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Prolog

Der Regen prasselte unbarmherzig auf die Erde nieder. Er war so stark, das sich keiner in dieser Nacht nach draußen traute. Nur einer trotzte dem Wetter. Der Motor ging aus, als ein Paar schlanker Füße den Boden berührte. Sie gehörten zu einer kleinen, sinnlichen Silhouette in einem engen, schwarzen Lederanzug. Die junge Frau schritt unbeirrt auf den Eingang des Krankhauses zu, obgleich die Besuchs-zeit schon lange vorbei war. Unterwegs befreite sie ihr dunkelblondes Haar von dem schwarzen Helm. Die Schwester am Empfang sah nicht einmal auf, als die Frau eintrat. Keiner wunderte sich über die Besucherin, die zügig auf des letzte Zimmer am linken Ende des langen Flurs zu schritt.

Drei schnelle Klopfer kündigten ihr Kommen an. Sie hielt sich nicht lange an der Tür auf, sondern schlüpfte in den Raum. Ihre Hände begannen zu zittern, als sie die ausgemergelte Hand des Mannes ergriff. Ein kleines trauriges Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, beim Anblick seines angeschwollenen Gesichtes. Er-schöpft ließ die junge Frau ihren Kopf auf die Bettkante sinken, während sich kleine Tränen in ihren Wimpern verfingen.

„Ich wusste doch, dass du herkommen würdest, Nell“, krächzte eine raue Stimme, während sich eine große, warme Hand auf ihren Scheitel legte. Ihre moosgrünen Augen flogen weit auf: „Du bist ja wach“, mit diesen Worten nahm sie ihn in den Arm.

„Was soll ich denn sonst sein?“, wollte er mit kratziger Stimme wissen, während das Beatmungsgerät bei jedem Atemzug leise piepste. Die junge Frau setzte sich auf und hüstelte, um ihre Beherrschung wiederzuerlangen: „Wie geht es dir?“

Er lachte kurz, was seinen ganzen Körper zum Beben brachte: „Bescheiden, mir tut alles weh. Ich fühl mich schon wie ein alter Mann.“

„Du und alt, du bist gerade einmal neunundzwanzig“, versuchte sie halbherzig zu scherzen. Sein Blick wurde traurig und er suchte ihre Hand: „Und du? Du siehst mit fünfundzwanzig aus wie Mitte dreißig.“

„Als ob, so alt bin ich auch nicht“, protestierte sie leise. Die beiden schwiegen für einen Moment, jeder in seinen eigenen Gedanken vertieft.

„Ich würde gerne nochmal nach Hause“, sagte er plötzlich und in ihre Augen kehrte das Leben zurück.

„Soll ich dich hinfahren?“, fragte sie hoffnungsvoll darüber, ihm endlich helfen zu können.

„Das wird wohl nichts, aber ich habe da noch ein paar Comichefte, Spielkarten, Figuren und so etwas“, meinte er beinahe schon entschuldigend.

„Ich bring sie dir, Bruderherz“, meinte sie fröhlich und sprang auf. Eilig lief die junge Frau aus dem Raum, während ihr Bruder milde lächelte. Er war froh nicht länger die Qualen in ihren Augen sehen zu müssen.

Kapitel 1 "Stücke seiner Kindheit"

Alles um mich herum war in eisiges Schweigen gehüllt. Kein Vögelchen wollte Zwitschern und kein Laubblatt wagte es sich zu rascheln. Ungewöhnlich für mein altes Dorf. Darauf bedacht keinen Laut von mir zugeben, tauchte ich in den Schatten der alten Scheunen. Es mussten nicht mehr Leute als nötigt wissen, dass ich wieder hier war. Mit wachsamen Augen sah ich mich um, das untere Fenster war schon eingeschlagen und das Dach an einigen Stellen eingebrochen, aber die alte, schwarze Tür stand solide in ihrer Verankerung. Der Anblick erfüllte mich ein wenig mit Wehmut, schnell schluckte ich die aufkeimenden Gefühle herunter, dafür hatte ich jetzt keine Zeit.

Ein schneller Blick nach links und rechts, keiner zu sehen. Mit festen Schritt ging ich hinüber zum Fenster. Ein kräftiger Tritt und die Überreste der eingeschlagenen Scheibe flogen ins Haus hinein. Behände schwang ich mich ins Zimmer, froh über meine festen Motorradstiefel. Mein Blick ging zur Wand und ich fand die alten Traktorenposter meines Vaters. Kurz erlaubte ich mir mich umzusehen, ein Fehler. Mein Hals schnürte sich zusammen, als ich das unberührte Zimmer betrachtete. Mit einem Kopfschütteln versuchte ich die Gedanken zu verscheuchen, denn ich hatte einen Auftrag und wollte keine gratis Kindheitstour. Meine Füße trugen mich wie von selbst in die obere Etage, erst vor seinem Zimmer hielt ich mit klopfenden Herzen an. Hier sollte es sein.

Meine Finger wurden eiskalt, als sie sich um die Klinke schlossen und verkrampften. Genervt schnalzte ich und zwang mich die Tür zu öffnen und hindurch zu gehen. All diese Bilder, Worte und Gedanken hielten mich zurück, fast so als wollten sie mich zwingen zu verweilen.

Ein schneller Blick in das volle Regal verriet mir, wo ich die gesuchten Sachen fand. Mit drei Schritten durchquerte ich den Raum und stand vor einer Ansammlung aus bunten Sammelkarten und kleinen Figuren. Mein Bruder hatte die Sachen geliebt, ein trauriges Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Eilig ließ ich drei Karten und eine kleine, gelb-braune Figur in der Brusttasche meines Anzugs verschwinden. Ich stieß einen leisen, erleichterten Seufzer aus, als ich den Reißverschluss wieder hochzog. In mir kehrte tiefe Ruhe ein, die Aufgabe war erledigt und ich konnte hier weg.

Selbstsicher drehte ich mich um und erstarrte. Die Tür war zu, obwohl ich sie offen gelassen hatte. Ich war nicht allein hier. Mein Puls fing an zu rasen und meine Kopfhaut begann zu kribbeln, aber ich blieb ruhig. Darauf bedacht keinen Lärm zu verursachen, schlich ich zurück zur Tür. Für eine Weile stand ich bewegungslos hinter dieser und lauschte. Doch ich konnte nichts hören. Innerliche schallte ich mich einen Dummkopf, wie hatte ich mich auch nur für einen Moment von alten Erinnerungen ablenken lassen können. Allerdings half mir diese Erkenntnis auch nicht weiter.

Ich griff nach der alten, verbeulten Thermoskanne und atmete tief ein. Langsam hob ich meinen Arm, als würde ich jeden Moment damit zuschlagen wollen. Meine Sinne waren zum Zerreißen gespannt, als ich die Tür mit einem Ruck aufstieß. In einer fließenden Bewegung sprang ich nach vorn in die tiefe Dunkelheit.

 

Für einen Moment rührte sich nichts und die Schwärze lag still vor mir. Vorsichtig ging ich noch einen Schritt vor. Im selben Moment krachte die Tür laut hinter mir ins Schloss. Erschrocken wirbelte ich herum, aber ich konnte nichts außer pechschwarze Dunkelheit wahrnehmen. Ungewollte entfuhr mir ein gereiztes Knurren und ich ließ die Kanne in meiner Hand sinken.

Ein amüsiertes Schnauben ertönte, als ein heftiger Ruck durch den Boden ging, der mich fast von den Beinen geholt hätte. Nur meinem schnellen Abrollen war es zu verdanken, dass mein Gesicht keine nähere Bekanntschaft mit dem Dielen machte. Doch kaum hatte ich mich gefangen und stand wieder fest auf beiden Beinen, blendete mich grelles Licht. Die Helligkeit brannte wie Feuer in meinen Augen. Hastig riss ich meine Hände vors Gesicht und versuchte mich an meine Umgebung zu gewöhnen.

 

Vorsichtig blinzelte ich zwischen meinen Fingern hindurch. Perplex rieb ich mir die Augen, denn mein Gehirn weigerte sich das Gesehene zu verarbeiten. Vor mir erstreckte sich nicht mehr der verfallene Hausflur, sondern eine weite Ebene. In der nichts außer vereinzelte, tote Bäume zu finden waren. Der Wind wirbelte den Staub des ausgedorrten Bodens auf, während die Hitze die mich umgab mir die Luft zum Atmen nahm. Obwohl ich schon längst wusste, dass es sinnlos war drehte ich mich um, mit dem Gedanke die Tür zu entdecken. Natürlich war dem nicht so, resignierte seufzte ich laut auf. Rein logisch war es gar nicht möglich, dass so etwas passieren konnte. Offensichtlich ging es aber doch und ich hatte mich damit abzufinden, zumindest vorerst denn meine oberste Priorität bestand darin, zurück zu meinem Bruder zu kommen und ihm die Sachen zu geben.

Grimmig stampfte ich los, vielleicht würde ich so auf jemanden treffen, der mir erklären konnte, was das hier alles sollte. Hin und wieder kam ich an kleineren Felsen vorbei, mehr veränderte sich allerdings nicht. Hinter mir wurden meine Fußspuren vom Wind davon getragen, fast so als hätte es mich nie gegeben. Irgendwann hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren und vermochte nicht mehr zu sagen wie lange ich schon in dieser trostlosen Gegend herumirrte. Die Augen brannten wie Feuer von dem ganzen Staub und meinen Mund war völlig ausgedorrt.

Kurz hinter einem weiteren kleinen Fels gaben meine Knie einfach nach. Der Aufprall auf dem knochenharten Boden schmerzte, aber ich gab mir selbst keine Zeit unter der prallen Sonne zu verharren. Mühsam kroch ich weiter, als vor meinen Augen ein riesiges Tor, aus schwarzem Obsidian auftauchte. In dem Torbogen waren allerlei Runen und Schriftzeichen eingezeichnete. Mit letzter Kraft zwang ich mich zurück auf die Beine und wankte zum Tor. Dort klopfte ich kraftlos an, aber mein Klopfen war nicht mehr als ein Windhauch. Meine Lider fielen wie von selbst zu und ich spürte nur noch wie es abwärts ging. Dumpf nahm ich meine Kollision mit dem harten Boden wahr. Ich zwang mich wieder meine Augen zu öffnen, um nicht einzuschlafen, denn sollte ich jetzt einschlafen würde ich womöglich nie wieder erwachen. Träge nahm ich das offenstehende Tor war.

„Willkommen, Willkommen meine Braut“, gurrte jemand über mir, „seit nun mehr als hundert Jahre beehrte mich keine Frau mehr“, einer seiner langen Finger legte sich unter mein Kinn, „Was treibt dich hierher, meine Schöne?“

Verschwommen konnte ich das Gesicht eines Mannes wahrnehmen. Doch selbst in meinem jetzigen Zustand, weigerte ich mich kleinbeizugeben und krächzte heißer: „Als ob ich deine Braut wäre.“

Sein Griff veränderte sich, als er mich mit einem Ruck gegen den steinernen Torbalken presste. Ich stöhnte schmerzerfüllt auf, was ihm einen wohligen Seufzer entlockte.

„Du bist so schön und bald bist du mein, mein ganz allein“, hörte ich ihn dicht bei meinem Ohr sagen. Er war mir viel zu nah. Angestrengt starrte ich ihn an: „Ich werde nie dein sein.“

„Ja, das kannst du so oft vor dich hin brabbeln wie du möchtest, aber am Ende wirst du doch meine Braut sein“, sein Finger glitt währenddessen hauchzart über meine Wange. Ungewollt stellten sich die kleinen Härchen in meinem Nacken auf, was mir zorniges Knurren abrang. Für einen Moment kehrten meine Kräfte zurück und ich schaffte es seine Hand wegzuschlagen. Stille. Meine Augen fielen träge zu und weigerten sich wieder aufzugehen.

„So so, du wiedersetzt dich mir. Lass uns sehen, für wie lange du so stur bleiben kannst“, hörte ich ihn selbstsicher mit unterdrückter Wut in der Stimme sagen, dann war ich wieder allein. Kraftlos sackte ich auf dem harten Boden zusammen. Ich schaffte es nicht mehr mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen, während sich die Müdigkeit wie ein schwerer Mantel auf meine Schultern legte. Erschöpft gab ich ihr nach und ließ mich tief in die Dunkelheit hinabziehen.

 

Fröstelnd erwachte ich in einer dunklen Grotte. Mein Kopf fühlte sich an, als würde er gleich zerspringen, während ich mich vorsichtig aufsetzte. Mir entfuhr ein genervtes Schnauben, weil ich kaum etwas erkennen konnte. Alles was ich sah, waren ein paar grob umrissene Wände aus groben Stein. Behände tastete ich mich über den kühlen Boden, um die Wände zu berühren. Die Steine waren rau und trocken, das verriet mir, dass ich noch in derselben Gegend sein musste. Allerdings hatte sich die Nacht über das Land gelegt und damit alles verändert. Dennoch beruhigte mich die Erkenntnis, ich musste mich nicht schon wieder mit neuen Gegebenheit abfinden.

Ich wollte gerade aufstehen, als mich etwas zurückhielt. Genervt zerrte ich an meinem Bein, und glitt mit meinen Händen zu meinem Fuß. Meine Finger fanden ein derbes Seil, das meinen Knöcheln umschlang. Mit einem wütenden Zischen nestelte ich an dem Seil, ohne es auch nur ein Stück zu lösen. Mir kam der seltsame Mann vor dem Tor in den Sinn. Sollte er für all das hier verantwortlich sein? Wenn ja, dann sollte er sich warm anziehen. Was glaubte er denn für Rechte zu haben? Erst erklärt er mich zu seiner Braut und dann kettete er mich in einer Höhle an? Zornig schüttelte ich den Kopf. Ganz gleich wer hier für verantwortlich war, er würde es noch bitter bereuen.

Da ich vorerst nichts unternehmen konnte, ließ ich mich am Boden der Wand nieder und schloss meine Augen. Ich würde fürs Erste stillhalten, um meine Kräfte zu schonen. Vielleicht würde ich so auch herausbekommen, wo genau ich mich befand und was man mit mir geplant hatte.

 

Nach scheinbar endloser Stille ertönten Schritte auf der anderen Seite des Flurs. Ein Schlüssel wurde im Schloss gedreht und die Tür ging knarrend auf. Mit ihr fiel gedämpftes Licht in den Raum. Doch ich hatte keine Zeit meine Umgebung richtig in Augenschein zu nehmen, denn im Lichtschein zeichnete sich eine große Gestalt ab. Aus einem Reflex heraus ballte ich meine Hände zu Fäusten, bereit jeder Zeit zuzuschlagen.

„Das ist der Dank, dich nicht elendig im Staub verrecken zu lassen?“, meinte die Gestalt in der Tür. Kurz fragte ich mich, ob es derselbe Mann war, aber ich meinte mich zu erinnern, dass die Stimme vorher anders klang.

„Ich hab dich nie darum gebeten“, gab ich trocken zurück, während ich ihn finster anfunkelte. Meine Augen hatten sich endlich an das Licht gewöhnt und gewährten mir eine grobe Einschätzung von meinem Gegenüber. Vor mir stand ein breitschultriger Mann mit ungewöhnlicher Kleidung. Sie erinnerte mich entfernt an eine alte, lederne Kampfmontur. Armschoner, Beinschoner, ein fester Brustharnisch. Schnell suchte ich ihn nach Waffen ab, aber ich konnte keine entdecken. Wobei es auch gut möglich wäre, dass er einen Dolch im Schuh oder ähnliche versteckte Klingen mit sich trug. Ich mahnte mich selbst auf der Hut zu sein, obgleich ich nicht viele Möglichkeiten mit dem Seil am Bein hatte.

Der Mann kam mit einem amüsierten Schnauben näher. Ruhig ging er vor mir in die Hocke und zog einen Dolch aus dem Schaft seines Stiefels. Die kleine, silberne Klinge glänzte im Licht.

„Du hast Recht. Ich kann es auch gleich wieder ungeschehen machen, wenn du so darauf bestehst“, meinte er mit einem unheimlichen Funkeln in seinen Augen. In einer einzigen, fließenden Bewegung setzte er mir den kalten Stahl an meinen Hals. Mein Herzschlag setzte kurz aus, nur um danach doppelt so schnell zu schlagen. Ich spürte das Adrenalin in meinem Körper, fühlte die Schweißtropfen von meiner Stirn perlen und spannte all meine Muskeln an. Dennoch zwang ich mich ihm kalt in die Augen zu starren: „Was hättest du davon mich jetzt zu töten, wo du mich doch gerade erst gerettet hast?“

Ein amüsierte Grinsen stahl sich auf seine Lippen: „Nicht viel, außerdem wirst du hier früher oder später ohnehin verrecken, da muss ich gar nichts dazu tun“, er senkte seine Klinge wieder. Ich blieb allerdings noch immer angespannt: „Wie meinst du das?“

Er legte seinen Kopf schief und sah nach oben: „Simpel formuliert, dein Körper wird sich irgendwann in den nächsten Tagen vollständig zersetzen.“

„Das ist doch vollkommener Blödsinn“, gab ich trocken zurück.

„Wenn du es sagst, aber hast du dich schon mal nach deiner Ankunft hier gefragt, wo genau du gelandet bist?“, wollte er mit einem abschätzigen Blick wissen. Ich stockte kurz. Was wenn er recht haben sollte? Doch daran durfte ich jetzt nicht denken, sonst würde er gewinnen.

„Ich schätze in irgendeiner Wüste“, war meine ruhige Antwort. Ich holte tief Luft und versuchte meine innere Ruhe wiederzufinden. In so einer Situation war es wichtig die Dinge klar zu sehen, anstatt sich von seinen Gefühlen beherrschen zu lassen. Ganz tief in mir war ich froh über meine jahrelange Nahkampfausbildung, doch selbst diesen Gedanken schob ich eilig beiseite und konzentrierte mich auf mein Gegenüber.

„Das trifft es nicht ganz, strenggenommen bist du hier in der Unterwelt, der Hölle oder welchen Namen die Menschen diesem Ort hier noch gegeben haben. Da du allerdings nicht tot bist, stößt dieser Ort dich ab. Die Luft hier ist praktisch wie Gift für deinen Körper“, klärte er mich ruhig auf. Zweifelnd zog ich meine Augenbrauen in die Höhe: „Ich bin in der Hölle, aber nicht tot?“

„Ja, du musst mit irgendetwas das Interesse von Luzifer geweckt haben“, meinte er sichtlich gelangweilt. Ich musste mir ein Lachen verkneifen: „Luzifer? Du meinst den Teufel persönlich? Nur einmal angenommen es gäbe ihn, wie sollte ich sein Interesse geweckt haben?“

Der Mann seufzte und setzte sich vor mich auf den kühlen Stein: „Luzifer ist der Herrscher über dieses Land und du hast ihn, so viel hat mir dein Gesicht verraten, schon einmal getroffen. Es gibt verschiedene Gründe, warum er dich auserwählt haben könnte. Vielleicht gefällt ihm dein Aussehen oder du hast ein ganz bestimmtes Ziel, für dessen Erreichen du alles tun würdest, aber ganz bestimmt nicht wegen deiner Unschuld. Ihm wäre es nicht einmal gestattet jemanden Reines und Unschuldiges hierher einzuladen.“

Ich versuchte das eben Gehörte zu verarbeiten und ihn halbwegs ernst zu nehmen, aber es ging nicht. Mir entfuhr ein belustigtes Schnauben: „Was soll dir mein Gesicht verraten haben?“

In seinen Augen blitzte für einen Moment Zorn auf: „Das er dich am Kinn und der rechten Wange berührt hat, weil deine Haut rund um die Stelle verfault.“

„Das ist absolut lächerlich“, gab ich selbstsicher zurück, fasste mir aber an mein Kinn. Meine Haut fühlte sich runzlig an, sie gab unter der Berührung nach und sonderte Flüssigkeit ab. Ich erstarrte. Mit zittrigen Finger hob ich meine Fingerkuppe an meine Nase. Der Gestank war abscheulich. Würgend musste ich mich wegdrehen: „Was ist das?“

„Das ist der faulende Beweis für meine Glaubhaftigkeit“, gab er amüsiert zurück.

„Du willst mich doch veräppeln oder?! Ich kann weder in der Hölle sein, noch kann mein Hals einfach so verfaulen!“, in mir stieg Angst auf, die ich ihm zornig entgegen schrie.

„Wir wollen doch nicht gleich ausfällig werden. Für jedes Problem gibt es eine Lösung“, meinte er gelassen.

„Ach ja! Und wie soll die aussehen?“, knurrte ich, während mir siedend heiße Tränen in die Augen stiegen. Ich hasste es Schwäche zu zeigen. Es gab nichts was ich mehr hasste, aber ich konnte nicht anders, denn ich hatte zu gelassen, dass die Angst mich überwältigte.

„Ich schlage dir einen Deal vor“, fing er betont langsam an, „Du erledigst ein paar Aufträge für mich und ich helfe dir im Gegenzug am Leben zu bleiben.“

„Was für Aufträge?“, fragte ich mit dem letzten bisschen Verstand, der mir noch geblieben war.

„Kannst du dir wirklich den Luxus leisten, danach zu urteilen?“, erwiderte er meine Frage. Ich sah wie ihn meine Angst ergötzte, normalerweise hätte ich ihn angefahren, aber in dieser Situation blieb mir nichts anderes übrig, als ihn finster anzustarren und einzuwilligen.

„Gut, so sei es“, knurrte ich, wütend über meine eigene Hilflosigkeit. Seine Augen leuchteten auf: „Eine weise Entscheidung.“

Mit einem geübten Handgriff förderte er eine kleine Glasampulle aus seiner Tasche zutage, dann schnippte er mit seinem Daumen den Deckel ab, der am Boden zerschellte.

„Hier trink das“, wies er mich an und hielt mir die Ampulle mit einer dickflüssigen, dunklen Flüssigkeit hin. Misstrauisch nahm ich sie entgegen: „Was ist das?“

„Dein Heilmittel. Trink es oder stirb, deine Entscheidung“, gab er Schultern zuckend von sich und erhob sich. Unsicher was ich tun sollte, roch ich an der Ampulle. Mir drehte sich fast der Magen um, so stechend und bitter roch sie. Dennoch würde ich es trinken müssen, um hier zu überleben und zurück zu meinem Bruder zu kommen. Langsam hob ich es unter dem aufmerksamen Blick des Mannes an meine Lippen, als mir eine Frage in den Sinn kam: „Wenn ich nicht tot bin, was bist du dann?“

Er schwieg einen Moment und ich trank die brennende Flüssigkeit.

„Ich bin ein Dämon, der mal genau wie du begonnen hat“, in mir breitete sich ein glühend heißer Schmerz aus, „Anders als du bin ich freiwillig hierhergekommen“, hörte ich ihn in weiter Ferne sagen.

„Wer bist du?“, krächzte ich, während der Schmerz meinen Körper zerfraß. Er verharrte kurz im Türrahmen: „Ich bin Ragnar, Luzifers rechte Hand.“

Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss und ließ mich allein in der Dunkelheit zurück. Der Schmerz übermannte mich, während meine Muskeln unkontrolliert zuckten. Ich begann lauthals zu schreien in der Hoffnung, es würde das Brennen lindern. Doch es funktionierte nicht, stattdessen wurden die Qualen immer unerträglich, bis mich irgendwann eine sanfte Dunkelheit erlöste.

Kapitel 2 "Höllensturz"

Regungslos lehnte ich an der rauen Steinwand, denn mein Körper hatte sich noch nicht vollständig von den Torturen der Nacht erholt. Anfangs hatte ich geglaubt, der Schmerz würde nicht lange anhalten. Doch ich sollte mich irren, Stunden später rang ich noch schweißgetränkt mit mir auf dem verdreckten Boden. Irgendwann hatte ich dann angefangen zu beten, dass diese mörderischen Qualen endlich ihr Ende finden würden. Die Ohnmacht hatte mir meinen sehnlichsten Wunsch erfüllt und mich von dem, was auch immer Ragnar mir angetan hatte, erlöst. Die sanfte Dunkelheit hatte mich liebevoll gehalten, bis ich wieder in der kargen Kammer erwachte. Er würde bitter dafür bezahlen! Zwar hatte ich im Endeffekt das Zeug freiwillig getrunken und es hatte mich scheinbar gerettet, allerdings war ich mir sicher, dass es eine angenehmere Lösung gegeben hätte. Mieser Dämon. Vermutlich hatte Ragnar sich auch noch an meinen Schreien ergötzt.

 

Meine Nasenflügel bebten, als ich tief einatmete. Ich zwang mich dazu nicht vollkommen dem Zorn zu erliegen, denn sonst würde ich meinen Fokus verlieren. Sven. Sein Name jagte wie ein Stromschlag durch meinen Körper und ich sah ihn deutlich vor mir. Sein aufgeschwemmtes Gesicht von all den Medikamenten, die klugen, braunen Knopfaugen und all die Schläuche in seinem Körper. Wie oft hatte ich ihn schon so in einem der sterilen, weißen Räume liegen sehen? Ich wusste es nicht mehr, denn er lag nun seit fast einem halben Jahr konstant auf seiner Station, ohne eine Aussicht auf Besserung.

Den Tag, an dem der Oberarzt zu mir herangetreten war, würde ich nie vergessen. Er hatte ein sehr langes und ermüdendes Gespräch mit mir geführt, in dem er versuchte mich an den Gedanken zu gewöhnen, meinen Bruder an seine Krankheit zu verlieren. Ich weiß noch, dass ich damals sehr still geworden bin und mir meine Emotionen nicht anmerken ließ. Ruhig war ich dann noch zu Sven gegangen, um eine Runde Mensch-ärgere-dich-nicht zu spielen. Wir hatten darüber geredet, was er nach seiner Entlassung aus dem Krankhaus machen würde. Sven war voller Hoffnung, er hatte noch so viele Träume und Wünsche, viel mehr als ich sie selber hatte. Später bin ich dann mit meinem Motorrad in meine kleine Wohnung gefahren. Ich hatte kein Licht angemacht und die Tür hinter mir zugezogen, als es aus mir herausbrach. Hemmungslos hatte ich geschrien und geweinte, ich hatte es gehasst, ich hatte alles gehasst mein Leben, das Schicksal, den Himmel, die Erde und am aller meisten Svens Krankheit. Er hatte all das nicht verdient, hätte ich nur mit ihm tauschen können, denn was würde mir bleiben, wenn er nicht mehr war? Ich war allein und das schon sehr lang.

Traurig schlug ich meine Augen auf und starrte ins Leere. Es war nicht immer so. Früher bin ich sorglos mit meinen Freunden durch die Felder getobt, während Sven oft im Krankhaus lag und Infusionen bekam. Ich hatte all das nicht verstanden. Zwar wusste ich, dass er eine große Menge Medikamente und regelmäßige Inhalationen benötigte, um wie ich früher immer dachte, seinen rasselnden Husten zu lindern, aber ich dachte mir nichts weiter dabei. Schließlich spielte Sven immer mit mir, wenn er wieder nach Hause kam, als wäre nichts geschehen. Erst im Lauf der Jahre hatte ich begriffen, was er durchmachte die vielen Therapien und Untersuchungen. Ich hatte schnell damit begonnen ihm die Aufenthalte Zuhause so angenehm wie nur möglich zu gestalten. Wir unternahmen viel miteinander und er begann seine Krankheit ein wenig zu vergessen. Wenn Sven dann im Krankhaus lag, war ich täglich da um ihn in den trostlosen zehn Quadratmetern aufzuheitern.

Am Anfang hatte jeder bewundernd zu mir aufgesehen und mich gefragt, wie ich es schaffte so viel von meiner Freizeit zu opfern, obgleich es für mich vollkommen normal war. Doch mit der Zeit verachteten und verstießen sie mich aus ihrem Umfeld. Meine Freunde hatte irgendwann kein Verständnis mehr dafür, dass ich sie ständig versetzte und auch bei meinen festen Freunden war es immer das Gleiche. Am Ende verschwanden sie einfach aus meinem Leben. Unsere Eltern schwiegen zu all dem, doch selbst sie wichen mir aus, sodass ich am Ende vollkommen allein mit meinem Bruder war. Als das alles begonnen hatte, dachte ich, ich müsste sterben, aber mit der Zeit interessierte es mich nicht mehr. Ich suchte mir im Sport einen Ausgleich zu all dem und ging in meinem Beruf auf, denn ich brauchte all die Heuchler nicht, die vorgegeben hatten meine Freunde zu sein.

Langsam schloss ich meine Augen wieder. Und jetzt? Jetzt wartete Sven darauf, dass ich ihm einen Teil seiner Kindheit zurückbrachte, die damals bei dem überhasteten Umzug verloren ging. Er würde bis in die Nächte aufbleiben, obgleich es seiner ohnehin schon schlechten Verfassung nicht gut täte, und auf meine Rückkehr warten. Schließlich wusste auch Sven, dass ich die der einzige Mensch in der Welt war, der ihn nicht im Stich lassen würde, wie unsere Eltern oder seine Freunde, die ihn alle mieden, weil sie es nicht mehr ertrugen.

Ich konnte sein niedergeschlagenes Gesicht regelrecht vor mir sehen, als sie ihn damals alle im Stich gelassen hatten. Jeder Einzelne von ihnen hatte gesagt, er würde ihn bald wieder besuchen kommen und dann folgten die Ausreden. Es war schrecklich mit anzusehen gewesen wie Sven zerbrach, doch dagegen war ich machtlos gewesen. Alles was mir blieb, war es an seiner Seite zu bleiben und mit ihm durch all das hindurchzugehen.

 

Schnell wischte ich mir eine verirrte Träne weg und schnalzte ungehalten mit der Zunge. Ich durfte mich genauso wenig von Schmerz überwältigen lassen. Um ruhiger zu werden, begann ich damit meine Hände zu Fäusten zu ballen und wieder zu öffnen, während meine Konzentration allein auf meiner Atmung lag.

„Steh auf“, befahl mir eine herrische Stimme, als das Seil mit kaltem Stahl durchtrennt wurde. Ein Augenaufschlag bestätigte mir, was ich bereits wusste: Ragnar thronte über mir wie ein böses Omen.

„Was willst du?“, grollte ich gereizt.

„Das siehst du dann“, antwortete Ragnar trocken, während er mich auf die Beine zerrte. Mit einem gezielten Schlag gegen sein Handgelenk löste ich den festen Griff und funkelte ihn finster an: „Was sehe ich dann?“

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren krallte Ragnar sich wieder in meinen Arm, um mich durch die Tür zu zerren.  Allerdings stemmte ich mich ihm mit aller Kraft entgegen. Ich hatte nicht vor, ihm brav zu folgen.

„Beweg dich“, knurrte Ragnar bedrohlich.

„Ich denke nicht daran“, gab ich stur zurück. Unsere eisigen Blicke trafen sich für einen Moment, dann schleuderte er mich mit einem kräftigen Ruck nach vorn. Ich verlor das Gleichgewicht, strauchelte und krachte zu auf den harten Stein. Ein stechender Schmerz zuckte durch meine Knie, als ich über den Boden schlitterte, doch er ließ mir keine Zeit, um auf die Beine zu kommen. Wie ein Geier, der sich auf Aas stürzte, packte er mit einer Hand mein Genick und zerrte mich aus dem Verließ. Ich versuchte noch ein, zwei Mal mich zu von ihm loszureißen, gab es dann aber auf, um meine Kräfte zu schonen.

Irgendwann nach einer scheinbar endlosen Aneinanderreihung von Stufen und Kurven erreichten wir eine Tür. Mit einem kräftigen Tritt, gefolgt von einem gequälten Ächzen, öffnete er die hölzerne Pforte. Vor unser lag ein kleiner, trostloser Innenhof verlassen in der sengenden Hitze. Ich ließ meinen Blick kurz über die Mauer schweifen. Sie hatte hin und wieder lose Steine, deren Lücken ich ausnutzen könnte, um hierauszukommen. Ein kleines, wissendes Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Ragnar bemerkte meinen Blick nicht und stieß mich unterdessen mit voller Härte zu Boden. Dieses Mal reagierte ich schnell und fing mich flink mit beiden Händen ab.

„Greif mich an“, befahl er, während ich mich zu ihm drehte. Verdutzt starrte ich ihn an: „Warum?“

Nicht das ich ihn nicht gerne geschlagen hätte, aber Ragnar musste einen Grund dazu haben und der interessierte mich mehr, als mein Verlangen ihm die Schmerzen zu bereiten. Seine Antwort bestand lediglich aus einem abfälligen Schnauben, gefolgt einem festen Schlag in meine Gesicht. Die Haut brannte wie Feuer, aber ich hatte keine Zeit zu mich darum zu kümmern, denn sein nächster Tritt ließ nicht lang auf sich warten. Aus purem Reflex blockte ich seinen Angriff ab. Ragnar wollte es also nicht anders und ich hatte nicht vor mich kampflos niedermachen zu lassen.

 

Ragnar schlug eine Weile auf mich ein, denn ich hatte dem nicht wirklich etwas entgegen zu setzen. Hin und wieder bemerkte er zynisch, dass ich zu langsam wäre, was mich umso mehr anstachelte. Mittlerweile waren wir beide schweißgebadet, denn die Sonne kannte hier eben so wenig Erbarmen wie Ragnar selbst. Ich spürte, dass meine Schläge immer ungenauer wurden und glaubte fast nicht mehr daran ihn richtig zu treffen, als sich seine Deckung einen Spalt öffnete. Ohne zu zögern nutzte ich die Gelegenheit und legte all meine Kraft in diesen einen Schlag. Sein Kopf flog durch die Wucht des Treffers nach hinten, aber ich war noch nicht fertig. Im gleichen Moment rammte ich ihm mein Knie so fest ich konnte in seinen Bauch und zwang Ragnar dadurch ein Stück zurückzuweichen. Meine Mundwinkel hoben sich ein wenig, die Treffer gaben mir den nötigen Auftrieb, um weiterzukämpfen. Ich wollte gerade ein paar schnelle Faustschläge hinterhersetzen, als er gelassen meine Fäuste abfing und sie festhielt.

„Du triffst mich. Lass uns weitermachen“, damit ließ er meine Hände fallen.

„Weiter? Womit?“, wollte ich zweifelnd wissen. Er antwortete mir zunächst nicht, sondern zog in einer geschmeidigen Bewegung einen Dolch aus dem Schaft seines Stiefels, dann warf er mir einen kalten Blick zu: „Zwei Stunden. Versuch mich aus dem Hinterhalt anzugreifen.“

Ohne meine Reaktion abzuwarten drückte er mir den kühlen Stahl in die Hand und ging wortlos ins Haus. Etwas ratlos betrachtete ich die kleine, bläulich schimmernde Klinge. Warum sollte er mir einen Dolch geben, um ihn anzugreifen? Stellte ich denn gar keine Gefahr für ihn dar? Was für ein eingebildeter Bastard, der würde noch bekommen, was er verdiente. Zornig knurrte ich und ballte meine Hand zur Faust. Ich war kurz davor Ragnar hinterher zu schleichen, um ihn den Dolch zwischen seine Rippen zu jagen, aber gab es wichtigere Dinge.

 

Ruhig stand ich für eine Weile in der Mitte des Hofes und lauschte. Ragnar war allem Anschein nach im Haus, das war meine Chance. Die kleinen Vorsprünge und Risse sollten mich sicher auf die andere Seite bringen. Mit schnellen Schritten war ich an der hellen Mauer. Ich verzog meine Lippen zu einem kleinen Lächeln. Ragnar war so dumm mich allein im Hof zurückzulassen.

Freudig streckte ich meine linke Hand nach dem ersten Vorsprung aus, gleich würde ich hier weg sein. Meine Finger berührten den siedend heißen Stein. Langsam zog ich meine bebende Hand zurück, während ich versuchte nicht laut zu schreien vor Schmerzen. Auf meiner Handinnenfläche hatten sich schon erste schmerzhaft pochende Brandblasen gebildet. So fest ich konnte presste ich meine Hand zusammen, in der Hoffnung es würde weniger brennen. Ich schalte mich selbst einen Dummkopf, während sich Tränen in meinen Augenwinkeln sammelten. Als ob mich Ragnar mit der Gewissheit, dass ich jeder Zeit fliehen konnte, allein gelassen hätte. Fluchend versuchte ich irrsinnigerweise den Schmerz von meiner Hand abzuschütteln. Ich musste mich wieder konzentrieren. Ruhig atmete ich eine und aus, dann sah ich mich erneut im Innenhof um, aber es gab keine andere Fluchtmöglichkeit.

 

Zähne knirschend drehte ich mich zu dem Gebäude, eine kleine, steinerne Hütte mit zwei Etagen, fünf Fenstern, drei davon offen, einer Tür und einem Balkon. Fünf Wege für mich in das Haus zu gelangen. Was würde Ragnar von mir erwarten? Die Tür? Nein, die würde viel zu laut knarren. Das offene Fenster im Untergeschoss? Sehr wahrscheinlich, es wäre der leichteste Weg. Die drei weitgeöffneten Fenster? Mit dem zweiten Geschoss, würde Ragnar vermutlich nicht rechnen, denn die Wahrscheinlichkeit dort hoch zu gelangen, war sehr gering. Der Balkon? Anhand der Höhe und der geschlossenen Tür glaubte ich nicht daran, dass er daran denken würde.

Ich beschloss zu versuchen, ob ich auf den Balkon gelangen konnte. Doch noch bevor ich das Mauerwerk erneut berührte, kam mir eine Idee. Wenn ich eine der oberen Scheiben einschlagen würde, konnte ich Ragnars Aufmerksamkeit dorthin lenken, um ungesehen durch das untere, offene Fenster ins Gebäude eindringen. Einen passenden Stein in den wenigen, schattigen Stellen zu finden, gestaltete sich als relativ schwierig. Der Stein war entweder zu groß oder viel zu klein, aber ich ließ mich nicht beirren und fand einen, der für meine Zwecke ideal war.

Ich wog ihn kurz in der Hand, bevor ich mit einem Arm zum Wurf ausholte, zielte und die Scheibe in tausend kleine Splitter zerspringen ließ. Mit schnellen Schritten verschwand ich hinter dem gläsernen Regen im Fenster. Von jetzt an müsste ich absolute Vorsicht walten lassen, ein falscher Schritt und ich würde mich verraten. Zunächst schlüpfte ich aus den Stiefeln, denn so praktisch wie sie waren, so laut konnten sie auch sein, dann schlich ich lautlos zum naheliegenden Durchgang.

Ein Blick verriet mir Ragnars Abwesenheit in dem Raum. Vor mir lag die Treppe und zwei weitere Abgänge, einer von ihnen führte zurück in das Verließ und war damit keine Option. Die Treppe war allerdings ein gefährlicher Ort für mich, denn auf ihr war ich zum einen völlig ungeschützt und zum anderen konnte Ragnar jeden Moment nach unten kommen, sollte er oben sein. Kurz sah ich noch einmal zu der anderen Tür. Was wenn er dahinter war? Das Risiko konnte ich nicht eigenen. Schnell huschte ich über den Flur und stellte sicher, dass Ragnar sich nicht im angrenzenden Raum befand.

Gerade als ich mich wieder in den Flur begeben wollte, hörte ich schwere Schritte auf der Treppe. Jetzt galt es. Lautlos stellte ich mich an die Wand und wartete, den Dolch hiebbereit an meiner Seite. Lange Zeit passierte nichts, er musste also wissen, wo ich mich hielt und wartete, wie ich seinerseits, auf einen Fehler meinerseits. Innerlich verfluchte ich mich dafür meine Stiefel stehen gelassen zu haben, denn sie würden ihm verraten, wo ich mich aufhielt.

 

Schritte in meine Richtung. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als mir im letzten Moment ein mannshoher Schrank ins Auge fiel. So schnell wie ich es lautlos vermochte, versteckte ich mich zwischen verschiedenen Kleidungsstücken in ihm. Ich zog die Schranktür zu und keinen Augenblick später trat Ragnar durch die Tür. Stille. Vor lauter Anspannung hielt ich meinen Atem an. Er trat zwei Schritte in den Raum hinein. Ich hatte Angst, dass er mein lautklopfendes Herz in der andauernden Stillen hören konnte, als ein belustigtes Schnauben ertönte, dann entfernten sich Schritte rasch. Es dauerte lange bevor ich mich aus meinem Versteck heraus traute. Mir war beinahe das Herz stehengeblieben.

Vorsichtig schlich ich zur Tür und sah Ragnars Rückpartie. Ich unterdrückte einen Schrei, während ich mich mit hämmerndem Herzen an die Wand presste. Er hatte mich erschreckt, wo ich doch fest davon überzeugt war, dass er weggegangen wäre. Ärgerlich schob ich meinen Schock beiseite und hielt meinen Dolch bereit. Ein prüfender Blick verriet mir, dass Ragnar sich keinen Millimeter gerührt hatte. Er schien an der Treppe darauf zu warten, dass ich ihn von oben angriff. Ich schloss kurz meine Augen, um mich zu sammeln, dann trat ich geräuschlos hinter seinen Rücken und legte ihm in einer blitzschnellen Bewegung den kalten Stahl an seinen Hals.

„Zu langsam“, war meine kühle Antwort auf all seine Beleidigungen im Nahkampf. Das war es. Jetzt hatte ich ihn und er würde büßen. Doch ich hatte nicht mit seiner Schnelligkeit und Stärke gerechnet, wie ein Adler, der sich auf seine Beute stürzte, schnellte seine Hand hoch und umschloss meine. Ich hatte keine Chance meine Hand auch nur einen Millimeter zu bewegen. Frustriert knurrte ich und holte mit der anderen Faust zum Schlag aus. Ragnar begrüßte auch diese mit eisernem Griff, ohne mich eines Blickes zu würdigen.

„Du kannst von dir ablenken, dich verstecken, aber das mit dem Schuh war schlampig“, fasste er meine Arbeit trocken in einem Satz zusammen. Dann zog er meine linke Hand näher zu sich heran und öffnete sie gegen meinen Willen.

„Ein Fluchtversuch. Wie spannend“, kommentierte er die dicken, roten Blasen mit einem Schnauben. Scheinbar unabsichtlich drückte er fest mit dem Finger auf eine von ihnen, was mir ein gequältes Stöhnen abrang. Dieser Bastard, er hatte mich schon wieder in der Hand, schoss es mir durch den Kopf.

„Lass mich los“, zischte ich zornig und zerrte an meinem Arm.

„Du wirst in einer Stunde den ersten Auftrag erledigen. Schnapp dir ein paar Waffen aus dem oberen Zimmer und komm dann in den Hof“, wies er mich ungerührt an.

„Ich denke nicht daran“, grollte ich.

Mit einem Mal wirbelte Ragnar herum und hielt mir mit meiner eigenen Hand den Dolch an die Kehle.

„Wenn du nicht willst, dann mache ich alles wieder ungeschehen“, säuselte er an meinem Ohr. Ich schluckte und spürte wie die Klinge unangenehm in meinen Hals schnitt. Die schmale Wunde schien binnen Sekunden in Flammen zu stehen, doch ich nahm kaum davon Notiz. Ich kämpfte viel mehr um meine Beherrschung, damit ich nicht jeden Augenblick in völlig aufgelöst vor Ragnar zu stehen würde, denn diese Freude wollte ich ihm nicht noch bereiten.

Ohne dass ich mich großartig zu wehren versuchte, wusste ich es bereits, dass ich Ragnar unterliegen würde. Außerdem hatte er mein Wort und daran musste ich mich halten, ob es mir nun gefiel oder nicht.

„Gut, ich bewaffne mich und erwarte den Auftrag“, stieß ich wütend hervor. Augenblicklich ließ er von mir ab und ich marschierte mit den letzten bisschen Würde, das mir noch blieb, die Stufen nach oben.

„Zieh dir praktischere Kleidung an“, rief er mir nach und dann war ich endlich allein.

Kapitel 3 "Ester"

Bei jeder einzelnen Stufe, die ich nahm, stellte ich mir vor es wäre Ragnar höchstpersönlich, dementsprechend laut polterte ich die Treppen in das Obergeschoss hoch. Eines Tages, ob er mein Wort nun hatte oder nicht, würde ich ihm den Dolch zwischen die Rippen jagen. Dieser widerliche Bastard, immer schubste er mich nur herum! Gut ich war seine Gefangene und sollte vermutlich froh darüber sein überhaupt noch zu leben, aber sein Dienstmädchen zu spielen stank mir schlicht weg. Nicht einmal auf Arbeit konnte jemand so mit mir herumspringen. Gut, mittlerweile traute es sich auch keiner mehr, da ich die komplette Firma übernommen hatte, aber ich hatte mir auch davor noch nie etwas sagen lassen und damit wollte ich jetzt auch nicht anfangen.

Gereizt stieß ich die nächstbeste Tür auf und fand mich in einem geräumigen Zimmer voller Waffen und Kleidungsstücke wieder. War das wirklich Ragnars Ernst? Er ließ mich mit mehr Waffen als ich tragen konnte alleine und wartete im Innenhof, wo ich ihn jeder Zeit abschießen oder –werfen konnte? Ich hasste diesen überheblichen Dämon. Wie konnte er nur glauben, dass ich keine Gefahr darstellte?

Mein Blick fiel durch das zerschellte Fenster und wie erwartet stand Ragnar selbstgefällig wie eh und je mit dem Rücken zu mir im Hof. In mir stieg die blanke Wut auf. Für mich gab es nicht viel Dinge, die schlimmer waren, als mich zu unterschätzen. Keine zwei Sekunden später legte ich eine Handvoll Wurfmesser auf den Fenstersims und spannte die Sehne eines Kurzbogens. Ich hatte nicht viel Erfahrung mit Bogenschießen, strenggenommen hatte ich das nur ein-, zweimal mit meinem Bruder bei Mittelalterfesten gemacht. Allerdings dachte ich in diesem Augenblick nicht lange nach und ließ den Pfeil mit der bläulichen Spitze durch die Luft surren. Ohne Zeit verstreichen zu lassen, folgten die kleinen Wurfmesser seinen Weg. Ruhig sah ich zu wie sie ihr Ziel fanden und einem Meter vor ihm an einer Art unsichtbaren Wand abprallten.

Die Waffen fielen klirrend zu Boden. Ragnar war erst etwas verdutzt, dann aber schien er zu verstehen und blickte abschätzig zu mir hoch. Ich wollte nicht begreifen, dass es solch eine Wand tatsächlich geben konnte und warf ihm alles entgegen, was ich in die Finger bekommen konnte. Anfangs ließ er sich das gefallen, bis ich irgendwann mit Schilden, Schwerter und Äxten nach ihm schmiss. Ragnar nahm drei Schritte Anlauf und sprang geschmeidig wie eine Katze auf dem Fenstersims. In Mitten des Sprungs fischte er sich zwei Äxte aus der Luft.

 

„Zieh dich um, anstatt meine Waffen durch die Gegend zu werfen“, wies Ragnar mich kühl an.

„Was ist das für ein Ding, das dich umgibt?“, wollte ich forsch wissen und fixierte ihn. Er sollte mich nicht schon wieder in Bedrängnis bringen können.

„Kümmre dich um deinen Kram oder ich geh dir zur Hand“, drohte Ragnar mir grimmiger Miene. Ich hätte auf ihn hören sollen, aber ich weigerte mich schon wieder kleinbeigeben zu müssen: „Was ist das für eine Barriere?“

Sein gereiztes Knurren ertönte, als ich förmlich von einer unsichtbaren Wand getroffen wurde und durch die Luft flog. Ich versuchte mich wieder aufzurappeln, doch es ging nicht. Irgendetwas drückte mich mit eiserner Gewalt zu Boden.

„Das ist eine Aura. Ich hoffe, dass du jetzt weißt, wo du hingehörst“, höhnte Ragnar, ohne sich auch nur einen Millimeter bewegt zu haben. Langsam erhob er sich und trat an die Kiste mit Kleidungsstücken, von denen er hin und wieder welche in meine Richtung streckte, dann aber wieder kopfschüttelnd beiseitelegte. Mir blieb nichts anders übrig als ihn finster anzustarren, denn ich bewegen konnte ich mich dank ihm nicht mehr. Nach einer Weile hatte Ragnar scheinbar das Passende gefunden und schlenderte mit einem teuflischen Lächeln zu mir herüber: „Das ziehst jetzt entweder du dir an oder ich dir.“

Von einem Moment auf den nächsten verschwand der Druck auf meinem Körper und ich konnte mich wieder bewegen. Zornig riss ich ihm die paar Fetzen, die er unter praktischere Kleidung verstand, aus der Hand.

„Wag es dir mich anzufassen!“, zischte ich wütend. Seine Hand schloss sich wie ein stählerner Käfig um mein Handgelenk: „Wer sollte mich davon abhalten?“

„Ich“, gab ich kalt zurück und versuchte vergeblich seine Hand wegzuschlagen.

„Lächerlich, du schaffst es nicht mal dich aus dem einfachsten Griff zu befreien“, kommentierte Ragnar mein Verhalten. Er zog mich mit einem kräftigen Ruck an sich und sah mich reglos an. Für einen Moment zuckte ich erschrocken zusammen, dann trat ich ihm kräftig auf den Fuß. Zischend holte Ragnar Luft und blickte mich finster an: „Glaubst das beeindruckt mich?“

„Elender Steinklotz“, fauchte ich zornig und schenkte ihm einen Blick in seine verhassten Augen, „Lass mich los und ich zieh den ach so praktischen Müll an!“

Verdammter Mist, ich musste stärker werden, dann würde ich ihm seine Überheblichkeit zurückzahlen und erhobenen Hauptes aus der Hölle herausspazieren. Ragnar stieß mich erwartungsgemäß zu Boden, blieb dann aber mit brennendem Blick regungslos im Raum stehen. Mühsam rappelte ich mich wieder auf: „Was willst du noch hier?“

„Zieh dich um, ich wähl deine Waffen aus“, stellte er klar und wand sich von mir ab. Widerwillig zog ich mich in eine andere Ecke der Kammer zurück. Mir stank es, dass Ragnar nicht aus dem Raum gehen wollte, aber ich sollte nicht zu viel erwarten, nachdem ich mich so angestellt hatte. Zähne knirschend drehte ich mich weg und stieg aus meinem Motoradanzug, bis ich am Ende nur noch in Unterwäsche da stand. Eilig, in der Hoffnung Ragnar würde mich nicht mit seinen Blicken durchbohren, streifte ich mir die Sachen über. Sie bedeckten meinen Körper nur spärlich und ich fragte mich, was daran praktisch sein sollte. Tiefes Dekolleté, bauchfrei und eine knappe Shorts, dazu noch zwei Netzstrümpfe und wadenhohe Stiefel, natürlich alles in schwarz gehalten.

„Ihr steht hier unten auf düster und schlampig“, meinte ich abschätzig, als ich mich Ragnar wieder zu wand. Statt einer Antwort warf er mir nur einen langen Mantel mit Kapuze zu. Genervt schnalzte ich und zog mir das Ding über. Was sollte ich denn noch alles anziehen? Wortlos drückte Ragnar mir eine paar Dolche mit den entsprechenden Scheiden in die Hand. Sie waren an Gürteln befestigt, mit denen ich sie an meinem Körper befestigen konnte. Ragnar gab mir zu meinem Erstaunen ein schlankes, federleichtes Schwert mit, ob er wusste, dass ich nicht mit Waffen kämpfen konnte? Dennoch beherrschte ich mich, ihn nicht wieder anzufahren.

„Bist du fertig?“, wollte er abweisend wissen und ging zur Tür.

„Ja, wofür auch immer“, grollte ich mit misstrauischem Blick. Was hatte er vor? Was würde diese ominöse Aufgabe sein? Wie erwartete, reagierte der miesgelaunte Dämon nicht und ging ohne auf mich zu warten los. Widersterbt folgte ich ihm wie ein treuer Dalmatiner seinem Herrchen. Gott, wie ich ihn hasste!

 

Unser Weg dauerte einige Zeit, Zeit in der ich darüber nachdenken konnte, wo mein Durst- und Hungergefühl abgeblieben waren. Ich musste genau so wenig auf Toilette. Nicht das es mich sonderlich störte, aber merkwürdig war es schon. Ob es daran lag, dass ich eine Sterbliche in der Hölle war? Ich hätte Ragnar danach gefragt, wenn er mir nicht allein mit seiner überheblichen Art hätte zeigen wollen, dass ich ein Nichts war. Meine Gedanken schweiften ab zu Luzifer. Er war der Typ, der mich zu seiner Braut erklärt hatte und der Herrscher über die Hölle, dem ich widersprochen hatte.

Ich fragte mich gerade, wie dumm es gewesen sein musste, ihm zu widersprechen, wenn ich hier jemals wieder rauskommen wollte, als Ragnar plötzlich stoppte. Ungebremst rannte ich in ihn hinein und war froh mich nicht an den Äxten zu stoßen. Für einen Augenblick hielt ich inne. Seit wann war ich so wehleidig geworden? Zornig über mich selbst, schüttelte ich meinen Kopf. Ich hatte keine Zeit für so etwas.

„Wir sind da. Dort drin ist ein Mann, ein Dämon, und den tötest du“, erklärte er mir ruhig.

„Ich soll was?!“, stieß ich fassungslos aus. Der Gedanke jemanden das Leben zu nehmen erfüllte mich mit Grauen. Ich dachte an Sven und daran dass sein Leben am seidenen Faden hing. Wie also sollte ich jemandes Leben einfach so beenden?

„Entweder das oder du bist es, die stirbt“, gab er kalt zurück. Meine Augen weiteten sich vor Schock. Das konnte unmöglich sein Ernst sein. Doch sein stahlharter Blick ließ keine Zweifel. Ich schluckte: „Du meinst das Ernst.“

Ragnar zuckte nicht einmal mit der Wimper, als er es ruhig zu gab: „Sehe ich aus, als würde ich scherzen?“

Mir wurde eiskalt und ich spürte Furcht in mir aufkommen. Kurz dachte ich daran wegzulaufen, aber ich wusste, er würde mich schon nach wenigen Schritten zu Fall bringen. Ich war eine tote Frau, sollte ich ihm nicht gehorchen. Sollte ich es allerdings tun, würde ich ein Stück meiner Seele verlieren, dem war ich mir mehr als bewusst. Sven würde mir nie wieder in die Augen sehen können, auch wenn ich das hier für ihn tat. Mit einer Hand tastete ich nach der kleinen Figur, die ich aus dem Haus geholt hatte. Sie beruhigte mich etwas, wie sie so sicher in der Hosentaschen ruhte. Konnte ich es tun? Konnte ich jemanden kaltblütig ermorden, ohne einen bestimmten Grund?

„Schleich dich an und erspar mir die Mühe eingreifen zu müssen“, wies Ragnar mich an. Ich wollte gerade etwas einwenden, als er ruhig weitersprach: „Du willst doch zu deinem Bruder zurück oder nicht? Wäre doch zu schade, wenn ihm etwas passieren würde.“

„Wag es dir und du wirst es bitter bereuen“, knurrte ich, während ich mich von ihm abwand. In einer schnellen Bewegung zückte ich einen Dolch und schlich auf leisen Sohlen an ihm vorbei. Ich hasste es, das zu tun, aber mir blieb keine andere Wahl. Geräuschlos näherte ich mich der verfallenen Hütte, während tief in mir purer, urtümlicher Hass zu keimen begann. Ich verstand, warum Dämonen in alten Überlieferungen und Geschichten nie gute Wesen waren, sie waren grausam, skrupellos und hatten keinerlei Gewissen. Abartige Monster.

Mit einem schlechten Gefühl stieg ich durch ein eingeschlagenes Fenster in den scheinbar leeren Raum. Es dauerte eine Weile bis ich ein wimmerndes Geräusch aus dem Nebenraum vernahm. Wimmern? Ich flehte innerlich, dass es sich um kein Kind handeln würde, während ich mich anschlich. Schnell verschaffte ich mir einen Überblick, der mir die Luft zum Atmen nahm, denn in Mitten des Raumes kniete ein kleiner, weinender Junge. Ragnars Worte hallten in meinem Kopf nach: Entweder der Dämon oder ich. Aber konnte ein unschuldiges Kind ein Dämon sein? Seine Gesichtszüge, die dunkeln Knopfaugen, die langen, schlanken Hände, alles an ihm erinnerte mich an meinen Bruder vor zwanzig Jahren. Ich begann am ganzen Leib zu zittern und schlug mir die Hand vor den Mund: „Sven.“

Der kleine Junge stand schluchzend auf: „Schwesterherz.“

Mir war, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen werden. Kraftlos ließ ich mich auf die Knie fallen: „Was machst du hier?“

Ich breitete leicht meine  Arme aus, als er auf mich zu gerannt kam. Mit einem Klirren fiel die bläuliche Klinge auf den steinernen Boden. Unfähig ihn zu töten oder auch nur zu schlagen, schloss ich den kleinen Jungen in meine schützenden Arme. Ich spürte, wie sich eine kleine Träne von meinen Wimpern löste. Es war ein Fehler, das wusste ich, aber ich konnte nicht anders, nicht gegen das Abbild meines eigenen Bruders.

Damals, als er so jung war wie der kleine Junge vor mir, hatte er mich oft mit in die Wälder genommen. Im Winter war es immer am schönsten gewesen. Wir sind so oft es seine Gesundheit zu ließ rodeln gewesen. Es war ein unglaublich befreiendes Gefühl den Berg herunter zu sausen. Er hatte immer herzhaft gelacht, während ich nur kreischte, was war ich doch für ein Angsthase.

Mit dem Wissen versagt zu haben, schloss ich meine Augen, um die Strafe zu erwarten. Vor meinem geistigen Auge sah ich Sven, wie er mich in den dicken Wintersachen mit roter Nase anlachte. Was waren wir doch frei gewesen. Ich sandte ein letztes Stoßgebet gen Himmel, der so unendlich weit weg zu sein schien. Bitte lass Sven nicht sterben, lass ihn leben. Lass ich leben und in Frieden alt werden.

Ein greller Schmerz durchzuckte mein Rückgrat. Ich schrie laut auf und riss die Augen auf. Ragnars Strafe, schoss es mir durch den Kopf. Doch ich sollte mich irren, denn vor mir saß nicht mehr das Abbild meines  Bruders. Vor mir war ein widernatürliches Wesen, das seine Klauen tief in meinen Rücken bohrte.

 

„Dummes Weib, ich hätte dich am Tor verrecken lassen sollen“, knurrte Ragnar zornig und trieb die Axt in den Schädel des Wesens. Dieses gab daraufhin einen ohrenbetäubenden metallischen Schrei von sich. Ich stimmte in sein Geschrei mit ein, als es seine Klauen mit einem schmatzend Geräusch aus meinem Körper löste. Meine Sicht verschwamm, aber ich erkannte vage, wie Ragnar das Monstrum mir Wurfmesser und Dolchen spickte, bis es reglos vor ihm am Boden lag.

„Steh auf“, forderte er mich drohend auf, als sich alles um mich herum verzerrte. Mir wurde übel, heiß und kalt. Ich fühlte mich grauenvoll und wollte nur noch schreien, doch meine Stimme versagte. Schritte kamen näher, ich wollte wegkriechen, aber meine Glieder begannen unkontrolliert zu zucken. Zwei heftig streitende Stimmen. Irgendwas von einer Braut, die jemand umbringen oder wegnehmen wollte. Ich verstand kaum etwas, denn das Rauschen meines Blutes wurde immer lauter. Zwei kräftige Arme griffen unter meine schlaffen Schultern und zerrten mich fort. Die Hitze verschwand mit meiner Übelkeit, als endlich Ruhe in mir einkehrte. Ich spürte einen Knauf in meiner Hand, die von einer weiteren Hand gehalten wurde, und dann vernahm ich die Worte.

 

„Ich kam vom Paradies, gefallen durch meine Sünden. Ich baute mir ein neues Reich, um in ewiger Verbannung zu leben. Sie kam aus freiem Willen, geleitet von ihrem Verderben. Sie fiel durch eines Fremden Hand, so wie auch ich einst. So soll sie meine Braut, mein ewiger Begleiter in der Einsamkeit werden, ohne Hoffnung je Frieden zu finden. Mein aufsässiges Kind, welches du meine Braut töten wolltest, gib ihr zurück was du gestohlen.“

Die Dunkelheit um mich herum erstrahlte mit einem Schlag in einem kalten, blauen Licht. Ich spürte Energie und Macht durch meine Adern fließen, mir war beinahe als konnte ich fühlen wie sich meine Wunden schlossen. Nur meine Augen ließen mich in der Dunkelheit zurück.

„Erhebe dich meine Einzige, von nun an wirst du bis in alle Ewigkeit Ester sein. Ester, die Braut Satans“, gurrte eine sinnliche Stimme. Mein Körper gehorchte und gegen meinen Willen erhob ich mich langsam. Ein Paar weicher, drängender Lippen, trafen auf die meinen. Ich wollte nichts fühlen, aber wie eben reagierte mein Körper von selbst. Willig gab ich mich ihm hin und spürte tief in mir ein brennendes Verlangen nach ihm. Mein Blut kochte, während sich meine Finger fieberhaft in seinem dichten Haar vergruben. Die Hände meines Gegenübers wanderten langsam aber bestimmt mein bloßes Rückgrat herunter, was mir ein leises, genussvolles Stöhnen entlockte. All meine Gedanken lösten sich mit einem Schlag in purer Lust auf und ich war nur noch Gefühl. Begierig presst ich mich gegen ihn, was den Mann mutwillig zurückweichen ließ, bis er gegen eine raue Wand stieß. Er ließ seine Hände immer tiefer gleiten und kniff mir in den Hintern. Erschrocken schnappte ich nach Luft, bevor sich unsere Lippen wiederfanden. Ihm entfuhr ein leises Stöhnen, als er ein Stück von der Wand wich und ich seinen Rücken mit meinen Fingernägeln bearbeitete. Mit festem Griff packte er wieder meinen Hintern, was mich laut keuchen ließen, dann hob er mich zu meinem Wohlgefallen hoch. Geschmeidig schlang ich meine Beine um seine Hüfte, damit ich ihm noch näher sein konnte. Unser Kuss wurde immer drängender und seine Zunge, die schon lange ihren Weg in meinen Mund gefunden hatte, neckte meine spielerisch. Wir waren beinahe unlösbar miteinander verbunden, als er sich ruckartig mit mir umdrehte und mich fest gegen die Wand presste. Seine Hände suchten ihren Weg zurück nach oben, während ich ein Bein zu Boden gleiten ließen. Ich schnappte kurz nach Luft, als seine Hände meine Brüste fanden und sie zu kneten begannen. Seine Lippen strichen zart über meine Wangen, während ich meinen Kopf stöhnend zurückfallen ließ. Schweratmend wisperte er leise an meinem Ohr: „Öffne deine Augen und blicke der Ewigkeit entgegen, meine Einzige.“

Träge hob ich meinen Kopf und öffnete meine Lider. Mein Blick traf den, eines Paars tiefschwarzer Augen. Berauscht vor Lust legte sich ein leises Lächeln auf meine Lippen, als ich meine Augen wieder schloss, um mich ihm hinzugeben.

 

Ein greller Knall zerriss die Nacht und stob uns auseinander. Blind vor Wut flogen meine Augen auf, gefolgt von einen bedrohlichen Knurren. Wer wagte es uns zu stören? Mein Blick suchte den Raum ab und fand die Ursache des Lärms. Keine fünf Meter vor uns kniete Ragnar in dem schwarzen, dickflüssigen Blut eines monströsen Wesens. Er hielt ein zerborstenes Schwerter in seinen blutigen Händen: „Habe ich jetzt Eure Aufmerksamkeit?“

Schneller als ich selbst reagieren konnte, war mein Gegenüber losgestürmt und hämmerte Ragnar in die naheliegende Wand: „Du wagst es mein Ritual zu stören?!“

Meine Wut wich der Verwirrung. Ritual? Bruchstückhaft entsann ich mich daran, was geschehen war. Svens Gesicht. Der schneidende Schmerz von rasiermesserscharfen Krallen in meinem Rücken. Dunkelheit. Eine warme Stimme, die von ihrer Einzigen und der Einsamkeit sprach. Widerwille, der sich in Wohlgefallen auflöste. Lust vermischt mit drängenden Küssen. Ein Paar pechschwarzer Augen.

„Die anderen werden nicht warten, bis Ihr fertig seid“, gab Ragnar emotionslos zurück und starrte seinem Widersacher kalt in die Augen. Die Beiden erweckten meine Aufmerksamkeit mit ihrem Gezänk. Interessiert betrachtete ich den fremden Mann. Er war einen guten Kopf größer als Ragnar, den er mit einer Hand an der Kehle gepackt hatte, und etwas kräftiger vom Körperbau her.

„Keiner würde es je wagen“, grollte der Fremde. Das dunkle Haar. Die Stimme. Mit Grauen erinnerte mich an die verschwommene Gestalt vor dem Tor, die mich zur Braut nehmen wollte.

„Jeder wird versuchen sie zu töten, um Euch zu untergraben“, erklärte er überheblich und fügte mit einem abschätzigen Blick in meine Richtung hinzu, „Sie ist ohnehin ein leichtes Ziel.“

Ragnars Gesicht verfärbte sich rot-bläulich, als der Mann seinen Griff verstärkte: „Wisse wo dein Platz ist, elender Hund.“

Ich spürte, dass zwischen den beiden viel mehr geschah, als nur ein Wortwechsel. Die Kraft, die von den beiden ausging, konnte ich regelrecht körperlich fühlen. In meinem Kopf hallten Ragnars Worte wieder, eine Aura. Auch er hatte mich damit „meines Platzes“ verweisen wollen. Wenn ich ihn jetzt so betrachtete, hätte es mich eigentlich mit Genugtuung erfüllen müssen, dass er es endlich war, der jemanden unterlag. Stattdessen stieg Zorn in mir auf, denn nicht ich war es, die über höhnte, sondern ein Fremder.

Frustriert knurrte ich und verschränkte meine Arme. Der Laut ließ den Kopf des Mannes zu mir herumschnellen. Unsere Blicke trafen sich und ein heimtückisches Lächeln stahl sich auf seine Lippen.

„Sie mag dich nicht“, stellte er fest, während er sich wieder Ragnar zuwandte, „Wie hast du das angestellt?“

„Hat sich so ergeben“, krächzte Ragnar. Mir entfuhr ein leises Knurren. Ein „Hat sich so ergeben“ war die Untertreibung des Jahrhunderts. Er war es doch gewesen, der mich völlig unnötigerweise zusammengeschlagen und wieder und wieder wie Dreck behandelt hatte.

Der Blick des Mannes huschte wieder zu mir: „Hatte ich dir nicht aufgetragen sorgsam mit ihr umzugehen?“

Ragnar schwieg und starrte seinen Widersacher grimmig an. Es schien, als würde er sein Urteil erwarten. Ein seltener Anblick, wo er sich doch sonst nichts sagen ließ.

„Dein Schweigen bestätigt meine Annahme. Was also wäre gerecht?“, sinnierte der Fremde. Er lehnte seinen Kopf leicht zurück, während er nachdachte. Dann durchfuhr es ihn wie ein Schlag. Ich sah wie der Fremde einen von Ragnars Dolchen zückte und seinem Gegenüber tief ins Bein rammte. Erschrocken keuchte ich auf, als eine schwarze, zähe Masse aus Ragnars Bein quoll.

„Das sollte dir eine Lehre sein. Keiner in dieser Welt sollte es je wieder wagen mich zu hintergehen“, sprach er, während er die Klinge genüsslich drehte, „Doch ich gebe dir noch eine Möglichkeit deine bedienungslose Hingabe unter Beweis zu stellen. Du wirst auf das, was mir am teuersten ist achtgeben und sie lehren stärker und meiner ebenbürtig zu werden. Vielleicht sehe ich dann davon ab, dich zurück in die Tiefen des Höllenschlundes zu schicken.“

Mit einem Ruck ließ er ihn los. Ragnar verzog keine Miene, obwohl er noch immer den Dolch in seinem Oberschenkel stecken hatte: „Wie du wünscht, mein Gebieter.“

Mit blieb der Mund offen stehen und ich starrte den Mann verstört an. Mit einem Schlag ergab alles einen Sinn. Die unerwartete Rettung. Das Ritual. Der Kuss. Das Gerede, ich sei seine Braut.

Der Schock verwandelte sich in blanke Wut, als sich unsere Blicke wiedertrafen.

„Luzifer“, grollte ich zornig. Interessiert betrachtete er mich und machte einen Schritt in meine Richtung.

„Du …“, meine Hand umschloss eisern den Griff eines Dolches, während ich Luzifer fixierte. Er beobachtete ruhige jede einzelne meiner Bewegungen.

„Widerwille“, fasste Luzifer meine Handlungen zusammen. Er sprach es aus, als ob es etwas Gutes für ihn wäre. Sein Verhalten brachte das Blut in mir zum Kochen. Wie konnte er so gelassen sein? Überheblicher Arsch! Wutentbrannt schleuderte ich ihm den ersten Dolch entgegen: „Ich werde nie deine Braut, deine Ester, deine Einzige!“

In einer fließenden Bewegung griff Luzifer sich die Klinge aus der Luft: „Für Widerworte ist es ein wenig zu spät, meine Schöne. Du bist bereits die Meine.“

„Ich habe dem nie zu gestimmt!“, schrie ich wütend und warf den nächsten Dolch mit mehr Kraft. Ragnar lehnte unterdessen sichtlich genervt mit verschränkten Armen an der gegenüberliegenden Wand. Am liebsten hätte ich ihn mit Dolchen gespickt, denn er war schuld daran, dass ich überhaupt hier war.

Doch ich konzentrierte vorerst all meine Wut auf Luzifer, dem meine Worte ein tiefes, warmes Lachen entlockten. Ich seufzte und schloss mit einem wohligen Gefühl meine Augen.

„Wie ich sagte, du bist bereits die Meine, Ester“, gurrte Luzifer. Ungläubig schüttelte ich meinen Kopf. Warum mochte ich ihn auf einmal? Was hatte er mit mir gemacht?

„Denk nur nicht, dass ich die Deine bin, bloß weil du meinen Körper kontrollierst“, gab ich kühn zurück und spürte die aufkeimende Angst in mir, als ich mich an das Ritual erinnerte.

„Glaubst du wirklich, ich bräuchte dein Einverständnis?“, höhnte er, „Dies hier ist mein Reich, Ester. Hier geschieht alles nach meinem Willen und du solltest mir dankbar dafür sein, dass ich dir den deinen noch lasse.“

Aus seinem Mund klangen die Worte wie eine Drohung, die er jeden Augenblick wahr werden lassen würde. Unruhig ließ ich meinen Blick über sein Gesicht schweifen. Luzifer strahlte pures Selbstvertrauen aus und erinnerte mich an Ragnar. Doch im Gegensatz zu Ragnar, der neben Luzifer nur wie eine schlechte Kopie wirkte, erweckte er Furcht in mir, da er meinen Körper kontrollieren konnte. Ob ich es mir nun eingestehen wollte oder nicht, dieser Mann hatte Macht über mich.

„Wofür brauche ich einen eigenen Willen, wenn ich ohnehin nur deine Marionette bin?“, wollte ich bissig wissen und versuchte mich auf einen Punkt hinter Luzifer zu konzentrieren, um mich nicht wieder ablenken zu lassen. Fasziniert weiteten sich seinen Augen ein wenig: „Ich bin seit Anbeginn der Zeit allein. Zu Beginn habe ich es durchaus mit willenlosen Geschöpfen probiert, aber welchem Jäger bereitet es Freude eine ohnehin schon gefangene Beute zu jagen?“

Ich stockte kurz. Beute? Jagen? Sollte ich das für ihn sein? Nur irgendein beliebiges Kaninchen auf der Wiese, das kurz sein Interesse geweckt hat?

„Dann bin ich also nichts weiter als ein Zeitvertreib für dich“, stellte ich trocken fest, „Warum dann keine andere?“

„Mit einer anderen würde es mir nicht so viel Freude bereiten“, gab er süffisant zurück und überwand den letzten Schritt, der uns noch trennte: „Bald schon beenden wir unser Ritual und dann gibt es kein Zurück für dich, meine Schönheit.“

Seine Lippen berührten federleicht meine Stirn. Erschrocken riss ich meine Augen auf, doch Luzifer war spurlos verschwunden. All die Anspannung wich aus meinem Körper und ich sank in mich zusammen, auch wenn ich wusste, dass dies erst der Beginn war. Luzifer würde kommen und mich holen.

Kapitel 4 "Kalte Beherrschung"

„Steh auf“, grunzte mich Ragnar an. Doch ich war unfähig mich zu rühren, das Geschehene lähmt mich. Vor meinem inneren Auge bildete sich Luzifer klar und deutlich ab. Der Gedanke, an das was gerade eben passiert ist,  jagte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken.

„Beweg dich“, knurrte der Dämon und stand direkt vor mir.

„Warum schubst du mich nicht wie sonst durch die Gegend?“, wollte ich abwesend wissen, als ich mich mit Abscheu an den Kuss erinnerte. Konnte mich wirklich jemand der Art manipulieren, dass ich Gefallen an ihm fand? Der Gedanke machte mir Angst, ich wollte nicht die Kontrolle über mich verlieren. Denn was, wenn er mich so manipulierte, dass ich nie wieder von ihm weg wollte? Wie sollte ich je wieder zu Sven kommen? Der Schock durchfuhr mich wie ein Schlag. Was, wenn er bereits von Sven wusste? Ragnar hatte es auch gewusst und gegen mich verwandt. Sven. Ohne lang darüber nachdenken zu müssen, wusste ich es bereits, Luzifer würde nicht einen Moment lang zögern, meinem Bruder etwas anzutun. Dieser miese Bastard! Zornig knirschte ich mit den Zähnen.

„Das steht mir nicht mehr zu“, zischte Ragnar wütend. Erstaunt blickte ich auf: „Du kannst was nicht mehr?“

„Du bist die Braut meines Gebieters, so gern ich dir Qualen zufügen wollte, es steht mir nicht mehr zu und jetzt beweg dich“, meinte er widerwillig und funkelte mich finster an.

„Und das sollte dich aufhalten?“, wollte ich spöttisch wissen. Ragnar kämpfte sichtlich mit seiner Beherrschung, als er weitersprach: „Da ich dank dir, auf seiner Abschussliste steh. Ja.“

Ich überlegte kurz und mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Ragnar hatte mich eigentlich nie ernsthaft angegriffen. Er immer nur Gedroht. Leere Worte.

„Du wusstest von an Anfang wer ich bin“, stellte ich bestürzt über meine Unachtsamkeit fest, „Du hättest mich nie getötet.“

„Informationen sind mehr wert, als ein einzelnes Menschenleben“, gab er trocken zurück. Mit einem ekelerregenden, schmatzenden Geräusch zog Ragnar den Dolch aus seinem Bein. Er triefte vor dickflüssiger, schwarzer Flüssigkeit, die einen beißenden Geruch verströmte. Der Schnitt auf seinem Bein begann lautstark zu zischen. Angewidert beobachte ich die schwarzen Bläschen, die einen Art Schaum zu bilden begannen. Der sich langsam seinen Weg Ragnars Bein abwärts suchte. Es dauerte nicht lange bis die Geräusche verstummten und der Schaum einer makellosen Hautpartie wich. Verdutzt kniff ich die Augen zusammen, aber die Schnittstelle wollte nicht wieder auftauchen.

„Wie hast du das gemacht?“, rutschte mir die Frage heraus, bevor ich mich stoppen konnte. Schnell, um nicht weiter zu plappern biss ich mir fest in meinen Wangen. Was zu Hölle war bloß los mit mir? Ich benahm mich auf wie ein Teenie, normalerweise hätte ich es nicht weiter beachtete, zumindest augenscheinlich. Ob es an Luzifer lag, all die Angst, die ich spürte und die Wissbegierde? Es musste an ihm liegen. Nie im Leben würde ich mein Innerstes so offen nach außen tragen.

„Ich bring dich um, Luzifer“, grollte ich unbewusst laut. Ragnar lehnte noch immer seelenruhig an der Wand und beobachtete mich.

„Probleme dich zu beherrschen?“, wollte er sichtlich amüsiert wissen. Als Antwort warf ich ihm lediglich einen finsteren Blick zu. Der Ragnar zum Lachen brachte: „Du bist ein Dämonin, daher sind deine Emotionen zu Beginn deutlich verstärkt. Ich bin gespannt, wie du jetzt noch ruhig bleiben willst.“

„Ein Dämonin?“, gab ich genervt zurück und fragte mich, welchen Bären er mir diesmal aufbinden wollte. Meine Gefühle kamen vielleicht stärker zur Geltung, aber deswegen war ich noch lange kein Abschaum aus der Hölle. Aus Wut hämmerte ich meine Faust mit voller Wucht in den Boden. Mit einem lauten Knirschen gab der Stein nach. Erschrocken wich ich von der Stelle ab: „Was zum Teufel …?!“

Belustigt schlenderte Ragnar zu der Stellen und schlug ein Stück daneben in den Boden. Auch bei ihm zersprang der Boden, nur das meine Risse im Vergleich zu seinen lächerlich wirkten.

„Nach der erschreckenden Erkenntnis könntest du endlich dein Arsch bewegen und mitkommen. Es sei denn du bist scharf auf einem Besuch deiner Artgenossen“, meinte er mit einem selbstgefälligen Grinsen im Gesicht. Ich atmete scharf die Luft aus: „Was können die mir schon groß anhaben?“

„Bei den Menschen würde man sie Kannibalen nennen und da du ihr Festbankett wärst, würde es mich nicht weiter stören, wenn ich nicht dummerweise dein Babysitter wäre“, hörte ich ihn überheblich klarstellen. Genervt schloss ich meine Augen. Wie konnte jemand nur so arrogant sein? Mir kam meine Arbeit in den Sinn und ich verstummte innerlich, als ob ich es je nicht gewesen wäre. Für mich war es Pflicht gewesen, weil mein Vater es mich so lehrte. Ein starkes Firmenoberhaupt ist der, der mit gnadenloser Hand regiert. Kalt und emotionslos. Ich hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt, als ich ihn aus seiner eigenen Firma warf. Auf lange Sicht war es das Beste gewesen, denn er hätte die Arbeitsprozesse nie modernisiert.

Der Gedanke an mein geregeltes Arbeitsleben beruhigte mich. Langsam hob ich meine Lider. Nein, dieses gottverlassene Land würde mich nicht in die Knie zwingen. Sven wartete und in der Firma würden sich nur die Probleme anhäufen. Ich musste wieder zurück, ganz gleich wer oder was sich mir in den Weg stellen sollte. Selbst wenn es meine eigenen Gefühle wäre, ich hatte zu siegen.

Ruhig erhob ich mich und warf Ragnar einen abschätzigen Blick zu: „Du sollst mir helfen Luzifer ebenbürtig zu werden? Dann komm.“

Als ob ich mich ihm unterordnen würde. Das kleine Mädchen, das Luzifer für einen Augenblick zu Tage befördert hatte, war nicht mehr und daran konnte auch der Teufel höchstpersönlich nichts ändern.

Ragnars Augen weiteten sich für den Bruchteil einer Sekunde und ich glaubte ihn leise murmeln zu hören: „Dann hat er sich dieses Mal ja genau die Richtige ausgesucht.“

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren ging er aus dem Haus. Wortlos folgte ich ihm hinaus in das krage Land, während ich noch immer nicht begriff, was genau geschehen war.

 

Wir waren stundenlang durch den trostlosen Staub gelaufen, ohne ein erkennbares Ziel vor Augen. Ich fragte mich langsam, was Ragnar vorhatte. Er sollte dafür sorgen, dass ich Luzifer ebenbürtig war. Aber wie wollte er das anstellen? Am leichtesten wäre es gewesen, wenn ich Ragnar gefragt hätte. Doch ich würde nicht schon wieder diesem Drang nachgeben. Denn wenn ich einmal anfing, würde ich nicht wieder so schnell damit aufhören. In meinem Kopf gab es mittlerweile zig unnütze Fragen, die alle nach einer Antwort gierten. Vielleicht sollte ich sie alle Luzifer stellen, ob es ihn nerven würde?

Zornig knirschte ich mit den Zähnen. Worüber dachte ich denn nun schon wieder nach? Ich meinte mich vage daran erinnern zu können, dass ich mir bei meiner ersten, großen Lieben ebenfalls solche Gedanken gemacht hatte. Es war ein ziemlicher Reinfall gewesen. Mir entfuhr ein lautstarker Seufzer.

„Na, was hat Madame jetzt wieder?“, höhnte Ragnar amüsiert, ohne sich umzudrehen oder anzuhalten. Irgendetwas in mir musste durchgebrannt sein, denn ich begann rumzuschreien: „Vielleicht nervt mich deinen schweigendes Rumgelatsche querfeldein durch die Pampa einfach?! Oder mir geht es auf den Zeiger, dass ich hier nichts, ja einfach gar nichts mehr im Griff hab?! Gott und wer weiß, vielleicht hab ich es auch satt, ständig an Luzifer denken zu müssen?!“, ich atmete tief durch und rang um das letzte bisschen Würde, dass mir noch blieb, „Was muss ich tun, damit es aufhört?“

Seine Antwort war ein einziges, spöttisches Lachen, das es mich bitter bereuen ließ, ihm den Dolch nicht zwischen die Rippen gejagt zu haben.

 

Nach einer Weile als sein Lachen schon längst verklungen war, tauchte vor uns ein Ansiedlungen von kleinen, zerfallenen Hütten auf. Ein Blick zu Ragnar sagte mir, dass ich wachsam bleiben sollte, denn ich hatte ihn noch nie mit so einem angespannten Gesichtsausdruck gesehen. Mir fiel die dünne Narbe an seiner linken Schläfe auf. Es wunderte mich, dass er eine Narbe trug, wo der Dolch nicht einen Kratzer auf seinem Bein hinterlassen hat. Interessiert suchte ich sein Gesicht weiter ab.

Demonstrativ packte Ragnar meinen Kopf mit seinen großen Pranken und drehte ihn von sich weg.

„Wag es dir“, zischte er erbost. Ich verstand nicht und spürte Zorn in mir aufkeimen.

„Was?!“, fauchte ich, während ich mich aus seinem Griff wandte.

„Du gehörst ihm, also sieh mich nicht an“, warf Ragnar mir bissig vor. Es dauerte einen Moment bis ich begriff, dann war ich es, die in schallendes Gelächter ausbrach: „Was auf einmal habt ihr es mit der Treue? Ich dachte für Dämonen gilt keine Moral?“

Verächtlich stieß er mich, mit deutlich weniger Kraft als zuvor, von sich: „Mag sein, aber du bist sein Eigentum und er mag es nicht zu teilen.“

„Witzig du bist wie sein kleines Schosshündchen“, spottete ich.

„Sag das nochmal, wenn du ich dir nicht beim ersten, richtigen Schlag alle Knochen breche“, knurrte er und marschierte wutgeladen vorweg. Belustigt folgte ich ihm, denn offensichtlich war Ruhe bewahren auch nicht gerade Ragnars Stärke.

 

Irgendwann tauchte vor uns ein großes, prachtvolles Haus auf. Es wirkte wie eine alte, verwunschene Villa, die einen Dornrösschenschlaf gefallen waren. Widerwillig schüttelte ich meinen Kopf. Wo war mein logisches Denken, das mir half die Dinge zu analysieren, anstatt alles mit rosaroter Brille zu sehen?

„Du wolltest doch wissen, was du gegen die Gedanken machen kannst“, meinte Ragnar ruhig zu mir.

„Hm“, brummte ich nur zustimmend und wartete darauf, dass er weitersprach.

„Entweder du schläfst mit Luzifer oder du tötest die Dämonen“, erklärte er mit hämischen Grinsen. Meine Augen weiteten sich unwillig zu verstehen, als ich tonlos hauchte: „Das kann nicht dein Ernst sein.“

Ragnar schenkte mir nur ein strahlendweißes Lächeln.

„Was bist du? Ein Dämon der Schadenfreude oder des Hohn und Spottes?“, wollte ich zornig wissen, den das hier konnte unmöglich sein Ernst sein. Er hatte mir vorhin mit Sven gedroht, aber die Karte konnte Ragnar kein zweites Mal spielen. Sein Herr verbat ihm mir wehzutun und das würde ihn binden. Das Wissen beruhigte mich, während ich ihn überlegen musterte. Ragnar verhielt sich wie immer absolut überheblich und selbstherrlich. Nur das ich wusste, dass er eine Raubkatze ohne Krallen war.

„Nein, das ist ein Charakterzug aller Dämonen“, erwiderte er mit engelsgleichem Lächeln.

„Ich töte doch nicht wahllos andere Leute“, stellte ich ruhig klar und erwiderte seinen eiskalten Blick. Mir wurde übel, wenn ich nur daran dachte, dass es Ragnar Ernst war, dass ich die Bewohner dieses Hauses umbringen sollte. Ich mochte ja vieles sein, sehr wahrscheinlich auch grausam, aber ich war keine Mörderin. Doch je stählerner mein Blick wurde, desto abschätziger der seine, bis er spöttisch meinte: „Vorhin wolltest du den Dämon auch für deinen Bruder töten. Also mach jetzt nicht einen auf Heilige.“

„Vorhin wolltest du auch Sven töten, jetzt kannst du es nicht mehr. Du bist ein Löwe mit gezogenen Zähnen. Alle deine Drohungen sind nichts weiter, als leere Worte, Ragnar. Und ich werde diese Leute dort drin nicht umbringen“, gab ich tonlos zurück. Seine Augenbraue schnellte erstaunt in Höhe: „Wirst du nicht? Soll ich lieber Luzifer Bescheid geben? Er wird zwar überrascht sein, dich jetzt schon wieder zu sehen, aber er wird sich sicherlich nicht beschweren.“

Meine Gesichtszüge entgleisten für den Bruchteil einer Sekunde, dann fing ich mich wieder. Ragnar hatte Recht, ich musste entweder jemanden das Leben nehmen oder mit Luzifer schlafen und keins von beiden war eine Lösung. Ruhig versuchte ich einen Ausweg zu finden, denn es musste einfach eine Alternative geben. Die widerspenstigen Gedanken könnte ich vorerst ertragen, aber selbst das würde mir Luzifer nicht auf Dauer vom Leib halten. Früher oder später würde er mit mir schlafen wollen.

Wie also setzte man sich zur Wehr, wenn man sich einen deutlich stärkeren Peiniger gegenüber sah? Ich erinnerte mich an all meine Kämpfe. Nicht immer war ich die Überlegenere gewesen. Große, kräftige Frauen, waren oft nicht so wendig und so gut wie besiegt wenn man sie von den Beinen holte. Kleine, flinke Kämpferinnen hatte meist weniger Kraft und ich musste sie sich nur lange genug auspowern lassen, bevor ich drei vier gutplatzierte Treffen landen konnte. Und die schnellen, kühl kalkulierenden Gegnerinnen? Die musste ich überraschen, denn sobald etwas Ungeplantes eintrifft sind sie für den Bruchteil einer Sekunde wie gelähmt. Das ist der Moment, in dem ich sie meist ausknockte.

Ich überlegte kurz über meine Schwierigkeiten im Kampf. Ich hielt nicht viel aus und wurde von Überraschungen wie gelähmt, sodass mich meist nur meine Reflexe vor dem K.O. retteten. Was also konnte ich bei Luzifer anwenden? Er war größer, deutlich stärker und schneller, um ihn zu besiegen musste ich zu einem seinen Schwachstellen kennen und zu anderen stärker werde. Seine Schwachstellen würde mir keiner auf dem Silbertablett servieren. Es würde warten müssen, bis ich stärker wäre, denn ohne das zu werden, konnte ich nur verlieren.

Ein Grinsen huschte über mein Gesicht. Es war wie früher, den ersten Kampf verloren und bis zum Rückkampf trainieren, um die Gegnerin im nächsten Aufeinandertreffen ein für alle Mal zu besiegen.

„Wie werdet ihr Dämonen stärker?“, fragte ich auf gut Glück, sich der dem Dilemma dadurch zu entkommen. Der Blick, den er mir zuwarf, war mehr als abschätzig: „Geh darein und töte diese Dämonen.“

„Das ist eure Antwort? Ihr Dämonen tötet um stärker zu werden?“, meinte ich sichtlich amüsiert und fragte mich wie dumm die Dämonen waren, um noch an den uralten Aberglauben zu glauben. Früher hatten einige Stämme sich auch mit dem Blut der gefallenen Gegner bemalt, in dem Glauben ihre Kräfte zu übernehmen. Doch die Wissenschaft hatte dem schon lange widersprochen.

„Du musst es doch gemerkt haben“, gab Ragnar nur zurück.

„Was muss ich gemerkt haben?“, wollte ich zweifelnd wissen und verschränkte meine Arme vor der Brust. Entnervt  schnalzte er mit seiner Zunge: „Hat Madame vorhin die Macht nicht gespürt, als Luzifer Sie wiederbelebte?“

„Oh sieh einer an, der Herr etwa Benehmen?“, spottete ich. Doch ich begriff, das Gefühl vorhin war nicht nur Teil der Verwandlung, sondern ich hatte die Kräfte des Dämons übernommen. Das erklärte warum ich stärker wurde. Kraftlos entfuhr mir ein Seufzer: „Das heißt es gibt keinen Ausweg.“

„Nicht wenn du wieder zu Sven willst“, gab Ragnar zynisch zurück. Sven. Wie ich diesen Dämon für seine Bemerkungen hasste.

„Pass auf, dass ich dich nicht gleich umbringe“, zischte ich wütend.

„Das kannst du nicht. Mal abgesehen davon, dass du dafür viel zu schwach bist“, höhnte er und ging auf die Tür des Hauses zu. Widerwillig folgte ich ihm: „Warum sollte ich es nicht können, du Großkotz?“

„Ich habe es in deinen Augen gesehen, als du die Möglichkeit hattest. Du kannst es nicht“, meinte Ragnar ruhig, als er die Tür mit einem kräftigen Tritt aus den Angeln hob: „Dann zeig mal was in dir steckt und kleiner Tipp: Denk nicht zu viel nach.“

 

Ungläubig starrte ich Ragnar an: „Das kann nicht dein Ern …“

Weiter sollte ich nie kommen, denn aus dem Haus ertönte auf einmal ohrenbetäubendes Kreischen. Aus einem Gefühl heraus zückte ich zwei Dolche und dann schossen sie um die Ecke. Hörner, Krallen und Schuppen. Ihre Augen glühten rot und die Zungen hingen aus ihren Mäulern und Schnäbel. Ich wollte nur wegen rennen, aber ich konnte nicht. Für meinen Bruder, ich durfte nicht weichen.

Flink rollte ich unter einem Hieb beiseite und kam hinter dem Dämon auf die Beine. Mit aller Kraft sprang ich ab und jagte ihm meine Dolche in seine Halsbeugen. Das Gekreische war grauenvoll, erst klar und dann von einem heftigen Schwall dickflüssigem Blut erstickt. Ich fühlte wie seine Kraft auf mich überging, während in mir Reue und Schuldgefühle aufkeimten, aber ich gab ihnen keine Zeit.

Noch bevor das Wesen zu Boden krachte, sprang ich ab und wirbelte herum. Vier waren übrig. Zwei Schritte nach hinten, dann sprang ich auf eine Kommode. Ich verharrte und wartete ab. Drei von ihnen rannten auf mich zu. Mit viel Glück erledigte ich zwei von ihnen mit einem Mal, als ich von der Kommode absprang. Der dritte erwischte mich an der Seite, was mir eine schmerzerfüllten Schrei abrang. Mein Glück war es, das die Kraft der sterbenden Dämonen augenblicklich heilte. Galant rollte ich mich ab und erwischte das nächste Ungetüm. Mit einer schnellen Drehung wirbelte ich herum. Das letzte Wesen eine groteske Mischung aus Vogel und Echse stürzte sich in blinder Wut auf mich. Es war ein leichtes für mich auszuweichen und es hinterrücks zu erdolchen.

 

Langsam ging ich mit dem Dämon, dessen Kräfte auf mich übergingen, in die Knie. Ich spürte zu meinem eigenen Grauen eine Genugtuung dabei und schloss für einen Moment meine Augen. Beben holte ich tief Luft, dann öffnete ich meine Lieder. Mein Blick fiel auf ein Paar kalkweiser, menschlicher Schultern, die über und über mit schwarzem Dämonenblut getränkt war. Zwischen ihnen rang ein bläulich schimmernder Dolch hervor, dessen Schaft meine Hand umschloss.

Benommen taumelte ich zurück und sah mich fieberhaft in dem halbdunkeln Raum um. Dort lagen noch vier weitere tote Menschen. Meine Kehle schnürte sich zu, während ich das Grauen erblickte. Mit einem lauten Klirren fiel der zweite Dolch zu Boden. Was hatte ich getan? Zitternd hob ich meine Blut getränkte Hände und starrte sie an, während ich in die Knie ging. Mir entfuhr ein Schrei, der in einem Wimmern endete. Übelkeit stieg in mir auf und ich konnte nicht anders als mich zu übergeben.

Ich hatte fünf Menschen getötet. Fünf unschuldige Menschen.

Wie in Trance versuchte ich aus dem Raum zu kommen. Ich kroch, weil mich meine Beine nicht mehr trugen. Warum? Warum nur? Immer wieder fand ich nur einen Wand. Irgendwann begann ich schreiend gegen Wände zu hämmern. Ich wollte raus, nur noch wegen von diesem Albtraum. Tief in mir erlosch etwas, etwas von dem ich nicht einmal gewusst hatte, dass es je da gewesen wäre.

 

Nach endlosen vergeblichen Versuchen prallte ich gegen etwas Nachgiebiges. Angsterfüllt wanderte mein Blick nach oben und traf auf Paar rötlich schimmernde Augen. Glühend heiße Tränen tropften auf den verstaubten Holzboden, während mich der Anblick des Mannes bannte. Mein Gehirn weigerte sich zu begreifen, was hier vor sich ging. Vor mir ging Ragnar in die Knie und zog mich fast schon behutsam in seine Arme.

„Es waren grausame Menschen gewesen, Helen. Sie haben getötet, lange bevor Luzifer sie zu seinen Kindern machte“, hörte ich ihn leise neben meinem Ohr sagen. Meine Hände verkrampften sich in seinem Umhang, während ich hemmungslos zu weinen begann. Ragnar sagte nichts mehr und hielt mich schweigend fest.

Imprint

Images: Cover - Bilder: pixabay.com - Designerin: Agnes Albrecht
Publication Date: 07-11-2016

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Für Silvio, ich wünschte du könntest es lesen und mit mir darüber diskutieren :)

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