten. Diese Lebenslüge ist wichtig, weil viele Mitglieder unseres Staates trotz der programmierten Erziehung und der nachfolgenden intensiven Schulung doch nicht fähig sind, die Einsicht in die Notwendigkeit auch emotional zu verkraften.
Meine Damen und Herren – Ihr erstes Axiom ist in dem Satz erfasst:
Unsere Welt
ist die beste
aller möglichen
Welten!
Prägen Sie sich diesen Satz ein, machen Sie sich die tiefe Bedeutung der Worte bewusst. Meine Damen und Herren – Ihr zweites Axiom definiert Ihre einmalige Stellung in unserem Staat; es lautet:
Und wir sind die ersten
unbestechlichen
Wächter unserer Welt!
Prägen Sie sich diese Sätze ein, machen Sie sich die tiefe Bedeutung der Worte bewusst; denn beide Axiome werden zum Bestandteil Ihrer künftigen Identität. Sie sind die neue, die letzte Generation, die unsere Sicherheit schützt!“
Professor Dr. Dr. Stan Point schweigt. Seine letzten Worte klingen noch im Raum nach – dann klingen sie im Bewusstsein der Zuhörer nach. Er will ihnen Zeit geben, das Gesagte anzunehmen. Der Licht-Spot senkt seinen Helligkeitswert bis auf das allgemein bestehende Maß. Der Schatten des Mannes in der Mitte des Raumes verliert sich, und die Gestalt im hellen Overall verschmilzt mit dem reflektierten Licht des Bodens – es hat den Anschein, als wäre die Person des Sprechers verschwunden.
In der verklärten Stille fühlt jeder der Anwesenden das Echo der beiden Axiome, das von den Grenzen des Gedächtnisses zurückgeworfen wird. Es ist eine feste Haube, die man über die Zöglinge gelegt hat. Es ist ein dumpf schwingender Ton, der sie von jetzt an begleitet, der Besitz von ihnen ergriffen hat. Es ist der Klang einer tiefen Verantwortung, die auf ihnen lasten wird. Professor Dr. Dr. Stan Point verlässt mit langsamen Schritten das Zentrum der Plattform und taucht wieder auf aus dem diffusen Licht. Er tritt an ein schmales Pult in der Form einer plastischen Parabel, deren sich verjüngende Spitze nach oben weist. Von dort aus, in den schwachen Schein eines gelblichen Lichtes getaucht, führt er seine Einweisungen fort:
„Meine Damen und Herren – der Begriff Sozio-Kybernetik erfasst die Lehre von der Erklärung und der Steuerung des gesetzmäßigen Verbundes, den Menschen miteinander eingehen. In der Art, wie das humane Individuum ein System darstellt, das sich zu seiner Umwelt hin abgrenzt, so stellt auch der Verbund von Menschen ein System dar.
Die Abgrenzung dieses Sozialsystems ist jedoch ungleich komplexer als die des Individuums. Während sich die primitiven Gesellschaften in Form von Volksstämmen und Ethnien einerseits gegenüber der Objektwelt, also der Natur und der selbst geschaffenen Stadt, und andererseits gegenüber den anderen Volksstämmen oder Ethnien abgrenzten, ist dieses simple Verfahren auf unsere optimale Gesellschaft nicht mehr anzuwenden. Unserer fortschrittlichen Technologie mit ihren nahezu unbegrenzten Speicherkapazitäten und ihren rückkoppelnden Servosystemen ist es zu verdanken, dass sich die zersplitterten, einzelnen Gemeinschaften der humanen Welt zusammengefunden haben. Wir sollten es uns immer wieder in Erinnerung rufen, dass erst der geregelte Fluss der Elektronen der frühen Industrienationen eine einheitliche Grundlage geschaffen hat, auf der unser heutiger Sozialstaat entstehen konnte.
Erst als wir die Grenzen der Informationsverarbeitung ausgeschöpft hatten war es möglich, den menschlichen Traum von Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit zu realisieren. Unsere Gesellschaft konnte vollenden, was andere präsoziale Gesellschaften aufgrund ihrer primitiven Technik nur fordern oder hoffen konnten!
Die Koordination aller Daten unter den Axiomen der Gleichheit, der Freiheit und der Sozialverpflichtung unserer Staatsbürger führte zu einer optimalen Versorgung des Einzelnen. Soziales Elend gibt es in unserer Gesellschaft nicht mehr; der Idee des Klassenkampfes wurde der Nährboden entzogen. Die Rassen, die Kulturen und die Glaubensinhalte haben sich derart gemischt und sind verschmolzen, sodass keine Unterschiede mehr bestehen. Jede Bildung von sozialen Subsystemen mit aggressivem, abgrenzendem Charakter ist unterbunden. Wir haben die gleichen Rechte und die gleichen Pflichten – wir sind zu Gleichen unter Gleichen geworden, die allesamt in einer endlich für alle gerechten Welt leben, und wir haben mit unserer Intelligenz und den hochentwickelten rückkoppelnden Technologien die Gefahren der Natur und der eigenen zivilisatorischen Welt gebannt. Endlich sind wir frei!
Als optimales Sozialsystem fehlt uns nunmehr die Abgrenzung zur Umwelt – uns fehlt das Andersartige, das Fehlerhafte, demgegenüber sich der Mensch in den Jahrtausenden seiner Existenz immer wieder neu definiert hat. In unseren Erziehungsprogrammen zeigen wir deshalb überlieferte Filme vergangener Generationen, um die Überlegenheit und die Einmaligkeit der heutigen Welt im Vergleich zu demonstrieren.
Um unsere heutige Identität zu aktualisieren, greifen wir nicht mehr zur negativen Abgrenzung des anderen von uns, den wir auf Grund dieser Andersartigkeit ablehnen, bekämpfen und unterjochen, sondern wir ritualisieren das positive Engagement zu uns selbst. Unsere Werte und unsere Ideale sind in den kristallinen Festspeichern unserer Computertechnologie festgeschrieben und auf Dauer bewahrt. Wir haben uns abschließend positiv definiert!
Mit der Verwirklichung des prozessorgesteuerten objektiv-gerechten Sozialstaates haben wir endlich die Träume der Menschheit eingelöst.
Hunger, Krankheit, Naturgefahren, irrationale, individuelle Ängste und das Trauma der Konkurrenz und des Neides sind überwunden. Wir bedürfen dieser Negationen zum Leben nicht mehr, um uns zu definieren und um uns Spuren eines schnellflüchtigen Glückes anzueignen. Wir haben ein dauerhaftes Glück erreicht – um diese Werte von heute als die Werte von morgen zu erhalten, wurden Sie, meine Damen und Herren, ausgewählt.
Mit der sozio-kybernetischen Theorie besteht ein umfassendes Beschreibungsmodell unserer menschlichen Gesellschaft, das jedoch nicht ein gedankliches Gebilde blieb, sondern das zugleich auch mit den Wave-Computern der III-Generation instrumentalisiert werden konnte. Die grundlegenden Werte konnten in den Social-Wave-Modulen niedergeschrieben und damit in ihrer Struktur dauerhaft geltend gespeichert werden. Modetrends und geistige Strömungen, die sich in veränderten Spielen, Ess- und Trinkbedürfnissen ebenso niederschlagen wie in wechselnden Wohnungseinrichtungen, in Mode, in den Gebrauchsdesigns und der Kunst, werden über die Social-Wave-Module parallel mit dem Bündel sportlicher, spielerischer und kultureller Aktivitäten in einer Wellenbewegung angeregt. Dieser dynamischen Schwingung mit stets wechselnder Amplitude und mit wechselnder Frequenz ist die durchschnittliche Lebenserwartung einer Generation als Zeitfaktor zugeordnet. Wir vermeiden unnötigen Verschleiß. Wir setzen auf entschleunigtes Wachstum. Wir schonen die Welt und damit schonen wir uns.
Die sorgfältige Stimulierung der sozio-kulturellen Aktivitäten in unserer Gesellschaft ist deshalb eine der drei Aufgaben unseres kybernetischen Konzepts.
Die zweite Priorität unserer Steuerung liegt auf dem Gebiet der Versorgung mit den Qualitäten: Nahrung, Arbeit, Wohnraum, Objekt-Accessoires, Erziehung, Ausbildung, Transport und Gesundheit. Information und Illusion werden beschafft, aufrechterhalten und dauerhaft zur Verfügung gestellt. JEDEM! Je nach Bedarf liegt das Ziel unseres Wirkens darin, jeden Menschen dieses Planeten endlich glücklich zu machen und ihn glücklich zu halten.
Die erste Priorität der Datensysteme – und das, meine Damen und Herren, ist der Punkt, der Sie in Ihrer künftigen Arbeitsaufgabe betrifft – besteht deshalb in der unbedingten Stabilisierung unserer Gesellschaft! Die Sicherung der erreichten Werte gliedert sich in die Systemkompetenzen:
* Überwachung mit dem Ziel der
* Ermittlung
* Ergreifung
* Eliminierung
Die enorme Leistung einer stillen, totalen Überwachung ist uns durch die Zusammenfassung der angehäuften Einzeldaten eines jeden Individuums in unserer Gesellschaft vorbildlich durch gelungen Sie sind die Wächter über
* die rückgekoppelten Erziehungs-und Ausbildungsmaßnahmen
* die Abstimmung von Wohn- und Arbeitsstandort
* die Festschreibung aller Verstöße in allen Lebensbereichen
* das Verhalten bei Zusammenkünften
* die Versorgung durch Information und Illusion
* die Leistungsentwicklung beim Sport
* die wechselnde Partnerkontakte
* die Auswahl und Dosierung der Stimulanzien und Sedativa
* die regelmäßigen medizinischen CheckUps
* den Bedarf der Physis und Psyche durch Warenversorgung jeder Art
Die Erfassung aller sozialen Kontakte und Bewegungen sowie des Bedarfs von Produkten und Dienstleistungen zu jeder Zeit und an jedem Ort ergeben zusammengefasst, quantifiziert und in der Endauswertung qualifiziert einen Personalindex von extremer Zuverlässigkeit.
Erst die qualitative Festschreibung von Einzeldaten, die Koordinierung dieser Daten und die stete Aktualisierung der Personenmatrix ergeben ein Subjekt-Diagramm, das präzise genug ist, selbst Extrapolationen zuzulassen. Die Summe einzelner, unbedeutend erscheinender Informationen schlägt dann von Quantität in Qualität um, wenn die Daten unter übergeordneten Kriterien selektiert und verschmolzen werden. Mit dem Subjekt-Diagramm lässt sich die Grundkonstitution eines jeden Mitglieds unserer Gesellschaft festhalten und qualifizieren. Es geht um die Werte:
* Aggressionspotential
* Ausdauer
* Empathie
* Gehorsam
* Intelligenz
* Kreativität
* Mobilität
* Neugier
* Pflichtgefühl
* Risikobereitschaft
* Sexualpotential
* Vitalität
* Willenskraft
* Zufriedenheit
Ihre Aufgabe – meine Damen und Herren – wird künftig darin liegen, die automatisch an Ihren Arbeitsplatz geleiteten, problematischen Subjekt-Diagramme auf den effektiven Gefahrenindex hin zu überprüfen.
Dazu stehen Ihnen alle Mittel offen, die diese Gesellschaft zu bieten hat. Ihr Problem liegt darin, unverbesserlich aggressive und destruktive Elemente festzustellen, ohne jedoch voreilig zu handeln. Es ist im unbedingten Interesse der Systemstabilität, so wenig Anteile wie möglich zu beeinflussen. Denn jede Veränderung kann unübersehbare Folgen haben, die die Berechenbarkeit unseres Ganzen gefährden.
Ihre wohlkalkulierte Entscheidung wird dann zur Ergreifung der Personen durch den aktiven Schutztrupp führen. Die abschließende Eliminierung erfolgt wirkungsvoll abschließend mit dem Nervengas Zyklon-Delta.
Meine Damen und Herren – ich habe Ihnen mit wenigen Worten die Grundlagen für diesen letzten vierwöchigen Ausbildungsabschnitt erläutert. Die Supervisoren McCorney, Dalton, Werner, Harlie und William werden im Anschluss an diese Einweisung fünf Gruppen aus Ihren Reihen zusammenstellen und mit den Einzelprogrammen beginnen.“
Professor Dr. Dr. Stan Point beugt seinen Kopf auf den Umschlagpunkt der Podest-Parabel und lässt das Schweigen im Raum wirken.
Es sind nur Minuten seit den letzten Worten vergangen, als eine Stimme laut wird:
„Meine Damen und Herren – bitte erheben Sie sich von Ihren Plätzen – lassen Sie uns abschließend das Poem unseres Sozialstaates gemeinsam sprechen:
Unser Staat
der du bist in uns
wie wir sind in dir
umfasse uns täglich
und sei uns
Hülle und Kern
dessen was wir sind
und sein wollen.
Nur du bietest Kraft
und Herrlichkeit
in Ewigkeit
sei und bleibe
unser Staat.
Meine Damen und Herren – ich danke Ihnen!“
Professor Dr. Dr. Stan Point tritt in die Mitte der Plattform, verneigt sich mit einer knappen Geste und schreitet unter dem disziplinierten Applaus der Elitekandidaten auf den Saalausgang zu, als sein COM-Chip den charakteristischen Wellenton abstrahlt: Es ist die Inter-COM-Priorität der ersten Stufe.
Engel Bi
Engel Bi
betritt den zylinderförmigen Innenraum des Expressliftes im Turm Delta des Wohnkomplexes am Westroad Turnpike. Die dunkelblau-gemusterte Kabinentür schließt sich nahezu lautlos, und sie ist allein mit den flackernden Leuchtdioden der Steuerplatine, mit ihrem aufreizenden Mandel-Parfum und ihrem erregten Körper.
Schon am frühen Morgen dieses letzten Arbeitstages der Woche hat sie die vage, erregende Stimmung in sich gespürt, die sie immer wieder in Hitzewellen überflutete, die ihr jede Konzentration unmöglich machte. Als die Unruhe bis zur Unerträglichkeit in ihr angestiegen war, hat sie gegen 11:15 MMZ ihren goldenen COM-Chip in die Registratur geschoben und sich vorzeitig freigenommen, um in einem fast leeren Abteil des S-Mobils in ihren Wohnblock zu fahren. Sie wollte genügend Zeit haben für die Pflege ihres erotisierten Körpers.
Mit dem Sensorshaver hat sie sich im Pflegeraum ihrer Wohneinheit sorgfältig die Achseln und den Schritt ausrasiert, hat ihren Körper mit einer Aktiv-Lotion eingecremt, sich eine Regenerationsmaske über das Gesicht gelegt, die Haare mit Nerzöl ausgekämmt und im Wickler onduliert, die Zehen- und die Fingernägel im neuen Smaragd-Metallic-Ton lackiert, die Augenbrauen zu zwei exakt mittelachsensymmetrischen Haarkurven gezupft und den Schwung der vollen Lippen mit einem Curve-Liner konturiert – sie hat sich in der Spiegelwand betrachtet und war überaus zufrieden mit dem aufreizenden Bild, das sie bot.
Während sie sich intensiv und lustbetont der Körperpflege hingab, hat sie bewusst die Möglichkeit verworfen, sich im Verlauf dieses Ritus selbst zu befriedigen oder später in eines der öffentlichen Lusthäuser zu gehen, um sich dort mit einem Mann, einer Frau oder in einer Gruppe abzureagieren; denn sie sucht keinen kurzfristigen Orgasmus, keine punktuelle Entladung ihrer aufgestauten Erregung, sondern sie sehnt sich vielmehr nach einem langsam fortschreitenden Akt gegenseitiger Aufreizung, gegenseitiger Steigerung und Aktivierung aller Empfindungen. Erst dann, wenn der Körper in allen seinen Empfindungen schwingt, will sie den Höhepunkt erleben. Engel Bi hat sich entschlossen, das Risiko einer Absage einzugehen. Sie hat sich entschlossen, selbst eine Partnerin oder einen Partner für diesen Tag zu suchen. Schließlich hat sie ihren stationären Inter-COM auf Sichtschirm geschaltet und die verschiedenen Einladungen, die für diesen Tag aufgelaufen waren, vorbeiziehen lassen, um sich für die Party zu entscheiden, mit der ein Arbeitskollege schon seit zwei Tagen den Umzug in seine neue Wohneinheit feiert.
Engel Bi drückt den Sensor zum zweiundneunzigsten Stockwerk, und der Zylinder setzt sich mit steigender Beschleunigung in Bewegung. Die achtundzwanzigjährige Informatikerin hat sich für das bevorstehende Fest ein hellweißes Glockenkleid übergestreift, das nur an der Taille und im Ansatz der Hüften eng auf der Haut aufliegt und damit ihre Figur betont. Das helle Kleid aus feinem Synthe-Cotton mit eingewebten Perlmutt-Pailletten steht in einem starken Kontrast zu ihrem blauschwarz schimmernden Haar und zu der tiefbraunen Tönung ihrer Haut. Sie ist nackt unter dem Kleid, und sie genießt das weiche Prickeln in ihren gespannten Brüsten, deren hervorstehende Spitzen gierig jede Bewegung vom anliegenden Stoff aufnehmen.
Ihren COM-Chip hat sie in die kleine Schultertasche des Kleides eingeknüpft, um sich ganz auf die freie Bewegung ihres Busens unter dem locker gerafften Kleid konzentrieren zu können. Engel Bi lehnt an der Wand des Liftes; sie hat die Augen geschlossen, streift sich seitlich mit den ausgestreckten Händen über die Figur, umrundet ihre Hüften und wischt mit einer zärtlichen Bewegung wie zufällig über die glatte Rundung ihres vorgewölbten Venushügels. Sie verharrt für einen Moment in dieser Bewegung und saugt tief den Duft des aufgesprühten Mandel-Parfums in sich auf … dann spürt sie die energierückgewinnenden Tronic-Aggregate, die den Zylinderlift abbremsen und fühlt wenige Augenblicke später den frischen Luftzug, der durch die geöffnete Tür in die Kabine dringt.
Engel Bi tritt in den weiten Etagengang des zweiundneunzigsten Stockwerks. Der Boden ist mit einem dunkelgrünen Noppenbelag verlegt. Die sich selbst reinigende, schallschluckende Auslegeware geht an der Schwelle zu den einzelnen Wohneinheiten über in einen olivgrünen, nachgebenden, elektrostatischen Energieteppich, der die Bewegungskräfte, die laufende Personen erzeugen, in Ladungspotentiale umsetzt und diese in den Etagenspeicher ableitet.
Mit federnden Schritten und weich fließenden Körperbewegungen betritt Engel Bi die einladend offenstehende Wohneinheit und taucht ein in das lockende Halbdunkel des Raumes.
Rechts, gleich neben dem Eingang, hat sich eine Gruppe von vier jungen Frauen um einen Wandvorsprung versammelt – eine mathematische Funktion ist quer über die Lunaflex-Folie geschrieben. Sie erscheint dem Laien wie eine abstrakte Zeichnung. Die Diskussion dieser Extrapolation mit mehreren Unbekannten ist offensichtlich kontrovers – Engel Bi schlendert an dem Wortknäuel vorbei, biegt die gespreizten Blätter überhängender Polycondensat-Fächerpalmen zur Seite, die üppig aus den Trögen in den Raum ragen und nähert sich unschlüssig dem langgestreckten Buffet.
„Hallo Engel.“
Sie dreht sich erschrocken um und blickt in das breit lachende Gesicht des Gastgebers, in dessen geschwollenen Augen sich bereits Müdigkeit und Trunkenheit gesammelt haben.
„Hallo Rod“, erwidert sie freundlich, aber zugleich auch knapp. „Es tut gut, Dich zu sehen, Engel – es tut mir immer gut, eine schöne Frau in der Nähe zu haben …“
Mit diesen Worten versucht Rod Galger seinen Arm auf die Schulter der Frau zu legen, doch Engel versteht es, sich der Annäherung geschickt zu entziehen. Sie bückt sich abrupt und wischt mit einem Finger über die Kuppe ihres rechten Stiefels, als wollte sie einen Fleck entfernen – sein Arm fährt im Halbkreis über sie hinweg und fällt kraftlos herunter, als er keinen Halt findet. Noch aus ihrer gebückten Haltung heraus wendet sich Engel an den enttäuscht vor ihr stehenden Mann:
„Rod – sei doch bitte so freundlich und mix mir etwas Raffiniertes, das ist doch Deine Spezialität!“
Er fühlt sich geschmeichelt, wirft sich in die Brust, zupft mit den dürren Fingern an seiner krausen Kotelette und antwortet ihr: „Du kannst wählen zwischen Cinnamon-Dream, Coffee-Coin-Roses und Storming-Patchouli. Das sind im Moment meine raffiniertesten Kreationen.“
„Ich … wähle Storming-Patchouli – das entspricht am besten der Stimmung, die ich im Moment habe.“
Der Gastgeber tritt an die weit ausladende Tafel, greift zu einigen Ingredienzen und mixt ihr den anregenden Aperitif. Als er sich umdreht, steht Engel Bi direkt an seiner Seite, nimmt ihm mit einem Dank das Glas ab, umrundet ohne ein weiteres Wort den nahen Paravant und verschwindet in der Dunkelheit des Nachbarraumes.
Sie geht hinter den sich schemenhaft abzeichnenden Gestalten vorbei und nimmt die leisen Klänge wahr, die mit einer starken Richtcharakteristik von der Decke zur Gruppe hin abgestrahlt werden. In einer halbrunden Nische ist vor den Sitzenden ein breiter Reflexionsschirm gespannt, auf dem feine Linienfiguren im Rhythmus der Musik tanzen. Engel hat einen leerstehenden Sessel ausgemacht und lässt sich vorsichtig mit dem Glas in der Hand in das weiche Polster sinken. In kleinen Schlucken kostet sie den Drink, der zwar wie Feuer in der Kehle brennt, aber dessen vollfruchtigen Nachgeschmack sie in steigendem Maße genießt – während in der Wölbung des Reflexionsschirmes die abstrakten Farbfigurationen der Idophor-Projektion flimmern.
Sie stellt das Glas unter dem Sessel ab, lehnt sich noch einmal in das Polster zurück und fährt prüfend über die feste Form ihrer Konturen, bis sie wieder jenes Verlangen in sich spürt, das ihr bewusst macht, was sie heute will, nämlich die erregende Nähe der Wärme, des Atems, des Geruches und der glatten Haut einer verführerischen Frau. Sie erhebt sich aus dem Sessel, taumelt von der einsetzenden Wirkung des Drinks, fängt sich jedoch sofort wieder, geht hinein in den hinteren Teil des Raumes und folgt dem Lichtschimmer, der zwischen den versetzten Lamellen einer Trennwand hindurchscheint.
Ein betäubend schwerer Duft von Gewürzen schlägt ihr entgegen, als sie die Barriere passiert. Sie steht am Rande eines Wintergartens, der wie ein Treibhaus angefüllt ist mit den unterschiedlichsten exotischen Poly-Pflanzen. Die Verglasung dieses Gartenraumes, der an der Außenwand des Wohnturmes liegt, überspannt die Decke und reicht hinab bis auf den Boden.
Engel Bi steht wie gebannt am Rande dieser perfekt inszenierten, tropischen Welt, in der weiße und blutrote Orchideenblüten aus zerklüfteten Baumstämmen ragen, in der sich geschuppte Zweige unter der Last hellgelber Trauben biegen, in der fein behaarte Kolben auf hohen Teleskopstengeln schwanken und sich unmerklich langsam in den Klängen der einsetzenden Musik zu wiegen beginnen. Wie die Blumen dieser exotischen Vegetation, so wiegen sich auch einige Paare zwischen den fleischig-prallen, zum Teil gläsern-durchsichtigen Blattlanzen, Halmen und Wedel, um die Schallwellen der Musik umzusetzen in weiche Bewegungen.
Ein junger, sportlich durchtrainierter Mann drängt sich lasziv an Engel vorbei, berührt flüchtig ihre Schultern, hinterlässt den Anflug einer Absicht und den angenehm herben Duft seines Parfums und tritt in den Pflanzenraum ein; er dreht sich in einer spontanen Bewegung um, lächelt sie vielsagend an und bittet mit einer Geste um den Tanz. In eine sich anspannende Stimmung versunken, winkt sie mit einer knappen Drehung ihres Handgelenkes ab. Der Mann zuckt enttäuscht mit den Achseln, schüttelt etwas verunsichert den Kopf und verschwindet im Dickicht herabhängender Blätter und Blüten, während Engel dem schmalen Gang folgt, der sich durch meterhohe Bambusrohre schlängelt.
Immer lauter wird der gleichbleibende Schlag eines archaischen Grooves, der sie lockt, bis sie den Rand eines kleinen Platzes erreicht hat. Umgeben von den im Achteck platzierten Lautsprecherflächen tanzen einige Gäste versunken im einschläfernden Singsang der magisch dumpfen Frequenz, während die Umherstehenden freigedrehte Graszigarillos rauchen oder grellfarbige Flüssigkeiten schlürfen.
Eine üppig proportionierte rothaarige Frau mit schokofarbenem Teint kommt auf Engel zu, reicht ihr ein geriffeltes Glas und prostet ihr wortlos zu. Der alkoholische Bananenshake ist kühl, schmeckt fruchtig-herb und hinterlässt einen angenehm-exotischen Geschmack auf der Zunge. Engel trinkt das Glas mit wenigen gierigen Schlucken leer und schiebt sich an einer Gruppe von Zuhörern vorbei. Unter den breit ausladenden Blättern einer Schirmpalme hat sie die Tontechnik entdeckt, die wie eine Burg zusammengestellt ist. Sie betritt den schmalen Durchgang zur aufgetürmten Elektronik, blickt in die strahlenden Augen einer langhaarigen Blondine und äußert ihren Wunsch:
„Kann ich die Disc von Ka/Es haben – sie heißt DOAA?“
Die blauäugige Schönheit denkt einen Moment lang nach und meint verwirrt:
„Das ist aber eine anachronistische Stereo-Komposition. Die wurde noch im alten Analog-Prinzip aufgezeichnet; fortschrittlich im Konzept – wenigstens für ihr Alter – aber nicht optimal in der Qualität.“
„Ich weiß“, lächelt Engel sie entwaffnend an.
„Ich würde mich dennoch freuen, wenn es möglich ist …“ Wieder blickt sie in den lebendigen Glanz der blauen Augen, dann wendet sich die Frau um und sucht in einem der Regale nach dem gewünschten historischen Tonspeicher.
Engel hat Zeit, sich die abgewandte Frau in Ruhe zu betrachten.
Sie ist vielleicht Mitte Dreißig, ihr mohnrotes Kleid liegt hauteng an und hebt die Akzente des Körpers, nämlich die hervorstehenden, spitz auslaufenden Brüste und das breite Becken, mehr als deutlich hervor. Obwohl die Inszenierung einem Klischee entspricht, wirkt sie nicht gewöhnlich. Sie hat ein schmales Gesicht mit einer kleinen Stupsnase und aufgeworfenen, ungeschminkten Lippen. Mehrfach dreht sich die Fremde um, sieht Engel in die Augen und lächelt – ein Fächer schmaler Falten, die sich von den Augen aus zu den Schläfen ziehen, geben ihrem Gesicht etwas Lebendiges. Als sie sich zu den unteren Regalen bückt und nach dem Tonträger sucht, presst sich der Kleiderstoff eng an ihr Profil und zeigt die lockenden Formen ihrer Weiblichkeit. Engel Bi ist fasziniert von den Konturen des fremden, fraulichen Körpers, der nicht außergewöhnlich schön ist, aber eine intensive Ausstrahlung vermittelt.
Die Blonde hat gefunden, was sie suchte, sie schiebt die kleine Disc in den Decoder, stellt den Leselaser auf Start und tippt auf den Überblendungssensor. Die Dissolve-Unit wird aktiviert, der alte Klang mischt sich leiser werdend langsam mit dem aufsteigenden neuen, und es entsteht für einige Momente eine interessante Zwischenform der beiden Kompositionen, bis schließlich der DOAA-Sound dominiert und den Raum beherrschend erfüllt. Engel Bi nimmt ihren Mut zusammen und ist bereit, das Risiko der Absage einzugehen; sie wendet sich mit leiser Stimme an die Blonde:
„Tanzen wir?“
Dem kurzen, erstaunten Zögern folgt ein zustimmender Schimmer in den Augen:
„Gern – ich heiße Michélé, und Sie?“
„Engel!“
Dann gehen die beiden Frauen auf die Tanzfläche zu, fassen sich an den Händen und tauchen in dieser distanzierten Berührung langsam in den Sound der Musik ein.
Die hoch aufragenden acht Lautsprechertürme, die auf dem Radius eines Kreises platziert sind, bewegen die Luft und stimulieren die Tänzer, sich den Schwingungen anzupassen. Eine Bewegung hinter ihrer Partnerin lenkt Engels Blick für einen Moment ab – es ist der attraktive Jüngling, der ihr freundlich lachend von der Peripherie der Tanzfläche aus zuwinkt. Er trägt einen erleichterten Ausdruck im Gesicht, denn nun ist ihm bewusst geworden, warum die Frau, die er angesprochen hat, vorhin keine positive Reaktion zeigen konnte; wortlos akzeptiert er, was er sieht.
Bereits nach den ersten, einstimmenden Bewegungen nimmt Engel Bi die steigende Nervosität ihrer Partnerin wahr; eben waren ihre Hände noch kühl – jetzt sind sie heiß, und ein feiner Schweißfilm überdeckt die Innenflächen. Als sich die Wangen zu röten beginnen und eine Haarsträhne von der Seite her über die Stirn fällt, nutzt Engel die Gelegenheit, die Distanz der Körper langsam aufzugeben. Sie löst sich mit einer Hand von der wiegenden Frau, greift nach der Strähne, schiebt diese zur Seite, lässt ihren Handrücken wie unbeabsichtigt über die fremde Wange streifen, legt schließlich ihren Unterarm auf die nackte Schulter der Blonden, als wollte sie sich bereithalten, falls wieder eine Haarsträhne den Tanz stört.
Augenblicklich fühlt Engel, wie die Hitze des fremden Körpers durch den dünnen Stoff ihres Kleides dringt und in sie überfließt. Auch Michélé muss den erregenden Strom des Pulses zwischen den beiden Körpern spüren, denn ihre Nasenflügel weiten sich, und sie saugt wie in plötzlicher Atemnot mit tiefen Zügen Luft in sich auf. Ein gemeinsames Lächeln verwischt die entstandene kurze Spannung und gibt Engel den Mut, sich weiter an den fremden Körper heranzutasten. Als sie ihre Hand wie im Zufall der Bewegungen über den Nacken ihrer Partnerin schiebt, fühlt sie unter den Fingerspitzen die kühlen Kettenglieder des COM-Chips, den Michélé in eine Schlaufe am rechten Oberarm gesteckt hat. Engel schiebt spielerisch den Finger unter die Kette, hebt sie an und zieht sie bedächtig hoch. Sie kennt das erregende Kitzeln, das die lange Metallschlaufe am Brustansatz erzeugt, und sie bemerkt durch den abwesenden Blick der Fremden, wie sehr sich diese dem aufreizenden Spiel hingibt.
Als der gutturale Gesang in der Musik einsetzt und Michélé die Augen schließt, um sich ganz auf den beginnenden Song und das feine Streicheln der Kette auf ihrer Haut zu konzentrieren, ist Engel entschlossen, die Distanz zwischen den Körpern endgültig aufzugeben. Durch den dünnen Stoff des Kleides spürt sie die weiche Haut ihrer Partnerin, und sie lässt ihre Hand in den Wellen der Musik offensiv über den angenehm festen Körper wandern. Das Parfum der Frauen mischt sich und ergibt eine Kombination aus würziger Herbe und süßer Leichtigkeit, um in dieser Nuance die sich ausbildende Zweisamkeit zu verstärken. Engel merkt, wie sich ihre Brustspitzen spontan spannen, als ihr die Fremde die Hand auf die Taille legt.
Sie wollten es beide, und sie vermittelten sich diesen Wunsch Geste um Geste in natürlich gespielter Unbefangenheit. Als Engel sich plötzlich an den Körper der Blonden gezogen fühlt, nutzt sie diese Nähe, um mit ihren Lippen flüchtig über den Mund der Partnerin zu streifen. Michélé hat verstanden, was in Worten noch unausgesprochen bleibt. Sie nimmt die Herausforderung an und legt als Antwort ihren Mund an das fremde Ohr, befeuchtet ihre vor Aufregung trockenen Lippen und taucht ihre Zungenspitze vom Ohrläppchen hinab, der Pulsader folgend über den Hals bis auf die nackte Schulter ihrer neuen Freundin. In Trance folgen die beiden aufeinander konzentrierten Frauen den programmierten Tonfolgen des GDS-Computers im diagonal verschränkten, stereophonen Klangraum von DOAA.
Sie spüren jeweils die andere Hitze, und sie atmen jeweils den anderen Geruch; in kaum wahrnehmbaren Körperverschiebungen reiben sie die nackte Haut unter den Stoffen aneinander und fühlen die immer weiter sich steigernde Erregung des Gegenübers. Dann bemerkt Engel, wie die Hand der Fremden langsam über ihren Rücken nach unten wischt, der Rundung ihrer Taille folgt, über ihren Oberschenkel streift und sich zwischen die beiden Körper drängt.
Die Musik ist ausgelaufen, und jemand von den Umherstehenden sucht in der Technikburg nach einer neuen Disc – keiner der Gäste beachtet die beiden eng aneinander geschmiegten Frauenkörper. Als dann aber ein nervös zitterndes Trommelsolo aus den Boxen schwillt, legt Engel ihren Arm fest um Michélé, verlässt mit ihr den Schnittpunkt der Schallwellen und zieht sie abseits in ein Büschel langstieliger Hanfpflanzen. Bevor sich der süßliche, betörende Duft über sie senkt, entsichern die beiden Frauen ihre COM-Chips und schieben die freigelegten Kontakte ineinander – sie ahnen, dass ihre Begegnung mehr ist als nur ein flüchtiger Erlebniskontakt ist und überspielen sich gegenseitig die Intimdaten. Dann ziehen sie sich in die Deckung des fein verteilten Pflanzengrüns zurück, öffnen die Zipps ihrer Kleider und genießen sich einzeln in vertrauter Gegenseitigkeit.
Als die Erregungskurven der beiden erschöpften Frauen den Höhepunkt überschritten haben, strahlt Engels COM-Chip unvermittelt den grellen Wellenton ab. Es ist die Inter-COM-Priorität der ersten Stufe.
Thomas Power,
der siebenundzwanzigjährige Systemanalytiker im Netzwerksektor Beta-Kernbereich, steht an der hochaufragenden Fensterfront seines Appartements in der sechsundneunzigsten Etage und blickt abwesend in die Landschaftsstreifen, die zwischen hoch aufragenden Wohnclustern eingeklemmt sind. Im Hintergrund seiner spartanisch ausgestatteten Wohnung werden die Bilder der stationären Inter-COM-Einheit von den glasstaubbeschichteten Wänden reflektiert. Die farbigen Bilder und die bewegten Formen sind abstrahiert zu tanzenden Lichtern und fließenden Schatten. Das Unterhaltungsprogramm ist auf dem Hauptschirm und den fünf Monitoren eingeschaltet, doch es findet keine Beachtung.
Thomas Power, Kenn-Nr. 11-11 A/111001-10001, ist ein Mitglied des Staates. Er ist einer von 9,5 Millionen Menschen im Continental-Sektor-D. Sein Blick wandert ziellos von den schmalen Landschaftsstreifen über die schieferfarben plattierten Wandflächen der Wohntürme, deren Lichtabsorber auf volle Leistung geschaltet sind, um die hohe Energie der Sonnenstrahlung aufzunehmen und in die Speicher zu leiten. Thomas Power spielt versonnen mit einer jener täglichen Nahrungs-Compretten. Er hält das Eiweißkonzentrat mit den abgeplatteten Seiten zwischen dem Daumen und dem Zeigefinger und rollt es langsam über die geöffnete Fläche seiner anderen Hand. Ziellos taumelt die weiße Proteintablette vor und zurück. Immer wieder. In der Ferne zieht ein S-Mobil seine Bahn auf der Magnetschiene, die sich zwischen zwei Wohnblöcken emporschraubt. Das Mobil steigt an bis auf die Höhe der achten Etage, umrundet den dunklen Hexagonal-Cluster und hält. Dreißig Sekunden später setzt sich der langgestreckte Zylinder wieder in Bewegung und kriecht dahin wie ein Raupe auf einem blattlosen, dürren Zweig.
Thomas Power hält in seiner mechanisch ablaufenden Bewegung inne, blickt auf die konzentrierte Nahrungseinheit, schiebt sie schließlich in den Mund und zerkaut bedächtig die geometrische, geschmacksneutrale Form. Ohne den geringsten Mehraufwand hätte er die Qualität von:
* süß…………….sauer
* vollfruchtig……mager
* scharf………….mild
* herb……………bitter
mit allen mittleren Lagen und in allen Kombinationsformen durch eine Einstellung am Differentiator exakt bestimmen können. Auch die Vorwahl der Grunddaten für Form und Inhalt ist gegeben:
* Amphetamin- / Psychotomimetica- / Sedativzusatz
* Ballaststoffanteil
* Farbton / -intensität / -verteilung
* Fett- / Kohlehydrat- / Vitamin- / Wasser-Anteil
* Formenvarianten
* Energiegehalt (Joulesumme)
* Sättigungswert
* Verdaulichkeit
Alle Grobangaben lassen sich in feinsten Zahlenwerten dosieren, mit der Komponente:
* Geschmackskomposition versetzen und schließlich über Pegeleinstellung in der Konsistenz definieren:
* fest … faserig … knusprig … körnig … nachgiebig … spröde … zäh
können dabei variiert, mit weiteren Optionen kombiniert und schließlich noch in Halbgradschritten in der Temperatur bestimmt werden. Das Grundnahrungsmittel ist und bleibt das Trockenprotein.
Thomas Power kaut seine Durchschnitts-Comprette, ohne auf die Farbe, die Form, den Geschmack oder die Konsistenz zu achten. Die dünnen Seitenleisten an den Parabolantennen, die die konisch zulaufenden Dächer der Wohn- und Verwaltungsgebäude krönen, reflektieren das grelle Licht in unregelmäßigen Blitzen; sie markieren den steten Weg der Sonne, die ihren höchsten Punkt überschritten hat und sich langsam dem Horizont nähert.
Thomas Power ist unschlüssig. Er weiß nicht, was er machen soll. Einerseits wäre es sinnvoll, den Körper zu schonen und sich mit einem zusätzlichen Vitaminstoß in die Schlafkoje zu begeben – andererseits stellt er einen unerklärlichen Drang in sich fest, etwas zu unternehmen. Da er sich an seinem Arbeitsplatz im Netzwerk krankgeschrieben hat, würde das Programm eine Meldung auswerfen, wenn er irgendwo in der Stadt seinen Auto-COM in einem Restaurant, bei einer Fahrt mit dem Sozial-Mobil oder in einem der Stadien benutzt, in dem schon am frühen Morgen spannende Wettkämpfe ausgetragen werden. Der Vorteil des bargeldlosen Zahlungsverkehrs fordert seinen eigenen Preis, denn automatisch wird mit der Artikelnummer, dem Zeitpunkt der Zahlung und der Höhe des Preises auch der Standort der jeweiligen Registrierkasse verbucht, mit anderen Daten verglichen und schließlich abgespeichert. Thomas Power ist unschlüssig. Er ärgert sich über seine schwankenden Gefühle und beobachtet die Menschenpunkte, die sich weit unter ihm auf den hellen Wegen und den dunklen Förderbändern unterschiedlich schnell vorwärts bewegen. Wie Ameisenstraßen sehen die schmalen Linien aus, die sich durch das Grün der dichten Bodenbepflanzung ziehen.
Er gibt seinen Standort am Fenster auf, tritt weit in den Raum zurück, bleibt unschlüssig stehen und wendet sich schließlich dem Differentiator an der hinteren Außenwand seines Appartements zu. Der Essen-Aufbereiter gehört zur Standardeinrichtung einer jeden Wohneinheit. Er wird in den automatischen Montagestraßen in einer Norm-Version für den Durchschnittshaushalt und in einer Hochleistungs-Version für die Speisesäle hergestellt; nur die jeweilige Farbgebung ist individuell verschieden und wird dem jeweiligen Standort nach Gesichtspunkten der Harmonie angepasst. Er stützt sich mit der Hand auf der abgerundeten Kante des schmalen Standgerätes ab, lässt die angenehme Kühle der Silicon-Metallverbindung auf sich wirken und drückt auf den grünen Ausgabeknopf. In wenigen Sekunden wird ein Stück von der tiefgefrorenen Proteinstange geteilt, durch Microwellen entfrostet, mit diversen Vitaminzusätzen angereichert, geformt und schließlich über eine kleine Rutsche ausgegeben: Die Eiweißtablette fällt mit hellem Klang in eine Glasschale. Thomas Power verspürt keinen Hunger – er isst, um etwas zu tun. Er zerkaut die Comprette und schluckt, als wollte er eine Leere in sich füllen.
Die stationäre Inter-COM-Einheit lockt mit ihren vielfältigen Informationen, ihren interessanten Sport-Übertragungen, ihren Shows, ihren Filmen und ihren raffinierten 3D-Illusionsangeboten. Die fünf Monitore zeigen nur eine kleine Auswahl aus dem reichhaltigen Programm der weltweit verteilten Sendeanstalten. Die Auswahl ist frei, der Zugriff erfolgt direkt. Thomas Power lässt sich in das Polster des Regiesessels fallen, greift nach der Fernsteuerung und schaltet den ersten Monitor auf den Hauptschirm. Der Wettkampf im großen D-Stadion ist in vollem Gange. Die drei rivalisierenden Teams, die sich um den Pokal des Continental-Sektors-D in der Fighter-Ball-Disziplin bewerben, sind bereits stark erschöpft; ein möglicher Sieger zeichnet sich nicht ab. Alle Beteiligten geben ihr Letztes.
Er schaltet den zweiten Monitor auf den Hauptschirm. Die Syntonic Software Corporation kündigt den zweiten Teil ihres erotischen Spiels mit mehreren Paaren an. Der Sprecher bittet die Zuschauer, die neue Ultimate-Experience TRS 69 in den Großprojektor einzulegen, die Kopplung an den internen Interlude-Intim-Computer vorzunehmen, die Fensterverglasung auf 95 Prozent zu pigmentieren und sich in der Dunkelheit des Raumes auf die sanft einschmeichelnde Musik einzustellen.
Er schaltet den dritten Monitor auf den Hauptschirm. Die Sendung „Hierzulande – Heutzutage“ stellt Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten und Hobbys vor. Das Ehepaar Klawo-Voss sammelt Informatik-Dokumente in Form von Laser-Print-Outputs, Data-Notizen und handschriftlichen Anmerkungen. Diese Mitteilungen, die sich ohne Ausnahme an die beiden Adressaten richten, überziehen den gesamten privaten Lebensbereich der Wohneinheit. Jede nur erdenkliche, freie Fläche ist mit den Schriftstücken überklebt. Die Räume und alle Gegenstände kennen keine Farbe, sondern nur die flirrende, verwirrende Vielfalt von nebeneinander und untereinander aufgezogenen Zetteln, mit denen jeder Gegenstand überklebt ist …
Er schaltet den vierten Monitor auf den Hauptschirm. Die Dunkelheit der Tiefsee wird von spitzen Scheinwerfernadeln zerschnitten. Bizarr verwurzelte Korallenriffe reflektieren zum ersten Male seit Jahrmillionen wieder das Licht und werden sichtbar im Grab ihrer totalen Einsamkeit. Einer Gruppe von Tauchspezialisten ist es gelungen, mit einer Sauerstoff-Helium-angereicherten Atemflüssigkeit die 6000-m-Marke zu überwinden …
Er schaltet den fünften Monitor auf den Hauptschirm. Eine einsame Gestalt im grauen Raumanzug tritt aus einer Nebelwand heraus. Matt schimmern die hellgelb fluoreszierenden Initialen H. W. F. auf seiner Brusttasche. Der Kopf ist durch einen reflektierenden Helm geschützt. Der Mann richtet sich auf, blickt rundum, weit über die Ebene des Grabens hinweg, über die Einebnung, in die dunklen Einschnitte des Cañons, die mit schwarzer Tinte gefüllt scheinen, hinüber zu den Aufschüttungen am Rande der Sohle …
Thomas Power blendet die Helligkeit ab, bis die Szenerie zur schwarzen Fläche wird. Er überlegt und entscheidet sich schließlich für eine hirnwellenstimulierte, freie Themenproduktion, in die seine Unschlüssigkeit thematisch eingebettet werden kann.
Der Hauptschirm wird aktiviert, die Außenverglasung auf 100 Prozent pirmentiert, der normale Inter-COM-Empfang auf Sperrung geschaltet – er ist für niemanden erreichbar. Er hat vor, sich in den nächsten drei Stunden vollends zu isolieren, sich zu regenerieren und in einem perfekten Illusionsraum von Klängen und Bildern vom tiefen Glück berauschen zu lassen. Einen Moment lang zögert er, entschließt sich dann aber, auf stimulierende Mittel zu verzichten. Die Intensität der Szenerie, die sich vor ihm aufbauen wird, reicht aus, um alle seine Sinne zu binden. Der Hauptschirm wirft die Programm-Matrix aus, die er mit dem Markierungslaser der Handsteuerung ausfüllen muss. Er wählt:
TIME SHARING OPTION…11-11A/111001-10001…POWER
A-Typus: Flächenlaser…………………………………Nein
B-Typus: Raum-Hologramm…………………………..Ja
C-Typus: Idophor-Projektion…………………………..Nein
Psychokopplung………………………………………..Ja
Dauer……………………………………………………3/25
Intensität………………………………………………...von 10
Lautstärke……………………………………………….Pegel 3 : 6
Ton-Bild-Relation……………………………………….2 : 3
SINGULÄRDATEN PEGEL 1 MINIMUM
ZU PEGEL 10 MAXIMUM…………………………….GOTO
Aktion……………………………………………………5
Allegorien………………………………………………..7
Beschaulichkeit…………………………………...……..9
Bildhaftigkeit……………………………………..……..8
Choreographie………………………………………..….8
Dynamik……………………………………………..…..6
Emotion……………………………………………….…9
Erotik……………………………………………….……2
Fantasie………………………………………………….10
Farbe……………………………………………………..8
Figurentransformation…………………………………...6
Formenrepertoire………………………………………...9
Harmonie………………………………………………...9
Informationsgehalt……………………………………….1
Klänge……………………………………………………7
Konfrontation…………………………………………….0
Konzept…………………………………………………..4
Kraft……………………………………………………...4
Logik……………………………………………………..0
Pathos…………………………………………………….6
Realitätsnähe……………………………………………..6
Ruhe……………………………………………………...5
Standort…………………………………………………..GOTO
- Erde/Natur………………………………………………0
- Erde/Stadt……………………………………………….0
- Fiktion…………………………………………………..10
- Unterwasser……………………………………………..0
- All/Galaxie 1 – n…………………………………….…..0
Themen……………………………………………………GOTO
- Menschen………………………………………………..0
- Pflanzen………………………………………………....8
- Technik………………………………………………….0
- Tiere……………………………………………………..0
- Utopie…………………………………………………...10
Zeitstellung……………………………………………….GOTO
- Perfekt = 0 … Präsens = 9 … Futur = 10……………….10
Start……………………………………………………….GOTO
START!
Der Hauptschirm gleitet in seiner Schienenführung zurück, und die Doppelpuls-Laser schieben sich über die Kanten der Seitenabdeckung. Der Regiesessel wird abgesenkt, füllt sich mit aufgewärmter Druckluft und entfaltet sich zu einer angenehm weichen Körperschale. Er greift in ein Seitenfach der stationären COM-Einheit und zieht die Elektroden hervor, die er sich sorgfältig als Stirnband über den Kopf schiebt. Ein kurzer Daten-Check gibt ihm die Gewissheit, dass die Elektroden an den richtigen Stellen platziert sind, um die Hirnströme aufzunehmen und sie an die Programmsteuerung zum FeedBack weiterleiten zu können.
Die Vorbereitungen für die Hologramm-Vision sind getroffen. Thomas Power spürt, wie das wohlige Gefühl einer angenehmen Erwartungshaltung in ihm emporsteigt. Er justiert mit wenigen Handgriffen die Interferenzstruktur, die das Lichtwellenfeld des Hologramms bestimmt.
* Richtung……………………direkt / synchron
* Amplitude………………….drei / vier von Lambda
* Phasenlage…………………gleich zu gleich
Dann schaltet er den Mentalitätsspeicher zu, in dem seine Glücks-Allegorien bildhaft festgeschrieben sind, aktiviert schließlich die Servosteuerung des Aufweitungswinkels, lädt die Zufallsgeneratoren und gibt den Startbefehl für den Ton-Bild-Aufbau. Unter den Rahmenbedingungen, die er mit den zahlreichen Feineinstellungen abgesteckt hat, werden die beiden Doppelpuls-Laser eine dreidimensionale Szenerie vor seinen Augen erstehen lassen, die die Perfektion der materiellen Realität erreicht.
Thomas Power lehnt sich zurück und wartet auf die Aktivierung und die Synchronisation der technischen Systeme. Dann setzen die Argon-Krypton-Laser ein und strahlen ihr moduliertes, kohärentes Licht ab.
Aus der lautlosen Finsternis steigt ein flattriger, milchiger Nebel empor wie der nervöse Rauch von einer vergessenen Zigarette. Er verflüchtigt sich, als hätte ihn der Luftzug einer plötzlich geöffneten Tür verweht. Dann baut er sich wieder auf, ist nadelfein, wächst empor, wird faserig und beginnt sich wie ein Bündel von Halmen im Wind zu wiegen. Es sind die Interferenzen feiner, kristalliner Beugungsgitter, die die Hologramm-Vision einleiten. Unmerklich hat sich ein Klangfächer in der Stille ausgebildet, hat Bezug genommen zu der zart gesponnenen Form, hat sich eingelagert in die Freistellen zwischen den Fasern und wird getragen von dem schwingenden Puls. Und der Puls stimuliert die Form. Bewegung und Klang verstärken sich, bis die Form splittert, birst, sich teilt, sich auflöst in einzelne Partikel, in einzelne bizarre Figuren. Jede ist für sich. Und doch teilen sie das Los des gemeinsamen Taktes, nach dem sie ihre Bewegungen einrichten. Sie nehmen die gleiche Phase an. Es sind drei Figuren. Eine ist gelb, eine ist rot, eine ist blau – es sind die Primärfarben, die im Projektionsraum erzeugt werden und von denen jede die gleiche Form in einem anderen Bewegungszustand angenommen hat.
Die drei vagen Nebelschleier artikulieren ihre Gestalt, sie gewinnen Prägnanz und werden zu Tänzern, die einer gemeinsamen Choreographie folgen. Langsam nähern sie sich an, kommen aufeinander zu, überlappen sich und definieren neue Figuren und neue Farben. Schließlich schlingen sie sich spiralförmig ineinander, werden zu einem differenziert-schillernden Ganzen, verharren und gefrieren zu einem Kristall, in dem das Licht blendend und irisierend zugleich gefangen ist.
Nach dem Bild springt der Klang von der Linie, tropft von der Fläche und fällt in die Tiefe des Raumes. Ein tiefer, langsam atmender Hall friert die Zeit ein und verleiht den flüchtigen Bewegungen von Luftstrudeln Dauer. Die Welt der Zeitlupe empfängt den fallenden Körper und gibt ihm den Status der Unbeweglichkeit. In dieser Schleuse zwischen den beiden einzig existierenden Galaxien von PLUS und MINUS herrscht nur eine Form, eine Bewegung, eine gleißende Farbe als Farbe aller Farben: sie pendelt hypnotisch hin und her. Es gibt nur zwei Werte. In einem Körper werden sie geboren, und es bleibt ihnen nur die Möglichkeit, sich zu arrangieren. Hinter dem Vorhang warten sie auf den Applaus der Massen, deren Jubel sie fordern. Dann erst lassen sie sich aus den Wolken fallen und steigen von den Bergen herab. Sie kämmen die Nadeln aus ihrem Haar, streifen sich die lästigen Kletten vom Mantel, wischen sich die Schlammspritzer von den Stiefeln und betreten die Bühne. Sie lieben den Pathos ihrer vermeintlichen Einzigartigkeit.
Sein Körper überwindet die Distanz zwischen der Realität und der Illusion. Die Illusion, die soeben noch eine chemo-physikalische Hirnreizung war, ist Wirklichkeit, ist ein Teil der bestehenden Welt; sie nimmt ihn auf, bindet ihn ein und macht ihn zu einem Teil ihrer selbst. Langsam treibt der Körper zwischen den beiden Elektroden, deren Spannungszustand ansteigt. Ein Knistern bricht in die Ruhe, grelle Blitze zersprengen die Geborgenheit der Finsternis. Er taumelt. In wiederkehrenden Abständen, deren Rate sich verkürzt, treffen ihn Bündel von Schall und Licht, schlagen auf seiner Oberfläche auf, reißen Löcher in die schützende Hülle. Er weiß von seinen Schmerzen. Die Spannung zwischen den Elektroden steigt weiter, sprunghaft, in Quanten, in diskreten Proportionen, und das Energiefeld droht ihn in die Bi-Polaren-Ladungen zu spalten. Zeit ist jetzt kein Kriterium.
Die Wucht einer Materie-Energie-Wandlung schlägt in ihm zusammen und reißt ihn empor – brutal, kompromisslos, endgültig! Thomas Power ist wach. Ein schriller Klang aus seinem COM-Chip mahnt ihn. Es ist die Inter-COM-Priorität der ersten Stufe.
Vanilla Now,
Absolventin der Führungsakademie, zählt mit ihren einunddreißig Jahren bereits zur Elite des Sozialstaates. Die Kenn-Nummer 100-11A-10001-110011 weist sie als Rechtsethikerin aus, als einen der ersten unbestechlichen Wächter der elektronisch organisierten, neuen Welt.
Vanilla Now ist auf dem Weg zu ihrer zentral gelegenen Organisationseinheit. Obwohl sie, wie ihre Mitarbeiter auch, über ein eigenes I-Mobil verfügt, hat sie es sich angewöhnt, die sozialen Verkehrssysteme zu benutzen. Sie hat sich in dieser Woche zur zweiten Schicht eingeteilt, die bis um 22 Uhr dauert. Ihre Aufgabenstellung erfordert stete Wachsamkeit, und diese konzentriert sich auf die Menschen – denn in der hochorganisierten, neuen Welt stellen nur die Menschen einen potentiellen Unsicherheitsfaktor dar. Nur sie verfügen über irrationale, archaische Kräfte, die sie selbst gegen die eigene Vernunft zum eigenen Schaden handeln lassen. Im Menschen liegt ein Chaos. Die Technik sichert Ordnung, denn die logisch operierenden Digital-Weichen der winzig organisierten Prozessoren arbeiten fehlerlos und dauerhaft.
Vanilla Now betritt die Magnetbahn, die lautlos in die Station eingeschwebt ist; sie schiebt den COM-Chip in die Registratur und sucht sich einen Sitzplatz. Die Türen schließen sich, und die elektrischen Kräfte werden aktiviert. Obwohl die Techniker die Beschleunigungssteigerung auf die durchschnittliche menschliche Physis eingestellt haben, empfindet sie diese Kräfte, die sie fest in das Polster drücken, immer wieder als unangenehm. Langsam weicht die Last von ihr – die Bahn hat ihre Spitzengeschwindigkeit erreicht. Eine leichte, fröhlich stimmende Musik ertönt dezent von der Kabinendecke und erleichtert die Entspannung.
Vanilla Now lehnt sich zurück und vermittelt den Anschein, als träume sie. Doch statt sich von den frischen Melodiewechseln unbeschwert in den Tag tragen zu lassen, konzentriert sie sich vielmehr auf die Gespräche der Mitfahrer. Sie hat ihre eigene Methode entwickelt, im Durcheinander von Stimmen und anderen Geräuschen bestimmte Nuancen herauszufiltern, die latente Aggressionsmomente beinhalten. Sie achtet dabei weniger auf die Bedeutung dessen, was gesprochen wird, sondern vielmehr auf atmosphärische Momente in der Diktion, in der Klangfarbe und im Stimmencharakter. Ob eine Information schnell heraussprudelt, ob sie bewusst verhalten gesprochen wird, ob man sich stockend mitteilt und ein Flair des Lauerns mitschwingt – das alles sind Bausteine in einem Mosaik, dessen Ornament sich die Rechtsethikerin jeden Tag neu zusammensetzt.
Bevor sie sich an die folgenschweren Entscheidungen des Tages macht, die den Tod oder das Weiterleben
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Images: QR-Codes © Michael Weisser 2017 - MikeWeisser@yahoo.de
Editing: Renate Laux (Suhrkamp)
Publication Date: 01-08-2017
ISBN: 978-3-7396-9226-5
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