"Hast du auch wirklich nichts vergessen?", fragte meine Mutter.
"Mama. Ich packe seit drei Wochen. Sollte ich was vergessen haben, hau ich in meinem Hotelzimmer alles kaputt."
"Das deute ich mal als ein 'Ja'. Lass dich von keinem Fremden anquatschen, ja? Immer schön verklemmt bleiben."
"Okay", antwortete ich und schaubte.
"Natürlich nicht! Lass vor diesen Typen alle Hüllen fallen, die siehst du eh nie wieder, verdammt nochmal." Ich hob die Augenbrauen und meine Mutter starrte mich unverwandt an. Ich glaub's nicht, dachte ich, sie verlangt von mir ernsthaft, mich im Ausland schwängern zu lassen.
Ich war kurz davor, meine zweimonatige Reise nach Südkorea anzutreten. Mein Flug ging um drei Uhr morgens und es war noch stockfinster. Ich hatte mich so lange auf die Reise gefreut, immerhin zahlten mir meine Eltern ein 5-Sterne-Hotel inmitten von Seoul, der Hauptstadt Südkoreas. Ich will jetzt nicht angeben oder so, aber 5 Sterne sind der Hammer.
Ich verabschiedete mich von meiner Mutter mit der üblichen Gefühlduselei, sie gab mir noch ein paar Lebensweisheiten mit und ich umarmte sie und den Rest der Familie. Es war irgendwie, als würde ich sie nächste Woche wiedersehen, doch hatte ich zwei lange Monate ohne sie vor mir.
Meine beste Freundin Sandy brachte mich zum Flughafen. Wir stiegen aus und sie half mir, den Koffer aus dem Auto zu laden. "Nea Schatz, ich werde ich so vermissen. Wir werden jeden Tag skypen, ja?", schrie sie mir ins Gesicht.
"Klar, Schatz." Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange und grinste sie an. "Vielleicht finde ich ja einen Typen, der so verrückte Dinger wie dich mag." Sie imitierte auf verführerische Weise eine fauchende Katze. Sie konnte das nicht gut, aber das war jetzt egal. Sandy drückte mir eine Tüte in die Hand, in der irgendein schweres Päckchen war.
"Erst aufmachen, wenn du im Flugzeug bist, ja?", redete sie mir ein und wuschelte mir noch durch die Haare. Sie nannte mich noch kurz "Kleines Flittchen" und ich machte mich auf den Weg zum Flughafen-Gebäude.
Dort angekommen ließ ich meinen fetten Koffer verladen und ging noch in einen Duty-Free-Shop, um mir ein paar Modezeitschriften zu kaufen. Fashion interessiert mich nicht wirklich, aber ich wollte erwachsen wirken. Ich stolzierte zur Kasse, um ganz arrogant meinen Geldbeutel rauszuholen und ... Plötzlich rempelte mich ein junger Mann so brutal an, dass mir kurzzeitig Sternchen die Sicht versperrten - ich war mit dem Kopf gegen ein Regal geknallt. Ich erkannte einen Asiaten in ihm.
Oh Gott, dachte ich, und mit so einem Gesindel darf ich mich die nächstens acht Wochen rumschlagen.
Ich warf dem Typen noch einige Beleidigungen an den Kopf und er rief mir auch noch etwas Koreanisches zu, das wie "Butterfresse" klang. Na toll, auch noch ein Koreaner. Das konnte ja heiter werden.
Ich bezahlte mit noch immer schmerzendem Kopf und machte mich auf den Weg zum Flugzeug. Ich war überpünktlich, aber lieber sitze ich einsam und ohne Freunde in einem Flugzeug, als wie ein Volldepp durch die Läden zu latschen.
Ich war so froh, als ich meinen Sitz erreicht hatte. Ich verlud mein Handgepäck und ließ mich sofort in den Sitz am Fenster hineinplumpsen. Ich kuschelte mich in den Sitz hinein, zog meine Jacke aus und benutzte sie als Decke. Nach circa einer viertel Stunde war ich kurz vor dem Einschlafen, bis jemand durch den engen Gang auf meine Sitzreihe zugestolpert kam. Jemand ließ sich auf den Platz neben mich fallen und atmete tief aus. Ich wagte einen Blick zu meinem Nachbarn, fuhr aus dem Halbschlaf und erstarrte: Dieser Scheißasiate aus dem Duty-Free-Shop.
"Was machen Sie hier? Fahren Sie zur Hölle, wo Sie herkommen", verfluchte ich ihn auf Koreanisch.
"Sorry, hab ich dich jemals geknallt und nie wieder angerufen? Ich erinnere mich garnicht an dich", antwortete er verwundert.
"Angerufen? Wovon reden Sie?"
"Wovon redest du?"
"Sie haben mir vorhin im Duty-Free-Shop den Kopf zertrümmert und mich Butterfresse genannt."
"Was? Du warst ... du warst die Kleine? Ooh, das ist mir jetzt unangenehm." Ich merkte, dass es ihm Leid tat. Dennoch glaubte ich, ein Zwinkern seinerseits gesehen zu haben.
"Sollte es auch. Übrigens sind Sie der Letzte, von dem ich mich knallen lassen würde." Ich musste stur bleiben. Das war jedoch garnicht so einfach, weil der Typ einfach umwerfend aussah: hochgegelte, schwarze Haare, blasse Haut und ungefähr 1,80m groß. Seine tiefe Stimme hinterließ mir bei jedem Wort eine Gänsehaut.
"Wieso schaust du mich so an? ... Du stehst auf mich, nicht wahr?", der Koreaner lächelte mich schief an und ich sah in dem einen Mundwinkel seine Zunge über seine Zähne fahren. In diesem Moment verschluckte ich mich an ein wenig Speichel und hüstelte ein wenig herum, bis ich die Fassung wiedererlangt hatte.
"Sie lassen mich jetzt in Ruhe, klar? Setzen Sie sich von mir weg. Weit weg." Kapierte der Dreckskerl denn garnichts?
"Sei nicht so förmlich, ich bin erst 22 Jahre alt", lachte er. "Wie heißt du?"
"Linnea", gähnte ich. Ja, sprechen und gähnen geht gleichzeitig.
"Schöner Name."
"Schwedisch."
"Ah. Ich bin Kim Hyukwoon", stellte er sich vor und hielt mir seine rechte Hand hin. Ich betrachtete sie ehrfürchtig und schüttelte sie nach langem Zögern vorsichtig. Zusätzlich erwartete er von mir, mich mit ihm zu unterhalten. "Bist du jemals geflogen?"
"Hyukwoon, kannst du mal bitte für eine Weile den Rand halten." Er lehnte sich weit von mir weg und musterte mich von oben bis unten mit einem Schmollmund. "Ganz ehrlich, du nervst."
Er schreckte hoch. "Was? Oh, okay ..." Hyukwoon drehte sich zutiefst verletzt von mir weg. Ich hatte nicht gewusst, dass er dermaßen gekränkt reagieren würde.
Wir schwiegen beide eine Weile, bis mir langweilig wurde. Ich brauchte jemanden zum Reden. Allerdings wollte ich keinen Rückzieher machen, daher nahm ich eine Zeitschrift aus meiner schwarzweißen Sporttasche - die InTouch dürfte mir helfen. Jedoch gab ich einen Fi... einen Dreck auf Heidi Klums Eheleben.
Ich blätterte eine Weile zwischen den blöden Seiten umher, damit ich nicht ganz dumm aussah, steckte sie wieder weg und begann, meine Mitmenschen zu beobachten.
"Magst du Filme, Nea?"
"Ja."
"Magst du Horrorfilme?"
"Nein, aber ich sehe sie trotzdem."
"Was ist dein Lieblingshorrorfilm?"
"Mann, Hyukwoon, musst du nicht auch irgendwann mal schlafen?"
Seit zwei Stunden textete er mich durchgehend zu, es war unglaublich.
"Sag mir, wenn ich aufdringlich werde", trällerte er.
"Du wirst aufdringlich."
"Okay ... Wie oft bist du schon geflogen?"
"HYUK!"
"Aigoo, mir ist aber langweilig."
"Dann schlaf doch einfach, wie jeder andere normale Mensch."
Daraufhin entgegnete Hyuk noch ein paar hundert Sätze, bis er endlich Ruhe gab und ich schlafen konnte. Oder schweigend liegen. Denn Hyuk raschelte fast durchgehend mit irgendwelchen Gegenständen herum, faltete seine Jacke, schüttelte sie wieder aus, ließ seine Zeitung zirka fünf mal fallen und setzte sich ständig in eine andere Position. Er hatte sich also zur Aufgabe gemacht, mich zum Heulen zu bringen.
Als das Frühstück angerichtet wurde, begann unser wahnsinnig interessantes Gespräch von Neuem.
"Hast du einen Freund?"
Die Frage kam jetzt ein wenig plötzlich.
"Ähm ... Nein, ich hatte noch nie einen Freund."
"Noch nie? So ein süßes Ding wie du?"
Ich kniff die Augen zusammen und fauchte: "Ja, so ein süßes Ding wie ich."
Hyukwoon wurde dadurch etwas zurückhaltender und schwieg eine Weile. Nach einigen Minuten tat es mir irgendwie Leid, ihn so angemault zu haben - er wollte mir doch bloß helfen ... Nein Spaß, das war selbstverständlich gelogen, er half mir, indem er die Klappe hielt. Trotzdem fühlte ich mich für ihn verantwortlich.
"Hast du eine Freundin?"
Hyuk überlegte eine Weile. "Nichts Festes. Im Moment bin ich aber offen für ernste Beziehungen ..."
Ich tat so, als hätte ich diese Anspielung nicht bemerkt, und unterhielt mich einfach weiter mit ihm. Von Minute zu Minute wurden unsere Gespräche ernster und wir erfuhren immer mehr übereinander.
Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht mehr, mit was wir die nächsten drei Stunden getan hatten, aber die Zeit war wie im Flug vergangen.
Ich erinnerte mich nach einer Weile an das Päckchen, das Sandy mir überreicht hatte und das ich im Flugzeug öffnen sollte, und kramte es aus meiner Tasche. Ich öffnete es und ...
"Was ist das für ein Buch?", fragte Hyukwoon.
"Auf jeder Seite steht etwas, das du mit dem Buch anstellen sollst. Hier steht zum Beispiel, dass ich diese Seite anzünden soll."
"Und warum war das in diesem Päckchen?"
Ich las den Zettel, der in dem Buch eingeklemmt war. Falls du in Korea mal die Nerven verlieren solltest! - Sandy.
Das werde ich, Sandy.
Das werde ich.
Ich war so froh, als das Flugzeug endlich landete. Hyuk war mir während des Fluges wirklich ans Herz gewachsen, aber ich wäre noch glücklicher gewesen, wenn ich ihn nie wieder gesehen hätte. Wir stiegen aus und die frische, warme Luft, die mir entgegenwehte, tat zu gut, da ich in den letzten zehn Stunden bloß stickige, kalte Flugzeugluft geatmet hatte.
„Willkommen in meiner Heimat“, sagte Hyukwoon stolz.
„Es ist unglaublich hier“, antwortete ich, als wir das Gebäude betraten und ich meinen Blick durch die großen Fenster über die Landschaft hinter der Flughafenabgrenzung gleiten ließ. „Die Hitze hier haut einen um, aber es ist wunderschön.“
„Es ist mitten im Sommer, was erwartest du?“, lachte er, legte seinen Arm um meine Taille und begleitete mich mit meinem Handgepäck nach draußen. Ich fühlte mich sehr unwohl, da ich ihn erst seit Kurzem kannte und er schon so sehr Körperkontakt brauchte. Oh Mann, brauchte der viel Kontakt. Ich schwöre, dass ich während dem Dösen im Flugzeug seinen Atem ganz nah gespürt hatte – es reichte ihm wohl nicht, seine neuen Bekanntschaften bloß aus der Ferne zu beobachten. Offen gesagt hatte ich ihn attraktiver gefunden, als ich ihn noch nicht näher gekannt hatte.
Es war faszinierend, wie sehr ich mich von all den anderen Leuten dort abhob – sie alle hatten dünnes, schwarzes bis dunkelbraunes Haar und ich fühlte mich mit meiner hellbraunen Mähne ganz unwohl, ganz zu Schweigen von meinen großen Augen. Ich meine, ich hatte nunmal recht große Augen, etwas größer als die normalen, europäischen Durchschnittsaugen, aber dort schienen sie wie zwei Aprikosen, die mir irgendwer in die Visage geklatscht hatte.
„Wo wirst du deine Zeit hier in Korea eigentlich verbringen?“, fragte Hyuk.
„Im 'Vina'-Hotel in Seocho-gu.“
„Machst du Witze?“ Er riss die Augen auf.
„Nein, wieso fragst du?“
„Ich lebe ich Seocho-gu. Es ist mein Revier, ich bin vor zwei Jahren dorthin gezogen.“
„Ooh … toll.“ Ich beschleunigte und verschwand in der Menschenmenge, Hyuk blieb zurück. Ich überlegte kurz, ob es nicht gemein war, einfach so wegzulaufen, doch als ich am Gepäcklaufband angekommen war, lehnte Hyuk bereits lässig an einer der Säulen und wartete mit seinem Koffer auf mich. Mürrisch kam ich ihm entgegen. Er sah jetzt theatralisch verletzt auf mich herab. Gerade in diesem Moment kam einer meiner Koffer vorbeigeglitten und ich versuchte ihn von dem Band zu heben, doch er war zu schwer. Hyuk half mir und als er meine Hand mit der seinen berührte, zog er sie verlegen zurück, riss mir den Koffer sanft aus den Händen und stellte ihn neben sich vorsichtig auf den Boden. Ich wunderte mich, wo sich unter dieser schlaksigen Gestalt derartige Muskeln verstecken konnten.
„Dankeschööön“, sagte ich und kniff ihn in die Wange. Er wurde ein wenig rot und grinste vergnügt.
Wir gingen hinaus und wurden draußen von dem fröhlichen Hupen der Taxis begrüßt.
„Warte hier, ich rufe uns auch ein Taxi. Diese hier sind alle besetzt“, rief Hyukwoon mir zu, während er in das Meer aus anderen Koreanern tauchte.
„Die sind doch garnicht besetzt!“, schrie ich. Einige Leute blieben stehen und musterten mich wie einen buntgefärbten Pudel, halb fasziniert, halb verstört. So wartete ich ein paar Minuten. Ich wartete und wartete und nach einer gefühlten halben Stunde fühlte ich Hyuks warmen Atem an meinem Ohr.
„Ich habe jemanden gerufen, er wird dich zu deinem Hotel bringen. Ich werde mitfahren.“
„Danke, das ist nett von dir.“
„Und ich zahle die Fahrt.“
„Was?“, sagte ich laut und meine Stimme überschlug sich, weswegen es eher wie ein 'Woahs' klang. Doch bevor ich seine Reaktion abwarten konnte, hielt ein Taxi direkt vor unserer Nase, das Fenster wurde hinuntergefahren und ein recht junger, gutaussehender Mann mit modischer Hornbrille beugte sich zu uns herüber.
„Bitte einsteigen“, trötete er glücklich, warum auch immer. „Ist das deine Erober-“
„Das ist Linnea“, unterbrach Hyuk den Taxifahrer. Dann luden wir unser Gepäck in den Kofferraum und ich hätte Hyuk beinahe die Heckklappe auf den Kopf gedonnert, wenn er ihn nicht so schnell weggezogen hätte. Ich Glückliche. Ich wollte nicht schon an Tag eins in Korea für den Tod eines Einheimischen verantwortlich sein.
Hyuk und der Taxifahrer schienen recht gute Bekannte zu sein und als Hyuk und ich uns auf die Rückbank setzten, hielt der Fahrer ihm seine Hand hin, Hyuk schlug ein.
„Das ist mein bester Freund Choi Jaehyun.“
„Ah, hallo.“ Ich verbeugte mich, soweit es in dem engen Taxi möglich war. Hyuk gab ein schwaches Lachen von sich.
Ich wollte nicht wissen, was sie mit mir vorhatten.
Wider Erwarten fuhr mich Jaehyun tatsächlich zu meinem Hotel – es sah sehr modern aus und auch ziemlich teuer. Aber da mein Daddy alles zahlte, musste ich mir keine Sorgen machen, außer, dass er mir die nächsten Jahre kein Taschengeld mehr gäbe.
Hyuk half mir noch beim Ausladen meiner Koffer und umarmte mich.
„Ich hoffe, du lebst dich in deinem Hotel gut ein. Vielleicht sehen wir uns ja bald mal.“ Er zwinkerte und grinste verstohlen. Ich erwiderte seine Umarmung ein wenig verlegen und nickte ihm zu.
„Auf Wiedersehen, Jaehyun Oppa. Hyuk, danke, dass du mir die Fahrt gezahlt hast.“ Mit diesen Worten schlug ich die Kofferraumklappe zu und drehte mich zu dem Hotel um.
Ich betrat die grau und weiß eingerichtete Eingangshalle. Der Tresen war mit Glas verziert und ich traute mich kaum, ihn anzufassen. An dem Tresen stand ein gutaussehender Mann, noch längst keine dreißig Jahre alt, der ein hohes Tier zu sein schien, denn er war edel gekleidet und kommandierte soeben einige Angestellte herum.
Ich verneigte mich und sagte: „Guten Tag, ich würde gerne den Schlüssel für mein Zimmer entgegennehmen. Mein Name ist Linnea Berger.“
Er erwiderte meine Begrüßung und suchte im Computer nach meinem Namen. Er grinste. „Tut mir sehr Leid, aber Ihr Name ist nicht in unserer Datenbank eingetragen.“
„Wie, er ist nicht eingetragen?“
„Wie, 'Wie, er ist nicht eingetragen'? Er ist nicht eingetragen, ich fürchte, Sie sind hier falsch.“ Er klang entschlossen, aber dennoch freundlich. Ich verlor ein wenig den Boden unter den Füßen und begann heftig mit ihm zu diskutieren, war kurz davor, sein Aussehen zu beleidigen, da sagte er: „Soll ich jemanden für Sie anrufen?“
„Ja, bitte!“ Gerade wollte ich Hyukwoons Nummer heraussuchen, da hörte ich bereits die Tasten des Telefons klackern.
„Hey Hyuk, ich habe hier eine junge Dame. Ich denke, sie möchte, dass du sie abholst.“ Der junge Mann sah mich an und blinzelte mir amüsiert zu. Ich glaubte es nicht, noch so einer von Hyuks Handlangern.
„Ich bringe ihn um“, zischte ich dem Mann zu.
„Das haben schon viele versucht“, antwortete er und setzte wieder sein sachliches Lächeln auf. In dieser Sekunde hätte ich ihm eine in die Fresse hauen können.
Und ich werde es sein, die es schafft, ihn umzubringen, dachte ich in diesem Moment.
„Warum ziehst du sowas mit mir ab?“, brüllte ich Hyuk schon von Weitem entgegen. Er und Jaehyun lehnten lässig an dem Taxi und schienen schon seit einer halben Stunde auf mich zu warten. Ich quälte mich mit meinen Koffern ab, bis es mir langte: ich ließ sie fallen und begann auf das Arschloch, das mir meinen Hotelaufenthalt versaut hatte, zuzurennen.
Ich sprang ihn an, klammerte mich mit meinen Beinen an ihm fest und rang ihn zu Boden – versuchte es jedenfalls. Hyuk umschloss meine Hände und nahm sie von sich, als wäre es das Leichteste auf der Welt. Ich begann zu zittern. Er hielt meine Beine fest, damit ich nicht abrutschen konnte. Dann lehnte er sich wieder gegen das Taxi und biss sich auf die Lippe.
„Ich würde sagen, du verbringst die Nacht bei mir. Das mit dem Hotel ist ja ein wenig schief gegangen.“
Ich senkte den Kopf auf seinen Brustkorb und war mir nicht sicher, ob ich jetzt lachen oder weinen sollte. Ich tat einfach beides gleichzeitig.
Jaehyun fuhr uns zu Hyuk nachhause, schließlich hatte ich keine andere Bleibe. Wir bogen um eine Ansammlung idyllischer Mauerhäuser und standen plötzlich vor einer futuristischen, aus vielen Fenstern bestehenden Baute.
„Wir sind da“, sagte Hyukwoon und schnallte sich ab.
„Ach was, wo ist dein echtes Haus?“
„Nea, das ist mein Haus. Gehen wir schonmal voraus, Jaehyun wird das Gepäck nachtragen.“ Dann warf er Jaehyun ein paar Scheine in den Schoß.
„Das …“ Ich war zu verwirrt, um mehr herausbekommen zu können.
Hyuk half mir aus dem Wagen und zog mich an der Hand zu dem Haus, durch einen aufgeräumten Vorgarten auf die Haustür zu. Der Mann, von dem ich plötzlich ein ganz anderes Bild hatte, zog den Hausschlüssel aus der Jackentasche und schloss auf.
Der große Gang, der sich vor mir erstreckte, war mit weißen Fliesen und einem schwarzen Teppich ausgelegt und die Wand war pastellblau gestrichen. Zudem war er geschmückt mit allen möglichen Dingen: zwei Samuraischwertern, einem schwarzen Paravent, zwei schwarzen Sesseln mit Glastischchen, vielen Pflanzen, einem Aquarium, das in die Wand eingebaut war und noch vielem mehr.
„Wunderschön“, flüsterte ich.
„Gefällt es dir? Fühl dich wie zuhause. Ich zeige dir gleich das Schlafzimmer. Es dämmert bereits und ich bin bestimmt nicht der Einzige von uns beiden, der müde ist.“
Der scheinbar begüterte Hyukwoon zog sein Jackett aus und hang es auf. Dann nahm er auch mir die Jacke ab und hang sie ordentlich auf einen Kleiderbügel.
„Komm mit mir.“
Ich folgte ihm widerstandslos die weißen, mit Milchglas verzierten Stufen herauf und einen weiteren Gang entlang. Am Ende betraten wir einen Raum mit mindestens fünf Meter hohen Wänden und einem riesigen Doppelbett.
„Du scheinst ja sehr optimistisch zu sein, was Beziehung angeht“, lachte ich und deutete zu dem Bett.
„Ich bin immer offen für kleine, hilflose Mädchen wie dich“, antwortete Hyuk und schubste mich aufs Bett. Bevor ich mich aufrichten konnte, spürte ich bereits seinen Oberkörper über meinem.
„Du bist unverschämt.“ Ich verdrehte die Augen und versuchte die Hitze, die sich in mir staute, zu unterdrücken.
„Andere Mädchen würden für meine Nähe Menschen opfern“, erwiderte er und setzte sich auf meinen Bauch. „Möchtest du gleich schlafen oder noch ein wenig aufbleiben? Ich kann noch etwas zu Essen liefern lassen, ich hab Hunger. Du auch? Wenn ja, was willst du essen? Brauchst du Beratung?“
„Ähm … Ich könnte jetzt auch noch etwas essen.“ Ich fühlte mich mit den ganzen Fragen etwas überrumpelt. „Ich hätte gern Reis mit … irgendeiner Sauce“, fuhr ich fort, als er mich erwartungsvoll ansah. „Such du mir bitte etwas aus, ich weiß nicht, was hier gut ist.“
„Alles klar, bin gleich wieder da“, rief er über die Schulter zu mir, als er bereits aufgestanden war, irgendwas aus seinem Kleiderschrank gezogen hatte und den Raum verließ.
Ich hörte seine Schritte, die sich entfernten.
Ich lag eine Weile so da und inspizierte den Raum – der Kleiderschrank war silberschwarz mit einem riesigen Spiegel. Das Bett war ebenfalls silberschwarz und der Teppich nur schwarz. Eigentlich recht trostlose Farben, doch der Raum war vollgestellt mit bunten Pandabärstatuen und Bambusstreuchern, in der Ecke stand ein circa zwei Meter hoher Panda mit buntgetupften Flecken. Die hellgraue Nachtleuchte war voller bunter Pandas und sogar an der Wand hinter dem Bett war eine wunderschöne Panoramatapete mit zwei Pandas in einem Wald aus Bambus und Farn angebracht.
Ich merkte garnicht, dass Hyuk bereits wieder im Raum stand und als ich ihn ansah, war ich erst schockiert, warf ihm dann jedoch einen anerkennenden Blick zu. Er trug eine Jogginghose. Nur eine Jogginghose.
„Hübscher Sixpack“, lachte ich.
„Ich weiß“, entgegnete er, kniete sich auf das Bett, nahm meine Hand und führte sie zu seinem Oberkörper. Meine Finger trafen auf steinharte Muskeln. Sofort zog ich meine Hand weg.
„Das fühlt sich gut an“, sagte ich und wandte meinen Blick schnell von seinen Bauchmuskeln ab.
„Nur nicht so schüchtern“, flüsterte er, beugte sich vor und drückte mich auf das Bett.
„Das machst du also immer mit den armen Mädchen, die du aufreißt ...?“
„Oh nein, das würde so aussehen“, entgegnete Hyuk. Er vergrub sein Gesicht an meinem Hals und ließ seine Hand an meinem Körper entlangwandern – er mied es jedoch, in die „privaten Bereiche“ zu kommen. Er war einerseits hemmungslos und doch liebenswert.
Irgendwie gefiel es mir. Er konnte das sein, was man heutzutage unter Freundschaft zwischen Mann und Frau verstand. Oder vielleicht auch ...
Das Knarren von Holzboden war zu hören. Hyuks und mein Kopf fuhren in Richtung Tür herum.
„JAEHYUN! Raus hier!“, schrie Hyukwoon und richtete sich schlagartig auf. Ich selbst richtete mich langsam und lachend auf. Jetzt war Hyuk aufgesprungen und jagte seinen Freund durch das Haus, Jaehyun lachte, Hyuk – nicht.
„Was denkst du dir dabei?“
„Tut mir Leid, Mann, die Tür war offen!“ Jaehyun lachte noch immer.
Nach ein wenig Geschrei, Gelächter, Getrampel und einem Klingeln kam Hyuk, diesmal mit Shirt, wieder ins Schlafzimmer geschlurft, in seiner Hand eine große Tüte.
„Essen ist da“, knurrte er. „Ich hatte vergessen, dass Jaehyun noch im Haus ist.“
„Ist doch kein Problem“, beruhigte ich ihn, doch dann wurde mir ein wenig schlecht. „Hast du ihm denn gesagt, dass es nicht das war, wonach es aussah?“
„Oh, das ist garnicht zur Sprache gekommen ...“
„Du bist so ein Trottel.“
„Bestimmt erzählt er jetzt überall herum, was zwischen uns passiert ist.“ Hyuk wollte eine toternste Miene aufsetzen, doch er musste loslachen.
„Das ist nicht witzig!“, entgegnete ich, empört über seine Gelassenheit.
Er kniete sich aufs Bett, legte die Tüte neben mich und beugte sich über mich. Er stützte sich mit seinen beiden Händen so ab, dass ich nicht nach hinten ausweichen konnte. Dann schnappte er mit den Zähnen nach mir, woraufhin ich heftig zusammenzuckte, und lachte.
„Hast du ernsthaft solche Angst vor mir?“, fragte er. Hyuk setzte sich und zog mich zu sich herauf. „Das hier ist dein Essen.“ Hyuk reichte mir einen der beiden Kartons, die in der Tüte waren.
„Welche Sauce?“
„Lass dich überraschen.“
Ich öffnete die Kartonbox und der Geruch von Reis und Mango wehte mir entgegen. Ich ließ mir von Hyuk Besteck reichen und aß etwas von meinem Essen.
„Das ist das Beste, das ich je gegessen habe“, nuschelte ich mit vollem Mund.
„Freut mich, dass es dir schmeckt. Hab ich die Sauce gut gewählt?“
„Eine bessere Wahl hättest du nicht treffen können. Ist das Mango?“
„Ja, ich dachte, es wäre nach diesem mehligen Flugzeugessen das Beste. Ich habe Sokbatyi gewählt.“
Er hielt mir ein Stückchen von diesem mysteriösen Sokbatyi hin und ich nahm es in den Mund.
„Das ist wirklich lecker. Werde ich demnächst auch nehmen.“
„Schön, dass du das Essen hier magst. Viele finden solches Kimchi ja … zu scharf.“
In dem Moment, in dem er das sagte, machte sich ein Brennen in meinem Mund breit. Ich riss ihn auf und fächerte mir Luft zu.
„Daf ift faaarf!“, schrie ich.
„Findest du?“, fragte Hyukwoon unschuldig.
Ich blinzelte. Die aufgehende Sonne flutete mit ihrem orangenen Licht den Raum. Jetzt sah es beinahe aus wie ein Kinderzimmer. Ich sah auf den Wecker: 6.15 Uhr.
Hyukwoon lag seelenruhig neben mir auf dem Bauch und atmete laut. Ich hatte nun ein anderes Bild von ihm: er war jetzt nicht mehr der nervenaufreibender Teenager, der nichts allein auf die Reihe bekommt, sondern ein junger, gutaussehender Mann mit einem wundervollen Charakter. Wir hatten uns gestern vor dem Einschlafen noch einmal ausgiebig unterhalten und er war nebenbei die Arroganz in Person, aber er war cool und behandelte mich gut.
Jetzt aber nahm ich mir erst einmal die Zeit, sein Haus genauer zu begutachten, stand leise auf und verließ das Schlafzimmer:
Jedes der unzähligen Zimmer war modern eingerichtet. Es gab eine große, jedoch ziemlich unbenutzte Küche, zwei Badezimmer mit jeweils einer übergroßen Dusche und einer Badewanne, die aussah wie ein Whirlpool. Ein Gästezimmer mit einer eigenen kleinen Küche, einem Flachbildfernseher und der größten Couch, die ich je gesehen habe, und ein Zimmer mit einem einzigen Bett als Einrichtung.
Bei Letzterem blieb ich verwundert im Raum stehen. Zwei Wände des großen Raumes bestanden bloß aus gewaltigen Fenstern und der Ausblick war atemberaubend. Hyuks Haus befand sich beinahe auf Augenhöhe mit den vielen Wolkenkratzern in der Innenstadt. Die aufgehende Sonne schien zwischen ihnen hindurch und wenn ich in diesem Moment meine Kamera bei mir gehabt hätte, hätte ich tausende Bilder geschossen.
„Gefällt es dir?“, ertönte Hyuks Stimme. Ich drehte mich zu ihm um. Wieder blieb mein Blick an seinem Oberkörper haften und ich musste lächeln.
„Der Anblick ist unglaublich“, antwortete ich.
Hyukwoon schlenderte auf mich zu und blieb neben mir stehen.
„Manchmal bleibe ich die ganze Nacht lang wach, deswegen dieses Bett. Nur, um den Sonnenunter- und -aufgang sehen zu können.“
Er blickte der Sonne entgegen und das goldene Licht beleuchtete sein wunderschönes Gesicht.
Kein Wunder, dass er von diesem Anblick so gefesselt war – ich habe die Sonne noch nie als so schön empfunden.
Er lächelte mich an und ging Richtung Tür. Dort verharrte er jedoch, drehte sich zu mir um und machte eine übertrieben einladende Geste. Mit einem theatralischen „Dankeschön“ ging ich vor ihm aus dem Zimmer. Gemeinsam stiegen wir die Treppen herab und gingen in seine Küche.
„Was möchtest du essen?“, fragte Hyuk, während er mit nachdenklicher Miene in den Kühlschrank starrte.
„Ich weiß es nicht. Eigentlich habe ich kaum Hunger“, antwortete ich und sah mir das Ess- und Wohnzimmer noch einmal genau an.
„Keinen Hunger oder möchtest du mir keine Mühe bereiten?“ Hyuk lächelte schief und setzte sich auf die Arbeitsfläche.
„Beides.“
„Na also. Weißt du, wie man Pancakes macht?“
Überrascht über diese Frage zog ich die Augenbrauen hoch. „Na ja, ich habe einmal zuhause welche gemacht und dabei die ganze Küche vollgespritzt.“
Motiviert sprang Hyuk wieder auf die Beine und lächelte mich an. „Ich kann später eine Putzfrau kommen lassen. Und außerdem hast du ja mich.“
„Dich? Du weißt doch nicht einmal, was man für Pancakes braucht.“
„Dafür habe ich wiederum dich. Komm schon, sonst schlagen wir noch Wurzeln!“
Zusammen vermischten wir Mehl, Milch und Eier in einer Reihenfolge und einem Mengenverhältnis, wie sie uns gerade einfielen.
„Ich bin mir nicht sicher, ob der Teig die richtige Konsistenz hat“, murmelte ich und sah auf das flüssige Etwas vor uns herab.
„Ist doch egal, es sieht aus wie Teig und darauf kommt es an“, sprach Hyuk in einem weisen Ton und kippte, während er mich anstarrte, blindlings noch ein wenig Mehl in die Schüssel.
„Du hast Recht.“ Ich nahm die Milch und schüttete noch ein wenig über das Mehl, damit das Mengenverhältnis sich wieder ein wenig ausglich. Hyukwoon lachte und wuschelte mir durch die Haare.
Eine dreiviertel Stunde später waren wir fertig und sahen ehrfürchtig auf die verkrüppelten Dinger vor uns herab.
„Öhm, du darfst sie zuerst probieren“, sagte Hyuk nach einer Weile des Schweigens.
„Ich hatte vorher keinen Hunger und jetzt, da ich unser Werk vor mir habe, noch viel weniger.“
„Dann wünsche mir Glück.“ Er näherte sich dem Teller, nahm einen der „Pfannkuchen“ zwischen zwei Finger und hielt ihn prüfend hoch. Dann biss er von dem gummiartigen Werk ab und kniff die Augen zusammen.
„Ich traue mich garnicht zu fragen – wie ist er?“, fragte ich und nahm ein wenig Abstand von Hyuk.
„Wenn man ein wenig Stevia draufkippt, garnicht mal so schlecht. Bloß die Beschaffenheit bereitet mir Sorgen. Waren sieben Eier zu viel?“
Ich wog den Kopf etwas hin und her und kostete ebenfalls von den Pfannkuchen. Die schmeckten sogar besser als die Pancakes, die ich damals gemacht hatte.
Wir setzten uns an den Esstisch und aßen unser Frühstück mit allen möglichen Beilagen – mit Früchten, Käse, Joghurt und Hyuk traute sich sogar, einen Pfannkuchen mit Räucherlachs zu essen. Danach verschwand er schnell auf der Toilette, doch er übergab sich nicht.
„Nie wieder“, hustete Hyuk und setzte sich wieder zu mir.
„Ich habe dir gesagt, du sollst es nicht essen“, lachte ich und genoss sein blassgrünes Angesicht.
"Lügnerin, das war sogar dein Vorschlag!"
"Oh bitte, ich hatte das niemals ernst gemeint."
Wir aßen zuende und er zeigte mir ein Zimmer, das ich heute morgen garnicht bemerkt hatte. Darin waren ein ziemlich großer, erhöhter Whirlpool, ein Fernseher und ein Kühlschrank.
„Chic. Brauchst du sowas denn alleine?“
„Nein nein, ich lade jedes Wochenende meine Freunde ein. Wir sitzen dann im Whirlpool, schauen Filme oder gamen irgendwelche Playstation-Spiele.“
„Oh – wie nett. Wieviele seid ihr denn dann immer?“
„So um die sechs Typen. Kyubok ist ja gerade in Deutschland und Yong ist geschäftlich in Busan, also bleiben nur noch wir anderen vier. Ich bin mir sicher, sie werden dich lieben.“
„Was? Ich bleibe sicher nicht hier, bis … Moment, welchen Wochentag haben wir heute?“
„Freitag.“
„Okay, dann werde ich sie wohl oder übel kennenlernen.“
„Natürlich, du wirst doch hierbleiben. Immerhin hast du keine andere Unterkunft als mein Haus.“ Er grinste mich verstohlen an.
„Das ist mir bewusst“, erwiderte ich kühl.
„Ooh.“ Hyuk holte ein Handy aus seiner Tasche und wählte eine Nummer. „Hmm … Hey Kangdae, hier ist Hyukwoon. Das mit heute geht klar, ihr könnt kommen. … Ja, ruf die beiden bitte an. Nea ist auch hier, ist das in Ordnung? … Ja, das ist sie wirklich. Bis gleich.“
Warte – was? Verlangte Hyuk ernsthaft, dass ich den Abend mit ihm und seinen Affen verbrachte?
„Was soll das heißen, 'Nea ist auch hier'? Ich werde mich verkrümeln, sobald deine Freunde da sind.“
„Oh komm schon, du möchtest Jaehyun und Kangdae doch bestimmt wiedersehen.“
„Who the hell is Kangdae?“
„Der Hotelbesitzer, erinnerst du dich?“ Hyuk zwinkerte mir zu. Grr, er fand es also witzig, mir meinen Korea-Aufenthalt dermaßen versaut zu haben.
„Ich erinnere mich. Der Hotelbesitzer.“
Ich stapfte aus dem Zimmer und lief ins Schlafzimmer – dort holte ich aus meiner Tasche meinen Laptop hervor. Ich gab Hyuks W-LAN Code ein, den er mir gestern Abend gegeben hatte, und sah auf Skype nach, ob Sandy online war – sie war es tatsächlich. Erleichterung.
Noch bevor ich sie zu einem Videotelefonat einladen konnte, erhielt ich ihre Anfrage. Ich freute mich darauf, endlich wieder deutsch sprechen zu dürfen.
„Meine Güte Nea, ich versuche schon die ganze Zeit, dich zu erreichen!“, brüllte sie mich erst einmal an.
„Tut mir Leid. Zeitverschiebung. Wieso bist du online? In Deutschland ist es doch erst wenige Stunden nach Mitternacht ...“
„Mir ist langweilig. Na ja egal, ist das im Hintergrund dein Hotelzimmer? Das ist ja riesig!“ Sandy machte große Augen.
„Das ist nicht mein Hotelzimmer … nicht direkt.“
„Wie meinst du das? … Hast du etwa schon deinen ersten One-Night-Stand hinter dir?“, kreischte sie und klatschte aufgeregt in die Hände.
„Nein, das … das ist etwas komplizierter. Ich habe im Flugzeug einen Jungen kennengelernt, er ist nicht viel älter als ich, aber anscheinend Millionär. Jedenfalls hat er bei dem Besitzer meines Hotels angerufen, der zufällig einer seiner besten Freunde ist, und ihn dazu gebracht, mich aus der Datenbank des Hotels zu löschen. Ich hatte also keine Unterkunft mehr, daher hat mich Hyukwoon hierher gebracht – jetzt sind wir so etwas wie Freunde.“
„Du – du hast bei einem Millionär geschlafen?“ Ich hatte Sandy noch nie so verblüfft erlebt.
„Ja. Ist echt blöd gelaufen.“
„Was redest du denn da? Das ist doch der Hammer! Du musst ihn mir unbedingt zeigen. Ist er gerade da?“
„Ja, ist er. Hyukwoon!“
Ich musste nicht laut rufen, denn ich hatte ihn bereits gehört, wie er im Gang herumschlurfte.
Er kam ins Zimmer und lächelte mich schief an. „Ye?“
Ich bedeutete ihm, sich neben mich zu setzen und erklärte ihm, dass Sandy ihn unbedingt sehen wollte. Jedoch zog er eine für ihn typische I'm-sexy-and-I-know-it-Aktion durch. Ich spürte seinen schweren Körper auf meinem Rücken und da ich lag und er mich mit seinem Gewicht noch mehr zu Bett presste, konnte ich nichts tun, als seine Lippen meinen Hals streiften. Ein Kribbeln blieb an der Stelle zurück, an der er mich geküsst hatte.
„Sowas wie Freunde, hm?“, zitierte mich Sandy und zwinkerte mir zu. „Er sieht gut aus, du darfst ihn bald mal mit nach Deutschland mitbringen.“
„Was denn, wir sind nur Freunde, das ist bloß wieder einer seiner Einfälle, er bringt ständig solche Sachen!“, versuchte ich, mich zu verteidigen.
Sandy und ich unterhielten uns noch kurz, während Hyuk auf mir liegen blieb und mir andauernd Wörter wie „Bällchen“ ins Ohr flüsterte. Irgendwann konnte ich vor Lachen nicht mehr, wandte mich aus Hyuks Griff und hämmerte auf ihn ein. Er konnte jedoch nichts anderes, als über meinen schwachen Versuch, ihm wehzutun, zu lachen.
„Sie sind da. Kommst du?“, rief ich, als es an der Tür klingelte und ich durchs Fenster drei junge Männer erkennen konnte – Jaehyun, Kangdae und ein anderer, den ich nicht kannte.
Ich öffnete die Tür und stellte mich dem Fremden, der sich als Jungsu herausstellte, vor. Auch er sah wahnsinnig gut aus und schien nicht älter als Hyukwoon zu sein.
„So, das ist also Hyuks neue Freundin?“, fragte Kangdae grinsend. „Sie ist hübscher, als ich sie in Erinnerung habe.“
„Rede nicht, als wäre ich nicht da“, sagte ich bestimmt.
Kangdae hob abwehrend, jedoch noch immer grinsend, die Hände. „Tut mir Leid. Lass uns meine Aktion von gestern vergessen.“ Er bot mir die Hand an und ich zögerte, bevor ich ihm auch meine reichte.
„Du bist süß. Hyuk hat Glück, mit einem Mädchen wie dir schlafen zu können.“
„Halt die Klappe, Jaehyun“, knurrte ich ihm zu. „Du weißt, dass das zwischen Hyuk und mir nichts war.“
„Natürlich nicht, er war nur kurz davor, dich flachzulegen“, raunte er mir im Vorbeigehen zu,
„War er nicht.“
„Vertrau mir, wenn ich dir sage, dass er kurz davor war.“
„Dir vertrauen? Du hast meine Urlaubspläne zunichte gemacht.“
„Oh bitte, mit uns ist es doch viel lustiger.“
Der Tag mit Hyuk, Jaehyun, Kangdae und Jungsu war tatsächlich ziemlich amüsant. Erst sah ich den Jungen beim Playstation spielen zu, bis sie mich überredeten, ebenfalls mitzuspielen – ich verlor gegen alle, bis auf Kangdae, der mich offensichtlich hat gewinnen lassen.
Danach machten wir es uns auf der großen Couch mit geliefertem Essen gemütlich, diesmal hatte ich dieses Kimchi und es war gar nicht mehr so scharf wie beim ersten Mal.
Jungsu stellte sich als draufgängerisch heraus, aber er war ein Gentleman. Demnach hatten alle vier Jungen den gleichen Charakter.
Wir sahen uns einen Horrorfilm nach dem anderen an, doch ich sah entweder weg oder war damit beschäftigt, Brot in mich hineinzustopfen, um die Schärfe des Kimchi zu reduzieren. Irgendwann merkte ich, wie ich die ganze Zeit näher an Hyuk gerückt war und mein Gesicht in seinem schwarzen Tanktop vergrub. Er lächelte mich an und strich mir beruhigend über den Rücken. Es war so schön bei ihm.
Ich fühlte mich zwischen den Jungen wirklich wohl, besonders bei Kangdae. Er erklärte mir manche koreanische Wörter, wann immer ich sie nicht verstand. Zudem war er nicht so sehr auf Körperkontakt ausgelegt wie Hyuk – er entschuldigte sich ständig, wenn er mich kurz mit seiner Hand streifte, während mich Hyuk zwei Filme lang in eine Umklammerung schloss, sodass ich mir die Augen nicht zuhalten konnte, wenn der Film wirklich schlimm wurde.
Es war bereits lange nach Mitternacht, als sich Jungsu, Kangdae und Jaehyun wieder verabschiedeten. Bevor Kangdae durch die Haustür ging, blieb er kurz neben mir stehen, beugte sich zu mir herunter und flüsterte mir ins Ohr: „Wann immer man dir Probleme bereitet, kannst du zu mir kommen.“ Ich spürte etwas Hartes an meiner Hand und sah, wie er mir eine Visitenkarte in die Hand drückte.
„Ich denke nicht, dass ich Probleme bekommen werde, aber vielen Dank.“ Ich lächelte ihn kurz an, doch sein Blick war unergründlich. Seine Freundlichkeit war verschwunden, stattdessen sah er interessiert, fragend, durchdringend und irgendwie traurig aus.
„Kangdae, was machst du da?“, lachte Hyuk.
Kangdae schreckte hoch und fuhr sich durch sein dunkelbraunes Haar.
„Nichts. Ich sollte jetzt gehen.“
Er rauschte an Hyuk vorbei und schloss die Tür mit einer knappen Verabschiedung. Hyuk nahm mich an der Hand, was ich lauthals kritisierte, und führte mich nach oben, wo wir uns bettfertig machten.
„Würdest du das nächste Woche gerne wiederholen?“, fragte er, als wir im Bett lagen.
„Ja, ich mag deine Freunde wirklich sehr.“
„Sehr schön.“ Er legte einen Arm um mich und vergrub sein Gesicht in meinen Haaren. „Gute Nacht, Nea.“
Aus seinem Mund klang mein Name so schön.
„Gute Nacht, Hyuk.“
Egal, wie sehr ich mich anstrengte, die ganze Nacht lang schwirrte mir bloß Hyuk im Kopf herum. Warum musste er auch so gut aussehen? Wenn er doch bloß einmal seinen Körper von meinem entfernen würde, könnte ich mich eventuell auf meinen wohlverdienten Schlaf konzentrieren.
Irgendwann sah ich auf den Wecker und musste feststellen, dass es bereits fünf Uhr morgens war. Heute würde ich garantiert keinen Schlaf mehr finden. Also löste ich mich vorsichtig und auch ein wenig widerwillig von Hyuk, atmete ein letztes Mal seinen Geruch ein und ging hinunter in die Küche.
Wasser. Ich brauchte erst einmal Wasser.
Doch auch nachdem ich einen halben Liter Flüssigkeit hinuntergekippt hatte, ging es mir nicht besser. War es möglich, dass ich in Hyuk verliebt war? Es wäre denkbar. Ob er dasselbe empfand? Womöglich. Nicht. Keine Ahnung. Pfft.
„Dumm gelaufen“, murmelte ich und schaute in das leere Glas in meiner Hand. Eine Bewegung in den Augenwinkeln ließ mich stark zusammenzucken – ich hatte die Filme von gestern noch immer nicht wirklich verkraftet – doch es war bloß Hyukwoon, der im Türrahmen lehnte. Seine schwarzen Haare fielen ihm ins Gesicht und verdeckten seine Augen fast gänzlich. Mein Herz begann wie wild zu klopfen, als er schief lächelte und langsam auf mich zukam. O Gott, er sah so wild aus. Zirka einen Zentimeter von mir entfernt blieb er stehen, griff hinter mich – und ging mit einer Tasse zur Kaffeemaschine.
„Erschreckt?“, fragte er launig.
„Ein wenig“, antwortete ich und entspannte meinen Körper. Ich war verdammt froh, dass er bloß seine Tasse geholt hatte.
„Nea, ich muss heute ein wenig arbeiten, das heißt, du wirst den Vormittag alleine hier verbringen müssen. Ich kann aber Jaehyun oder so anrufen, damit dir nicht so langweilig ist ...“
„Ist schon in Ordnung, ich komme gut alleine klar. Bis wie viel Uhr wirst du weg sein?“
„Kommt drauf an. Spätestens um drei Uhr. Ich lasse dir Geld hier, damit du dir Essen bestellen kannst.“
„Oh bitte, ich bin ein Mädchen, ich kann auch kochen.“
„Haha, natürlich.“ Hyuk gab mir einen Kuss auf die Wange und ging wieder nach oben.
Ich stöhnte und mir wurde ein wenig schwindelig. Sein Charme brachte mich noch irgendwann um den Verstand.
Hyuk verabschiedete sich von mir und verließ um Punkt halb sieben das Haus. Ein Taxi wartete vor der Einfahrt und er zwinkerte mir noch kurz zu, bevor er einstieg.
Erst einmal öffnete ich meinen Laptop auf dem Esstisch und stellte fest, dass Sandy für ein Videotelefonat zu haben war.
„Sandy, kannst du mich hören?“, fragte ich, als sie auf meinem Bildschirm erschien.
„Ja, kann ich. Nea, wie geht es dir? Bist du etwa noch immer bei diesem mysteriösen Millionär?“
„Allerdings. Er ist gerade zur Arbeit gefahren. Gestern habe ich mit Hyuk und drei seiner Freunde verbracht.“
Sandy fiel der Unterkiefer herab und starrte mich entsetzt an.
„Ich habe mit ihnen Filme geschaut, kein Grund zur Sorge!“
„Achso, ich dachte schon, du mutierst zum Callgirl oder ... Ähnlichem. Na ja, wie weit geht eure Freundschaft denn?“
„Sandy! Er ist körperlich ab und zu ein wenig aufdringlich.“
„Aaaber?“
„Ich weiß nicht, er ist ja freundlich. Zu freundlich. Immer fröhlich. Ich hasse das.“
„Ooh, stehst du etwa auf ihn?“
„Halt die Klappe, du kannst dich ja an ihn ranschmeißen.“ Natürlich nicht.
„Das werde ich, wenn du es nicht zuerst tust. Was arbeitet er eigentlich? Er hat ja offenbar ziemlich viel Kohle.“
„Keine Ahnung, aber für Geld Autos waschen ganz sicher nicht.“
„Wie du meinst. Süße, ich muss jetzt Schluss machen, lass mal wieder von dir hören. Und viel Glück mit Henry!“
„Hyuk!“
„Viel Glück mit Hyuk!“
Ich klappte wutentbrannt den Laptop zu.
„Nea, ich bin wieder da!“
„Hallo, Hyuk. Wie war es?“
„Na ja, ich arbeite in der Musikbranche, da ist es immer ein wenig stressig.“
„Musikbranche?“
„Ja, bei YG Entertainment, aber ich habe nicht sonderlich viel zu tun." Das widersprach sich ein wenig. "Ich habe die Stars bisher erst flüchtig zu sehen bekommen, werde aber ordentlich bezahlt.“
„Das ist trotzdem ziemlich beeindruckend. Hast du Hunger?“
„Ein wenig, ich bestelle -“
„Ich habe schon etwas gemacht. Reis mit undefinierbarer Suppe – traust du dich?“ Ich schaute ihn angsterfüllt, aber ermutigend an.
„Ich kann es ja mal versuchen“, lachte er.
Wir gingen in die Küche und sahen ehrfürchtig in den Topf, der auf der Herdplatte stand.
„Ich habe selbst noch nicht davon gegessen, also sollten wir erst einmal einen Vorkoster besorgen.“
„Ach was, ich vertraue darauf, dass du mich nicht vergiften möchtest.“
„Tu das bloß nicht“, knurrte ich leise.
Wir füllten unsere Teller und setzten uns an den Esstisch.
„Auf dass wir den morgigen Tag erleben“, sagte ich und nahm einen Löffel Suppe in den Mund.
„Hey, das ist nicht übel“, sagte Hyuk.
„Finde ich auch – soll ich morgen noch einmal kochen? Das hat Spaß gemacht.“
„Wenn du darauf bestehst – gerne. Irgendwer muss meine Küche doch mal in die Luft jagen, ich warte schon seit Jahren darauf, dass das jemand schafft.“
„Danke für deine Zuversicht.“
Wir aßen zuende und räumten unser Geschirr weg. Dann gingen wir in das zweite Wohnzimmer – das mit der großen Couch – und schalteten den Fernseher an.
„Call of Duty oder Counterstrike?“, fragte Hyuk, als wäre es selbstverständlich, dass Mädchen Spiele wie diese spielten.
„Irgendeines, mit dem ich meine Depressionen überwinden kann.“
„Sag doch gleich Animal Crossing.“
„Wie bitte? Wie soll mich Animal Crossing glücklich stimmen?“
„Du wirst schon sehen, lass mich nur kurz die Wii anschließen.“
Zirka vier Stunden lang liefen wir durch „Hyuktown“, wie Hyuk seine Stadt nannte. Das Spiel lenkte mich jedoch tatsächlich von der Tatsache ab, dass ich mit einem Mann, der gut vier Jahre älter war als ich, hier saß, ein klares Mädchenspiel spielte und Kleider designte. Ein Kleid beschriftete Hyuk mit der Aufschrift „Nea loves Hyuk“ und ich eines mit „Nega jein jalaga“, nachdem mich 2NE1s Song "I Am The Best" dazu angeregt hatte.
Es war Abend, als wir wieder in die Küche gingen und das Essen, das übrig geblieben war, in die Mikrowelle stellten. Diese zwei Minuten gingen wir ins Wohnzimmer, setzten uns auf die Couch und sahen aus dem Fenster.
„Bist du glücklich?“, fragte Hyuk tonlos und ohne mich anzusehen.
„Ja“, erwiderte ich und senkte die Augen zu Boden. Was war denn das für eine Frage?
Auf einmal fühlte ich Hyuks warme Hand an meinem Bein. Es war nicht wie immer eine aufreizende Berührung, sondern eher sanft. Ich ließ meine Haare ins Gesicht fallen und drehte meinen Kopf etwas in Hyuks Richtung. Er sollte weder sehen, dass ich total fassungslos war, noch sollte er denken, dass ich dieser Berührung abgeneigt war. Meine Herz raste jetzt wie wild.
Er strich meine Haare zurück und zog mich an meinem Hinterkopf zu sich. Er hielt kurz inne, bevor er meinen Mund mit seinem streifte. Er merkte, dass ich etwas zusammensank und drückte mir seine Lippen kräftiger auf. Er kniete sich über mich und drückte mich mit seinem Körper auf die Couch. Dann erhob er sich ein wenig und sah mir in die Augen. Er wollte etwas sagen, doch plötzlich begann die Mikrowelle zu fiepen. Verdammte Technologie, musste sie mich vor gerade diesem Fehler retten?
„Das kann warten“, knurrte Hyuk und beugte sein Gesicht wieder herab, doch „Maxstep“ von Younique Unit ertönte wie aus dem Nichts. „Argh, das ist mein Handy“, stöhnte er und ließ von mir ab.
Ich atmete schwer aus und setzte mich ebenfalls auf. Hyuk schlurfte zu seinem Handy und nahm das Telefonat an.
„Hey, Nick … Nein, wieso? … Ach komm schon, das ist lächerlich, kann das nicht warten? … O-okay … Ja, hab schon verstanden. Ciao.“
Er drehte sich zu mir um und vergrub sein Gesicht in den Händen.
„Musst du los?“, fragte ich.
„Ja … Ja, aber ich werde um Mitternacht oder so zurück sein. Ist etwas Geschäftliches.“
„In Ordnung.“ Seit wann gab es in der Musikbranche Notfälle? Ich wollte mir keine weiteren Gedanken machen und ließ ihn seiner Arbeit nachgehen.
Nach diesem Abend war es ungewöhnlich, mit Hyuk in einem Haus zu wohnen. Ich meine, es war auch vorher etwas skurril gewesen. Nun aber bekam ich jedes Mal eine Gänsehaut, wenn Hyuk mich morgens umarmte oder im Schlaf berührte. Irgendwie schien es ihn garnicht groß zu kümmern, während ich innerlich durchdrehte.
„Linnea, ich habe jemanden für dich mitgebracht“, ertönte Kangdaes Stimme.
„So? Wen denn?“ Ich lief die Treppe hinunter und als der neue Besuch in Sicht kam, stolperte ich und fiel beinahe auf mein Gesicht. Jedoch konnte ich mich noch rechtzeitig an das Treppengeländer klammern und glitt daher elegant zu Boden.
„Meine Güte, hast du dir etwas getan?“, fragte die Frau, die neben Kangdae stand.
Sie war zirka einen Meter fünfundsechzig groß, wenn man die Höhe ihrer Highheels abzog, hatte hüftlange, hellbraun gefärbte Haare (vermutlich Extensions) mit einem Pony, der ihr halbes Gesicht verdeckte und trug Eyeliner bis zum Abwinken. Zudem hatte sie eine schwarze Leggings, ein silbern glitzerndes Top und eine Lederjacke an. Meine Güte, bei dieser Frau müssten die Männer eigentlich Schlange stehen.
„Oh nein, nein“, antwortete ich und stand hastig auf. „Mit wem habe ich die Ehre?“
„Oh, gut, ich bin Lee Minrin. Du kannst mich aber auch Minyeon nennen. Ich bin Kangdaes jüngere Schwester und er hat mir erst gestern von dir erzählt, das ist so eine Unverschämtheit. Ich wollte dich so schnell wie möglich kennenlernen.“
Sie machte einen netten Eindruck.
„Ich freue mich sehr, endlich mal wieder mit einer anderen Frau als der Kassiererin beim Laden zwei Straßen weiter reden zu können“, sagte ich erleichtert und verbeugte mich vor Minyeon. „Bist du auch aus dieser Gegend?“
„Allerdings. Ich wohne in Kangdae Oppas Hotel. Wir können doch öfter mal etwas unternehmen, wenn du möchtest – vielleicht shoppen“, sang Minyeon.
Ich willigte ein. Nach ein wenig Smalltalk führte ich sie auf ihre Anfrage zum Schlafzimmer und zu meiner Hälfte des Kleiderschrankes. Minyeon durchsuchte sofort und ungefragt meine geringe Kleidermenge.
„Ist das etwa alles?“
„Ja, mehr habe ich nicht mit nach Korea genommen. Es wäre noch weniger gewesen, wenn ich gewusst hätte, dass mich Hyuk hier gefangen hält.“
Hyuk … Ich erinnerte mich wieder daran, als er mich geküsst hatte. Ich war mir jetzt ziemlich sicher, dass ich ihn liebte. Aber wir waren kein Paar, daher konnte ich ihm das nicht zeigen. Ob er so dachte wie ich? Wollte er mit mir zusammen sein, es aber nicht zugeben?
„Ja, Kangdae Oppa hat mir bereits erzählt, dass dich Hyuk Oppa ziemlich im Griff hat … Oh, was, du hast bloß drei Jeans dabei?“
„Allerdings. Seit ich hier bin, also seit ungefähr drei Wochen, habe ich kaum das Haus verlassen. Er will mich vor den Verrückten bewahren, die hier seiner Meinung nach tagsüber ihr Unwesen treiben.“
„Also vor Leuten wie ihm. Aber sei ehrlich, nur drei Jeans? Wo sind deine Leggings, Röcke, Kleider?“
„Ähm … Na gut, ich werde gleich nächste Woche einkaufen gehen.“
„Nein, Liebes, wir gehen sofort einkaufen.“
Minyeon zog mich auf die Beine und riss mich mit sich. Als ich meine abgetragenen Sneakers anzog, schenkte sie mir ein wehleidiges Lächeln.
„Was denn?“, fragte ich betupft.
„Linnie, du brauchst eindeutig neue Schuhe.“
„Danke für die Info.“
Minyeon fuhr mich mit ihrem Mercedes in die Innenstadt und schenkte mir auf der Autofahrt drei ihrer mindestens dreißig Kreditkarten. Ich hatte dieses Geschenk die ersten fünf Male abgelehnt, bis Minyeon mir die Kreditkarten einfach zusteckte.
Ich erfuhr an diesem Tag sehr viel über Minyeon: sie war 19 Jahre alt, war als kleines Kind total in Hyuk verknallt gewesen, hatte keine weiblichen Freundinnen und war arbeitslos, da Kangdae ihr verboten hatte, zu arbeiten, denn er hatte Angst, ihr könne etwas passieren.
Wir waren den gesamten Nachmittag lang weg und tatsächlich ziemlich erfolgreich. Minyeon gab für mich umgerechnet fast 1 000 Euro aus – allein für Kleidung. Hinzu kam noch die unendliche Menge an Makeup.
Zuguterletzt statteten wir dem Friseur noch einen Besuch ab … Aus meiner mittellangen, braunblonden und glatten Haarpracht wurden schulterlange, fast schwarze Wellen mit blauem Ombré und einem Pony wie Minyeon.
„Jetzt siehst du ein wenig koreanischer aus“, lachte Minyeon. Ich hingegen stand noch mit offenem Mund vor dem Spiegel, bevor ich ihr kreischend um den Hals fiel.
Wir saßen beim Essen und Hyuk warf mir ständig Blicke zu. Na gut, ich warf ihm auch ständig Blicke zu. Offenbar hatte er das, was ein paar Tage zuvor geschehen war, doch noch nicht vergessen. Wieder glitt mein Blick über seine wilden, schwarzen Haare und seine vollen Lippen.
Auf einmal spürte ich einen Stupser an meinem Bein.
„Machen wir heute mal einen Mädelsabend?“, fragte Minyeon.
„Klar ...“, antwortete ich aus den Gedanken gerissen, „natürlich.“
Nachdem wir zuende gegessen hatten, sagte Hyuk: „Minyeon, du kannst die Nacht gerne hier verbringen, wenn du willst. Die Gentlemen wollen bei Jungsu die Nacht durchmachen.“
„Ihr werdet nie erwachsen“, seufzte Minyeon. Sie war aber einverstanden und so zogen sie und ich uns ins Filmzimmer zurück.
„Linn, was läuft eigentlich zwischen dir und Hyukwoon Oppa?“, fragte Minyeon, als wir wieder saßen. Mir wurde bei dieser Frage ein wenig übel. Sollte ich es ihr erzählen? Immerhin hatten wir uns in den letzten Tagen zu besten Freundinnen entwickelt, weswegen ich Sandra etwas vernachlässigte, und wir erzählten uns alles – aber das mit Hyuk war etwas anderes.
„Worauf willst du hinaus?“
„Du schaust ihn ständig an und umgekehrt.“
„Er ist wie ein Bruder, weshalb sollte ich ihn keines Blickes würdigen?“
„Ich meine ja nur … Ich habe gesehen, wie er ...“ Minyeon stockte und kicherte.
„Jaaa?“, drängte ich sie.
„Er hat deinen Namen in den Sand im Garten geschrieben. Ich fand das so süß. Das habe ich bei ihm noch nie erlebt, dass er ein Mädchen so anhimmelt.“
Ich sah Minyeon mit offenem Mund an. Irgendwann merkte ich, dass ich ein wenig sabberte und fuhr mir schnell über den Mund.
„Ist irgendwas zwischen dir und Hyuk vorgefallen, dass du dich so benimmst? Ich habe das Gefühl, da war irgendwas.“
„Da war etwas, aber es hatte keine Bedeutung.“
Minyeon machte große Augen.
„Nein, nicht so etwas! Er hat mich bloß geküsst, das war alles.“
„Und?“, fragte Minyeon erwartungsvoll.
„Dann hat er einen Anruf von einem gewissen Nick erhalten und wir mussten das Ganze glücklicherweise abbrechen.“
Als ich 'Nick' gesagt hatte, war Minyeon zusammengezuckt und es schien so, als wäre ihr ein Licht aufgegangen.
„Nick also“, sagte sie und kniff die Augen zusammen. „Wollen wir ein wenig Mario Kart oder so spielen?“
„Gerne“, antwortete ich und machte mir keine Gedanken mehr über ihre Reaktion.
Minyeon und ich waren bei Mario Kart im Großen und Ganzen ein gutes Team, bloß ließ sich darüber streiten, wer im Einzelnen die bessere Spielerin war. Es war ein Wunder, wenn wir beide ins Ziel kamen und nicht eine von uns auf dem letzten Platz irgendwo auf der Strecke in die falsche Richtung fuhr und bereits zweimal überrundet wurde.
Dank haufenweise Schwarztee, Kaffee und Energydrinks überlebten wir bis vier Uhr morgens. Wir hatten jedes der einunddreißig Wii-Spiele ausprobiert, Gesichtsmasken gemacht und gegenseitig die Fingernägel lackiert. Wir gingen todmüde zu Bett und schliefen bis Mittag.
Hyuk hingegen kam bereits um sieben Uhr morgens zurück und wollte uns wecken, doch Minyeon schleuderte ihm ein Kissen entgegen, sodass erstmal Ruhe war.
Publication Date: 01-24-2014
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