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Prolog

Der Schlüssel der Geschichte ist nicht in der Geschichte, er ist im Menschen selbst

Geschichte im allgemeinen Sinn bezeichnet alles, was geschehen ist. Im engeren Sinne bezeichnet Geschichte die Entwicklung der Menschheit. So wird auch von Menschheitsgeschichte gesprochen. Dabei wird Geschichte immer synonym mit Vergangenheit gebraucht. Daneben bedeutet Geschichte aber auch die Betrachtung der Vergangenheit im Gedenken, im Erzählen und in der Geschichtsschreibung.

Was in ihr täglich geschieht, wird von keinem Verständigen als Geschichte getan oder gewollt. Erst eine gewisse Art, das Geschehene nochmals zu betrachten, macht aus Geschäften Geschichte.

Immer hat Geschichte zwei Komponenten: das, was geschehen ist, und den, der das Geschehene von seinem Orte in der Zeit sieht und zu verstehen sucht. Nicht nur korrigieren neue sachliche Erkenntnisse die alten; der Erkennende selber wandelt sich. Die Vergangenheit lebt; sie schwankt im Lichte neuer Erfahrungen und Fragestellungen.

Die Geschichte ist nicht viel mehr als eine Aufzählung der Verbrechen, Narrheiten und Unglücksfälle der Menschheit

Geschichte ist ein Roman, der stattgefunden hat, der Roman ist Geschichte, wie sie hätte sein können.

Quebec Mai 1762

Wenn man darüber nachdenkt, was Geschichte bedeutet, denkt am an Zahlen, historische Ereignisse, berühmte Menschen, deren Namen man in der Schule lernen musste. Doch was ist Geschichte, wenn sie geschieht? Sie ist Angst, Leid und Schmerz, denn was den Menschen dabei geschieht, darüber berichten Geschichtsbücher nur am Rande.
Ich habe am eigenen Leibe gespürt, was Geschichte ist und das was ich berichten kann, steht sicher nicht in irgendwelchen Büchern. Aber ich will nicht vergessen, was geschehen ist und die Menschen die nach mir kommen, meine Kinder, meine Enkel und Urenkel, bis hin zu der Zeit aus der ich wirklich bin, sollen nicht vergessen.
Ich erinnere mich, als ich die Ufer des Sankt Lorenz das erste Mal sah, welch erhebendes Gefühl es war, nach den langen Tagen auf See, dem unbändigen Stampfen des Schiffes, der Seekrankheit und dem beständigen Druck unter dem wir während der Überfahrt von Frankreich litten, diese grünen Wiesen, die Felder, die weiß getünchten Häuser zu sehen.
Es war vor nur fünf Jahren und ich kann es kaum fassen, denn es ist als ob ich eine andere Welt sehe. Viel kann sich in fünf Jahren ändern, Bäume wachsen, Felder werden anders angelegt, Häuser gebaut….Doch das ist es nicht.
Als ich im April 1758 den Sankt Lorenz Strom herauf fuhr schien es eine friedliche Welt zu sein, wohlgeordnet und sicher. Doch der Schatten des Krieges lag schon darauf und nur ein Jahr später brannten die Felder und die Häuser, waren Menschen auf der Flucht! Ich glaubte hier mein Glück wieder gefunden zu haben, doch ich habe alles verloren…alles.
Mag sein, dass irgendein schlauer Mensch einmal schreiben wird, dass die Schlacht auf den Höhen vor Quebec nur ein unbedeutendes Scharmützel war, aber für mich war es das nicht. Diese Schreiberlinge vergessen nämlich dass dort Menschen starben, deren Leben für ihre Angehörigen nicht unbedeutend war. Sie waren Väter, Söhne und Brüder, Ehemänner und man vermisst sie!
Diese Geschichte ist nicht nur Vergangenes, es wird auch meine Zukunft sein und ich bete, dass sie mir erspart, das alles noch einmal zu erleben. Ich bete, dass meine Kinder Frieden haben werden auf diesem wunderschönen Stück Erde, dass mein Ehemann nie wieder sein Schwert erhebt und dass ich nie einen Sohn betrauen muss, der im Kampf fällt.


Je me Souviens - Ich erinnere mich



Ein Bankschließfach



Halifax 15. September 2000



Es blitzt ein Tropfen im Morgentau, im Strahl des Sonnenlichts. Ein Tag kann eine Perle sein und ein Jahrhundert nichts



Carol Mac Innes, saß am Schreibtisch und starrte auf den Monitor ihres Computers. Sie war siebenundzwanzig und Journalistin beim Halifax Herold, zuständig für Artikel im Lokalteil. Der Höhepunkt für die nächste Ausgabe war ein Klassentreffen von Damen einer ehemaligen Mädchenschule. Sie hatte den Artikel schon dreimal durchgelesen und noch immer konnte sie sich nicht damit zufrieden geben.
Es klang alles so lapidar… lapidar gegen den Umschlag, den ihr ihre Großmutter gegeben hatte vor wenigen Wochen. Ihre Großmutter, die sie nie wieder sehen würde. Sie ließ ihren Blick aus dem Fenster schweifen, doch was sie sah war nicht gerade animierend. Sie schaute auf die Baustelle eines Bürohochhauses gegenüber und konnte nicht das Meer sehen, die berühmte Waterfront von Halifax.
Sie musste an das Wochenende vor zwei Wochen denken, an dem sie ihre Großmutter besucht hatte, in Mabou auf Cape Breton Island.
Es wäre herrlich entspannend gewesen, wäre es nicht ein so trauriger Anlass der sie dort hingeführt hatte. Mary Mac Innes, ihre Großmutter war an Krebs erkrankt und todkrank wie sie war, aus dem Krankenhaus nachhause gekommen, um zu sterben.
Das bunt gestrichenen Holzhaus, mit Blick auf die Bucht hatte Carol immer gemocht, hier hatte sie ihre schönsten Ferien verbracht, anders als in Winnipeg, wo ihre Eltern wohnten damals. Sie hatte sich mit den Nachbarskindern ganz besonders gut verstanden und die Freiheit genossen, die sie hier hatte.
Carols Großmutter hatte sie telefonisch gebeten zu kommen, da sie eine dringende Angelegenheit noch mit ihr regeln müsse. Nur zögernd hatte sie zugesagt nach Mabou zu kommen. Carols Vater war vergangenes Jahr auch an Krebs gestorben und die junge Frau hatte große Angst ihre Großmutter genauso elend sterben zu sehen. Doch am Ende wollte sie doch noch Abschied nehmen und das was Mary Mac Innes ihr sagen wollte, schien wichtig zu sein.
Es herrschte eine bedrückte Stimmung in dem Haus, als Carol am Sonnabend ankam. Ihre Mutter und ihr Bruder waren schon da, sowie ihr Onkel. Kaum das die junge Journalistin ihre Gepäck aufs Zimmer gebracht hatte, bat sie ihre Großmutter auch schon zu sich.
Die alte Frau war grässlich abgemagert und konnte sich kaum noch selbst aufsetzen. Sie bat Carol an ihrem Bett Platz zu nehmen, und hob vom Tisch daneben einen Briefumschlag auf.
»Nun Carol schau nicht so traurig. Ich bin alt und habe es satt zu kämpfen. Wir kommen sicher alle an solch einen Punkt, die einen früher die anderen später!«, begann sie mit leiser Stimme und lächelte Carol an. »Ich habe dich her gebeten, weil du die letzte in einer lange Linie von Frauen bist, die diesen Briefumschlag bekommen werden und vielleicht die, die das Geheimnis lüften wird!«, fuhr sie fort und gab ihr den Umschlag.
Carol war sichtlich verwirrt, sie befürchtete schon fast, ihre Großmutter hätte den Verstand verloren. Doch als sie den Briefumschlag öffnete stutzte sie. Sie hielt einen Schlüssel in der Hand, der offensichtlich für ein Bankschließfach war. »Bank of Canada, Halifax!«, las sie.
Sie sah Mary Mac Innes fragend an. »Sollte das nicht bis zur Testamentseröffnung warten Grandma?«, entfuhr es ihr.
»Das hat nichts mit meinem Erbe zu tun Carol, das ist etwas, was immer an die nächste Generation weiter gegeben wurde, an die nächste weibliche! Offensichtlich hielt die Frau, die diese Zeilen geschrieben hatte das für sicherer. Schau auf den Zettel!«, erklärte die alte Frau und schloss erschöpft die Augen.
Carol zog ein säuberlich gefaltetes Stück Papier aus dem Umschlag. Es war offensichtlich schon alt, leicht fleckig und vergilbt. Es schien Handgeschöpftes Papier zu sein, was man an der unebenen Struktur erkennen konnte und es war ziemlich dick.
»Meine lieben Nachfolgerinnen auf diesem schönen Stück Erde, auf der Isle Royal oder Cape Breton Island, wie man es jetzt nennt! Ich habe diese Kassette aus einem bestimmten Grund in der Bank aufbewahren lassen und ich hoffe ihr werdet dies auch tun von Generation zu Generation, denn es ist sehr wichtig für euch alle. Erfüllt meine Bitte sie nicht vor dem Jahr 1986 zu öffnen. Es könnte eure Existenz gefährden! Anne Mac Donald, Mabou, Isle Royal, Mai 1805!«, las die junge Frau vor.
»Nun mein Mädchen, was hältst du denn als Journalistin davon?«, fragte nun Mary Mac Innes.
»Das klingt irgendwie verwirrend und zugleich geheimnisvoll!«, meinte Carol und wog den Schließfachschlüssel in der Hand.
»Geh und finde es heraus Carol. Das Jahr 1986 ist vorüber und warum sollten wir nicht die Büchse der Pandora öffnen?«, kam es nun von der alten Frau, mit einem schwachen Lächeln.
»Nun Grandma, ich hoffe Anne Mac Donald hat nicht so etwas schreckliches im Safe der Bank of Canada 194 Jahre aufgehoben!«, auch Carol lächelte flüchtig.
»Das hat sie sicher nicht, alle Frauen unserer Familie waren stark und sehr eigensinnig, aber nie böse. Wenn du ein wenig über sie erfahren willst, dein Onkel Robert kann dir helfen. Er zeigt dir auch das Grab auf dem alten Friedhof.«, erklärte die alte Frau.
»Welches Grab Grandma?«, fragte die junge Journalistin sichtlich erschrocken.
»Das Grab von Anne Mac Donald.«, mit diesen Worten schickte sie Carol nach draußen und es war das letzte Mal, dass sie sich sahen. Sie starb wenige Stunden danach, an diesem Tag.
Eine Woche später wurde sie beerdigt und Carol ließ sich das besagte Grab von ihrem Onkel zeigen. Es war ein schiefer sehr verwitterter Grabstein, dessen Aufschrift sehr schwer zu entziffern war. Ihr Onkel Robert reichte ihr ein Foto, ein am Computer nach gebessertes, denn hier konnte man die Inschrift lesen. Es war ein seltsamer Spruch über den üblichen Aufzählungen der Kinder und des Ehegatten, die auch leicht verwirrend waren.
…Unendliche Zeit ist mit dir…
Carol seufzte und sah auf den Monitor ihres Computers. In dem sich plötzlich das Gesicht eines jungen Mannes widerspiegelte. Pete Drever stand hinter ihr, ihr Freund und Fotograf.
»Was ist los Carol, kommst du nicht voran mit dem Artikel?«, fragte er und küsste sie auf die Wange.
»Ach Pete, ich kann mich nicht so richtig konzentrieren. Ich habe in einer Stunde den Termin in der Bank, du weißt wegen des Schließfaches dort!«, erwiderte sie müde.
»Soll ich mitkommen?«, fragte der junge Mann schließlich.
»Oh, das wäre sehr schön. Ich glaube, ich höre erst einmal auf hier, ich komme einfach nicht weiter. Gehen wir einen Kaffee trinken, unten an der Waterfront, ich brauche einfach ein bisschen frische Luft! «, erwiderte Carol, die dankbar war für Petes Hilfe.
Sie verließen das Büro und gingen zu Fuß hinunter zur berühmten Waterfront von Halifax, wo sie sich in ein Straßen Café setzten und das schöne Herbstwetter genossen.
»Hat deine Großmutter etwas angedeutet, ich meine was dich in diesem Bankschließfach erwartet?«, fragte Pete nach einer Weile.
»Nun ja, sie erzählte etwas von einem Familiengeheimnis und diesen Brief hier hat sie mir gegeben!«, mit diesen Worten reichte Carol ihm den kleinen Zettel aus altem Papier.
Pete las ihn mit gerunzelter Stirn durch. »Das klingt ja seltsam. Nicht vor dem Jahr 1986 öffnen! Könnte aus einem Sciencefiction Film sein. Auch dieses ›es könnte eure Existenz gefährden‹!«, meinte er.
»Eben Pete, deshalb habe ich auch irgendwie Bedenken, das dieses Geheimnis etwa schlimmes sein könnte!«, gab die junge Journalistin zu bedenken.
»Nun ja 1805, das ist eine Weile her und wenn diese Kassette, seit dem in einer Bank eingeschlossen war und sie keiner geöffnet hat, kann ich mir nicht vorstellen dass irgendetwas wirklich gefährliches darin ist!«, Pete schlürfte seinen Café Latte und lies den Blick übers Meer schweifen.
»Nun ja, ich hoffe das ja auch. Doch irgendetwas Geheimnisvolles ist es wahrscheinlich. Vielleicht auch irgendein Familien Geheimnis, dass zu der Zeit vielleicht hohe Wellen geschlagen hat. Man weiß ja nie!«, Carol zuckte hilflos mit den Schultern.
Nachdem sie das Café verlassen hatten, bummelte sie noch eine Weile auf dem Pier und riefen sich schließlich ein Taxi, das sie zu der Bank brachte.
Carol konnte die Aufregung und das Herzklopfen nur mühevoll unterdrücken, als sie mit Pete gemeinsam in den Raum mit den Bankschließfächern gingen und die Angestellte ihnen das Schließfach öffnete, die Stahlkassette heraus nahm und sie in einem extra dafür eingerichteten Raum allein ließen.
Carols Hände zitterten, als sie die Kassette öffnete. Ein Holzkästchen kam zum Vorschein, sorgsam in eine Leinentuch gewickelt. Das Holz sah schon recht alt aus. Es war Ahorn, sorgsam poliert und gebeizt, mit einer keltisch wirkenden Schnitzerei versehen, die ein ineinander verwobenes rundes Flechtmuster darstellte, das keinen Anfang und kein Ende erkenne ließ. Darunter war ein Name eingeschnitzt. »Calum Mac Donald«.
»Schon wieder Mac Donald!«, entfuhr es Carol.
»Soweit ich weiß gibt es in Mabou und im ganzen Inverness County ziemlich viele Leute mit diesem Namen, ganz zu schweigen von Kanada, den Staaten oder gar Schottland.«, erwiderte Pete und musterte die Kiste neugierig.
Sie hatte kein Schloss, war aber sorgfältig mit Wachs versiegelt, das über die Jahre nachgedunkelt war.
Er hob sie vorsichtig hoch und schüttelte sie, ein leises, dumpfes Klappern war zu hören und das Gewicht war beachtlich.
»Was willst du machen Carol, wenn wir diese Kiste hier mit brachialer Gewalt aufbrechen zerstören wir das Kunstwerk, denn das ist wirklich ein gut erhaltenes Stück.«, meinte Pete schließlich.
»Nun ja, es ist mein Erbe sozusagen, 1986 ist vorbei und ich glaube ich sollte das nun an mich nehmen, vielleicht finden wir Jemanden, der uns die Kiste öffnet ohne sie zu beschädigen!« Carol klingelte nach der Angestellten und bat um eine Tasche.
Als sie zögernd aus der Bank auf die Straße traten, hielt Pete abrupt an.
»Ich habe eine Idee Carol.«, begann er plötzlich und zog seine Handy aus der Jackentasche.
»Hi, Brandon, hier ist Pete, vom Halifax Herold. Ich habe mal eine Bitte an dich. Meine Freundin Carol hat etwas geerbt von ihrer Großmutter, aus dem Jahre 1805 und wir wollten das mal von dir ansehen lassen!«, begann er und hörte mit gerunzelter Stirn die Antwort jenes Brandon.
»Ja ich weiß, dass du kein Historiker bist, aber da war ein seltsamer Brief dabei und wir wollen auf Nummer sicher gehen! Hättest du heute oder morgen Zeit? «, fuhr er unbeirrt fort und schaute auf seine Armbanduhr. »OK also in einer Stunde bei dir im Institut! Danke Brandon und bis dann.«, ein triumphierendes Lächeln erschien auf Petes Gesicht.
»Wen hast du angerufen Pete?«, fragte Carol verwirrt.
»Brandon Myers, er arbeitet an Gerichtsmedizinischen Institut. Ich glaube er kann uns besser helfen, als irgendein grober Handwerker. Außerdem hat er ein Auge für ungewöhnliche Dinge und dieser Brief, den du da hast, ist ungewöhnlich.«
Carol seufzte, das Gewicht des Kästchens schien sich mit jedem Meter zu verdoppeln, mit dem sie sich von der Bank entfernten. Das noch etwas Zeit war, gingen sie in ein weiteres Café in der Nähe.
»Ich weiß ja nicht allzu viel von deiner Familie Carol, was könnte es denn so geheimnisvolles geben, das es wert wäre fast 200 Jahre in einem Bankschließfach aufbewahrt zu werden?«, fragte Pete bei einem weiteren Kaffee, während Carol sich lieber einen Tee bringen ließ. Sie war schon aufgeregt genug.
»Nichts von dem ich wüsste und wenn ich ehrlich bin habe ich mich noch nie für den Teil meiner Familie interessiert, der schon so lange tot ist. Ich trage einen schottischen Namen, demzufolge sind meine Vorfahren sicher von dort gekommen, aber sonst bin ich voll und ganz Kanadierin und was ich von meiner Familie noch weiß, ist das sie eigentlich alle ganz nett sind. Meine Großeltern kenne ich und ich weiß das sie schon ewig in Mabou leben, genauso wie es mein Urgroßeltern getan haben und diverse Tanten und Onkel. Irgendwelche seltsamen Dinge gab es nicht und auch keine Geheimnisse. Soweit ich weiß, haben alle ein einfaches Leben auf dem Land geführt, solange das unter den Umständen der Zeit möglich war. Mein Onkel Robert hat mal so etwas wie Ahnenforschung betrieben und hat eben jenes Grab gefunden, auf dem alten Friedhof in Mabou, von dieser Ann Mac Donald.«, berichtete die junge Journalistin.
»Also sprich, genau dasselbe wie bei mir. Nur sind wohl meine Vorfahren erst seit hundert Jahren hier in Nova Scotia, kommen ebenfalls aus Schottland, ich glaube von den Orkney Inseln und nur kleine Lichter, so wie wir.«, Pete lächelte und Carol ebenfalls.
Sie mochte Pete, mit dem sie seit etwa zwei Jahren zusammen war. Er war direkt und gerade aus, unkompliziert und sehr gut im Bett. Seine einzigen Mankos waren seine Unpünktlichkeit und seine Untreue. Schon zwei Mal hatte sie deswegen Schluss gemacht mit ihm, war aber jedes Mal erneut mit ihm im Bett gelandet. Carol wusste, dass sie keine wirklich vernünftige Beziehung mit Pete haben konnte, jedenfalls nichts mit Zukunft. Doch es machte ihr Spaß mit ihm zusammen zu sein und vor allen Dingen mit ihm zu arbeiten. Er war wirklich ein guter Fotograf.
Sie sprachen noch eine Weile über ihre Verwandtschaft, was die junge Journalistin etwas ablenkte, bis Pete schließlich auf seine Uhr schaute und die Kellnerin bat ihnen ein Taxi zu rufen.
Im Gerichtsmedizinischen Institut, erhielten sie einen Besucherausweis und Pete ging schnurstracks in Brandon Myers Labor, das sich im vierten Stock befand. Offensichtlich war er schon öfters hier gewesen.
Myers war ein kräftiger Mittvierziger, mit kurz geschorenen, recht lichten, grauen Haaren und einem Kinnbart. Er begrüßte Carol freundlich und stellte sich ihr vor, als sie ihren Namen genannt hatte.
»Dann zeigen sie mal ihre makabere Erbschaft!«, forderte er sie schließlich auf.
Zögernd holte die junge Frau das hölzerne Kästchen aus der Tasche und gab es Myers, der es auf einen großen Tisch legte, der in der Mitte des Labors stand.
»Handarbeit, recht gut gemacht und sehr dekorativ mit der Schnitzerei! Sicher alt, aber wie kommst du auf 1805 Pete?«, fragte der Mann schließlich und wandte sich an den Fotografen.
Carol reichte statt einer Antwort den Briefumschlag, mit dem Zettel, den Myers mit gerunzelter Stirn durchlas. Er nahm das Papier und scannte es ein, so dass das Bild davon auf seinem Computer erschien, wo er es beliebig bearbeiten und vergrößern konnte.
»Hm , na ja. Ich bin wie gesagt kein Experte für historische Dokumente oder so, aber man kann deutlich sehen, dass das mit einer Feder geschrieben ist. Das Papier ist ohne jeden Zweifel selbst gemacht, hat eine sehr ungleichmäßige Struktur. Man könnte bei dem hohen Anteil an Pflanzenfasern durchaus eine Altersbestimmung machen, wenn du das Geld dazu hast Pete.«, sagte Myers schließlich grinsend.
»Nun ja, das ist glaube ich nicht nötig. Da steht ja klar ein Datum darauf, auf dem Zettel und das was du sagst, bestätigt die Echtheit. Außerdem gibt es ja niemanden, der uns da gegen den Karren fahren will und die Echtheit anfechtet. Carol hat die Kiste geerbt, als letzte in der Familie, also ist der Wunsch der Dame, die es geschrieben hat damit erfüllt.«, meinte Pete darauf und beobachte wie der Mann nun das Kästchen aufmerksam im Schein einer kleinen Lampe drehte und betrachtete.
»Es ist wirklich gut erhalten, wenig genutzt, wahrscheinlich extra für den Zweck, den es erfüllt gebaut. Wisst ihr wer Calum Mac Donald ist?“, fuhr Myers fort und holte eine kleine Pinzette.
„Nein, Keine Ahnung. Mein Onkel Robert wüsste es vielleicht. Er kennt sich besser aus mit unserem Stammbaum.«, meinte Carol darauf.
Myers grinste vielsagend, ging an seinen Computer, rief Google auf und tippte den Namen ein, worauf eine lange Liste auftauchte. »Kein seltener Namen, aber ich glaube weder der Musiker aus Schottland, noch das Mitglied des Parlamentes, haben diese Kiste mit ihren Namen versehen und sie in einem Bankschließfach 195 Jahre aufbewahren lassen. Da müsste man eine konkrete Jahreszahl dazu schreiben, um den zu finden der die Kiste gebaut hat.«, meinte er dann.
Vorsichtig begann er dann an der nachgedunkelten Versiegelung der Kiste zu kratzen, bis er sie mühevoll mit einem Skalpell abgelöst hatte. Doch noch immer gab der Deckel nicht nach. Myers musste doch etwas Gewalt anwenden, wobei einige Kerben in das Holz gerieten, bis die Kiste sich knarrend aufzuhebeln ließ.
Neugierig starrte sie alle auf den Inhalt, doch sie sahen nur ein, der Struktur nach, handgewebtes leinenes, Tuch von grau, gelber Farbe. Vorsichtig faltete Myers es auseinander und es kam ein Stapel Briefe zum Vorschein, die recht alt aussahen. Er nahm sie heraus und legte sie auf den Tisch.
Carol nahm sie nacheinander in die Hand und starrte sichtlich verwirrt darauf. Die Namen sagten ihr zwar überhaupt nichts, doch die Adressen waren eindeutig so, wie sie es kannte. Eine Freundin von ihr hatte in Glasgow studiert und eine der Adressen auf dem Brief war sehr eindeutig. Great Western Road 546 Glasgow G14 6 DE. Sie war verwirrt, doch Myers fuhr fort den Inhalt heraus zu holen.
Unter den Briefen tauchte ein weiteres zusammen gefaltetes Stück Papier auf, das dem das Carol von ihrer Großmutter erhalten hatte sehr ähnlich sah, von der Struktur her.
»Ich möchte denjenigen, der diese Kiste öffnet darum bitten, die Briefe wenn möglich den Leuten zukommen zu lassen, deren Namen darauf stehen.«, las der Mann schließlich vor und gab den Zettel Pete.
»Eindeutig die selbe Handschrift, wie dein Zettel Carol.«, stellte nun auch der junge Mann fest.
Carol nickte nur stumm und starrte fasziniert auf die lederne Tasche, die zum Vorschein kam. Das dunkle Leder, sah fleckig aus und ein fingerstarkes Loch klaffte darin, ein schmaler Ledergürtel hing daran und ein paar lederne Quasten als Verzierung.
»Das ist ein Sporran, diese seltsame Geldtasche, die die Schotten am Kilt tragen!«, entfuhr es Pete und er hob die Tasche vorsichtig aus der Kiste, um sie neben die Briefe zu legen. Er tastet das Leder ab und runzelte die Stirn, während Myers eine Lupe holte und sich das Loch in dem Sporran aufmerksam ansah. Dann nahm der Mann plötzlich einen kleinen Wattetupfer, rieb ihn an einer fleckigen Stelle, ließ ihn in ein Reagenzglas fallen, goss mit einer Faltflasche auf der die Aufschrift prangte ›Aqua dest‹ etwas davon hinein, gab noch ein paar Tropfen aus einem kleinen Fläschchen hinzu, wonach sich das ganze rosa färbte.
»Das konnte ich mir fast denken!«, sagte er schließlich triumphierend.
»Was ist damit?«, fragte Carol vollkommen verwirrt.
»Sehen sie Miss, dieses Loch ist aller Wahrscheinlichkeit nach ein Einschussloch und die Flecken sind eindeutig Blut.«, antworte Myers.
Pete öffnete vorsichtig den ledernen Knebelverschluss und schüttet den Inhalt der Tasche auf den Tisch. Vor den Augen der erstaunten Carol kullerte zuerst ein Ring heraus, ein relativ breiter Ring mit eingravierten keltischen Flechtmustern, gefolgt von einer großen Brosche, die den Kopf eines Einhorns darstellte. Dann fand sie ein paar Münzen, abgegriffenen Spielkarten, Würfel, eine indianisch aussehende Kette, einen hölzerner Rosenkranz mit einem geschnitzten Kruzifix und ein mehrfach zusammengefalteter Zettel, der mehrere dunkel Flecke und Reste eines roten Wachssiegels aufwies.
Pete griff nach den Münzen und drehte sie unter Lampe hin und her. Er erkannte auf der Rückseite eine französische Lilie. »Französisches Geld, nehme ich an?«, meinte er nachdenklich und beobachte wie Myers den Zettel vorsichtig auseinander faltete. Das Papier war dünner, als das was sie bisher aus der Kiste geholt hatten und wohl durch öfters lesen, etwas brüchig und leicht beschädigt.
Als er ihn schließlich unter die Lampe legte, entpuppte sich das Ganze als ein Brief. Das auffälligste waren zwei winzige Fußabdrücke am unteren Rand, unter denen zwei Namen standen. ›Ailean‹ und ›Catriona‹. Der Ganze Brief war in Französisch.
Einen Moment stutzte Carol, der die Sache doch etwas seltsam vorkam. Ein schottischer Sporran mit französischen Münzen, einem Brief in Französisch und eindeutig keltischem Schmuck, das schien nicht zusammen zu passen.
»Kann jemand von ihnen Französisch?«, riss Brandon Myers Frage sie aus diesen Gedanken.
»Nun ja, Carol kann es, glaube ich. Du hast doch in Quebec studiert, nicht wahr?«, wandte sich nun Pete an sie und starrte ebenfalls fasziniert auf den Brief mit den Fußabdrücken.
Die junge Journalistin nickte. Sie hatte ein seltsames Gefühl im Moment. Der Name Quebec weckte eine Erinnerung, die ihr mehr als seltsam vorkam. Sie holte tief Luft und versuchte diese abzuschütteln. Sie berührte vorsichtig den Brief und mit einem Mal blitzte ein Bild vor ihr auf. Sie sah einen Mann in einem dunklen Zimmer, eine Kerze warf eine spärliche Beleuchtung unter der der Fremde den Brief las. Er wiederholte flüsternd die Worte und sie sah dabei seinen Atem kondensieren und fühlte auf einmal die Kälte, als wäre sie selbst dort.
»Carol, was ist mit dir?«, Petes Worte rissen sie zurück in die Realität und sie holte tief Luft.
»Nichts, …nichts…ich, …ich kann Französisch…«, stammelte sie verwirrt, nahm ihre Finger von dem Papier und versuchte sich auf den Inhalt des Briefes zu konzentrieren. Der Schreiber war definitiv kein Muttersprachler, denn sie fand diverse Fehler in der Grammatik, ganz zu schweigen von der Schreibweise selbst.
»Ich will versuchen, es halbwegs zu übersetzen Pete.«, sagte sie schließlich und begann den Brief vorzulesen.
»Mein Liebster,

Zuerst möchte ich dir für deine Zeilen danken, die uns vor wenigen Tagen erreicht haben. Ich hoffe, dass es dir wieder gut geht, nach der fürchterlichen Überfahrt und deiner Krankheit. Es hat mir große Angst gemacht, was du da geschrieben hast.
Aber ich möchte dir jetzt die Neuigkeiten aus Melun mitteilen. Zuerst habe ich eine traurige Nachricht. Dein Chief Charles Stewart of Ardshiel ist gestorben im März. James MacKenzie hat es mir erzählt, als er bei Germain im Laden war. Er meinte, dass Lady Ardshiel vor Kummer auch ganz krank geworden wäre, aber mittlerweile versuche, das Erbe ihrer Kinder zu sichern, besonders das in Appin. Was ich so weiß, wird sie sicher damit Erfolg haben, denn der Chief der Clan Stewart of Appin, den ich kenne führt auch den Titel Ardshiel. Isobell scheint eine Frau mit einem starken Willen zu sein!
Nun die freudige Nachricht, auf die du sicher schon wartest. Am 12. Juni kamen deine Kinder, du liest richtig, es sind zwei geworden, Zwillinge, zur Welt. Ich will dich nicht ängstigen, aber es war eine schwere Geburt. Das Erstgeborenen, eine Tochter kam noch relativ gut zur Welt, doch das zweite Kind, ein Junge lag verkehrt und die Hebamme bemühte sich lange, fast zu lange darum ihn zu drehen. Er ist ziemlich klein und fast eine Woche lang bangten wir um sein Leben. Aber obwohl es mir selbst nicht gut ging, habe ich ihn alle paar Stunden gestillt, ihn ständig bei mit gehabt, um ihn zu wärmen, bis er so viel Lebenswillen hatte, um es zu schaffen. Er ist wirklich ein verdammt zähes kleines Kerlchen und sieht ganz wie du aus.
Ich weiß, dass wir uns nicht einig waren wegen der Namen und ich hoffe du nimmst es mir nicht übel, dass ich selbst eine Entscheidung getroffen habe, was dies angeht. Deinen Sohn habe ich noch am Abend der Geburt Nottaufen lassen, da wir nicht sicher waren, ob er es überlebt. Er wurde auf die Namen Alan, James, Ian getauft und das Mädchen heißt Catriona, Margarete, Sara. Ich hoffe das war in deinem Sinne.
Es gibt auch Zuwachs in der Familie deiner Schwester, sie hat vor wenigen Tagen ein Mädchen auf die Welt gebracht, eine kleine Marìe.
Ansonsten geht das Leben hier seinen normalen Gang und wir warten stets auf Nachrichten aus Neufrankreich, die oft sehr verwirrend sind.
Ich flehe dich an Alan, passe auf dich auf, gehe kein unnützes Risiko ein, denn es lohnt sich nicht. Glaube mir!
David vermisst dich so sehr, er fragt ständig nach dir und weint öfters. Ich warte sehnsüchtig auf Antwort von dir.

Deine dich liebende Frau

Annie Carron D’Artoury«


Sie schwiegen alle betroffen. Es war ein Brief der sie alle rührte und auch einige Verwirrung hervorrief. Ein Brief in Französisch, einem recht holprigen Französisch vollgepackt mit englischen Namen.
»Seltsam, genauso seltsam wie der Inhalt des Sporran Carol, Ich glaube wir müssen mal deinen Onkel in Mabou besuchen, damit er uns da weiter hilft.«, meinte Pete schließlich.
Carol nickte und hatte für einen Moment mit den Tränen zu kämpfen. Sie hatte irgendwie das Gefühl, das dieser Brief, der Sporran mit dem Einschussloch und den Blutflecken ein schweres Schicksal dokumentierten. Ein Schicksal, dass sie berührte.
»Aber es ist die gleiche Handschrift wie auf den Zetteln.«, meinte Myers dazu und begann unberührt weiter die Kiste auszupacken.
Es kam ein Stapel, kleiner gebundener Bücher zum Vorschein, die sich bei kurzer Betrachtung, als Tagebücher entpuppten. Doch was sich darunter befand, ließ sie förmlich erstarren.
Brandon Myers legte ein kleines rotes Büchlein auf den Tisch, auf dessen Vorderseite ein goldener Adler prangte, der schon etwas nachgedunkelt war. Es sah wie ein Pass aus und als er ihn aufschlug wurde diese Vermutung bestätigt. Es war ein Reisepass der Bundesrepublik Deutschland.
Der Mann schlug ihn vorsichtig auf und starrte verwirrt auf die Seite mit dem Passfoto, die in dicke Folie eingeschweißt und seltsam vergilbt war. Er lief eilig zum Scanner und scannte die Seite ein, die dann vergrößert auf seinem Computer auftauchte.
Sie starrten alle drei auf das Foto, das Carol sehr ähnlich sah und auf den Namen darunter.
»Andrea, Maria Schwarz geboren am 23 Februar 1963 in Ludwigstadt Landkreis Kronach.«, las Pete schließlich, wobei er Mühe hatte die eindeutig Deutschen Namen korrekt auszusprechen. »Und sie sieht dir verdammt ähnlich Carol!«, fügte er mit einem kurzen Blick auf seine Freundin und Arbeitskollegin hinzu.
»Das ist seltsam, sehr seltsam.«, stellte Brandon Myers fest und ließ plötzlich ein Personenerkennungsprogramm der Kanadischen Polizei durchlaufen. Es dauerte eine Weile, bis die lapidare Meldung kam:›Keine Übereinstimmung gefunden‹
Dann loggte er sich mit einem Passwort in die Dateien von Interpol ein ließ den Namen Andrea Schwarz dort suchen. Nach einer Weile kam eine Meldung: ›Person seit dem 13. April 1986 vermisst, gesucht von der Strathclyde Police Glasgow. Fall abgeschlossen am 25. September 1986. Person für tot erklärt am 17. April 1988.‹, las er vor.
»Das ist ja ein Ding!«, meinte Pete sichtlich bewegt. Irgendetwas Geheimnisvolles lag in der Luft, etwas was mit dem Inhalt der Kiste zu tun hatte, der so verwirrend war.
»Sind sie sich sicher, dass die Kiste seit 1805 versiegelt in der Bank aufbewahrt wurde?«, fragte Myers nun mit gerunzelter Stirn.
»Soweit ich weiß ja, meine Großmutter hat es mir zugesichert.«, antwortete Carol und schluckte, als sie das Foto auf dem Pass in Computer sah. Dieser Frau war ihr wirklich ähnlich, sie hatte dieselben, leicht schräg stehenden Augen, die hohen Wangenknochen und das dunkle Haar. Nur die Augenfarbe war nicht eindeutig, aber sie stand im Pass…grün, wie ihre Augen, Katzenaugen…
Brandon Myers, sammelte die Wachsreste und die Holzspäne auf, die beim öffnen der Kiste angefallen waren und füllte sie in ein kleines Plastiktütchen.
»Hier ist der Zeitpunkt gekommen, eine Altersbestimmung zu machen Pete. Ich habe einen Bekannten im Museum von Halifax, der so etwas machen lassen könnte. Soll ich ihm das zukommen lassen?«, fragte er schließlich und der junge Fotograf nickte verwirrt.
»Eigentlich müsste ich auch die Behörden über den Pass informieren, besonders Interpol! Die Frau wird seit vierzehn Jahren vermisst!«, fügte er noch hinzu.
Carol schüttelte energisch den Kopf und nahm plötzlich den Zettel, den sie von ihrer Großmutter bekommen hatte. »Erfüllt meine Bitte sie nicht vor dem Jahr 1986 zu öffnen.«
Irgendwie ergab das alles auf einmal einen gewissen Sinn, wenn sie es auch nicht ganz verstand, besonders was die Gefährdung der eigenen Existenz betraf, die die Frau erwähnt hatte.
»Tun sie das nicht Mister Myers, ich bitte sie darum! Ich will zuerst die Tagebücher durchsehen, vielleicht gibt es eine Erklärung dafür! Ich weiß nicht warum, aber ich habe das Gefühl das dieses Familien Geheimnis besser in der Familie bleibt.«, meinte Carol darauf und warf noch einen Blick auf die Briefe, mit den Adressen die sehr Zeitgemäß wirkten.
»Nun gut, aber ich habe kein gutes Gefühl dabei.«, meinte Myers und holte den Pass unter dem Scanner hervor, um ihn neben die anderen Sachen auf den Tisch zu legen.
»Dann schauen wir mal weiter, was noch aus Pandoras Kiste hervor kommt.«, sagte Pete nun und holte einen kleinen Briefumschlag heraus, den er vorsichtig öffnete.
Er enthielt ein Stück karierten Stoff, von der Größe eines Taschentuches, dessen Ränder leicht ausgerissen waren und darin eingeschlagen, lag eine Fingerbreite schwarze Haarlocke von etwa zehn Zentimetern, die mit einem blauen Seidenbändchen zusammengehalten wurde.
Sie sahen alle fasziniert darauf und Carol berührte sie vorsichtig, zog ihre Hand aber sofort zurück, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen.
Pete registrierte betroffen wie sie blass wurde und zu schwanken begann. »Was ist los mit dir Carol?«, fragte er besorgt.
»Nichts Pete, gar nichts…«, stammelte die junge Frau und holte tief Luft.
Brandon Myers hob die Locke vorsichtig mit der Pinzette an und legte sie unter ein Mikroskop.
Das Bild das sie schließlich auf dem Computer sahen, war ebenfalls seltsam, irgendwie schienen die Haare mit einer dunklen Substanz aneinander geklebt zu sein.
»Darf ich ein paar davon untersuchen?«, fragte er zögernd und als Carol stumm nickte, löste er mit der Pinzette ein paar Haare ab, um sie ähnlich zu behandeln wie er es zuvor mit dem Wattetupfer getan hatte. Erneut färbte sich die Flüssigkeit im Reagenzglas rosa.
»Blut…«, stammelte die junge Journalistin und schüttelte stumm den Kopf.
»Es ist im 18. Jahrhundert so ein Tradition gewesen, die Haarlocken von Angehörigen aufzubewahren, die man verloren hat. Sicher gehört das irgendeinem von ihren Vorfahren Miss Mac Innes. Mit dem Blut daran, könnte man einen Gentest machen und das nachweisen.«, meinte Myers nun.
»Ich weiß nicht ob ich das will, es würde sicher nichts daran ändern, wer oder was ich bin.«, meinte die junge Frau dazu und sah wieder in das Holzkästchen.
Sie hob einen weiteren Briefumschlag heraus, der wie die anderen selbst angefertigt zu sein schien, aus dickem handgeschöpftem Papier. Er enthielt mehrere Fotos, die schon arg gelitten hatten. Sie waren eingerissen, zerknittert und die Farben waren allesamt verblasst. Es war das Foto eines jungen Mannes, groß dunkelhaarig mit Brille, der auf einer Bank saß, auf einem großen Platz. Im Hintergrund waren Doppeldeckerbusse zu erkennen und Gebäude im Viktorianischen Stil. Typisch Englisch, dachte Carol für einen Moment.
Das andere Foto zeigte, drei Menschen, ein älteres Ehepaar und einen jungen Mann in einer Art Wohnküche am Tisch sitzend. Die Journalistin konnte bei der Frau eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Foto im Pass erkennen. Als sie die Fotos umdrehte konnte sie einen verblassten Datumsaufdruck erkennen. Einmal das Jahr 1981 und dann 1985.
Doch nicht nur die Fotos verwirrten sie, sondern auch noch ein kleiner silbern schimmernder Gegenstand. Es war Irgendetwas in Aluminiumfolie eingewickelt, die schon stark angelaufen war. Als Carol die vorsichtig aufwickelte, wobei die Folie fast schon zerbröckelte, kam eine Filmrolle zum Vorschein, wie sie für gewöhnliche analoge Kleinbildkameras verwendet wurde.
Pete starrte auf die Rolle und schüttelte den Kopf. »Es wird immer verwirrender! Ich bin gespannt was da drauf ist.«, sagte er schließlich und sah Carol fragend an.
»Darf ich sie mit ins Labor nehmen und entwickeln?«, fragte er schließlich.
Die junge Journalistin nickte stumm und holte tief Luft, als sie weitere Gegenstände aus der Kiste auf den Tisch legte. Ein weiterer Briefumschlag, mit einem Brief und einer Kette mit einem Amulett und eine kleinen hölzerne Miniatur, das Portrait eines blonden kleinen Mädchens, dessen strahlend blaue Augen Carol sofort auffielen.
Als sie das Amulett aufklappte waren da zwei weiter Miniaturen zu sehen ein Mann und eine Frau. Eine gewisse Ähnlichkeit zu dem Kind war festzustellen, so dass sie vermutete, dass sie die Tochter der Beiden war. Es waren zwei Namen eingraviert unter den Bildern. Malcolm Mac Donald und Alexandra Mac Coll. Noch etwas, was Carols Onkel heraus finden musste.
Der Brief, den sie schließlich aufschlug war in einer Sprache, die sie im ersten Moment nicht deuten konnte. Es war weder Englisch noch Französisch und doch kamen einige Worte ihr seltsam vertraut vor.
»Was ist das für eine Sprache?«, fragte nun auch Pete und Brandon Myers warf einen kurzen Blick darauf.
»Es sieht aus wie Gälisch, obwohl es seltsam geschrieben ist, so mit Großschreibung, kenne ich es nicht.«, meinte der Mann darauf.
»Können sie Gälisch?«, fragte Carol erstaunt.
Myers schüttelte den Kopf. »Nein ich nicht, meine Ex konnte es. Ihre Großeltern waren aus Schottland, von den Äußeren Hebriden.«
Carol steckte den Brief zurück in den Umschlag auf dem sie nun einen verwischten Schriftzug entdeckte. »Charles.«, las sie vor und begann plötzlich in ihrer Tasche zu kramen.
Aus ihrem Terminkalender holte sie ein Foto heraus, das Foto von dem Grabstein auf dem alten Friedhof in Mabou.
»Geliebte Frau von Charles Mac Donald!«, entfuhr es ihr.
Ihre Abstammung schien wirklich sehr verwirrend zu sein. Auf jeden Fall, musste sie ihren Urlaub im Oktober dazu verwenden, ihren Onkel Robert aufzusuchen, der konnte ihr bestimmt helfen, dachte Carol in dem Moment.
Ganz zu unters in der Kiste kam nun erneut etwas zum Vorschein, was gewissenhaft in Ölpapier eingewickelt war.
Es war eine Bibel, eine ganz besondere, was erneut Brandon Myers auffiel. Es war eine Gälische Ausgabe der Heiligen Schrift, gedruckt 1748 in Paris.
Es war eine Art Familienbibel, auf deren ersten Seiten eine Heiratsurkunde und mehrere Geburtsurkunden waren. Die Namen darauf verwirrten Carol noch mehr. Zum ersten Mal las sie hier den Familiennamen Stewart, den sie in diesem Zusammenhang nur in dem Brief aus dem Sporran gehört hatte. Dann tauchte bei den letzten drei Geburtsurkunden der Name Mac Donald wieder auf, was irgendwie keinen Sinn zu ergeben schien.
»Das ist ein wirklich wertvolles Stück Miss Mac Innes, diese Bibel ist ein Vermögen wert, glaube ich. Sie sollten wirklich einmal meinen Kollegen Doktor Cameron im Museum besuchen. Diese Dinge hier, ihr Erbe, ist zu einem sehr merkwürdig und zum Anderen für einen Historiker sehr interessant.«, meinte Myers.
Carol nickte stumm und fuhr mit der Hand über die Tagebücher. Erneut fühlte sie das seltsame Kribbeln in ihren Fingern, wie vorhin schon bei der Haarlocke, sah sie plötzlich eine Frau, das Haar sorgfältig unter einer weißen Spitzenhaube verborgen an einem Tisch sitzen und bei Kerzenschein mit einer Feder in das Buch schreiben.
Sie musste sich mit Gewalt von diesem Bild, diesem Tagtraum lösen und holte tief Luft.
Sie hatte wirklich ein seltsames Erbe angetreten und es fiel ihr schwer eine Erklärung für all das zu finden.
»Ich danke ihnen Mister Myers, ich weiß noch nicht was ich wegen das Passes machen werde, aber ich glaube, ich brauche ein Weile um die Tagebücher durchzulesen, denn ich vermute darin ist eine Erklärung für all dies hier! «, meinte Carol und begann sorgfältig alles zurück in die Holzkiste zu packen. Pete half ihr stumm dabei, während Myers die eingescannten Bilder auf seinem Computer speicherte, für alle Fälle bemerkte er dabei.
»Soll ich Doktor Cameron anrufen, wegen der Altersbestimmung und den ganzen Dokumenten?«, fragte er schließlich und Carol zögerte einen Moment.
»Ja, tun sie dass, vielleicht kann ich einen Termin bei ihm haben, wenn ich aus Mabou zurückkomme. Ich habe Anfang Oktober Urlaub und will meinen Onkel besuchen, der sich mit unserer Familiengeschichte besser auskennt, als ich.«, sagte sie schließlich und Myers nickte stumm darauf.
»Ich habe ja Petes Handynummer, ich schicke ihm eine SMS mit dem Termin. Abgemacht?«, sagte er schließlich und gab Carol die Hand, die darauf ebenfalls nickte.
Sie packte die Kiste vorsichtig zurück in die Tasche von der Bank und verließen das Gerichtsmedizinische Institut.
Draußen vor der Tür holte Carol tief Luft und sah auf den Verkehr auf der Straße. Es kam ihr alles ziemlich befremdlich und seltsam vor. Ihr war, als käme sie aus einer fremden Welt, als wäre sie durch die Zeit gereist!

Übers Meer



Brest, 5. April 1756



Ein jegliches hat seine Zeit und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.




Alan wusste nicht so richtig, was ihn geweckt hatte. Ein stürmischer Wind peitschte den Regen gegen die Fenster der Herberge im Quartier de Sept Saints in Brest, fauchte im Kamin und ließ die abgedeckte Glut kurz aufleuchten. David, der auf seinem behelfsmäßigen Strohsack lag, weinte leise und rief nach ihm. Andrea drehte sich brummend herum und murmelte irgendetwas Unverständliches im Schlaf.
»Dadaidh?«, kam es erneut von seinem dreijährigen Sohn, der leise schluchzte.
»Was ist Davie, hast du schlecht geträumt?«, fragte er ebenfalls leise und schlüpfte missmutig aus dem Bett, um eine Kerze anzuzünden, mittels eines Holzspans, der am Kaminfeuer in Brand gesetzt hatte.
Der kleine Junge rieb sich müde die Augen, die gerötet waren. Er hatte schon am Abend bitterlich geweint, weil er nicht verstehen konnte, dass Alan wegging, ihn und Andrea verließ, weil sein Schiff morgen nach Quebec auslief. Wie sollte es auch ein Dreijähriger verstehen, wenn es ihm selbst so schwer fiel. Aber er hatte keine andere Wahl. Sein Regiment wurde nach Neu Frankreich versetzt, das Regiment in dem er erst seit ein paar Monaten diente.
Alan leuchtete seinem Sohn ins Gesicht, der runden kindlichen Ausgabe seines eigenen, mit den frappierenden Unterschied, das er Andreas Katzenaugen hatte und sein Haar nicht ganz so dunkel war. »Willst du zu uns ins Bett Davie?«, fragte er schließlich, weil er wusste, dass dies wohl das einzige Ziel des Jungen war. Sie hatten ihn am Abend sowieso nur ausquartiert, um eine wenig Intimität zu haben, noch einmal miteinander zu schlafen, bevor er morgen abreiste.
Alan hatte es zärtlich und vorsichtig getan, denn Andreas Umfang ließ kaum irgendwelche Akrobatik zu. Sie war schwanger und obwohl es noch ganze drei Monate dauern sollte hatte sie schon einen ziemlichen Bauch.
Das der Schotte sie gerade jetzt allein lassen musste missfiel ihm noch mehr, als das Ziel seiner Reise – Kanada. Alles was er bis jetzt davon gehört hatte, war eine Ansammlung von negativen Dingen. Es sollte verdammt kalt dort sein, menschenleer, wild und von den Bewohnern hörte man noch schlimmeres. Die Kanadier seien faul, eigensinnig und dumm und die Wilden dort Barbaren, die Gefallen an Menschenfleisch fanden. Nichts also nach was ihm der Sinn stand.
Alan hob seinen Sohn hoch und trug ihn zu dem breiten Bett, wo der Junge schnell unter die Decke schlüpfte und sich an seine Mutter schmiegte. Er selbst kroch zurück in seine warme Kuhle, neben ihr und der Schlaf übermannte ihn wieder.
Als er wieder wach wurde, schien die Sonne ins das Fenster und das Rollen der Trommeln, begleitet von dem Pfeifen der Querflöten, malträtierte seine Ohren.
»Mon Dieu, das sind ja gute Aussichten…das muss ich jetzt Wochenlang ertragen!«, entfuhr es ihm halb Französisch und Gälisch. Er öffnete zögernd die Augen und sah in Andreas Gesicht, die ihm zärtlich die aufgelösten Haare aus dem Gesicht strich.
»Wo ist Davie?«, fragte er zögernd, da er den Jungen weder hörte noch sah.
»Sine hat ihn schon recht zeitig geholt, damit wir noch ein paar Minuten für uns haben.«, antwortete die junge Frau mit einem geheimnisvollen Lächeln im Gesicht und küsste ihn zärtlich.
»Ein paar Minuten für uns, ganz für uns…Was hast du damit vor?«, flüsterte er lächelnd und streifte die Träger des Unterkleides herunter, das Andrea trug.
»Die Frage ist, was du vorhast?«, sie lächelte ebenfalls und ihre Hände glitten unter sein Hemd.
»Ich würde gern das von gestern Abend fortsetzten, wo du so schnell eingeschlafen bist.«, fügte sie dann hinzu und ihre Berührungen ließen ihn aufstöhnen.
»Ich bin nicht eingeschlafen, du bist es!«, verteidigte er sich und begann ihre Brüste zu küssen, die im Moment so wundervoll fest und groß waren.
Andrea fuhr ihm dabei durch die Haare und brummte genüsslich, als er sich tiefer über ihren runden Bauch schob und das Unterkleid herunter zog.
Eine Welle der Bewegung lief über ihren Bauch und Alan hielt einen Moment inne, um das fasziniert zu beobachten und sanft seine Hand darauf zu legen. Er hatte bei dieser Schwangerschaft zum ersten Mal von Anfang an daran teil gehabt, das erste zärtliche Klopfen bemerkte, die Bewegungen gefühlt ohne von einer Panik erfasst zu werden, wie bei David. Damals hatte ihn die Erinnerung an das schwere Schicksal seine Schwester Catherine so gehemmt und ihm Angst gemacht.
Dieses Mal konnte er auch mit Andrea intim werden ohne immer wieder jene Bilder zu sehen, wie der Rotrock seine hochschwangere Schwester vor seinen Augen vergewaltigt hatte. Er wusste das es nicht das gleiche war, denn er war zärtlich und rücksichtsvoll und genau das wollte er jetzt, denn es würde ein letztes Mal sein, für eine ungewisse lange Zeit.
Oh Gott, wie sollte er das aushalten ohne sie…
Sie waren seit gut drei Jahren verheiratet, drei Jahre die alle Höhen und Tiefen hatten, die in einer Beziehung so auftauchen konnten. Sie hatte den allerschlechtesten Start gehabt, den man haben konnte. Andrea hatte sich kurz nach ihrer Ankunft in Frankreich von ihm getrennt und das aus guten Grund. Alan war damals mit sich und seinem Leben nicht mehr zurechtgekommen, alles war ihm aus dem Ruder gelaufen. Die Verachtung und Ablehnung, die ihm bei der Garde Ecossais entgegenschlug, konnte er nicht verstehen und er hatte zu Trinken begonnen und sich sinnlos geschlagen. Am Ende war er sogar gewalttätig gegen Andrea geworden, die damals schon sein Kind trug, wovon er allerdings nichts wusste. Aber auch wenn er es gewusst hätte, hätte das wohl nichts an seinem unmöglichen Verhalten geändert. Sie hatte Recht getan ihn zu verlassen, denn nur das und der Versuch der Campbells ihn mit Hilfe von James More Mac Gregor zu entführen, brachten ihn wieder zur Vernunft. Doch damals hatte er geglaubt Andrea für immer verloren zu haben.
Das es nicht so gekommen war, war allerdings nicht unbedingt sein Verdienst. Andrea hatte ihm verziehen und besonders auch zum Wohl ihres Kindes, ihm noch einmal eine Chance gegeben. Er war ihr unendlich dankbar dafür.
Doch um sich selbst und seine Familie zu schützen, hatte er bereits zweimal das Regiment gewechselt. Zuerst diente er als Junior- Leutnant im Regiment Boullion und nun war er zu La Sarre gegangen, um seine Verfolger abzuschütteln. Er war mittlerweile Capitaine und ein angesehener Offizier, etwas was er sich mühevoll erkämpft hatte, genauso wie seinen ›Nom de Guerre‹, der es ebenfalls unmöglich machte Alan Breck Stewart aus Appin in den Listen der Französischen Armee zu finden. Er hatte sich in Nichts aufgelöst!
Sanft strich Alan seiner Frau über den Bauch und ließ seine Hand langsam tiefer gleiten zwischen ihre Schenkel. Sie öffnete sich ihm und er genoss es sie zu verwöhnen, bis sie schließlich seine Hände fest hielt und ihn sanft zurück aufs Laken drängte, um sein Hemd aufzuknöpfen und es ihm schließlich über den Kopf zu streifen.
Dann setzte Andrea sich rittlings auf ihn, nachdem sie ihn stürmisch geküsst hatte und half ihm seinen Weg zu finden. Er streichelte sie sanft, während sie sich auf ihm bewegte und er genoss das sie den Rhythmus und das Tempo bestimmte. Er schloss die Augen und wünschte sich nur noch, dass dieser Augenblick nie zu Ende gehen würde.
Doch leider ging er zu Ende, wenn es auch ein überwältigendes Gefühl war, eins mit seiner Frau zu sein. Doch am Ende deprimierte es ihn nur, denn es war das letzte Mal, endgültig das letzte Mal.
Schweratmend, lagen sie schließlich nebeneinander. Andrea hatte sich in die Rundung seines Körpers geschmiegt und er hatte die Hand über ihren Bauch liegen.
»Oh Gott Annie, ich wünschte ich könnte die Zeit anhalten. Ich will verdammt noch mal nicht auf dieses Schiff…«, entfuhr es ihm plötzlich.
»Ich will auch nicht dass du gehst, aber ich glaube wir haben keine Wahl!«, sagte Andrea und er ihre Stimme zitterte. Gar zu gern wollte sie das Alan blieb, doch sie wusste auch dass es nicht ging. Er konnte nicht einfach erneut das Regiment wechseln, gerade wo er zum Capitaine befördert worden war, etwas Seltenes für einen Bürgerlichen. Normalerweise kostete die Stelle eines Capitaines ein Vermögen. Etwas was sie nicht hatten. Alan blieb nichts anderes übrig, als nach Neu Frankreich zu gehen in einen Krieg, der von den Mächtigen Europas in die Wälder Amerikas getragen worden war.
Es machte Andrea Angst, dass sie eigentlich überhaupt nichts Konkretes über diesen Konflikt wusste. Es würde irgendwann 1776 eine unabhängige Staatengemeinschaft in Amerika geben, aber ob das, was jetzt im Moment dort geschah, dazu gehörte, ob es einfach der Anfang war, der Anfang des Unabhängigkeitskrieges der Vereinigten Staaten, das konnte sie nicht sagen. Warum hatte sie nicht besser in der Schule aufgepasst?
Und dann war noch jenes Bild, das sie bereits zweimal gesehen hatte, das Schlachtfeld voller Blumen… Etwas , was sie ihrem Mann nie gesagt hatte.
Alan seufzte und das ständige Rollen der Trommeln erinnerte ihn daran, dass er sich bei seinem Kommandanten Etienne Guillaume de Senezergues melden musste, bis spätestens Mittag. Zum Glück hatte er seinen beiden Leutnants Monsieur De Romanya und Guillaume Meritenir die Aufgabe übertragen könne, die Männer seiner Kompanie zu sammeln, zu überprüfen und für die Einschiffung vorzubereiten.
Der Gedanke an De Romanya bereitete Alan Kopfschmerzen. Der Mann mochte ihn nicht, er verachtet Alan weil im Gegensatz zu dem Leutnant ein Bürgerlicher war, der weder Grundbesitz hatte noch Adlig war. Noch dazu kam, dass Alan Ausländer war. Nur wenige wussten, von seiner Herkunft und er ging damit auch nicht hausieren. Nicht nachdem, was vergangenes Jahr in Paris geschehen war, als er noch als Leutnant im Regiment Boullion gedient hatte. Er war in der Nacht auf dem Weg zu seinem Quartier überfallen worden und wäre nicht zufällig ein Passant ihm zu Hilfe geeilt und hätte die Stadtwachen alarmiert, hätte er entweder mit einem Messer in Rücken, oder geknebelt und gefesselt auf einem Schiff in Richtung England geendet. Noch schienen die Campbells es nicht aufgegeben zu haben seiner habhaft zu werden.
Dass er nun auf dem Weg nach Neu Frankreich war, gab ihm eine gewisse Sicherheit, doch das half nicht gegen die Sorgen, die er sich um seine Familie machte. Alan schmiegte sich erneut sanft an seine Frau und strich ihr zärtlich über den Bauch.
Er mochte nicht daran denken, dass die Stunde des Abschieds unverrückbar näher kam und dass er keine Wahl hatte. Er musste Andrea und seinen Sohn verlassen. Er würde nicht dabei sein, wenn sein zweites Kind geboren wurde und er wusste nicht, ob Gott sich gnädig erweisen würde und es ihm vergönnt war, es je zu Gesicht zu bekommen.
Es missfiel Alan ebenfalls, dass er seine Frau und sein Kind bei seinem Schwager, Germain Cuisac zurücklassen musste. Aber sie mit nach Neu Frankreich zu nehmen, erschien ihm hochgradig riskant. Er wusste nicht was ihn dort erwartete, ganz davon zu schweigen das die Überfahrt in ihrem momentanen Zustand seine Frau und das Kind umbringen konnte, das sie trug. Vielleicht würde er Andrea nachholen, wenn er einen Platz zum Leben gefunden hatte. Jedenfalls war seine Frau nicht abgeneigt, ihm nach Quebec zu folgen.
»Oh mein Gott Annie, ich glaube ich muss endlich aufstehen. Wir können hier nicht ewig so liegen, egal wie schön es ist. Ich muss bis Mittag bei meinem Colonel sein, ich habe außerdem Hunger und…«, Alan konnte den Satz nicht fortsetzen, denn ein zögerliches Klopfen an der Tür, unterbrach ihn.
»Monsieur, Madame, darf ich hereinkommen und den Kamin anfeuern?«, fragte eine Magd vor der Tür und Alan zog hastig die Bettdecke über sich und Andrea.
»Nein Danke, aber Ihr könnt heißes Wasser bringen! Außerdem hätten wir gern ein Frühstück unten in der Gaststube!«, rief Alan in Akzentfreiem Französisch und die Schritte entfernten sich wieder.
»Wir sollten wirklich aufstehen Annie.«, meinte der Schotte, da seine Frau keinerlei Anstalten machte aus dem Bett zu kommen, während er schon die Bettdecke hochgeschlagen hatte.
Doch Andrea hielt ihn am Arm fest, als er von ihr wegrücken wollte. »Nein Alan, ich will dich noch einmal fühlen, schlafe noch einmal mit mir.«, bat sie und der Mann musste unwillkürlich lächeln.
Seit sie schwanger war, war die junge Frau wirklich unersättlich, was dies anging und natürlich genoss er es. Aber im Moment fand er es ein wenig unangebracht, auch wenn er den Gedanken daran nicht als unangenehm empfand.
»Aber Annie, die Magd ist gleich mit dem Wasser wieder da und außerdem kann ich nicht schon wieder, hier fühle es selbst.«, mit diesen Worten führte er ihre Hand zwischen seine Schenkel, wo ihre Berührungen aber genau das Gegenteil von seiner Aussage verursachten.
»Oh Gott Annie, du bist unersättlich…«, flüsterte Alan, während er von den Händen seiner Frau geführt erneut in sie eindrang.
Er war schnell, viel zu schnell für seine Begriffe, doch die Angst, dass die Magd hier mitten in ihre Intimitäten herein platzte, war zu groß. Aber seine Frau schien Gefallen an dem zu finden und ihr Stöhnen war unter Garantie draußen zu hören gewesen, als es erneut klopfte.
Die Magd huschte herein und stellte den Eimer mit dem Wasser ab, bedacht keinen Blick auf die Bewohner des Zimmers zu werfen, die sich unter der Bettdecke verbargen. Aber sie war dergleichen gewöhnt und das der Offizier, der hier mit Frau und Kind logierte, bevor er mit seinem Schiff nach Neu Frankreich auslief, es mit eben jener Frau am hellen Tage trieb, war ihr auch egal.
Als die Tür sich wieder schloss, ließ Alan einen erneuten tiefen Seufzer hören und glitt nun endgültig aus seiner Frau, so sehr es ihm selbst auch missfiel.
Andrea beobachte ihn aufmerksam, als er aus dem Bett schlüpfte, sich Wasser in die Porzellanschüssel eingoss und sich wusch. Ein letztes Mal konnte sie ihn betrachten, seinen Körper sehen, so wie sie ihn liebte. Alan war keine ausgesprochene Schönheit, was aber hauptsächlich an den tiefen Narben, den Spuren der Pocken lag. Ansonsten aber hatte er eine gute Figur, war groß, schlank, muskulös und sie wusste, dass er ihr fürchterlich fehlen würde. Nicht etwa das, was sie gerade getan hatten, nein er würde ihr und David als Person fehlen, als Anker in ihrem Leben und die Angst, ihn dort in der fernen Neuen Welt zu verlieren, wurde mit jeder Stunde die verstrich größer. Doch sie hatten keine Wahl!
Schließlich stand auch Andrea auf, wusch sich ebenfalls und zog sich an, wobei Alan ihr half, genauso wie sie ihm die Haare kämmte, flocht und schließlich mit einem dunklen Stoffband umwickelte.
Als er schließlich angezogen mit seiner Uniform vor ihr stand und sich das Schwert umband, kamen ihr die Tränen. Warum musste sie einen Mann lieben, der Soldat war?
Es dauerte eine Weile bis sich die junge Frau wieder beruhigt hatte, etwas was nicht unbedingt Alans Stimmung hob. Doch schließlich konnten sie in die Gaststube gehen, wo schon ein Tisch für sie gedeckt war.
Die Herberge, war genauso wie alle anderen Tavernen überfüllt mit Soldaten und Offizieren der Regimenter, die nach Neu Frankreich verlegt wurden. Es herrschte ein leichtes Chaos, doch einige Männer vergnügten sich vor der Abfahrt noch mit Trinken und Frauen, was Alan keinem Übel nehmen konnte. Schließlich hatte nicht Jeder seine Frau bei sich, so wie er. Das war sowieso eher ein Privileg der höheren Ränge.
Alan musste sich regelrecht zu seinem Tisch durchkämpfen, der in einer Ecke, unter einem Fenster stand das hinaus auf den Kai ging. Zuletzt versperrte ihm eine Gruppe aus seinem eigenen Regiment den Weg. Es waren ein Sergeant, ein Korporal und mehrere einfache Soldaten.
»Sergeant Collet, wenn Ihr so freundlich wärt, mich und meine Frau zum Tisch zu lassen!«, sprach er den Sergeanten an, der mit dem Rücken zu ihm stand, während die anderen Männer, unter ihnen sein Diener Pierre Delboro ihm bereits auswichen und stramm standen.
»Vergebt mir Capitaine D’Artoury!«, entfuhr es dem Mann. Er schien sichtlich erschrocken zu sein, dass sein Capitaine hier auftauchte.
»Solltet Ihr nicht alle am Sammelpunkt am Hafen sein und Euch bei Lieutenant Meritenir melden zur Einschiffung?«, entfuhr es Alan, dem sofort aufgefallen war, das besonders die einfachen Soldaten ihn ängstlich beäugten. Sie wusste genau, dass sie hier nicht mehr sein durften.
Collet zog erschrocken seine Taschenuhr aus der Weste und starrte darauf. Er wurde blass und schluckte.
»Jawohl Capitaine D’Artoury, wir gehen sofort…«, entfuhr es ihm schließlich recht kleinlaut. Andrea beobachte amüsiert, wie der Mann sich straffte, die Soldaten finster ansah und ihnen befahl sich aufzustellen. Dann rauschte die ganze Truppe unter nicht gerade freundlichen Kommentaren der Seeleute und Hafenarbeiter, die den Schankraum bevölkerten zur Tür hinaus.
Alan schüttelte finster den Kopf, er wusste dass er seine Kompanie noch schleifen musste in den nächsten Wochen, die sie auf See verbringen würden. Das würde ihn auf jeden Fall davon abhalten Heimweh zu bekommen oder überhaupt an Andrea zu denken. Er warf noch einen kurzen Blick auf seine Frau, der man den Abschiedsschmerz deutlich ansah und er wusste das es ihm sicher schwer fallen würde, nicht an sie und seine Kinder zu denken, besonders an sein Ungeborenes.
Andrea schien das Frühstück nicht so recht zu munden, sie aß nur sehr wenig. Der Appetit war ihr gründlich vergangen, seit sie in der Gaststube saß. Brest behagte ihr überhaupt nicht.
Sie waren schon eine Woche hier und hatten seit dem auf die Ankunft von Alans Grenadierkompanie gewartet, die auf den langen Marsch von Rennes hierher war. Seit Alan Anfang des Jahres in das Regiment La Sarre eingetreten war, hatten sich die Dinge einfach überschlagen.
Andrea spürte dass ein Krieg in Europa unausweichlich zu sein schien. Frankreich und England hatten sich offensichtlich in den amerikanischen Kolonien in der Wolle, was sicher auch in Europa zu Konflikten führen würde. Sie fürchtete, egal wo Alan diente, dass sein Leben in Gefahr geraten würde. Doch als der Schotte dann im Februar mit der Neuigkeit kam, das ausgerechnet das 2. Bataillon, dem er angehörte nach Neu Frankreich versetzt wurde, war sie schockiert.
Sie hatte manchen Abend gestritten und Andrea war es schwer gefallen sachlich zu bleiben. Es war die nackte Angst Alan zu verlieren, denn sie konnte die Bilder nicht abschütteln, die sie gesehen hatte. Aber mittlerweile war sie sicher, dass es egal war, was sie tat, das Schlachtfeld mit den Blumen konnte Überall sein. Doch sie wagte es nicht Alan etwas darüber zu sagen. Sie wusste zu genau, was dabei herauskam, wenn man versuchte das Schicksal zu ändern.
Nach dem Frühstück gingen sie gemeinsam zu der Herberge, in der Sine und Germain wohnten und wurden dort freudig von David begrüßt, der jedoch schwer enttäuscht war, als sein Vater sich mit seinem Onkel auf das Zimmer zurückzog, wo er noch einige Dinge zu klären hatte.
Während dessen versuchte Andrea gemeinsam mit Sine und deren zweijährigen Sohn Julien, sich noch einen schönen Tag in der Stadt zu machen. Doch es war schwer ein ruhiges Plätzchen zu finden. Die Einwohnerzahl von Brest hatte sich mit der Ankunft der Soldaten, die sich nach Neu Frankreich einschiffen sollten verdoppelt und man konnte kaum eine Straße entlang gehen, ohne angerempelt oder gar angepöbelt zu werden. Noch dazu war es schier unmöglich mit zwei kleinen Kindern, deren Bewegungsdrang durch das unstete Wetter des Monats April, ja sowieso schon eingeschränkt war, einmal ein paar Minuten irgendwo sitzen zu bleiben. Am Ende war Andrea froh zurück in die Herberge zu kommen, wo Sine und sie die beiden Junges unter der Aufsicht einer Magd ins Bett steckten, um noch einmal reden zu können.
Ich danke dir Sine, das du uns noch ein paar Minuten für uns gelassen, indem du David heute früh genommen hast!“, bedankte sich Andrea bei ihrer Schwägerin, die daraufhin wissend lächelte.
»Ich hoffe ihr habt sie gut genutzt, denn mein Bruder wird das sicher vermissen, er wird dich und Davie grauenvoll vermissen!«, meinte sie schließlich.
»Ich kann gar nicht sagen wie elend ich mich fühle, ich könnte den ganzen Tag heulen, wenn ich daran denke, wie lange ich ihn nicht mehr sehen werde…vielleicht nie wieder…«, die junge Frau schluchzte und zog ein Taschentuch aus der Tasche ihres Rockes.
»Daran solltest du nicht denken Annie, denk einfach nicht daran. Du wirst ihn wieder sehen, verlier die Hoffnung nicht.«, versuchte Sine ihre Schwägerin zu beruhigen. Sie wusste, dass diese ganze Aufregung nicht gut für das Kind war, das Andrea erwartete.
Als ob das eine Bestätigung benötigte, hielt die junge Frau ihre Hand auf den Bauch und holte tief Luft.
»Denk an das Kleine Annie, du darfst dich nicht aufregen!«, ermahnte Sine sie und legte sanft den Arm um Andreas Schultern.
»Ich gebe mir Mühe! Aber es ist nur so schwer, weil er so weit weg ist. Ich habe mich ja daran gewöhnt, das Alan nicht immer bei mir ist, aber auf unbestimmte Zeit tausende Meilen von ihm getrennt zu sein, ist wirklich schwer.«, versuchte Andrea sich selbst zu beruhigen.
»Du weißt, dass es so besser ist. Dort in Neu Frankreich kann ihm nicht noch einmal dasselbe passieren wie voriges Jahr in Paris Annie!«, versuchte Sine nun dieses Argument anzubringen, denn sie wusste wie Andrea sich damals aufgeregt hatte.
Die junge Frau nickte daraufhin nur stumm und schnäuzte sich erneut die Nase. Sie hatte das nicht vergessen.
Es war Anfang November 1755 gewesen, als Alan aus Paris zurückgekommen war, völlig unerwartet.
Sie wohnten damals noch in dem kleinen Häuschen am Rande von Montereau, das sie gemietet hatten, obwohl Alan Pläne hatte nach Paris zu ziehen, damit er öfter zuhause war.
Sie war zu Tode erschrocken gewesen, als sie sah in welchen Zustand der Schotte war. Er hatte einen Verband um den Kopf, sein Gesicht war verschwollen und von blauen Flecken und Abschürfungen übersät, genauso wie der Rest seines Körpers. Er hatte mehre gebrochene Rippen und war nicht nur körperlich angeschlagen.
Alan wusste nicht zu sagen, wer ihn überfallen hatte und an den eigentlichen Überfall konnte er sich nur vage erinnern. Wer auch immer es auf ihn abgesehen hatte, wollte nicht sein Geld, denn das hatte er, als er im Hospital wieder zu sich kam, alles noch bei sich. Der Mann der ihm geholfen hatte berichtete nur, dass die Männer in einer Kutsche geflohen seien, was ihn sofort an eine Entführung denken ließ.
Nach diesen Vorfällen hatte Alan schließlich seinen Dienst quittiert und seinen Laird, Charles Stewart of Ardshiel erneut gebeten ihm zu helfen. Das war etwas, was immer Andreas Misstrauen schürte. Es schien für alle Außenstehende der Judaslohn für den feigen Mord an Colin Campbell of Glenure zu sein, etwas was Alan vehement abstritt und sie selbst nie glauben wollte.
Worin genau die Hilfe bestand, konnte die junge Frau nicht erfahren, denn Alan schwieg beharrlich, genauso wie er beharrlich den Namen des wahren Schützen für sich behielt.
Jedenfalls war er Anfang des Jahres mit einem Offizierspatent als Capitaine im Regiment La Sarre gekommen und hatte ihr verkündet, dass sie nach La Rochelle ziehen würden.
Nun war es ganz anders gekommen und sie fürchtet sich vor dem Abschied heute Abend, der unausweichlich näher rückte.
»Ich hoffe er ist dort wirklich sicher Sine. Ich komme mir nur so schlecht vor, dass ich euch jetzt auf der Tasche liege, dir und Germain!«, meinte sie schließlich kleinlaut.
»Erstens liegst du uns nicht auf der Tasche Annie, denn Alan lässt einen Teil seines Soldes an Germain auszahlen, der das Geld verwaltet und außerdem, bin ich froh dich bei mir zu haben, weil sich Julien und Davie so gut verstehen!«, versuchte Sine diese Bedenken zu zerstreuen.
Andrea verstand sich selbst bestens mit Alans Schwester, die ihm so gar nicht ähnlich war, weder äußerlich noch dem Charakter nach. Sine und ihr Mann Germain, waren die Sanftmut in Person!
Dennoch war es ihr zuwider, den beiden eine Last zu werden, besonders wenn das Kind im Juni kommen würde. Das Kind, das nicht nur eines war, wie sie vor wenigen Tagen von der Hebamme erfahren hatte.
»Ach Sine, es ist trotzdem schwer…«, begann Andrea und sah ihre Schwägerin überlegend an. »Ich weiß nicht, ob ich euch nicht doch zur Last werde. Es werden nämlich zwei Kinder, ich erwarte Zwillinge!«, gestand sie schließlich.
»O mo chreachd, O mein Gott Annie, zwei Kinder!«, entfuhr es der jungen Frau erschrocken und sie streckte die Hand nach Andreas Bauch aus. »Kein Wunder das du so rund bist.« Sine musterte Andrea aufmerksam und machte ein ernstes Gesicht.
»Weiß Alan davon?«, fragte sie schließlich.
»Nein, ich will ihn nicht noch mehr ängstigen. Es ist schon schlimm genug, das er uns jetzt allein lassen muss, mich Davie und ein Ungeborenes von dem er weiß.«, antwortete Andrea darauf.
Sine seufzte, sie kannte ihren Bruder, sie wusste dass ihre Schwägerin es besser für sich behielt. Es würde Alan vollkommen aus der Bahn werfen, denn er wusste welche Gefahren eine Zwillingsgeburt heraufbeschwor. Ihre Großmutter war bei der Geburt von ihrem Vater und ihrem Onkel gestorben!
Auch ohne das, war es schwer genug für ihn. Was Andrea nicht wusste, war das Alan gerade mit Germain sein Testament durch ging. Er rechnete auf jeden Fall mit dem Schlimmsten.
»Das ist besser Annie, ich meine dass du es ihm nicht sagst. Wir, ich und Germain werden gut auf euch aufpassen.«, meinte sie schließlich.
Andrea nickte stumm und sah plötzlich etwas erschrocken auf die Treppe, die zu den Zimmern der Herberge führte. Germain und Alan standen dort und sie hoffte, dass sie nichts von ihrem Gespräch verstanden hatten. Doch dem schien nicht so.
Alan verabschiedete sich kurz von Sine und Andrea, da er zu seinem Kommandanten musste. Aber er würde bald zurück sein, um seine Sachen aus der Herberge zu holen, bevor er sich an Bord des Transportschiffes begab. Was nur eines bedeutet, der endgültige Abschied.
Alle schwiegen betreten als Alan, dann gegangen war. Zum Glück lockerten die beiden Kinder, David und Julien, die Stimmung etwas auf, als sie schließlich wieder auftauchten.
Es war allerdings bereits später Nachmittag und es wurde langsam dunkel, als Alan zurückkam. Er wirkte ziemlich missmutig und bedrückt. Er verabschiedete sich von seiner Schwester und seinem Schwager und ging dann mit Andrea zu ihrer Herberge im Quartier de Sept Saints. Dort wartete bereits Alans Diener, ein junger Soldat Namens Pierre Delboro auf ihn.
Andrea hatte zu tun ihre Fassung zu bewahren. Sie wollte noch einmal Alans Gepäck durchsehen, aber der Schotte, hielt sie davon ab.
»Du brauchst das nicht zu machen, ich habe jetzt einen Diener Annie, es ist seine Aufgabe.«, sagte er sanft und wies Pierre an seine Sachen nach unten zu bringen und dort auf ihn zu warten.
»Daran… kann ich mich wohl nicht so schnell gewöhnen.«, erwiderte Andrea tonlos und sah Alan, der David auf dem Arm hatte, mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an.
Sie wollte nicht weinen, aber sie wusste nicht, ob sie die Kraft dazu hatte. Ihr kleiner Sohn hing am Hals seines Vaters und wollte ihn nicht mehr loslassen, genauso wie sie selbst.
»Hab keine Angst Annie, mir wird nichts geschehen. Du weißt, dass ich ein Überlebenskünstler bin…«, versuchte der Schotte seine Frau zu beruhigen. Er umarmte Andrea und küsste sie lange und innig.
Alan hatte zu tun nicht selber in Tränen auszubrechen, wie seine Frau nun.
Es wurde ein schlimmer Abschied für alle und der Schotte musste sich fast mit Gewalt losreisen und ging schließlich benommen nach unten, wo der junge Soldat auf ihn wartete. Er ließ eine, in Tränen aufgelöste, verzweifelte Frau zurück und seinen Sohn, der nicht begreifen konnte, wohin sein Vater ging und das er nicht in den nächsten Tagen oder Wochen zurück kam.
Alan hatte die schwerste Entscheidung seines Lebens gefällt, nach Neu Frankreich zu gehen, in ein Land das er nicht kannte, in eine ungewisse Zukunft, vielleicht in den Tod.
Capitaine Alain Carron D’Artoury, lief wie betäubt durch die dunkel werdenden Straßen von Brest, gefolgt von seinem Diener, den siebzehnjährigen Pierre Delboro, der als gemeiner Soldat diente. Zeit seines Lebens hatte es für den Schotten Abschiede gegeben und sie waren nie ein Grund zur Freude gewesen, ganz im Gegenteil.
Er war fünf gewesen, als sein Vater starb und er von seiner Mutter weggeholt wurde, etwas was er nie überwinden konnte. Mittlerweile war seine Mutter tot und von seiner damals unter den Verwandten aufgeteilten Familie, lebte nur noch seine Schwester Janet, Sine auf Gälisch. Was aus seinem Halbbruder Ewan geworden war, wusste er nicht.
Er hatte nach Culloden mit seinen Chief Schottland verlassen und in Frankreich seine Heimat gefunden, was man so Heimat nannte. Aber es hatte ihn stets zurückgetrieben, Jahr für Jahr.
Schlimm war, als er am Ufer des River Esk gestanden hatte vor vier Jahren. Er wusste, dass er seine Heimat nie wiedersehen würde, nie wieder würde er schottischen Boden betreten können. Es war endgültig geworden.
Doch dieser Abschied heute war mit Abstand das Schlimmste, was er je erlebt hatte. Der Weg zum Dock hinunter, wo das Schiff lag, kam ihm vor wie der Weg zum Schafott.
Zögernd stand Alan vor dem Schiff das sich, von den Fackeln und Öllampen erleuchtet, vor ihm aufbaute. Die »Leopard« war ein großes, furchteinflößendes Schiff. Eine Fregatte mit zwei Kanonendecks und 72 Geschützen. Anders als die Schiffe auf denen er bisher gefahren war, die allesamt Schoner oder Briggs waren. Doch diese kriegerische Erscheinung verstärkte noch die Wirkung des Abschiedes, der etwas Unwiderrufliches hatte.
Er konnte die Betäubung, die ihn erfasst hatte, erst abschütteln, als er in der Hängematte lag, in der winzigen Kabine, die er sich mit einem Offizier, einem Capitaine der Royal Roussillon, einem gewissen De Puolharies, teilte.
Sie würden erst am nächsten Morgen auslaufen, mit der Flut und bis dahin hatte er Zeit, ein wenig Schlaf zu finden und sich mit seinem Reisegefährten für die nächsten Monate bekannt zu machen.
Das mit dem Schlaf wollte nicht so recht klappen, er war es nicht gewöhnt in einer Hängematte zu schlafen und nach Gesprächen war ihm auch nicht zu Mute. Schließlich tönte das Schnarchen des anderen Offiziers durch die winzige Kammer und damit war es endgültig aus mit der Ruhe.
Also ging er an Deck, was allerdings einem Irrlauf, durch die mit Hängematten und Schläfern überfüllten Decks bedeutete, wobei er sich mehrmals den Kopf anstieß im Halbdunkel. Schon jetzt, wo sie noch im Hafen lagen war der Gestank betäubend, der Geruch nach menschlichen Ausdünstungen und fauligen Wasser, das von den Brackwasser Pumpen her wehte.
Als Alan endlich das Oberdeck erreicht hatte und in der klaren, kalten Luft stand, war er froh. Die Stadt lag vor ihm, als er an die Reling trat. Die Beleuchtung war spärlich und er konnte kaum die Gebäude ausmachen. Irgendwo ein Stück den Fluss aufwärts, lag seine Frau im Bett und weinte sicherlich. Er hätte gern noch eine Nacht bei ihr verbracht, nur um sie zu halten und zu fühlen. Der Gedanke daran ließ ihn seufzen. Wie sollte er es ohne sie aushalten. Es würde mehr als ein Jahr dauern bis er sie nachholen konnte, wenn es ihn überhaupt möglich war. Alan hatte nicht die geringste Ahnung, wie es wirklich in Kanada aussah, ob er das alles seiner Familie zumuten konnte.
Er holte seine Pfeife und Tabak aus der Tasche seiner Uniformjacke und stopfte sie unter einer der Laternen, die auf dem Deck verteilt waren. Die Deckwache musterte ihn misstrauisch und ein paar andere Soldaten, zumeist Offiziere standen ebenfalls redend und rauchend beieinander.
Es dauerte eine Weile, bis Alan mit Stahl und Stein seine Pfeife angezündet hatte und sich schließlich einen Platz suchte, von dem aus er die Stadt sehen konnte. Die Schiffsglocke läutete leise und Alans Gedanken gingen wieder zu seiner Frau.
Wenn er zurück dachte, musste er sich immer wieder wundern, was er so anziehend an diesem seltsamen fremden Wesen fand, das seine Frau ja war. Ihre Herkunft war ihm, obwohl er es versuchte zu verstehen seit ganzen vier Jahren, immer noch etwas befremdlich. Andrea war ihm in Männerkleidern begegnet und sie hatte eine Figur, die eigentlich die Sinne eines Mannes nicht unbedingt anregte. Sie hatte etwas Jungenhaftes gehabt damals und doch hatte er den weiblichen Zug sofort erkannt. Als er sie das erste Mal nackt gesehen hatte, sie berühren konnte, wusste er dass sein langes Sehnen danach nicht vergebens war.
Doch es war nicht nur körperlich, ganz im Gegenteil. Andrea war für ihn ein Anker, ein Fixpunkt in seinem stets unsteten Leben geworden. Sie hatte ihm etwas gegeben, was er im Laufe seines Lebens verloren geglaubt hatte. Vertrauen und Liebe. James und seine Frau Margarete hatten gut für ihn gesorgt, wie für all die Kinder, die sie aufnahmen, doch Liebe hatte er nie bekommen und Vertrauen, das hatte er am Ende nur in sich selbst.
Alan hatte, bis er Andrea traf, nie gedacht dass er eine Familie haben würde, ein Kind, dem er die Liebe geben konnte, die er nie bekommen hatte. Doch nun würde er seinen Sohn David verlassen, würde er ihn für unbestimmte Zeit nicht wieder sehen, ganz zu schweigen von dem Ungeborenen, das er wohl nie kennenlernen würde, so fürchtete er. In der Dunkelheit schien sich die Angst anzuschleichen wie ein böses Tier, die Angst die er sonst stets unterdrücken konnte.
»Eine schöne Nacht?«, unterbrach plötzlich eine Stimme, seine Gedanken.
Ein junger Korporal stand neben ihm an der Reling, auch eine Pfeife in der Hand. Es war einer der Männer, denen er am Vormittag in der Herberge begegnet war, einer aus einer eigenen Kompanie.
Alan konnte sich nur schleierhaft an dessen Namen erinnern. Er musste das unbedingt ändern und seine Kompanie richtig in den Griff bekommen, angefangen bei den Offizieren, besonders Lieutenant De Romanya.
»Was hattet Ihr heute in der Herberge im Quartier Sept Saints zu suchen Caporal…, eh’m...ich kann mich nicht so richtig an Euren Namen erinnern?«, versuchte Alan es nun aus dieser Richtung. Er wollte sich auf keinen Fall schon von den niederen Rängen auf der Nase herum tanzen lassen.
»Louis Chauvet, oder einfach Francoeur, Capitaine D’Artoury!“, antwortete der junge Mann und stand stramm vor ihm, jedoch noch die glimmende Pfeife in der rechten Hand.
»Ist schon gut Francoeur, wir sind nicht im Dienst, aber trotzdem hattet Ihr nichts in der Stadt zu suchen, sondern solltet Euch am Sammelpunkt einfinden!«, lockerte Alan die Situation etwas auf, denn es war ihm selbst nicht angenehm, den Mann hier so zu verschrecken, wo er nur freundlich zu ihm gewesen war.
»Nun Capitaine, ich und Sergeant Collet, haben ein paar Männer gesucht, die uns abhanden gekommen sind, eben in dieser Herberge und in einigen Tavernen.«, antwortete der junge Mann darauf.
»Das ist eine vernünftige Erklärung Caporal Francoeur! Sind wir vollzählig oder haben noch einige Männer die Gelegenheit genutzt sich davon zu machen, bevor wir an Bord gegangen sind?«, fragte Alan dienstlich, sachlich weiter.
»Soweit ich weiß, fehlen uns drei Mann, aber Sergeant Peconet und Lieutenant Meritenir sind noch in der Stadt und ich glaube sie werden die fehlenden finden oder drei Leute überreden uns zu begleiten nach Kanada.«, war die verschmitzte Antwort des Mannes darauf und Alan begriff, dass er seinen Nom de Guerre nicht umsonst trug, denn er bedeutete ›der Freimütige‹. Er sprach wohl stets frei heraus was er dachte, Caporal Francoeur.
Für einen Moment herrschte Schweigen und Alan starrte wieder auf die spärlich erleuchteten Häuser am Kai. Als er nach dem Korporal sah, konnte er dessen Gesicht ab und zu im Dunkel aufleuchten sehen, wenn er an seine Pfeife zog.
Der junge Mann sah typisch Französisch aus, ein langes Gesicht, eine große Nase, dunkle Haare und genauso dunkle Augen.
»Wo kommt Ihr her Francoeur und wie lange seid Ihr schon bei dem Regiment?«, fragte Alan nun.
»Ich komme aus Nantes Capitaine und ich bin erst seit einem Monat beim Regiment.«, antwortete der junge Mann prompt.
»Erst seit einem Monat und dann seid Ihr schon Caporal?«, entfuhr es Alan erstaunt, denn so etwas war ungewöhnlich.
»Nun ja, Capitaine D’Artoury, das war eine Absprache mit Lieutenant Meritenir er hat meinen Vater gekannt!«, kam es nun etwas zögerlich von dem Korporal.
»Meritenir kennt also Euren Vater, dann seid ihr von Adel?«, man hörte deutlich das Misstrauen in Alans Stimme. Noch so ein aufsässiger Möchtegern Offizier wie De Romanya fehlte ihm gerade noch.
»Nein Capitaine, ich bin der Sohn eines Arztes, nicht mehr oder weniger. Lieutenant Meritenir schuldete meinem Vater etwas.«, erneut leuchtete das Gesicht des jungen Mannes kurz auf und der Schotte entdeckte dort einen schmerzlichen Zug.
»Nun gut, ich will nicht mehr wissen. Haltet Euch an das, was die Männer Eures Ranges tun, die schon länger dienen und seht zu das Euch die einfachen Soldaten respektieren, sonst tun sie nicht, was man von ihnen verlangt!«, gab Alan noch den guten Rat und erneut rauchten sie schweigend.
»Warum seid Ihr nicht bei Eurer Frau Capitaine, wir laufen doch erst am Morgen aus?«, kam es plötzlich von dem Korporal und Alan fühlte sich seltsam getroffen. Francoeur war etwas zu forsch, denn das Privatleben seines Capitaines ging ihm wohl absolut nichts an.
Der Schotte tastete instinktiv nach seinem Dolch, den er am Gürtel trug, so dass man ihn nicht sofort sehen konnte, genauso wie den Sporran. Sein Degen lag im der Kabine und der lange Highlanddolch war seine einzige Waffe.
Ehe Caporal Louis Chauvet überhaupt einen Ton von sich geben konnte, hatte der Alan ihn gepackt und in eine dunkle Ecke über den Aufgang gestoßen und hielt ihm nun seinen Dolch an den Hals.
»Mon Dieu Capitaine, mit Verlaub was soll das?«, entfuhr es dem jungen Mann und man konnte die Angst in seiner Stimme hören.
»Francoeur, Ihr solltet Euer loses Mundwerk im Zaum halten! Meine Angelegenheiten gehen Euch nichts an! Schreibt Euch das hinter die Ohren!«, fauchte Alan ihn an, ließ ihn schließlich los und steckte seinen Dolch wieder weg, als es unruhig auf dem Schiff wurde.
Offensichtlich kamen Sergeant Peconet und Lieutenant Meritenir aus der Stadt zurück mit ihrer ›Beute‹, drei Soldaten in der Uniform von La Sarre, mit Musketen bewaffnet und mit ihrem Gepäck. Sie schienen alle recht angesäuselt zu sein und disziplinlos, so dass die beiden Offizier Mühe hatten, sie im Zaum zu halten.
»Was geht hier vor sich?«, fragte Alan, der ins Licht der Schiffslaterne getreten war, die am Fallreep hing. Caporal Francoeur folgte ihm mit finsterem Gesichtsausdruck und ordnete umständlich seine Uniform, die durch Alans Angriff durcheinander geraten war.
Es dauerte einen Moment, bis die Soldaten in der Lage waren stramm zu stehen. Es stand außer Frage, dass die beiden Offiziere, die Männer aus irgendeiner Taverne mitgebracht und in die Uniform gesteckt hatten. Ob die drei wirklich wussten, was sie da unterschrieben hatten, bezweifelte der Schotte, als er die Männer musterte und bei einem von ihnen das Brandzeichen der Lilie auf der Wange entdeckte.
»Wo ist das her?«, mit diesen Worten zerrte Alan den Mann ins Licht, so dass alle Umstehenden die Narbe sehen konnten.
»Ich war im Gefängnis Monsieur, wegen Diebstahls.«, antwortete der stämmige, recht unrasierte Mann mühselig die Worte formend.
»Das heißt mon Capitaine, du Wicht!«, brüllte ihn nun Caporal Francoeur an und der Schotte konnte nur mühselig ein Lächeln unterdrücken und die finstere Miene aufrecht halten.
»Jawohl mon Capitaine!«, kann es nun von dem Dieb.
»Ein Dieb bist du also? Lass dir eines gesagt sein mein Freund, solltest du hier deine Finger in Dinge stecken, die dir nicht gehören, wirst du ausgepeitscht werden und die Neunschwänzige Katze ist schlimmer als ein Gefängnis. Sollte dir das keine Lehre sein, dann werfe ich dich eigenhändig über Bord und lasse dich Kielholen!«, kam es nun von Alan und der Mann sah betroffen zu Boden.
»Jawohl mon Capitaine!«, kam es schließlich von ihm erneut und auch seine Mitstreiter senkten reumütig die Köpfe und begaben sich unter Deck.
Als sich auch Caporal Francoeur ebenfalls davonschleichen wollte, hielt Alan ihn auf.
»Nehmt es mir nicht übel, Caporal, aber ich dulde keine Fragen nach meiner Familie. Ich habe da meine Prinzipien.«, sagte er und der junge Mann nickte stumm darauf, sagte aber nichts mehr dazu außer einem »Oui, mon Capitaine!«
Der Schotte stand noch einen Moment unschlüssig da und ging schließlich wieder an die Reling, um seine mittlerweile ausgegangene Pfeife erneut anzuzünden und in Ruhe zu rauchen.
Er ließ seinen Blick erneut über die dunkle Stadt schweifen und lauschte den Geräuschen. Das leise Knarren des Schiffes, das an den Tauen zerrte, was ihm sagte, das die Ebbe am Auslaufen war. Der gedämpfte Lärm der Tavernen war zuhören und das Leuten der Schiffsglocken.
Alan mochte nicht an den Morgen denken, der sich hell im Osten abzeichnete und an den Abschied, den endgültigen Abschied von Frankreich, von Land, von seiner Frau und seinem Kind…
Francoeur hatte nicht unrecht gehabt mit seiner Frage. Er hätte es riskiere sollen noch eine Nacht mit seiner Familie zu verbringen. Doch er wollte nicht gleich zu Beginn seines Dienstes in dem neuen Regiment die Regeln brechen und sein Colonel hatte ihn nun mal, genauso wie die anderen zwei Offiziere, Boschatel und Champredon et Beaucliar auf das Schiff befohlen, damit die Ordnung gewahrt blieb.
Als er aufgeraucht hatte, ging Alan schließlich zurück in sein Quartier, zog seine Uniformjacke und die langärmlige Rote Weste aus und versuchte noch ein wenig Schlaf in der Hängematte zu finden.
Trommelschlag, das Trampeln von vielen Füßen und das Schreien von Befehlen, weckten ihn schließlich recht unsanft nach nur kurzer Zeit. Sein Mitbewohner war schon auf und ließ sich von seinem Diener rasieren, während Alan mühevoll aus der Hängematte turnte, sie zusammenfaltete und den Kopf aus der Kabinentür steckte, wo Pierre Delboro schon auf ihn wartete, um ihn den selben Dienst anzubieten.
Ordentlich rasiert und angezogen trafen sie sich schließlich in der großen Kabine des Kapitäns, wo die Befehle an die jeweiligen Offiziere auf dem Tisch lagen.
Sieur de Gomain, der Kapitän der »Leopard« war ein ziemlich kleiner, beleibter Mann, von schwer einschätzbarem Alter, dessen dickes Gesicht von feinen roten Äderchen durchzogen war, besonders seine knollenförmige Nase. Im großen Ganzen machte der Mann einen schmuddeligen Eindruck, der sich besonders in seiner Kabine widerspiegelte. Die anderen Offiziere wirkten stolz, teilweise affektiert und nicht unbedingt Vertrauen erweckend für den Schotten. Doch auch er konnte einen stolzen, hochnäsigen Blick aufsetzten, um es ihnen gleichzutun.
»Monsieurs wir werden mit der auslaufenden Flut den Hafen verlassen und Kurs auf Neu Frankreich nehmen. Mit uns segeln die »La Sauvage« unter Kapitän Chevalier de Tourville, die »La Sirène«, unter Kapitän de Brugnon und die »L’Illustre« unter Kapitän de Montalais. Ich bitte Euch Eure Kompanien unter Deck zu lassen, um die Mannschaft nicht bei den Segelmanövern zu behindern!«, gab der Kapitän bekannt, dann folgten noch die üblichen Befehle, wie Wacheinteilung und wie man die Soldaten beschäftigte, solange die meisten noch nicht unter der Seekrankheit litten.
Nach dem Frühstück in der Offiziersmesse, versammelte Alan sein Offiziere und Unteroffiziere, um sie in die Befehle einzuweisen und an ihre Arbeit zu schicken. Er selber ging nach oben, wo geschäftiges Chaos herrschte, wie üblich beim Setzten der Segel und dem Auslaufen eines Schiffes.
Sein Blick fiel auf Brest, das schon in einiger Entfernung lag, die Hafeneinfahrt, die von den Befestigungen geflankt wurde, das Kloster auf einer Anhöhe über der Stadt und das Fort auf der anderen Seite.
Der Schotte stellte sich an einen Platz, wo er nicht im Wege war, aber die Aussicht genießen konnte.
Es war ein kalter, aber sonniger Tag, dieser sechste April und Alan fühlte sich alles andere als wohl. Das letzte Mal, als er auf einem Schiff war, war es die Überfahrt von Penberth Cove nach Saint Malo, ein eher freudiges Ereignis. Doch heute war er dabei seine Frau und sein Kind zu verlassen, um viele tausend Meilen übers Meer zu fahren, in einen Krieg, der nicht sein eigener war.
Wie lange Alan so gestanden hatte wusste er nicht, es schien ewig gewesen zu sein, denn mittlerweile hatte das Schiff das Ende der Bucht von Goulet de Brest, erreicht und man konnte vor ihnen die Forts auf dem Pointe Portzic und dem Pointe des Espagnoles erkennen, die die Einfahrt schützten.
Erneut musste er sich mit Macht von dem Anblick losreißen. Wenn er sich schon jetzt so schlecht fühlte, wie sollte er die lange Reise dann überstehen. Alan ging wieder hinunter in das Zwischendeck. Die Soldaten der verschiedenen Regimenter waren auf die beiden Kanonendecks der »Leopard« aufgeteilt. Es herrschte bedrückende Enge und er mochte sich nicht vorstellen, was passieren würde, wenn sie See rau wurde draußen auf dem Atlantik oder wenn sie gar einem englischen Schiff begegnen würden. Noch ging es halbwegs ruhig zu, doch das würde sicher nicht lange so bleiben. Wenn sie Glück hatten würden sie in sechs Wochen in Quebec sein, wenn sie Pech hatten in drei Monaten, es kam auf den Wind an, der wie er gehört hatte, sehr tückisch sein konnte bei der Atlantiküberquerung in Westlicher Richtung.
Auf dem Weg zu seiner Kabine, kam er am Quartier der Unteroffiziere vorbei, das nur durch eine hölzerne Wand, von den einfachen Soldaten abgetrennt war. Die fünf Männer waren heftig am diskutieren über die Briten, ihre schlechten Angewohnheiten und andere Vorurteile, die so zwischen verfeindeten Parteien kursierten. Über einige Bemerkungen musste Alan schwer schmunzeln. Sie unterschieden sich kaum, von den Vorurteilen die Highlander den Sasunnach, den Engländern gegenüber hatten.
Die Männer bemerkten ihn anfangs nicht, erst als Caporal Francoeur aufstand, sah er seinen Capitaine und versteifte sich sofort, was auch die anderen bemerkten und sich erschrocken herumdrehten.
»Capitaine D’Artoury, wir haben Euch gar nicht bemerkt!«, gab Sergeant Peconet zum Besten und stand ebenfalls auf, gefolgt von Sergeant Collet, Caporal Saint Martin, und Caporal Villedure.
»Das macht nichts, Ihr könnt ruhig weiter machen, so lange Ihr bei Eurer Diskussion bedenkt, das Engländer nicht gleich Engländer ist und das es auf den Britischen Inseln, noch Iren, Schotten und Waliser gibt!«, erwiderte er mit einem zynischen Lächeln und ging weiter.
Gegen Abend waren sie weit draußen auf dem Meer. Das Wetter war gut, allerdings beunruhigte die Anwesenheit einer Englischen Fregatte im Golf von Biskaya den Kapitän, der daraufhin alle Segel setzen ließ. Offensichtlich wollte er sich nicht in ein Gefecht verwickeln lassen, denn offiziell waren England und Frankreich noch nicht im Krieg, jedenfalls in Europa.
Die See wurde langsam rau und die Seekrankheit griff um sich. Alan litt nicht darunter, in dieser Beziehung war er recht robust und hätte sicher einen guten Matrosen abgegeben, denn er scheute sich auch nicht in die Wanten zu klettern, wenn es von Nöten war. Doch auf dieser Reise war es nicht so. Er war Offizier, ein Capitaine und das zwang ihn eher zu Dingen, welche die einfachen Männer wohl als Luxus empfanden, er selbst aber eher als Belastung. Fast jeden Abend versammelten sich die Offiziere beim Kapitän, es wurde ausschweifend gegessen und getrunken.
Alan heulte mit den Wölfen und lauschte den Gesprächen der Männer, die über die Zukunft von Neu Frankreich diskutierten, obwohl kaum einer von ihnen schon einmal dort gewesen war. Natürlich ging es auch um die Engländer und ihr Machtstreben in Nordamerika. Hier gab der Schotte gelegentlich seine Kommentare dazu ab. Er hatte ja schließlich seine ganz eigenen Erfahrungen mit den Rotröcken gemacht, wobei er aber nicht zugab, schon einmal selbst in dieser Uniform gesteckt zu haben.
Am 8. April saßen sie am Kap Finesterre, vor der spanischen Küste in einer Flaute fest und wurden von der Britischen Fregatte eingeholt, die sich ihnen auf Sichtweite näherte, aber aus Reichweite der Kanonen blieb.
Natürlich gab es einige Aufregung, besonders auf dem Begleitschiff der Fregatte »Le Sauvage«.
Zum Glück hielt die Flaute nicht allzu lange an und der Wind brachte sie wieder auf Südwestkurs auf den Atlantik hinaus, weg von dem lästigen Briten, der sie nicht weiter zu verfolgen schien.
In den Tagen die sie nun auf See waren, kam eine gewisse Routine auf. Wenn die See ruhig war, ließ Alan seine Kompanie von den Sergeanten schleifen. Das hieß, das er sie Stundenlang mit ihren Waffen üben ließ, in kleinen Gruppen, denn mehr als zwölf Soldaten hatten nicht Platz auf den zugänglichen Teil des Oberdecks.
Das war auch schwer nötig, denn einige der Soldaten konnten das unter Ende nicht vom oberen ihrer Muskete unterscheiden, wie es Sergeant Peconet ausdrückte. Sie hatte wohl noch nie in ihren Leben eine Waffe in der Hand gehalten. Die Disziplin der Soldaten ließ auch schwer zu wünschen übrig. Je länger die Reise dauerte, umso mehr Bestrafungen mussten vorgenommen werden. Meist wegen Streitereien, Diebstählen und Trunkenheit.
Doch am 15. April geriet das Schiff in einen der heftigsten Atlantikstürme. Selbst die Schiffsmannschaft, die wohl solch raues Wetter gewohnt war, zeigte deutlich die Angst.
Alan, den der Gedanke an Ertrinken sehr beängstigte, immerhin hatte er schon eine Kostprobe davon gehabt, hielt es nicht mehr in der winzigen Kabine aus. Sein Mitbewohner, De Puolharies, kniete vor dem Eimer und übergab sich seit Stunden. Der Geruch war unerträglich und der Schotte floh, er brauchte dringend frische Luft.
Im Zwischendeck, das er durchquerte, hockte die Soldaten und Matrosen dicht gedrängt und auch hier war das Geräusch von sich übergebenden Männern zu hören, gepaart mit Gebeten. Alan musste aufpassen nicht in Pfützen von Erbrochenem zu treten, über am Boden zusammen gekrümmte Gestalten zu stolpern oder mit dem Kopf ständig an die niedrigen Balken zu stoßen, was bei dem Schaukeln des Schiffes sowieso kaum zu verhindern war. Unaufhörlich strömte Wasser zu den Luken herein und machte den Boden schlüpfrig. Mehrmals kam der Schotte zu Fall und rappelte sich mühevoll wieder auf.
Als er endlich den Aufgang zum Oberdeck erreicht hatte, ergoss sich eine Welle über ihn und spülte ihn auf das Kanonendeck zurück, wo ein paar kräftige Hände ihn auffingen und wieder aufrichteten. Einer der Matrosen schrie ihm ins Ohr, das er hier nichts zu suchen hätte und nach unten gehen solle. Doch Alan schüttelte energisch den Kopf. Er rappelte sich wieder auf und erklomm nun den Aufgang erneut, um aufs Oberdeck und damit an die frische Luft zu kommen.
Doch der Sturm nahm ihm den Atem, das Wasser spülte mit so ungeheurer Kraft über das Vorschiff und die Wellen, die er sah, schienen das Schiff jeden Augenblick verschlingen zu wollen. Matrosen und Deckoffiziere schrien sich gegen das Tosen der Element Befehle zu und hasteten über das Deck, das derart schwankte, dass nun auch Alan übel wurde.
Er hatte Mühe einen Halt zu finden und klammerte sich schließlich an einige Taue, die über die Deckaufbauten gespannt waren. Er sah eine riesige Welle sich seitwärts von der »Leopard« aufbauen und dachte schon das Ende des Schiffes sei gekommen. Er begann zu beten in Gedanken. Doch zum Glück brach sie sich davor, überspülte allerdings nun das Deck mit voller Gewalt. Alan wurde von der Füßen gerissen und schlitterte in den schäumenden Fluten auf die Reling zu. Er schnappte verzweifelt nach Luft in dem Inferno aus Wasser und versuchte sich irgendwo festzuhalten, doch seine Finger glitten ständig ab. Als er dachte das sein Ende nun da wäre, wurde Alan auf einmal von Jemanden gepackt, der sich an ihn klammerte und das Schiff, das nun nach der anderen Seite schlingerte, mit ihm zusammen überquerte, um ohne jeden Zweifel über die andere Seite der Reling geschleudert zu werden, mitten hinein in die schäumenden Flutendes Atlantiks.
Alan stemmte sich mit den Füßen gegen das hölzerne Geländer und das Netz das davor gespannt war, während der Mann, der ihn festhielt nach einem Seil griff. Erneut ergoss sich eine Welle über sie und drohte sie entweder zu ersticken oder über Bord zu spülen. Doch mehre Matrosen hatten ihre Notlage begriffen und packte sie schließlich, schoben sie auf die Luke zum ersten Kanonendeck zu. Ein weiteres Schlingern des Schiffes und eine Welle, ließen Alan, seinen Retter und einen Matrosen kopfüber die Treppe hinunter fallen, wo sie betäubt liegen blieben, bis sie von den dort anwesenden Soldaten aufgesammelt wurden.
Alan hatte bei dem Sturz das Bewusstsein verloren und als er wieder zu sich kam, sah er in das nasse, bleiche Gesicht von Caporal Francoeur.
»Mon Dieu Capitaine, was hattet Ihr auf dem Oberdeck zu suchen bei diesem Wetter?«, fragte dieser bestürzt und noch immer nach Atem ringend.
Mühevoll rappelte sich der Schotte auf und sah sich benommen um. Er starrte den Korporal nachdenklich an.
»Habt ihr mich festgehalten Louis?«, fragte er leise und der junge Mann nickte stumm.
»Ist der Capitaine in Ordnung?«, fragte nun einer der Kanoniere, die sie wieder aufgesammelt hatten.
»Ich glaube j.!«, antwortete Francoeur und tastet Alan vorsichtig ab, wobei der mehrmals heftige Schmerzäußerungen von sich gab.
Der Schotte fühlte sich, als hätte ihn Jemand verprügelt, seine Rippen schmerzten und Blut lief ihm von einer kleinen Platzwunde über das Gesicht.
»Kommt, ich bringe Euch zu Monsieur Dufour, dem Arzt, damit er sich das mal ansehen kann.«, schlug der Kanonier vor und brachte sie in den hinteren Teil des Schiffes, in der Nähe der Kapitänskajüte, wo der Arzt sein Refugium hatte.
Monsieur Dufour versorgte Alans Platzwunde mit einem Verband, fand dass der Schotte sich eine Rippe gebrochen hatte und den kleinen Finger der linken Hand, den er schließlich schiente. Er wies ihm eine Hängematte im Krankenrevier zu, was der Mann dankend annahm, weil ihm doch mittlerweile ziemlich übel war.
Alans Retter selbst, hatte sich nichts weiter getan, abgesehen von diversen Prellungen und Caporal Francoeur, taumelte nach dem er seinen Capitaine gut versorgt sah wieder auf das Zwischendeck hinunter.
Der Sturm tobte fast vier Tage, trieb die »Leopard« wieder zurück in nordöstliche Richtung und den ganzen Schiffsverband auseinander, wie eine Schafherde in die der Wolf geraten war.
Alan brachte die meiste Zeit während des Sturmes in der Hängematte im Krankenrevier zu, wo er sich fast ununterbrochen übergeben musste. Nun hatte auch ihn die Seekrankheit erwischt.
Caporal Francoeur besuchte ihn öfters und allmählich wurde das Verhältnis der beiden Männer lockerer. Was man nicht von dem zu den anderen Offizieren sagen konnte. Alan blieb ein Außenseiter und ab und zu wurde er auch mit unverhohlenem Misstrauen beäugt.
Erst ganze zwei Tage danach war er in der Lage wieder etwas Festes zu sich zu nehmen, zurück in seine Kabine zu gehen und auch die allabendlichen Zusammenkünfte des Kapitäns wieder zu besuchen.
Der Sturm hatte die »Leopard« völlig von ihrem Kurs abgetrieben und es dauerte fast eine Woche bis sie wieder eines der anderen Schiffe fanden und einigermaßen die Richtung in die eigentlich wollten.
Der Wind war permanent gegen sie und immer wieder gerieten sie in Flauten, was die Stimmung auf dem Schiff nicht gerade anhob.
Nicht nur die Stimmung war auf einem Nullpunkt, was den allgemeinen Zustand des Schiffes anging war einiges im Argen. Die »Leopard« war siebenundzwanzig Jahre alt und hatte in dem Sturm einigen Schaden genommen, der nur notdürftig repariert worden war.
Offensichtlich hatte der Kapitän auch nicht viel im Sinn mit Sauberkeit und Ordnung, denn nur einmal und zwar nach dem Sturm ließ er die Decks gründlich reinigen. Entsprechend waren die hygienischen Zustände auf dem Schiff, das üblicherweise mit einer Mannschaft von etwa zweihundert Seeleuten und Kanonieren unterwegs war. Und nun zusätzlich sechs Kompanien mit Soldaten transportierte, was einen Zuwachs von Menschlicher Fracht bedeutet, der nicht nur mit Essen und Wasser versorgt, sondern auch untergebracht werden musste. Nicht jeder hatte eine Hängematte, einige schliefen auf Strohsäcken auf dem Boden, der alles andere als sauber war.
Andrea hatte Alan gebeten wenigstens auf seine eigene Hygiene zu achten, sich regelmäßig zu waschen, die Kleidung zu wechseln und nie unabgekochtes Wasser zu trinken. Er versuchte es so gut es eben ging, aber es dauerte nicht lange bis er sich Flöhe und Kleiderläuse eingefangen hatte und ob das Essen und der Tee oder Kaffee, den er bekam ordentlich zubereitet war, konnte er nicht immer sagen.
Unter Deck war es fast nicht auszuhalten und so oft das Wetter es erlaubt, ließ Alan seine Männer an der frischen Luft drillen, um sie aus der Enge und dem Gestank herauszuholen, der auf den Zwischendecks herrschte.
Er selbst, hielt sich so oft wie möglich an Deck auf, um zu rauchen oder einfach nur zu entspannen. Sehr oft drifteten seine Gedanken zurück zu seiner Frau und seinem Sohn. Sie fehlten ihm fürchterlich, etwas was ihn schon fast körperlich weh tat.
An einem Abend, an dem erneut eine Flaute sie auf der Stelle stehen ließ, hatte sich ein Teil der Mannschaft und auch einige von den Soldaten an Deck versammelt. Es wurde musiziert, getanzt und ausgelassen gefeiert, denn einige Männer hatten großen Erfolg beim Kabeljau Fischen gehabt und so den doch ärmlichen Speisezettel aufgebessert.
Alan freute sich, dass es den Männern gut ging und das ihre sowieso nicht unbedingt unter einem guten Stern zustehende Reise etwas aufgelockert wurde. Er genoss die ausgelassenen Stimmung und die Musik, die ihn vage an seine Heimat erinnerte. Er hätte allzu gern wieder einmal getanzt. Doch er war Offizier, ein Herr, dem es nicht erlaubt war sich bei wilden Geigen Rhythmen auf dem Deck eines Schiffes zu amüsieren. Seine Mitoffiziere taten das gerade beim Kapitän, mit viel schweren Weines und ihre Art Humor, war nicht gerade der seine, denn er konnte keine Geschichten über seine Mätressen zum Besten geben oder andere Anekdoten von ›Belang‹.
»Es scheint Euch zu gefallen Capitaine?«, mit dieser Frage und einem verschmitzten Lächeln hatte sich Louis Chauvet neben ihn gestellt.
Alan warf dem jungen Mann einen zweideutigen Blick zu und versuchte ebenfalls zu lächeln.
»Es gefällt mir Louis, denn es erinnert mich an meine Heimat.«, sagte er schließlich mit einem Ton von Bitternis dabei.
»Eure Heimat, seid ihr aus der Bretagne?«, kam es nun von dem Korporal.
»Nein, ich bin Schotte Louis, Highlander.«, antwortete Alan schließlich.
Einen Moment herrschte Schweigen zwischen ihnen und der Korporal beobachte mit einem flüchtigen Lächeln, wie sein Capitaine den Rhythmus des Liedes, den der Fiedler gerade spielte, mit dem Fingern auf dem Oberschenkel klopfte.
»Nun ich habe gehört, das einige Highlander in der Französischen Armee dienen, aber Euer Namen klingt nicht Schottisch.«, sagte er schließlich vorsichtig.
»D’Artoury ist ein Nom de Guerre, ich heiße Alan Cameron.«, Alan war vorsichtig, denn er wollte niemanden auf seine Spur bringen, nachdem die Campbells schon zweimal versucht hatten seiner habhaft zu werden.
Louis Chauvet wiederholte den Namen, den Alan im genannt hatte in einem seltsamen Tonfall und der Schotte wunderte sich nun nicht mehr, dass der Schreiber Carron, statt Cameron geschrieben hatte.
»Deshalb seid Ihr also mit dem Messer auf mich losgegangen Capitaine. Soviel ich gehört habe, sind die Highlander sehr impulsiv, gelinde gesagt Wilde.«, meinte er und grinste.
Alans Gesichtsausdruck wurde ernst und erneut tastet er nach seinem Dolch, zog ihn und warf ihn zu Caporal Francoeurs Erstaunen mit einem Mal nach etwas auf dem Boden, zwischen den Fässern, die an Deck festgezogen waren.
Der Schotte stand auf und holte seinen Dolch, der sich in einer fetten Ratte versenkt hatte, die er angeekelt über Bord warf und die Waffe an einem Lappen abwischte, der neben dem Fass lag.
Louis Chauvet starrte auf den Dolch, der mit seiner langen Klinge und dem kunstvoll geschnitztem Heft, sehr außergewöhnlich aussah. Alan gab sie ihm und der Korporal betrachtete aufmerksam die Schnitzerei, die einen Vogel darstellte, einen Kormoran, der auf einem Felsen saß, umgeben von keltischen Flechtmustern.
»Sehr kunstvoll.«, stellte Francoeur fest und wog die Waffe in der Hand. Heft und Klinge waren perfekt ausbalanciert.
Er warf einen Blick auf das Fass und warf auf einmal ebenfalls den Dolch in diese Richtung. Ein schrilles Quieken, ertönte und man sah eine Ratte davon huschen, die eine Blutspur auf den Planken hinterließ.
»Da müsst Ihr noch üben Francoeur.«, meinte Alan mit einem breiten Grinsen.
Das Eis war gebrochen zwischen ihnen und in den kommenden Wochen, die sie auf dem schwimmenden Gefängnis, das die »Leopard« für sie darstellte, noch verbringen mussten, freundete sich Alan mit dem jungen Franzosen an.
Louis Chauvet hatte auch seine Geheimnisse, die er Alan nach und nach anvertraute. Mit ihm hatte der Schotte wirklich einen Freund gefunden, denn die anderen Offiziere verachteten den Mann aus den Highlands, den sie als einen Emporkömmling ansahen. Alan wusste, dass er nur durch seine Leistungen diese Männer vom Gegenteil überzeugen konnte. Doch dazu mussten sie erst einmal in Quebec ankommen.
Es war bereits Mitte Mai, als sie das Gebiet der Grand Banks nahe der Küste von Neufundland erreichten und dort in dichten Nebel gerieten.
Tagelang irrten sie herum, immer Gefahr laufend mit driftenden Eisbergen zu kollidieren.
Die Gefahr war recht nah, was Alan zu spüren bekam, als er an einem Abend, wieder auf Deck war.
Es war bitter kalt, Schnee lag auf dem Deck und die feuchte Luft des Nebels gefror an den Tauen und Segeln, die matt im Wind knatterten. An Bug waren ständig Seeleute dabei die unmittelbare Umgebung, soweit es bei der trüben Sicht möglich war, zu beobachten.
Alan hatte sich in seinen langen Umhang gewickelt und kämpfte eine Weile mit Stahl und Stein, um seine Pfeife anzuzünden, als plötzlich einer der Männer am Bug einen Schrei ausstieß, den Alan nicht sofort verstand. Er starrte in den Nebel und sah plötzlich etwas auf das Schiff zukommen. Ein weißer Schatten näherte sich, der ihn zur Salzsäule erstarren ließ. Ein Eisberg, von gewaltiger Größe!
Der Deckoffizier sah das ebenfalls, rannte wild gestikulierend auf den Mann an Ruder zu und schrie ihn an, das Steuer nach links zu reißen.
Ein weiterer Seemann kam dem Rudergänger zu Hilfe und die Schräglage und die das Schiff plötzlich geriet, ließ Alan über das schneebedeckte Deck schlittern, wo er schließlich gegen einen Matrosen prallte, der ihn festhielt.
Ein dumpfer Aufprall folgte, man hörte ein Schaben, Holz splitterte und Schreie drangen von dem obersten Kanonendeck zu ihnen herauf. Eine Lawine aus Schnee und Eis ergoss sich über sie.
Alan löste sich von dem Matrosen und stolperte benommen den Aufgang hinunter zum Kanonendeck. Die Schäden waren beachtlich, aber allesamt oberhalb der Wasserlinie.
Mehrere Geschützpforten waren herausgerissen und Kanonen aus ihren Verankerungen. Überall lag Eis und gefrorener Schnee. Die Männer waren schockiert, aber ruhig.
Doch mit einem Mal drang ein Schrei von unten aus dem Zwischendeck. »Wassereinbruch auf der rechten Seite!«, hörte er deutlich und das Geschrei von unten schwoll zu einem infernalischen Gebrüll an. Matrosen, die versuchten in das nächste Deck zu gelangen, wo sich die Pumpen befanden und auch der Schiffszimmermann und seine Gehilfen wurden beiseite gedrängt, von den von Panik erfassten Soldaten.
»Ihr müsst etwas unternehmen Capitaine!«, rief einer der Kanoniere und rannte zu einer Truhe, zu der er den Schlüssel hatte und reichte Alan eine Pistole, holte noch eine zweite heraus.
Der Schotte stellte sich den Männern die den Aufgang heraufkamen in den Weg und richtet die Pistole auf einen von ihnen.
»Sofort zurück zu euren Plätzen und hinsetzten!«, schrie er, was allerdings recht wenig Effekt hatte, weil die Stehengebliebenen von hinten bedrängt und gestoßen wurden.
Erst als er einem der Männer mit dem Griff der Waffe neiderschlug, hörte das Drängeln auf. Einen Schuss abzugeben wagte er sich in der Enge des Decks nicht. Mit Hilfe der Kanoniere und weiterer Unteroffiziere, bekam er die Leute unter Kontrolle, auch in dem darunter liegenden Kanonendeck und im Zwischendeck, in dem das Wasser durch einen Riss auf der rechten Seite hereinströmte.
Der Schiffszimmermann und seine Gehilfen mühte sich fast eine Stunde das Leck zu dichten und die Männer arbeiteten wie die Tiere an den beiden Pumpen, um das Wasser aus dem Laderaum zu bekommen. Sie waren einer weiteren Katastrophe um Haaresbreite entronnen.
Fast eine Woche irrten sie in dem Nebel und zwischen driftenden Eisbergen herum, verloren die anderen Schiffe erneut. Als der Nebel an einem Abend kurz aufriss konnte Alan ganze sechzehn Eisberge in ihrer Nähe zählen. Ein wunderschöner Anblick bei dem strahlenden Sonnenschein, aber etwas was ihm Angst machte, nach solch einem kalten, nassen Tod war ihm nicht zumute.
Ende Mai hatten sie endlich den Golf von Sankt Lorenz erreicht, nachdem sie feindliche Schiffe davon segeln mussten, was sie erneut von ihrem Kurs abbrachte. Hier sah Alan zum ersten Mal Wale. Fasziniert beobachtete er die Riesen, die durch die spiegelglatte See tauchten, und ab und zu das Wasser in Fontänen ausstießen.
Doch nun kam ein anderes Übel über sie. Eines, dem sie weder davon segeln oder das mit Hilfe eines Zimmermanns repariert werden konnte.
Auf der »Leopard« brach eine Epidemie aus. Zuerst schob es der Schiffsarzt auf den Verzehr von Fisch zurück, den die Mannschaft und die Soldaten seit sie die Grand Banks überquert hatten immer mit viel Elan fingen. Doch das hohe Fieber an dem die meisten neben Bauchschmerzen und Durchfall litten, widersprach seiner Theorie. Eine Lebensmittelvergiftung hätte andere Ausmaße angenommen, meinte auch Louis Chauvet, der ja ein halber Arzt war.
Zuerst hatte es hauptsächlich Matrosen erwischt, doch dann sprang die Infektion auf die Soldaten der Regimenter über, was Alan am Ende nicht verwunderte. Man separierte die Kranken anfänglich nicht und da sie mitten unter den gesunden Männern schliefen, aßen, ihre unkontrollierten Ausscheidungen verteilten, war es kein Wunder.
Am Abend des 12. Mai gab es in der Kabine des Kapitäns eine heftige Auseinandersetzung mit Sieur de Gomain, dem Schiffsarzt und einigen Offizieren der Regimenter La Sarre und Royal Roussillon. Es ging um die katastrophalen hygienischen Bedingungen und das Unvermögen des Arztes und dessen Gehilfen.
Von diesem Tag an wurden die Kranken von den Gesunden abgesondert und man unterzog die Decks einer gründlichen Reinigung.
Anfang Juni hatten sie die Stelle erreicht, an der gewöhnlicher weise sie Lotsen für den Fluss aufgenommen wurden und warteten auf die andren Schiffe der Flotte, doch nur die »L’Illustre« stieß zu ihnen.
Die Fahrt den Sankt Lorenz hinauf ging ebenfalls nur zögernd vorwärts, das der Wind ungünstig war. Das wirkte sich natürlich auch auf die Chancen der Kranken an Bord aus. Mittlerweile waren an die zehn Tote zu beklagen und die Zahl der Neuerkrankungen wuchs zusehends.
Es machte auch keinen Bogen um die Offiziere. Der Schiffsarzt, sein Vertreter, der Kapitän, ein Capitaine von Royal Roussillon, und deren Chirurg waren mittlerweile unter den Kranken.
Auch zwei von Alans Männern hatte es erwischt. Er selbst fühlte sich schon seit geraumer Zeit nicht wohl, hatte heftige Kopfschmerzen, konnte kaum etwas essen und bekam Fieber, das sich aber in Grenzen hielt, so dass er zuerst an eine simple Erkältung dachte.
Doch genau an dem Tag, als die die Isle aux Coudre, erreichten streckte es ihn endgültig nieder. Das Fieber war am Abend so hoch, das sein Diener Pierre Delboro seinen Freund Louis Chauvet holte.
Sein Mitbewohner Capitaine de Puolharies, floh recht erschüttert aus der Kabine, als der Korporal eintraf und Alan untersuchte.
»Seit wann fühlst du dich so schlecht?«, fragte der junge Mann vorsichtig, als Pierre gegangen war, etwas Wasser zu holen.
»Seit heute Morgen ist es so schlimm, aber ich fühle mich schon länger nicht gut.«, antwortete Alan zögernd.
»Länger also schon!«, wiederholte Louis Chauvet stirnrunzelnd.
Er knöpfte Alans Hemd auf, wo er auf der Brust seltsame rote Flecken sah und tastet vorsichtig seinen Bauch ab, wobei der Schotte aufstöhnte.
»Es wird dich sicher nicht überraschen, wenn ich dir sagen dass du dasselbe wie alle anderen hast. Ich muss dich nach vorn zu den anderen Kranken bringen lassen, damit sich nicht noch mehr anstecken.«, sagte der junge Mann schließlich.
Alan schloss erschöpft die Augen. Er wusste wie es dort zuging und zwischen Sterbenden und Todkranken zu liegen, danach stand ihm nicht der Sinn und noch weniger danach, völlig hilflos zu sein.
»Lass mich hier Louis, de Puolharies wird nicht zurückkommen und Pierre war sowieso schon die ganze Zeit in meiner Nähe, also kann er sich weiter um mich kümmern.«, bat er schließlich und Francoeur nickte stumm.
»Louis, in meiner Kiste, da sind Kräuter, sie sind nach ihrer Wirkung beschriftet, vielleicht findest du etwas darin, was hilft.«, bat Alan schließlich und der junge Mann suchte das Gewünschte heraus.
»Wer hat das zusammengestellt Alain?«, fragte er schließlich erstaunt.
»Meine Frau, Louis, sie versteht sich aufs Heilen und auf Kräuter.«, Alan schloss erneut die Augen. Der Gedanke an Andrea ließ ihn mutlos werde. Es war das Letzte, was er ihr antun wollte, nicht einmal in Quebec anzukommen und an irgendeiner Infektion zu sterben, die vermeidbar gewesen wäre.
»Versprich mir eines Louis, du schreibst ihr, wenn mir etwas passiert. Das musst du tun!«, bat er schließlich verzweifelt.
»Unsinn!«, widersprach Louis Chauvet heftig. »Dir wird nichts passieren, du wirst nicht sterben, solange ich es verhindern kann. Ich bin zwar nicht mit meiner Ausbildung fertig geworden, aber was mir mein Vater gelernt hat reicht allemal aus. Außerdem habe ich das hier noch, die Kräuter deiner Frau und ein gute Portion Laudanum.«, mit diesen Worten klopfte er Alan auf die Schulter und ging nach draußen.
Vor der Tür der Kabine blieb er stehen und lehnte sich an die Holzwand. Louis Chauvet wusste das Alans Chance zu überleben verschwindend gering war. Seit diese Epidemie ausgebrochen war, hatte es nur Tote gegeben. Aber er konnte das dem Mann, der sein Freund geworden war nicht ins Gesicht sagen. Er musste an die Frau denken, die er in der Herberge gesehen hatte. Sie trug ein Kind und dieses Kind würde seinen Vater wohl nie zu Gesicht bekommen. Stumm schüttelte er den Kopf und sah auf den Leinenbeutel, den er in der Hand hielt.
Caporal Francoeur musste sich fast zwingen in die Kombüse zu gehen, von wo ihm Pierre Delboro entgegen kam.
»Ist das Wasser abgekocht?«, fragte er den Jungen.
»Nein Caporal, das ist es nicht.«, antwortete der brav.
»Kein Wasser aus der Tonne mehr, für Capitaine D’Artoury und auch nicht für dich. Ich koche ihn einen Tee, oder vielleicht kannst du das auch machen Pierre. Du wirst dich jetzt um deinen Capitaine kümmern, in seiner Kabine!«, wies er den jungen Soldaten an, der nur stumm nickte.
Louis Chauvet ging nach oben, nachdem er Pierre die Zubereitung eines Weidenrindentees erklärt hatte. Er brauchte dringend frische Luft.
Stumm saß er auf den Vorderdeck, wo er gewöhnlich mit Alan rauchte und sah auf den Fluss, der noch sehr breit war eher wie ein Meeresarm. Aber es kamen auch schon die ersten Siedlungen in Sichtweite, weiße Holzhäuser und Kirchen, deren Turmspitzen in den tiefblauen Frühsommerhimmel stachen.
Das also war Neu Frankreich, das Land das er verteidigen sollte, das Land das vielleicht sein Grab werden würde! Er holte tief Luft und versuchte die Gedanken zu vertreiben. Im Stillen verfluchte er dieses schmutzige Schiff und den dummen Kapitän. Es würde Konsequenzen haben, was auf der »Leopard« geschehen war, dass wusste er. Er hoffte nur, dass sein Freund es überleben würde, wie auch immer die Krankheit hieß, die er sich eingefangen hatte.
Am 30. Mai erreichte die »Leopard« endlich Quebec und wurde sofort unter Quarantäne gestellt. Die Kranken, damit auch Alan wurden ins Hotel de Dieu gebracht, das große Hospital der Augustinerrinnen, das sich in der Oberstadt, der Haute Ville befand.
Alans Zustand war kritisch, so sehr sich Louis Chauvet auch Mühe gegeben hatte. Das hohe Fieber hatte die ganze Zeit angehalten, die sie brauchten den Sankt Lorenz herauf zu kommen, also eine Woche. Es hatte den Schotten fürchterlich zugesetzt, obwohl er nicht einmal diesen grauenvollen Durchfall bekommen hatte, wie all die meisten anderen. Das Laudanum, das Louis ihm eingeflößt hatte, nahm ihm zwar die Schmerzen, aber dafür dämmerte er halb bewusstlos vor sich hin. Kurz vor der Ankunft, zeigte er dann schließlich Symptome die für einen Beteiligung des Gehirns sprachen, wie Nackensteife und Lichtscheu.
Der Arzt der Louis den Kranken im Hotel de Dieu abnahm, machte ihm wenig Hoffnung und der junge Korporal konnte sich die nächsten Tage kaum auf seinen Aufgaben konzentrieren.
Lieutenant Meritenir kümmerte sich um die Kompanie, die glücklicherweise nur drei Männer im Hospital hatte, neben Alan.
Alan selbst, bekam von all dem so gut wie nichts mit. Das Fieber schwächte ihn zusehends und der Dämmerzzustand in den er fiel, tat sein übriges.
Seine Ankunft im Hotel de Dieu lag in einem Fieberschleier, bei dem er nur mitbekam, das er bewegt wurde, etwas was ihm unangenehm war, genauso wie das Licht, das seinen Schädel fast zerspringen ließ und ihm Übelkeit bescherte.
Das Hotel de Dieu in Quebec war eine Einrichtung der Augustinerrinnen, frommer Frauen die sich hier um die Kranken der Stadt kümmerten und besonders um die Soldaten. Es war vor einem Jahr zum Teil ausgebrannt und die Krankensäle befanden sich nun in der Räumlichkeiten des Kloster. Es war alles sauber und ordentlich und Alan bekam gemäß seines Rangs ein separates Zimmer, in dem er von einer Nonne gepflegt wurde, die ab und zu von einer Novizin oder einem Mädchen aus der Stadt abgelöst wurde, die hier ihren frommen Dienst leistete.
Der Arzt, der für die Kranken verantwortlich war, kam jeden Tag um nach ihm zusehen, wobei seine Untersuchung immer recht kurz ausfiel.
»Gebt ihn zu Trinken, solange er etwas zu sich nehmen kann, und Laudanum gegen die Schmerzen, mehr kann man nicht tun…«, meinte er lapidar und die junge Schwester nickte stumm.
Mehr konnte man nicht tun! Der Offizier fieberte noch immer hoch und stündlich flößten sie ihm nun schon mit Honig gesüßten Tee ein und wenn er sich vor Schmerzen krümmte Laudanum und das schon seit einer Woche. Der Mann sah schlecht aus, aber bei weitem nicht wie Jemand der starb. Doch die Schwester wusste, dass sich das ganz schnell ändern konnte.
Auf der Kommode, die in der winzigen Kammer stand, deren kleines Fenster zum Kreuzgang des Klosters hinausging, waren seine wenigen persönlichen Dinge abgelegt, die man ihm bei der Einlieferung abgenommen hatte. Am Auffälligsten war der große Dolch mit dem kunstvoll geschnitzten Griff, der einen Vogel auf einem Felsen darstellte. Einen Kormoran, wie Schwester Marie Francis, erklärt bekommen hatte von Marianne Douville, der jungen Halbblut Frau, die hier jeden Dienstag aushalf.
Dann eine Art Geldbeutel aus dunklem Leder, mit ein paar Lederquasten verziert, in dem sich etwas Geld, eine große silberne Brosche mit dem Kopf eines Einhorns und diverse Papiere befanden. Der Offizier selbst, war mehr als nur auffällig mit seinen tiefen Narben, Narben der Pocken die seinen ganzen Körper bedeckten. Daneben trug er Spuren einer Auspeitschung und diverse andere Narben, wie es die Schwester nur von alten Soldaten kannte, die Jahrzehnte lang ihre Haut zu Markte getragen hatten. Der Mann vor ihr war kein gewöhnlicher Offizier, einer dieser Adligen die sich ihren Rang erkauft hatten, er war ein Kämpfer.
Marianne Douville hatte es anders gesagt, für sie war er ein Krieger, was kein Wunder war, denn Mariannes Mutter war einen Huronin aus Lorette gewesen, die auch hier im Hotel de Dieu gestorben war, bei der Geburt der jungen Frau.
Schwester Marie Francis hoffte, dass der Fremde auch diesen Kampf gewinnen würde, denn sie hatte in den letzten Tagen nur Sterbende gesehen, die von dem Schiff, der »Leopard« gebracht worden waren. Stumm betete sie den Rosenkranz an diesem siebten Juni 1756.
Als sie dem Offizier wenig später erneut etwas zu Trinken einflößte, sah er sie recht verwundert an und fragte etwas in einer Sprache, die die Nonne nicht einordnen konnte. Es war auf jeden Fall kein Französisch.
»Capitaine, ich verstehe Euch nicht, Ihr müsst schon Französisch reden.«, sagte sie sanft, als er seine Worte wiederholte.
Er schloss erschöpft die Augen und murmelte schließlich kaum hörbar. »Oh mon Dieu ich kann nicht im Himmel sein, wenn man dort Französisch spricht…«
Die Nonne lächelte still und hielt dem Mann erneut den Becher mit Trinken an die Lippen und stützte seinen Kopf, als hastig trank.
»Wo bin ich?«, fragte er danach und sah Marie Francis mit seinen stechenden grauen Augen an, in denen nicht mehr der trügerische Glanz des Fiebers lag.
»Ihr seid im Hotel de Dieu in Quebec Capitaine.«, antwortete die Nonne schließlich.
»Quebec? Habe ich es doch noch geschafft…«, murmelte er, dann fielen ihm die Augen wieder zu.
Für Schwester Marie Francis war das ein Zeichen, ein kleines Zeichen der Besserung. Vielleicht würde es dem Mann gelingen die Krankheit zu überwinden. Sie betet dafür, als sie am Abend in der kleinen Kapelle vor der Madonna kniete und eine Kerze anzündete.
Als sie nach dem Morgengebet in die Kammer kam, waren Marianne und eine Novizin dabei, den Offizier zu waschen und zu betten. Der Mann schien von der Prozedur kaum etwas mitzubekommen, doch an Ende streckte er seine Hand nach Mariannes Gesicht aus und murmelte einen Namen. »Annie?«, hauchte er in einem seltsamen Tonfall, irgendwie fremdländisch in der Aussprache, wobei die erste Silbe betonte und die Endung fast verschluckte.
Die junge Frau nahm seine Hand und drückte sie sanft. »Es wir alles gut Capitaine, alles wird gut!«, versuchte sie ihn zu beruhigen.
Stumm schüttelte Marie Francis den Kopf und sah auf die beiden Briefe die neben den Habseligkeiten des Offiziers lagen. Vor vier Tagen hatte ein Korporal sie gebracht.
»Gebt ihm den, auf den sein Name steht, wenn er es schaffen sollte und den anderen lasst nach Frankreich schicken, wenn er stirbt. Es ist ein Brief an seine Frau, er hat mich darum gebeten, als es ihm noch besser ging!«, hatte der junge Mann ihr aufgetragen.
Als die Novizin und Marianne gegangen waren, setzte sie sich wieder neben das Bett und betet leise den Rosenkranz. Sie erschrak, als sie plötzlich die Stimme des Offiziers vernahm, der ebenfalls etwas murmelte, dem Klang und der Art nach wie er es sagte, wohl ein Gebet in seiner Muttersprache.
Sie unterbrach ihr eigenes Gebet und sah den Mann, der mit halboffenen Augen da lag an, dann gab sie ihm den Rosenkranz in die kalten Hände und beobachtete wie er die Holzperlen durch seine Finger gleiten ließ und das Gebet fortsetzte. Sie konnte mehrmals Worte verstehen, die sie an Maria erinnerten und begriff, dass er den Rosenkranz in seiner eigenen Sprache aufsagte.
Schwester Marie Francis, war am Abend beruhigt, als es dem Offizier besser ging, er sogar etwas Suppe zu sich nahm und das Fieber wieder sank. Das setzte sich die nächsten Tage fort und zum Ende der Woche konnte er bereits aufstehen und kurze Strecken laufen.
Es war bereits Ende Juni und Alan konnte gerade einmal kleine Runden in der Stadt gehen, bei denen er sich aber ständig hinsetzten musste, da ihm übel und schwindelig wurde, oder ihm der kalte Schweiß ausbrach. Die Nonnen im Hotel de Dieu hatten sich alle Mühe gegeben ihn wieder auf die Beine zu bringen, ihn gepflegt, ihn aufgepäppelt am Ende fast schon gemästet.
Als er sich das erste Mal im Spiegel sah, hatte er sich vor sich selbst erschrocken, so eingefallen hatte sein Gesicht ausgesehen. Schlimmer noch als damals, als er in Blair so krank gewesen war, auf seiner Flucht durch die Highlands. Doch mittlerweile hatte er gut zugenommen, hatte wieder Farbe im Gesicht und Hoffnung in den nächsten Wochen zu seinem Regiment zu reisen, das in Fort Frontenac am Ontario See stationiert war. Das war viele hundert Meilen entfernt und was Alan bisher von dem Land gesehen und gehört hatte, würde das mit Sicherheit eine beschwerliche Reise werden und dafür musste er weitaus gesünder sein, als im Moment.
Er saß unter einem großen, alten Ahornbaum, in der sich eine ganze Kompanie von Spatzen stritt und sah über die unter ihm gelegenen Stadtmauer hinaus auf den Fluss, den Sankt Lorenz, der vor Quebec ein großes Becken bildete. Die Sonne ließ den Fluss unter ihm wie mit Silber überzogen glitzern.
Er konnte im Dunst nur schwer die fernen Berge sehen, aber unter ihm breitet sich die Wasserfläche aus, mit einem Gewimmel von kleinen und großen Schiffen, deren weiße Segel sich in der milden Brise blähten, die ihm durch die schweißnassen Haare fuhr. Er konnte die Isle de Orleans sehen, voller Grün, unterbrochen von Feldern und Kirchturmspitzen, die weiß durch die Bäume ragten.
Quebec gefiel ihm und er konnte sich vorstellen Annie hierher nachzuholen. Die Stadt bot alles was man zum Leben brauchte, so wie er es kannte. Aber noch war er nicht im Landesinneren gewesen und allein der Anblick der Wilden, die er auf den Straßen der Stadt gesehen hatte, ließen ihn schaudern.
Doch nicht nur das ließ ihn zweifeln. Die Militärische Situation der Kolonie war auch nicht unbedingt das, was er unbedenklich nennen würde. Bisher hatten die Franzosen den Engländern das Fürchten gelehrt und was er so gehört hatte, ließ ihn genauso wie die Wilden frösteln. Siedlungen brannte im Grenzgebiet und die Indianer frönten grausamen Sitten, mordeten und brandschatzten, verschleppten Menschen, wobei sie keinen Unterschied machten, ob sie Männer Frauen oder Kinder vor sich hatten. Alan hatte das bisher nur gehört, aber er zweifelte nicht im Geringsten daran, dass es wahr war.
Der Gedanke an Annie machte ihn traurig. Gewiss war sein zweites Kind schon geboren und er hatte bis jetzt keine Nachricht von ihr. Doch er wusste auch, dass es ewig dauerte bis die Briefe Frankreich erreichten und dann eine Antwort kam. Er hatte einen Brief geschrieben, als es ihm besser ging und den, den Louis Chauvet geschrieben hatte verbrannt. Er hatte ihn vorher gelesen und war seltsam berührt gewesen durch die Worte, die der Korporal da geschrieben hatte. Er hatte wirklich einen Freund in dem jungen Mann aus Nantes gefunden, einen Freund dem er bedenkenlos vertrauen konnte.
Alan musste unwillkürlich lächeln, denn er sah noch einmal Caporal Francoeur vor ihm sitzen auf dem Vorderdeck der »Leopard«, deren verkohltes Gerüst am Ufer vor Beauport, einem kleinen Dorf am Nordufer des Flusses, unterhalb von Quebec, zu sehen war. Wie er ihm von seiner Liebschaft erzählte, einer verheirateten Dame aus gutem Haus, die wohl ihre Langeweile mit dem jungen Mann totgeschlagen hatte. Was für Louis am Ende schlimmere Folgen hatte, als für die Frau. Das war der Grund für seinen Eintritt in die Armee, die ihn ein Studium abbrechen ließ, dass ihm wohl mehr anstand, als Soldat zu sein.
Alans knurrender Magen erinnerte ihn daran, dass er lange genug hier gesessen hatte und dass es Zeit war ins Kloster zurück zu gehen, wo ein gutes Essen auf ihn wartete. Er genoss den Luxus, den er hier hatte, denn er wusste nicht, was ihn in dem Fort mitten in der Wildnis erwartete. Er kannte die Verpflegung von Feldlagern zur Genüge, auch wenn es ihm als Offizier doch etwas besser ging, als den einfachen Soldaten.
Auf seinem Weg zum Hospital, kam er an einer Taverne vorbei und blieb einen Moment unschlüssig stehen. Wenn er nicht in seiner Uniform gewesen wäre, hätte er hineingehen können. Aber es stand einem Capitaine von La Sarre nicht an, in eine billige Taverne zu gehen, egal ob ihm danach war oder nicht. Aber irgendwie brauchte Alan dringend Zerstreuung, um sich von den trübseligen Gedanken an seine zurückgelassene Familie abzulenken. Es deprimierte ihn nur daran zu denken und er träumte fast täglich von den letzten Tagen in Brest. Das wäre alles nicht so schlimm, wenn er bei seinem Regiment in Fort Frontenac wäre.
Alan setzte seinen Weg fort und kam gerade rechtzeitig zum Abendessen im Hospital an.
Als er danach in seine Kammer zurückkehrte fand er zwei Briefe dort. Einen von de Ramesay, dem Stadtkommandanten von Quebec und einen von Caporal Francoeur.
Zuerst las er den des Stadtkommandanten, der ihn für morgen Vormittag ins Fort Saint Louis bestellte und dann den von Louis Chauvet. Der Korporal berichtete knapp über den Marsch nach Montreal und dann zum Fort Frontenac, das mitten in der Wildnis lag, so wie Alan vermutet hatte.
Es stimmte ihn traurig, hier in der Stadt zu sein und noch immer zu schwach, um zu seinem Regiment zu stoßen. Er musste das dringend ändern.
Am nächsten Tag meldete sich Alan zuerst bei Sieur de Ramesay, dem kommandierenden Offizier der Stadt Quebec, so wie er es von ihm verlangt hatte. De Ramesay war um die Fünfzig, nicht gerade schlank, aber gut gekleidet und mit einem stolzen Gesichtsausdruck. In seinem Ganzen Verhalten spiegelte sich eine gewisse Verachtung wieder, so wie er Alan musterte und ihm Fragen nach seinem Befinden stellte. Offensichtlich mochte er die Franzosen nicht, denn de Ramesay war in Kanada geboren und seine Familie stammte ursprünglich aus Schottland.
Er wollte einen Arzt der Garnison morgen vorbeischicken, der Alans Diensttauglichkeit feststellen sollte, offensichtlich vertraute er dem Doktor aus dem Hotel de Dieu nicht wirklich und so wie Alan vor ihm stand, hatte er wohl Zweifel, dass der Capitaine noch immer krank sein sollte. De Ramesay schien offensichtlich vergessen zu haben, dass der Mann gerade eine tödliche Epidemie überlebt hatte, die noch immer Opfer im Hotel de Dieu forderte. Alan fühlte sich beleidigt und als er dann noch seine Einquartierung bei einer Familie in Saint Foy ausgehändigt bekam, verließ er sichtlich zornig das Zimmer des Stadtkommandanten, wo er vor der Tür mit einem Leutnant des Marinekorps zusammen stieß, der sich höflich entschuldigte.
Alan murmelte ebenfalls eine Entschuldigung und verließ das Fort. Sein Weg führte ihn die steile Straße hinunter zur Unterstadt, wo er etwas desorientiert durch die Gassen irrte, die voller Matrosen, Soldaten und Händler waren. Am Ende landete er in einer Taverne und setzte sich dort an einen Tisch, nah am Fenster, da die Luft ziemlich dick von Tabakrauch war. Er bestellte sich einen Brandy und zündete sich ebenfalls eine Pfeife an, um sich etwas abzureagieren.
Alan konnte von seinem Platz aus die gesamte Taverne überblicken und die Leute beobachten, ohne selber gesehen zu werden, da das Licht des Fensters einen Betrachter blendete.
Die einfachen Leute waren allesamt mit groben handgewebten Sachen gekleidet, trugen jene makaber Zipfelmütze in vielen Farben, zumeist aber weiß, blau und rot. Die Frauen hatten ihre Haare sorgsam unter Hauben gesteckt, der Ausschnitt der Kleider war bei einigen schicklich mit einem Tuch verdeckt, was jedoch nicht auf die Schankmagd zutraf, die ihre vollen Brüste beim Bedienen fast jedem Mann ins Gesicht drückte, wenn sie sich über die Tische beugte. Die Röcke waren auffällig kurz und ließen die Knöchel, teilweise sogar die Wade sehen und die Spitze der Unterröcke lugte hervor. Viele Leute trugen Holzpantoffeln, wie Alan es von den Niederlanden kannte.
Die Gespräche der Menschen drehten sich hauptsächlich um die Tagtäglichen Sorgen, wobei heraus klang, dass man die Französischen Truppen nicht gerade als Schutz ansah, sondern eher als Plage. Die Kanadier waren der Meinung, sie könnten ihre Kolonie besser selbst verteidigen, als Reguläre Truppen. Buschkampf war ihr Element, etwas was Alan bisher noch nicht kennen gelernt hatte, es sich aber lebhaft vorstellen konnte. Auch in Schottland hatten Banden von Viehdieben und Verbannten schon immer die regulären Truppen in Schach halten können.
Der Brandy summte Alan grauenvoll im Kopf, denn er hatte seit gut einem Monat nichts mehr getrunken. Stumm zog er an seiner Pfeife und stopfte sie erneut.
»Darf es noch etwas sein Capitaine?«, unterbrach die Schankmagd seine Gedankengänge und beugte sich über den Tisch, so das Alan zwangsweise in ihrem Ausschnitt versank, etwa was seinen Körper in einer Art und Weise reagieren ließ, die ihm peinlich war. Noch ein Grund länger sitzen zu bleiben und zu rauchen!
Der Schotte setzte ein liebenswürdiges Lächeln auf, kramte eine Münze aus seinem Sporran und lies sie zwischen die prallen Brüste der jungen Frau gleiten.
»Nein Danke, meine Liebste, ich habe alles was ich brauche.«, sagte er in seltsamen Tonfall.
Die Magd, die penetrant nach Küchendünsten und Bier roch, lächelte verführerisch und sammelt das Geld vor seinen Augen wieder aus dem Mieder. »Ich danke Euch Capitaine!«, sagte sie und rauschte mit einem Hüftschwung davon, der noch verführerischer war, als ihr Busen.
Alan war am Ende froh wieder an der frischen Luft zu sein, was allerdings sein Schwindelgefühl nicht abnehmen lies. Er musste sich am Hafen einen Moment auf ein paar Fässer setzen und sich ausruhen. Dann machte er sich auf einen Spaziergang, der ihn am Ufer des Sankt Lorenz entlang führte, durch die Unterstadt, bis zum Intendanten Palast, um dann durch die Porte de Palais, wieder zum Hotel de Dieu zurückzukehren. Dort legte Alan sich eine Stunde hin, um sich auszuruhen, um erneut einen Spaziergang zu machen, der dann etwas schwieriger wurde, weil er sich den steilen Aufgang von der Unterstadt, der Basse Ville zur Oberstadt der Haute Ville über die Cote de Montagne, eine steile unwegsame, von Wagenspuren zerfurchte Straße vorgenommen hatte. Das war die einzige Art wieder wirklich zu Kräften zu kommen, wenn es ihn allerdings auch fürchterlich anstrengte.
Nach dem Abendessen zog der Schotte sich Zivilkleider an und ging wieder hinunter in die Unterstadt, in die Taverne, in der er am Morgen war.
Am Abend war dort natürlich viel mehr los, es wurde musiziert, Karten gespielt und gefeiert. Alan setzte sich wieder in eine Ecke, wo er ungestört blieb, jedenfalls die meiste Zeit, genoss die Musik, die Leute und vor allen Dingen den Anblick der Magd.
Die schien seine Blicke zu merken, kam öfter zu ihm, um ihm ihre wirklich nicht zu übersehenden Reize zu präsentieren. Er bezahlte sie wieder wie am Vormittag, was am Ende zur Folge hatte das sie auf seinem Schoß landete und ihn zärtlich begrabschte, dass dem Schotten alle Sinne vergingen.
Es blieb an diesem Abend nicht bei einem Brandy und das hatte etwas zur Folge, was Alan eigentlich vermeiden wollte. Als er schließlich zum Abort auf dem Hof ging, wurde er auf dem Rückweg von der Frau, die Madeleine hieß abgefangen und in eine dunkle Ecke zwischen dort aufgestapelte Bierfässer gezogen.
»Nun Capitaine, wie wäre es mit uns beiden, Ihr habt doch sicher eine lange Überfahrt hinter Euch und Bedürfnisse!«, flüsterte die Schankmagd und begann seine Weste aufzuknöpfen und ihm das Hemd aus der Hose zu ziehen.
Alan wusste nicht zu sagen welcher Teufel ihn in dem Moment ritt, denn die Berührungen der Frau, die ihn nun küsste, machten ihn regelrecht verrückt. Seine Hände verirrten sich in ihr Mieder kneteten ihre prallen Brüste.
Sie zog ihn weiter zwischen die Fässer, beugte sich über eines und raffte ihre Röcke hoch. Im Halbdunkel des Hofes, sah er ihr weißes Hinterteil blinken und die Lust die ihm in diesem Moment erfasste, kam wie ein Sturm über ihn.
Alan knöpfte seine Hose auf, umfasste Madeleines Hüften Besitz ergreifend und binnen weniger Minuten hatte er seine Erregung an einer wildfremden Frau befriedigt, die sich ihm ohne jede Emotion hingab.
Als er wieder aus ihr heraus glitt, kam er sich schmutzig und schlecht vor. Zum Glück war es dunkel und die Magd konnte sein Gesicht nicht sehen, in dem sich Zorn und Scham widerspiegelten. Sie zog ihre Röcke wieder herunter und drehte sich zu dem Schotten um, der umständlich seine Hose zuknöpfte und das Hemd und die Weste wieder ordnete.
»Aber ganz umsonst ist Madeleine Parenesse nicht zu haben Capitaine!«, kam es von der jungen Frau, die plötzlich ihre Hände um Alans Hüfte schlang, um nach seinem Sporran zu fassen.
Sie berührte dabei dem Griff des Dolchs, den Alan immer unsichtbar am Gürtel trug und zog erschrocken die Hände zurück. »Mon Dieu, seid ihr ein Wilder?«, fragte sie hastig.
»Nein, ich bin ein Capitaine von La Sarre und ich werde dich natürlich für deine Dienste bezahlen.«, erwiderte Alan und gab ihr eine Summe, die die Magd mehr als zufrieden stellte.
Sie lachte verführerisch und küsste ihn nochmals, wobei der Schotte vor ihr zurückwich. »Merci, mon Capitaine, stets zu Diensten.«, sagte sie schließlich und huschte davon, zurück in die Taverne.
Alan stand in der dunklen Ecke, zwischen den Fässern und fühlte einen Kälteschauer seinen Rücken herunter rieseln. Wie hatte er so etwas tun können?
Stumm ging er zurück in die Gaststube, wo sich Madeleine fröhlich zu einer schnellen Geigenmelodie drehte und ihm Kusshände zuwarf, die ihn erröten ließen. Er setzte sich wieder in seine Ecke und beobachtete die Leute, während er an seinem dritten Brandy nippte.
Schräg von ihm saß bei einer Gruppe junger Männer die gut gekleidet waren, der Leutnant mit dem er am Vormittag zusammengestoßen war in Fort Saint Louis und lächelte ihn an. Die Männer spielten Karten und es ging hoch her. Schließlich warf der Leutnant, seine Karten hin und meinte er steige aus. Er griff sich einen Krug, der auf dem Tisch stand und kam zu Alan.
»Wollt Ihr einen besseren Schluck, als diesen Fusel Capitaine?«, fragte er höflich.
»Nein Danke Lieutenant, ich glaube ich habe genug für heute.«, antwortete der Schotte, dem wirklich nicht nach noch mehr Alkohol war. Selbst die drei Becher Brandy waren im schon zu viel. Er fühlte sich alles andere als wohl.
Noch immer lächelte der junge Mann wissend und warf einen flüchtigen Blick auf die Schankmagd.
»Wie auch immer Capitaine, falls Euch nach etwas besserer Gesellschaft, als Seebären, Handwerkern und leichten Mädchen ist, dann kommt doch einmal zu Madame Larues Haus in Rue Saint Louis, in der Nähe des Stadttors. Wir treffen uns dort gelegentlich auf einen guten Schluck Wein, Musik und angenehme Gesellschaft.«, sagte er schließlich.
»Vielleicht nehme ich Euer Angebot an Lieutenant.«, erwiderte Alan und lächelte ebenfalls.
»Beruft Euch auf mich, René Amable Boucher de Boucherville!«, mit diesen Worten ging er zurück zu seinen Freunden, die noch immer mit dem Kartenspiel beschäftigt waren.
Alan beobachtet sie noch eine Weile und rauchte eine Pfeife dabei, dann stand er auf und verließ die Taverne. Er hatte schwer zu tun, zurück in das Hotel de Dieu zu kommen. Obwohl es ein warmer Abend war, fror er und ein Schwindelgefühl plagte ihn, dass nicht nur auf den reichlichen Brandy Genuss zurückzuführen war. Erschöpft und Todmüde fiel er in sein Bett, nachdem er sich ausgezogen hatte.
Als er am nächsten Morgen aufwachte ging es ihm wieder besser, aber das schlechte Gewissen war keinesfalls verschwunden. Besonders als Pierre hereinkam, seine Sachen zusammen räumte und wieder seine Uniform heraus legte.
»Oh Mon Dieu Capitaine, wart Ihr in einer Taverne, Eure Kleidung riecht ja fürchterlich!«, stellte er fest und sah seinen Herrn mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an.
Alan hatte in der Nacht derart heftig von seiner Frau geträumt, das er am Morgen recht erschrocken feststellen musste das sein Körper den Traum für Realität gehalten hatte und sein Hemd mit Samen derart besudelt, das es steif davon war. Natürlich war das dem Jungen auch nicht verborgen geblieben.
»Soll ich Euch ein Bad bereiten lassen Capitaine?«, fragte Pierre, als Alan sich beschämt auf Bett setzte.
Der Schotte nickte nur stumm und starrte auf seinen Ehering, den er gut sichtbar an der linken Hand trug.
»Ja, Pierre, das wäre gut.«, antwortete er schließlich.
Alan schlüpfte wieder ins Bett, als Pierre mit einer Novizin zusammen das Bad vorbereitete.
Schließlich war er mit dem jungen Soldaten allein im Zimmer, zog sich das Hemd über den Kopf, gab es ihm und wollte gerade in den Zuber steigen, als Pierre ihn ansprach.
»Capitaine, wenn ihr etwas braucht um Euren Drang zu befriedigen, sagt es mir. Ich kann Euch helfen…«, sagte der junge Mann leise.
Der Schotte starrte ihn an und schüttelte unverständlich den Kopf.
»Das ist ein Kloster hier, du kannst mir nicht eine Hure herbringen Pierre!«, entfuhr es ihm.
Der Junge seinerseits musterte ihn mit einem seltsamen Blick und holte geräuschvoll Luft.
»Wenn Ihr wollt, bin ich Euch auch zu Diensten Capitaine…«, kam es nun und Alan hatte das Gefühl eine Ohrfeige bekommen zu haben, besonders als der Junge sich die Hose aufknöpfte und sie herunter streifte, um sich vor ihm hinzuknien. Fassungslos starrte er auf das weiße Hinterteil des jungen Soldaten, der wohl allen Ernstes erwartete, dass er sich an ihm bediente.
Alan raffte sein Hemd, das auf dem Boden lag und musste sich aufs Bett setzen, da ihm auf einmal schwindelig wurde. Für einen kurzen Moment kamen Bilder in seine Erinnerung, die er gänzlich aus seinem Gedächtnis gestrichen hatte. Er erinnerte sich an Colonel Rutherford, den Kommandanten des Gefängnisses von Derby und seinem Sergeanten, einem gewissen Miller, wie sie ihn betatschten, als er nackt vor ihnen stand und wie sie den armen Jungen aus Falkirk vor seinen Augen vergewaltigt hatten.
»Zieh dich um Gottes Willen an Pierre…«, stammelte er und als der Junge sich zu ihm umdrehte und ihn verwirrt ansah, wusste er im ersten Moment nicht wie er reagieren sollte. Eigentlich hätte er ihn anbrüllen und bestrafen müssen. Derartige Vorlieben galten als verwerflich, als Sodomie, auf die die Todesstrafe stand. Doch ihm war schon öfters zu Ohren gekommen, das es Männer, besonders Offiziere gab, die darauf standen und das sich Soldaten unter den gegeben Umständen auch gegenseitig halfen auf diese Art und Weise. Aber für ihn war allein der Gedanke daran unvorstellbar. Selbst das, was er am vergangen Abend getan hatte, erschien ihm äußerst verwerflich und sündig, aber seinen Diener zu gebrauchen wie ein Stück Fleisch, das war das Letzte was ihm vorschwebte!
»Es, …es …tut mir leid Capitaine…«, stammelte Pierre Delboro, mittlerweile hochrot im Gesicht.
»Wie, …wie kommst du darauf das ich dich bräuchte Junge?«, fragte Alan ruhig und gefasst.
Pierre senkte den Blick, fummelte nervös an seinem Hosenbund herum. »Ich…ich dachte, Ihr wärt wie Euer Vorgänger oder wie mein Lehrmeister in Dieppe, weil Ihr diese Nacht …so gestöhnt habt und Euer Hemd…«, Alan unterbrach die näheren Ausführungen des jungen Soldaten mit einem zornigen Blick.
»Himmel, Junge was redest du da. Dir ist hoffentlich klar, dass auf Sodomie die Todesstrafe steht! Ich habe nicht solche Neigungen und lieber würde ich mir die Hand abhacken, als meinen Diener zu missbrauchen. Es gibt genug Huren in der Stadt, die ihre Dienste anbieten!«, entfuhr es ihm entsetzt.
Pierre Delboro wurde blass und begann plötzlich zu weinen, wie ein kleines Kind.
»Bitte…bitte… Capitaine, …zeigt mich ….nicht an.«, bat er schluchzend.
Alan holte tief Luft, wenn er nicht splitternackt gewesen wäre, hätte er den Jungen getröstet, doch so konnte er sich im nicht nähern, ohne sich selbst Lügen zu strafen.
»Das werde ich nicht Pierre! Du brauchst keine Angst zu haben! Leg mir Handtücher und Rasierzeug bereit und meine Sachen, dann kannst du gehen. Ich brauche dich im Moment nicht.«, sagte er ruhig und gefasst.
Pierre Delboro wischte sich verdutzt die Tränen aus dem Gesicht und tat was Alan von ihm verlangte.
Als er dann gegangen war, setzte sich der Schotte in die Wanne. Ihm war nicht besonders wohl, aber das Bad beruhigte ihn, körperlich und seelisch.
Danach ließ er sich etwas zu Essen bringen und ging schließlich in die kleine Kapelle des Hotel de Dieu. Er zündetet eine Kerze vor dem Marienfigur an und sprach leise ein Gebet in Gälisch, bat um Vergebung seiner Sünden und um Schutz für seine Familie, besonders für seine Frau.
Er wusste dass Andrea sicher schon sein Kind geboren hatte und er musste unaufhörlich an seine Sünde vom vergangenen Abend denken.
Seit er in der Französischen Armee war und seit seiner Hochzeit mit der jungen Frau, hatte er wie es üblich war, die Gottesdienste besucht, gebetet, gebeichtet und das heilige Abendmahl empfangen, obwohl er offiziell nie zum Katholizismus konvertiert war. Er fand es nicht weiter verwerflich, denn es war derselbe Gott, derselbe Jesus und dieselbe Maria zu der er betete, wie in dem Glauben in dem er aufgewachsen war.
Er saß schließlich in einer Bankreihe und starrte auf den Altar, als sich die Nonne, die ihn gepflegt hatte neben ihn setzte.
»Ihr seid heute so in Euch gekehrt Capitaine D’Artoury?«, sagte Marie Francis leise.
»Ich muss an meine Frau denken Schwester. Sie erwartete ein Kind, als ich Frankreich verlassen habe. Es wird sicher schon geboren sein.«, antwortete der Schotte ebenfalls flüsternd.
Die Nonne drückte ihm ihren Rosenkranz in die Hand und lächelte flüchtig.
»Ich schenke ihn Euch Capitaine, denn ich habe keinen Rosenkranz bei Euch gesehen. Betet ihn regelmäßig und der Herr wird sich Eurer erbarmen und auch Eurer Frau und den Kindern.«, mit diesen Worten stand sie auf und verließ die Kapelle.
Alan saß da und starrte auf die Holzperlen in seiner Hand, mit dem kleinen kunstvoll geschnitzten Kruzifix. Leise murmelte er das Ave Maria in Gälisch und seufzte. Er tat sich schwer, sein Vergehen vom Vorabend zu vergessen.
Er hatte mit Andrea zwar darüber geredet und sie versicherte ihm, dass sie es ihm nicht übel nahm, wenn er sich an eine Prostituierte wenden würde. Keiner von ihnen wusste wie lange sie getrennt sein würden und die junge Frau war der Meinung gewesen, dass sie unmöglich von ihm als Mann verlangen konnte wie ein Mönch zu leben. Er sollte nur aufpassen, dass er sich nicht eine Krankheit holte oder gar Nachwuchs zeugte.
Andrea hatte das zwar recht freimütig gesagt, doch Alan hatte gefühlt, dass es nicht unbedingt so gemeint war. Gar zu deutlich waren da auch Zeichen für Eifersucht und Enttäuschung zu sehen gewesen. Er wollte sich ehrlich Mühe geben und dass er jetzt bei der erstbesten Gelegenheit so kläglich versagt hatte, betrübte ihn.
Obwohl er sich wirklich noch nicht voll hergestellt fühlte, betet er insgeheim, dass der Arzt aus der Garnison ihn für Diensttauglich befand und er zu seinem Regiment nach Fort Frontenac konnte. Das würde ihn ablenken, denn er befürchtete noch mehr in derart verfängliche Situationen zu geraten. Man erwartete förmlich von einem Capitaine der Regulären Französischen Armee eine Affäre.
Alans Wunsch wurde allerdings nicht wahr. Der Arzt sah wohl eher als Sieur de Ramesay, dass der Offizier wirklich noch nicht ganz gesund war und dass er sich vor seinem Dienstantritt im Grenzgebiet gründlich erholen müsste. So blieb Alan nichts anderes übrig, als sich zu fügen.
So ließ er sich am siebten Juli mit einem Wagen nach Saint Foy bringen, wo er sein Quartier zugewiesen bekommen hatte bei einem gewissen Chevalier Douville.
Der Empfang dort war kalt und unfreundlich und das Zimmer das er bezog nicht unbedingt gemütlich. Alan fühlte sich recht deplatziert dort.
Das ärgerte ihn derart, dass er seine guten Vorsätze vergaß und den Vorschlag des jungen Leutnants der Compagnies Franches de la Marine, dem Marinekorps annahm und das Haus in der Rue Saint Louis aufsuchte. Als er den Salon von Madame Larue betrat, wusste er sofort, dass er hier vom Regen in die Traufe geraten war. Das Haus war nichts anderes als ein besseres Bordell für die adligen Offiziere, oder die die sich dafür hielten und sich hier ungeniert mit ihren Mätressen vergnügten.
Madame Larue, wedelte sich mit ihren Fächer Luft zu, denn es war ein heißer Juli Tag und von der Straße her kam nur der schneidende Geruch von Abfall, der vom Rinnstein heraufzog.
Die Stimmung war gut, die Damen und Herren ihrer Gesellschaft schienen sich gut zu amüsieren. Der Wein tat seine Wirkung und ab und zu verschwand ein Pärchen in den angrenzenden Räumen. Sie war eigentlich zufrieden.
Das einzige was sie störte, war der Offizier, ein Capitaine der Französischen Regulären, der am Fenster stand, das zu dem Obstgarten hinter dem Haus führte und der, ein Glas Wein in der Hand, dastand und seit Stunden nur die Gäste beobachtet. Anfänglich hatte er sich am Kartenspiel beteiligt, allerdings, nachdem er eine kleine Summe verloren hatte, sich zurückgezogen. Vergeblich hatten sich zwei ihrer Freundinnen um den hochgewachsenen Mann bemüht, der sie freundlich, aber bestimmt abgewiesen hatte. Ein unmögliches Benehmen in ihren Augen. Wozu war der Mann hierhergekommen, sie verstand es nicht!
Dennoch freundlich lächelnd ging sie zu ihm hin. Der Offizier war wirklich ausgesprochen groß, sein Gesicht etwas blass und entstellt durch die Pocken, aber irgendwie nicht hässlich. Er hatte stolze und gebieterische Züge, seine Augen waren zu ihrem Erstaunen grau und nicht dunkel, wie sie vermutet hatte. Sie lagen tief in den Höhlen und waren von dichten pechschwarzen Brauen und extrem langen Wimpern überschattet. Er trug keine Perücke, was bei seinen ebenfalls schwarzen, lockigen Haaren auch nicht notwendig schien, die er zu einem dicken Zopf geflochten hatte, der in einem schwarzen Stoffbeutel steckte, der wiederum mit einer dunkelblauen Seidenschleife im Nacken befestigt war.
Als sie neben ihm stand, nahm sie einen herben Geruch nach Tabak und Lavendel wahr, was ihr ein flüchtiges Lächeln entlockte.
»Nun Capitaine, Ihr scheint Euch zu langweilen?«, sprach Madame Larue ihn schließlich an.
Der Offizier zog die Augenbrauen hoch und lächelte freundlich.
»Oh nein Madame, ich amüsiere mich recht gut. Die Musik war entspannend, das Essen ist gut genauso wie der Wein. Ich kann mich nicht beschweren.«, antwortete er höflich und die Frau nahm einen leichten Akzent wahr, den sie nicht einordnen konnte.
»Wo seid Ihr her Capitaine D’Artoury, wo liegt Euer Gut?«, fragte sie weiter.
Erneut zog der Mann die Augenbraue hoch und ein zynischer Zug erschien auf seinem Gesicht.
»Ich stamme aus Schottland Madame. Ardtur ist ein Ort in der Grafschaft Argyll.«, antwortete er bestimmt und mit einem gewissen Stolz.
»Verzeiht mir mein Unwissenheit Capitaine, aber ich habe noch nie etwas über die Grafschaft Argyll gehört. In Schottland liegt das also?«, versuchte Madame Larue ein wenig Konversation zu betreiben.
»Es liegt an der Westküste, in den schottischen Highlands.«, klärte der Mann sie schließlich auf.
Sie hakte ihn höflich bestimmend unter und lächelte verführerisch. Zufrieden nahm sie einen Blick wahr, der sich in ihren Ausschnitt verirrte, den eine Perlenkette zierte.
»Erzählt mir von Eurer Heimat Capitaine D’Artoury.«, forderte sie ihn auf und zog ihn vom Fenster weg zu einer Ottomane, wo sie sich setzten.
»Da gibt es nicht viel zu erzählen Madame Larue, Argyll ist ein wildes Land voller wilder Bewohner, so sagen es jedenfalls die Engländer.«, kam die lapidare Antwort des Offiziers, der sein Weinglas auf den Tisch stellte.
»Ihr scheint nicht die besten Erfahrungen mit den Engländern gemacht zu haben Capitaine?«, sie lächelte erneut und nahm wieder diesen zynischen Zug wahr, der durch einen tiefe, von seinem Nasenflügel, zum Mundwinkel verlaufende Falte verstärkt wurde.
»So könnte man sagen Madame, ich bin Jakobit, ein Rebell gegen den König der Engländer.«„, antwortete er bestimmt.
»Oh ein Jakobit, wie der Chevalier de Johnston, der Adjutant von Colonel de Levi?« gab sie zum Besten. Sie hatte den Mann, der ein ausgesprochener Aufschneider war, schon einmal getroffen.
Der Schotte nickte stumm darauf, schwieg aber. Offensichtlich hatte er dieselbe Feststellung gemacht und war zu höflich sie vor ihr zu äußern.
Madame Larue beobachtete, wie der Offizier Lieutenant de Boucherville musterte der mit ihrer Freundin, Isabelle Dumas anbändelte. Ein seltsames Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als der junge Mann mit seiner weiblichen Begleitung in ein Nebenzimmer verschwand.
»Lassen Euch die Reize der jungen Damen von Quebec kalt Capitaine D’Artoury?«, fragte sie schließlich sehr direkt.
Der Mann sah sie mit einem freundlichen Lächeln an. »Nein Madame Larue, warum fragt Ihr?«, kam es von ihm.
»Nun Ja Capitaine, ihr habt meine Freundinnen Mademoiselle De Montforton und Mademoiselle Lèveille abgewiesen, das ist mir nicht entgangen. Oder sollte Ihr gar Gefallen an Anderem finden?«
Sie bereute fast sofort ihre Worte, denn das Gesicht des Offiziers wurde von einem wütenden Ausdruck verzerrt. Er sprang auf und machte Anstalten zu gehen. Madame Larue, hielt ihn am Ärmel seiner Uniformjacke fest.
»Verzeiht mir Capitaine, ich wollte Euch nicht beleidigen.«, sagte sie leise und der Mann sah sie sichtlich beleidigt an.
»Gebe ich Euch Anlass, das von mir zu denken Madame?«, fragte er ebenfalls leise und setzte sich wieder.
»Nein, Capitaine, aber offensichtlich wollt Ihr Euch nicht amüsieren und Ihr habt die Damen beleidigt damit.«, versuchte sie es nun aus dieser Richtung.
»Wie ich Euch bereits gesagt habe, amüsiere ich mich prächtig und ich wollte die jungen Damen nicht beleidigen. Ich wollte mich nur nicht weiter in Versuchung führe.«, mit diesen Worten hob er seine linke Hand und zeigte ihr einen breiten Silberring mit einem seltsam verschlungenen Muster.
»Madame D’Artoury würde es mir übel nehmen.«, fügte er noch hinzu.
Madame Larue sah ihn lächelnd an und verbarg ihr Gesicht für einen Moment hinter ihrem Fächer.
»Bringt sie das nächste Mal mit, damit sie auch ein wenig Zerstreuung hat.«, schlug sie vor.
Der Offizier schüttelte den Kopf und sah nachdenklich zum Fenster, von dem aus man in den Garten sehen konnte. »Das würde ich gerne Madame Larue, aber sie ist in Frankreich geblieben, in Melun.«, sagte er schließlich.
Sie seufzte und lächelte verführerisch. »Nun ja, ich glaube Madame D’Artoury hat sicher nicht dagegen, wenn Ihr Euch etwas amüsiert Capitaine, jedenfalls so lange Ihr hier einsam seid.«
Doch sehr erfolgreich war sie am Ende nicht. Der Offizier blieb standhaft, was ihre Reize anging und die der anderen Damen. Aber man konnte sich gut mit ihm unterhalten und auch beim Kartenspiel war er eine Bereicherung. Er kam noch einige Male, gewann kleiner Summen und verabschiedete sich schließlich Mitte Juli, da er zu seinem Regiment nach Fort Frontenac musste. Madame Larue hatte nicht allzu viel Hoffnung ihn im Herbst wieder zusehen. Irgendwie schien der Mann nicht in ihre Gesellschaft zu passen.
Mitte Juli befand man Alan endgültig für Diensttauglich und er machte sich auf den Weg nach Frontenac. Zum Glück hatte es bisher keinerlei große Kampfhandlungen gegeben, man hatte lediglich die Forts verstärkt und umgebaut. Alles schien halbwegs friedlich zu sein.
Den ersten Teil seiner Reise, legte er auf einem kleinen Schiff zurück, dass ihn und zwei weiter Offiziere, sowie einige Soldaten, nach Montreal bringen sollte.
Hier hatte Alan nun endlich die Gelegenheit seine Heimat auf Zeit näher kennenzulernen. Zwar hatte er schon einige Ausflüge zu Pferd in die Umgebung von Saint Foy gemacht. Doch die Gegend um Quebec herum war wohl kultiviertes Ackerland, wo sich in Richtung Fluss die Felder hinzogen, geflankt von zumeist eingeschossigen, weiß getünchten Häusern aus Stein oder Holz, entlang der Chemin du Roy, der Straße die von Quebec bis Montreal führte.
Während seiner Herreise hatte Alan ja die Ufer des Sankt Lorenz von der Stelle an, an der sie den Lotsen aufgenommen hatten, nicht mehr bewusst wahrgenommen, weil er schwer krank war.
Als er Quebec das erste Mal vom Fluss aus sah, als sie am frühen Morgen ablegten, die Flut und einen guten Wind nutzend, war er überwältigt von dem Anblick. Die Kirchturmspitzen glitzerten in der Morgensonne und die Stadt wirkte wie eine trutzige Festung auf ihrem steilen Felsen. Es erinnerte ihn ein wenig an den Anblick von Edinburgh vom ›Rest and be Thankful Pass‹ in Corstophine.
Als die Stadt schließlich hinter den Cape Diamond verschwand und an gegenüberliegenden Ufer die ersten Siedlungen auftauchen, mit ihren weißen Häusern, den gut bestellten Feldern, dachte er wehmütig an Andrea. Alan hatte früher nicht sehr darauf geachtet, was er so sah, erst seine Frau hatte ihm das gelehrt. Die Landschaft der schottischen Highlands war ihm vertraut seit Kindesbeinen, doch seit er wusste, dass er nie wieder zurück konnte, bewahrte er jede Erinnerung in seinem Herzen, wie einen wertvollen Diamanten. Jede Erinnerung an einen Sonnenaufgang, einen sternenübersäten Himmel, das Glitzern der Bachläufe nach einem heftigen Regen, die schimmerten wie silberne Borten auf den grünen und braunen Hängen der Berge. Die blühende Heide, die tausenden blauen Glockenblumen im Frühsommer, das waren Dinge die er nie wieder sehen würde und auch jetzt wollte er nicht vergessen was er schönes sah, weil er fürchtete dass er noch genug weniger schönes sehen würde in diesem Krieg, der nicht seiner war.
Auf der Höhe von Saint Croix, war der Sankt Lorenz wieder so breit, dass man kaum glauben konnte auf einem Fluss zu sein. Das Ufer war steil und erschien bei Flut uneinnehmbar zu sein. Das Land war gut bestellt und von lichten Wäldern unterbrochen. Bei Jaques Cartier verengte sich der Fluss wieder, um sich dann bei Deschambault beträchtlich zu erweitern.
Schließlich kam Trois Rivieres in Sichtweite. Der Ort hatte seinen Namen von einem Fluss, der sich hier über ein kleines Delta aus drei Armen in den Sankt Lorenz ergoss. Das Delta wurde von zwei Inseln gebildet, die mit Schilf und Buschwerk überwuchert waren. Der Ort selbst lag etwas oberhalb der Mündung und war nichts weiter als ein weitläufiges Dorf auf den ersten Blick. Das Terrain im Osten und Nordosten des Dorfes war hoch, mit einem steilen, sandigen Zugang zum Ufer des Sankt Lorenz herunter. Die meisten Häuser waren aus Holz, nur die Kirche und das Kloster der Recollets, das am gegenüberliegenden Ufer lag waren aus Stein. Um das Kloster herum schien das Land wirklich fruchtbar zu sein und Alan konnte einen prächtigen Obstgarten erkennen.
Schließlich öffnete sich der Lac Saint Pierre vor ihnen und Alan verschlug es die Sprache angesichts der Weite und der Wildnis, die sich teilweise bis an die Ufer erstreckte, wo aber auch, wie weiße Fahnenmasten, die Kirchturmspitzen der Orte an beiden Ufern aus den Bäumen herausragten.
Am Ende des Sees mündeten mehrere Flüsse und sie erreichten nun einen Kanal, der durch eine Gruppe von Inseln führte. Das Ufer war streckenweise so nahe, dass man ohne jedes Problem ans Ufer springen konnte. Alan kam sich vor wie im Paradies, angesichts der schattigen dunklen Wälder, die die Inseln bedeckten. In Schottland gab es kaum Stellen an der die Bäume, wenn sie denn noch vorhanden, so dicht waren. Sie spiegelten sich im grünen Wasser des Flusses und die Sonne glitzerte zwischen den Zweigen, wo sich ganze Heerscharen von Wasservögeln tummelten, die einen Heidenlärm verursachten. Da es schon dunkle wurde und die Strömung, kombiniert mit einer Flaute sie nicht mehr weiter voranbrachte, sonder eher zurücktrieb, wollten sie auf einer Inseln eine Rast machen.
Die Kanadier, die das Boot steuerten stritten sich jedoch eine ganze Weile mit dem Scout, der noch mit an Bord war. Der Mann hieß Charles Bonin, war um die vierzig, von untersetzter Statur, einen ergrauten Bart im sonnenverbrannten Gesicht, das wie eine zerknitterte Zeltleinwand wirkte. Er trug die typische Zipfelmütze der Einheimischen, ein weites handgewebtes Hemd und darunter Indianische Leggings und kniehohe Mokassins. Seine Bewaffnung bestand aus einem Tomahawk, den er am bunten Gürtel trug, neben einer Pistole, einem langen Jagdmesser, das er in einer Lederscheide um den Hals hängen hatte und einer recht alten Muskete.
Zähneknirschend gaben die Bootsleute schließlich nach und halfen murrend das Gepäck aus dem Boot zu bringen. Bonin ließ ein großes Feuer anzünden und wies an, das Lager an einer offenen Stelle im von Unterholz überwuchernden Uferbereich zu errichten.
Alan sah sich währenddessen etwas in der Gegend um, obwohl es schon langsam dunkel wurde. Er entdeckte die Ruine eines Hauses, über dessen zusammengefallenen Mauern rote Blumen Blühten, die er auch aus Schottland kannte. Ansonsten waren keine Anzeichen von Besiedlung zu sehen.
Er stieg gerade über ein paar grob beschlagene Steine, wahrscheinlich Reste einer Umgrenzungsmauer, als ein lautes Klappern ihn aufschreckte. Keinen Meter von ihm entfernt, lag auf einem Felsbrocken eine große Klapperschlange und rasselte nervös mit ihrem Schwanzende.
Alan wusste von der Gefährlichkeit dieser Reptilien und hatte schon viele Geschichten über die Wirkung des Giftes gehört. Er war stehen geblieben und verharrte wie eine Salzsäule. Der Schotte trug nur Gamaschen aus ölgetränktem Leinen über seinen Schuhen, die ihn sicher nur unzureichend vor einem Biss schützen würden. Sein Herz schlug wie eine Trommel und er visierte die Schlange an, so wie die ihn nicht aus den Augen ließ. Noch immer klapperte sie nervös mit dem Schwanzende.
Vorsichtig versuchte Alan seinen Dolch aus dem Gürtel zu ziehen, doch das Klappern wurde lauter und schien sich zu verdoppeln. Er sah nun eine weitere Schlange über die Bruchsteine kriechen.
Auch sie war riesig und konnte, wenn er versuchte zu flüchten, ihn mit ihren Giftzähnen erreichen.
Eine hätte er ja noch mit seinem Dolch erledigen können, aber zwei, dass erschien ihm unmöglich.
Es blieb ihm nichts weiter übrig als ruhig stehen zu bleiben und abzuwarten. Doch das konnte wohl ewig dauern, denn die Schlangen hatten sich einen guten, warmen Platz ausgesucht, während es langsam immer dunkler wurde.
Ein Geräusch ließ Alan zusammenfahren und erneut ertönte das warnende Klappern der Schlangen im Duett. Irgendjemand kam!
Der Schotte ließ die Tiere nicht aus den Augen und das Geräusch ihrer Rasseln wurde immer lauter. Plötzlich nahm er aus den Augenwinkeln etwas wahr, ein Schatten huschte auf ihn zu. Eine der Schlangen schnellte vor und er sprang erschrocken zurück. Das Reptil verfehlte seinen Unterschenkel um Haaresbreite und mit einer schnellen Bewegung versenkte er nun seinen Dolch in dem Tier.
»Mon Dieu Capitaine!«, ertönte es plötzlich und aus den Schatten der Bäume trat Charles Bonin auf ihn zu. Mit den Kolben seiner Muskete schlug er auf die Schlange vor Alans Füßen ein und dann noch auf die, die sich keinen halben Meter entfernt wandte. Auch in ihren Körper steckte ein Dolch.
»Ihr solltet hier nicht so einfach herumlaufen Capitaine, die Insel ist die ›Isle à Sonèttes‹, die Klapperschlangen Insel!«, sagte er während er in aller Ruhe Alans Dolch aus der Schlange zog und ihn zurückgab. Dann schnitt er beiden Reptilien den Kopf ab, drückte einen der leblosen Körper Alan in die Hand, der kaum den Ekel unterdrücken konnte.
»Unser Abendbrot.«, meinte der Scout trocken.
Der Schotte trottete dem Kanadier treu ergeben hinterher, immer noch geschockt, dass er den Tod um Haaresbreite entgangen war.
Schließlich saß er an Feuer, wo die Männer ihr Abendbrot bereiteten, zu Alans Leidwesen auch die beiden Klapperschlangen. Als er schließlich seinen Teller von Bonin in die Hand gedrückt bekam, schüttelte er stumm den Kopf.
»Probiert es Capitaine, Klapperschlangen sind eine Delikatesse, besonders, wenn man sie selbst erlegt hat, eine Art verspätete Rache.«, sagte der Mann mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
»Danke, auf diese Art Rache kann ich verzichten. Mir wäre lieber gewesen diese Erfahrung nicht gemacht zu haben!«, erwiderte Alan dann.
»Aber Ihr habt die Sache hervorragend gemeistert, die meisten Männer ergreifen die Flucht, um dann die Zähne der Schlange zu spüren.«, mit diesen Worten klopfte Charles Bonin ihm auf die Schulter und lachte laut.
Zähneknirschend nahm Alan schließlich sein Abendbrot ein, was erstaunlicherweise wirklich gut schmeckte. Allerdings hatte er keine rechte Lust auf sein Lager am Feuer zu kriechen. Die Angst auf der Klapperschlangeninsel noch einmal Bekanntschaft mit den Reptilien zu machen, ließen ihn keine Ruhe finden, zumal die Bootsleute sich kategorisch weigerten an Land zu bleiben.
Das Feuer brannte und mehrere kleiner am Rande des Buschwerks, um die Lichtung herum. Einige der Soldaten waren zur Wache eingeteilt und angewiesen Lärm zu machen, was das Schlafen erst recht unmöglich machte.
Schließlich hockte sich Alan ans Feuer und begann an einem Holzstück herum zu schnitzen, um sich abzulenken. Nach einer Weile setzte sich Charles Bonin dazu und beobachtet den Offizier verwundert. Ihm war wohl noch nie ein Mann wie Alan begegnet.
»Woher habt Ihr diesen Dolch Capitaine?«, fragte er nach einer Weile.
Alan wog seine Waffe in der Hand und starrte erneut ins Feuer.
»Ein Freund hat ihn mir geschenkt, er ist Schotte wie ich. Diese Art Dolche sind eine Tradition der Hochländer, die im Norden Schottlands leben.«, antwortete er schließlich nach einer Weile und reichte dem Kandier seinen Dolch, der ihn aufmerksam betrachtete.
»Ein Kormoran, der auf einem Felsen sitzt.«, stellte Bonin nach einer Weile fest und Alan nickte stumm darauf.
›Craig an Sgarhb‹, Kormoran Felsen, das war der Kriegsruf der Stewarts of Appin. Doch das verriet er dem Mann nicht, der ihm den Dolch schließlich zurückgab und ebenfalls stumm ins Feuer starrte und den Offizier immer wieder nachdenklich musterte.
Er hatte nur vage etwas über die Bewohner Schottlands gehört und der Capitaine da vor ihm, war irgendwie anders, als die meisten der regulären Französischen Truppen. Charles Bonin wollte ihn gut im Auge behalten, denn es war seine Aufgabe ihn nicht nur nach Montreal, sondern auch ins Fort Frontenac zu bringen.
Irgendwann gegen Morgen fand Alan dann ein paar Stunden Schlaf und wachte wie gerädert auf, als um ihn herum das Ganze Lager schon im Aufbruch war.
Es ging den Fluss weiter abwärts bis sie Sorel erreichten, eine kleine Ortschaft an der Mündung eines Flusses mit demselben Namen, der die Verbindung zum Lac Champlain und Lac du Saint-Sacrement, den die Briten Lake George nannten. Hier befanden sich weitere Forts der Franzosen, Chambly, Île-aux-Noix, Carillion und Fort Frederic.
Gegen Abend erreichten sie schließlich Montreal. Im Dämmerlicht des Abends sah Alan die Stadt zum ersten Mal, die sich im Vordergrund des bewaldeten Mont Royal ausdehnte.
Sie war, genauso wie Quebec von einer Stadtmauer umgeben und erstreckte sich auf einer langen Insel im Sankt Lorenz. Die Dächer der Häuser, die teilweise mit Metallplatten gedeckt waren und die Türme der Kirchen und Seminare ragten darüber hinaus. Mehrere Vororte umgaben die Stadt und überall erstreckte sich Farmland, unterbrochen von lichten Wäldern und Obstgärten.
Schiffe aller Größenordnungen ankerten auf den Fluss und die Passagiere, sowie die Ladung mussten ähnlich wie in Quebec mit kleinen Booten an Land gebracht werden, so auch die Passagiere von Alans Schiff.
Es war keine unbedingt angenehme Sache, am Ende über den Schlick und Abfall am Ufer zu balancieren. Am schlimmsten, neben dem Geruch fand Alan die Mücken, die ihn ziemlich plagten. Zwar gab es in Schottland eine Art Mücken, klein wie Obstfliegen, die in jede Körperöffnung krochen und böse stachen, aber man konnte sich in den Highlands dieser beflügelten Plagegeister recht gut erwehren, in dem man sich mit einem auf der Heide wachsenden Kraut einrieb, dass man Sumpfmyrte nannte. Aber diese Mücken hier waren schlimmer, größer und besonders nachts Nerv tötend.
Alans Ziel für diesen Tag, war das Chateau Ramesay, der Gouverneurs Palast. Hier überbrachte er Depeschen und bekam ein Quartier zugewiesen, wo er eine halbwegs angenehme Nacht verbrachte.
Am nächsten Tag konnte er sich die Stadt wenigstens ansehen, denn schon zwei Tage später sollte es weiter gehen in Richtung Fort Frontenac. Montreal war eine schmale, enge Ansammlung ein und zweistöckiger Häuser, von denen man einige durchaus als prächtig bezeichnen konnte, dominiert von den Türmen der Kirchen und Seminare, die von Mauern umgeben waren, hinter denen sich schöne Gärten befanden. Die Straßen hatten keine Gehwege und wenn es regnete verwandelten sie sich in schlammige Pfützen, was Alan schon am nächsten Tag zu spüren bekam. In der Stadt wimmelte von Soldaten, reichen Kanadiern, aber auch den recht wild und verwegen aussehenden Fallenstellern, die ihre Pelze in Montreal verkauften. Auch Indianer sah er und an deren Anblick und Verhalten konnte sich der Schotte nur schwer gewöhnen. Es machte ihm irgendwie Angst, auch wenn er in den Augen der Briten genauso ein Wilder war. Doch das war nun seine Realität und in Fort Frontenac wartete noch mehr davon auf ihn.
Vier lange Tage brauchten sie von Montreal nach Frontenac, teilweise auf dem Landweg, wenn gefährliche Stromschnellen zu umgehen waren und dann mit dem Kanu.
Alan fuhr zum ersten Mal in einem Indianischen Kanu und am Anfang hatte er genauso, wie sein Diener Pierre kein großes Vertrauen zu dem recht wackelig und zerbrechlich wirkenden Gefährt aus Birkenrinde. Pierre fühlte sich sowieso recht überfordert durch die Reise in die Wildnis und zeigte oft recht große Angst.
Alan selbst gewöhnte sich schnell an die einfachen Verhältnisse. Er war schließlich ein Highlander und Wildnis war nicht Neues für ihn. Er war es gewöhnt unter einfachen Verhältnissen zu leben, kein Dach über den Kopf zu haben und auf dem Boden zu schlafen. Wenn er ehrlich war, hatte er schon unter weitaus schlimmeren Umständen ein Nachtlager aufgeschlagen in seiner Heimat.
Charles Bonin, der Kanadische Scout verstand sich sehr gut mit ihm und während der sieben Tage dauernden Reise lernte der Schotte einiges von ihm. Allmählich fand er Gefallen an dem einfachen Leben der Waldläufer.
Fort Frontenac befand sich an der Mündung des Sankt Lorenz in den Ontariosee, Mitten in der undurchdringlichen Wildnis Neu Frankreichs.
Das Fort war eine riesige Baustelle, man verstärkte die Wälle, zog Gräben und vergrößerte die im Fort befindlichen Gebäude, die für die stationierte Garnison vorgesehen waren.
Am Ufer des Cataraqui Flusses vor dem Fort erstreckte sich das Lager der Truppen, viele Zelte und etwas davon entfernt gab es eine kleine Indianersiedlung.
Alan war froh endlich wieder bei seiner Kompanie zu sein, die in der Zwischenzeit unter Leutnant Meritenirs Kommando gestanden hatte, der die Männer vorbildlich trainierte, wie er später feststellte. Er war auch froh wieder Caporal Francoeur zu sehen und sie hatten sich viel zu erzählen.
Hier im Fort kam Alan endlich zur Ruhe, konnte tun zu was er hier her gekommen war und musste sich nicht permanent verstellen. Sein Vertrauen zu Louis Chauvet war grenzenlos und ihm gestand er auch sein Erlebnis mit der Schankmagd, für das er sich so grässlich schämte. Der Korporal beruhigte ihn in dieser Hinsicht und gab ihm die Empfehlung sich lieber an die Indianischen Mädchen zu halten, was der Schotten aber eher schockte.
Er und auch Charles Bonin nahmen ihn öfters mit in die Indianersiedlung neben dem Fort. Hier lebten überwiegend Ottawas. Sie hatten die typischen Langhäuser errichtet, aber auch kleine mit Ulmenrinde gedeckte Wigwams.
Als Alan zum ersten Mal in ein Langhaus kam, war er erstaunt und noch mehr verwunderte ihn die Lebensweise der Indianer. Alles schien wohl geordnet zu sein, alle die im Langhaus wohnten wurden gleich behandelt und die Frauen hatten das Sagen. Doch er merkte auch, dass hier schon einiges im Argen lag, besonders wenn getrunken wurde. Unter dem Einfluss von Alkohol waren die Wilden außer Rand und Band und vergaßen sehr schnell alle Prinzipien ihrer eigenen Ordnung oder wer Freund und wer Feind war.
Die Bewaffnung der Rothäute war sehr unterschiedlich. Die meisten hatten Musketen, mit denen sie auch sehr gut umgehen konnten. Daneben waren andere mit Bögen bewaffnet, Tomahawks aus Metall und Kriegskeulen aus Holz und Stein. Die Männer waren groß, gut gebaut, ihr Kopf war kahlgeschoren, bis auf eine Skalplocke, die mit bunten Bändern und Federn verziert war. Sie trugen Ohr und Nasenringe und waren überaus stolz und selbstsicher. Die Frauen waren auch nicht ohne und Alan verstand allmählich Francoeurs Anspielungen. Mit einigen Ausnahmen waren sie überaus hübsch und gut gebaut. Doch auch selbstsicher und suchten sich zumeist den Mann aus mit dem sie das Lager teilten.
Der Schotte bemerkte auch, das sie viel auf ihr Äußeres hielten und er kann sich manchmal ziemlich schmutzig vor, angesichts der Wilden, die nicht einen Tag verpassten im Fluss zu baden. Ihm war nicht immer danach zu Mute und der Sauberkeitswahn der Rothäute erinnerte ihn fatal an Annie.
So sehr Alan anfänglich geschockt war durch die Wilden, so schnell gewöhnte er sich an deren Anblick und Gebaren. Er fand sogar Gefallen an einigen Spielen, besonders einem Ballspiel Lacrosse, genannt dass ihn an eine Art Spiel, dem Shinty erinnerte, dass man in den Highlands spielte.
Charles Bonin beteiligte sich oft daran und nötigte sogar Alan ein, zweimal teilzunehmen, was aber nicht gerade das Wohlwollen seines Kommandanten Senezergues gewann.
Aber der Schotte lernte auch die finstere Seite der Wilden kennen. Eine Woche nach seiner Ankunft wurden Gefangene ins Dorf der Indianer gebracht, zu seinem Erschrecken Weiße. Es waren mehrere Männer, Frauen und Kinder, ihrem Äußeren und der Sprache nach Siedler aus dem Grenzland der englischen Kolonien.
Sie machten bei ihrem Eintreffen einen sehr erschöpften und verängstigten Eindruck und das nicht zu Unrecht. Einer der Männer, er war schon etwas älter, brach kurz vor dem Einmarsch ins Dorf zusammen. Ein Krieger aus der Gruppe, die sie gebracht hatten, kam auf ihn zu, zückte seine Kriegskeule und ließ sie auf dem Schädel des Mannes sausen.
Das Geräusch, das dabei entstand, ließ Alan das Blut in den Adern gefrieren und was dann geschah noch mehr. Blut spritze und der Wilde beugte sich über den Siedler. Er packte seine Haare, die offen waren, setzte sein Messer an und nahm den Skalp des Mannes. Alan war geschockt und Charles Bonin musste ihn festhalten, sonst wäre er wohl den hochgewachsenen Krieger an die Gurgel gegangen.
»Mischt Euch nicht ein, dass hat keinen Sinn Capitaine D’Artoury. Das versuchen die Priester und Mönche schon lange, aber die Wilden halten an ihren Sitten fest, auch wenn sie in der Kirche beten gehen!«, meinte er und Alan nickte nur stumm, weil er einen Hasserfüllten Blick des Indianers aufgefangen hatte.
Doch das sollte nicht das Einzige sein, was ihn schockierte. Im Dorf angekommen mussten die Gefangenen die Bastonade, eine Art Spießrutenlauf über sich ergehen lassen. Dabei schlugen die Frauen des Dorfes brutal auf die Gefangenen mit Stöcken und Knüppeln ein, ohne Unterschied, ob sie es mit einer Frau oder einem Mann zu tun hatte. Wer fiel war des Todes und den ereilte das Schicksal des älteren Mannes. Er wurde an Ort und Stelle erschlagen und skalpiert. Wer durchkam wurde versklavt, musste fortan bei den Wilden leben, wobei manche adoptiert wurden, besonders die Kinder.
Alan war geschockt und hatte zu tun das Gesehene zu verarbeiten. Charles Bonin verstand seine Reaktion nicht. Es war die Art von Krieg, die hier geführt wurde, meinte er. Beide Seiten seien gnadenlos gegenüber ihren Gegnern und es würden keine Unterschiede gemacht, erklärte er. Er machte Alan deutlich, wenn er in die Hände von Mohawk fiel, die als Verbündete der Engländer galten, würde ihn das Selbe erwartete.
Doch es gab auch Zeichen von Menschlichkeit in all dem Elend und dem Terror. Einer der Kanadier hatte sich in eine Gefangene verliebt, ein junges Mädchen Namens Rachel. Sie lebte schon seit einigen Monaten bei den Ottawa, denen die Beziehung der Beiden ein Dorn im Auge war. Es war schon offen zu Streitereien gekommen deswegen.
Bonin kam an einem Abend mit dem jungen Mann, einem einfachen Soldaten des Marinefreikorps zu Alan.
»Wir brauchen Eure Hilfe Capitaine!«, begann der Kanadier zögernd.
Der Schotte betrachtete den jungen Soldaten, dessen Gesicht eine Platzwunde und ein blaues Auge zierten und den bärtigen Scout aufmerksam. Er wusste nicht so recht was die Beiden wollten.
»Wobei soll ich euch helfen Bonin?«, fragte er zögernd.
»Es geht um Rachel Capitaine D’Artoury, das Mädchen dass bei den Ottawa lebt. Ich möchte sie zu meiner Frau machen, aber die Krieger erlauben es nicht. Ich habe sogar um sie gekämpft!«, erklärte der junge Soldat an seiner Stelle und Alan zog die Augenbrauen hoch.
»Und ihr habt offensichtlich verloren, so wie Ihr ausseht!«, meinte er schließlich und der Soldat nickte stumm.
»Ja so ist es, aber ich brauche Eure Hilfe Capitaine, um einen anderen Weg zu finden!«, bat der schließlich.
»Ich wüsste nicht wie ich Euch da helfen könnte. Ich habe nicht unbedingt Einfluss auf die Wilden, ganz im Gegenteil!« Alan war verwirrt, er verstand nicht auf was die beiden hinaus wollten.
»Ich habe gehört, dass ein kleiner Trupp ins Ohio Tal gesendet werden soll, um Nachrichten zu überbringen. Könnte Rachel und Sanschagrin sie nicht begleiten?«, fragte nun Bonin.
»Ins Ohio Tal? Das ist ein verdammt langer und gefährlicher Weg! Außerdem werden die Krieger sie nicht einfach ziehen lassen, selbst wenn ich oder ein anderer Offizier es befehlen würde!«, noch immer war sich Alan nicht sicher wie er das bewerkstelligen sollte.
»Ich möchte Euch bitten Capitaine schreibt mich mit auf die Liste und einen Soldaten Namens Larose, das wird Rachel sein!«, bat der junge Soldat schließlich nach einer langen Pause.
Alan beobachtet ihn eine Weile und sah die Verzweiflung des jungen Mannes. Er glaubte nicht dass die Beiden es schaffen würden, angesichts der Wildnis die sich um sie herum ausbreitete. Aber er wusste auch aus eigener Erfahrung, was die Liebe vermochte. Es erinnerte ihn fatal an seine eigenen Erfahrungen, wie Andrea stur wie ein Felsen darauf beharrte ihn auf seiner Flucht zu begleiten. Doch hier war es noch viel schlimmer!
»Ich werde es versuchen, aber ich zweifle dass Ihr und Rachel es schafft!«, erwiderte er schließlich.
»Wir werden es versuchen Capitaine, besser irgendwo in der Einöde sterben, als weiter zusehen wie sie von den Wilden versklavt wird!«, meinte der junge Mann darauf mit fester Stimme.
»Ich werde es versuchen Sanschagrin aber ich kann nichts versprechen!«, war Alans Antwort darauf.
Er tat sein Bestes, als der kleine Trupp zusammengestellt wurde und vier Tage später am frühen Morgen, im Schutze der Dunkelheit brachen die Soldaten auf, unter ihnen Sanschagrin und Larose.
Drei Monate später erreichte sie die Nachricht, dass sie es bis nach Nouvelle Orleans geschafft hatten.
Zwei waren dem Terror entflohen, einem Terror, den Alan noch vor sich hatte!

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Text: Text Iris Heerdegen Collagen Ursula Ritzmann
Publication Date: 03-31-2011

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