Metainformationen zum Buch
Eine kommentierte lineare Erzählung aus der Marie-Serie.
Marie lernt in der Mensa die Erstsemesterstudentin Inken kennen und beide freunden sich schnell an, scheuen sich jedoch, weitere Gefühle füreinander zu offenbaren. Als sie allerdings in einem Park überfallen werden, muß Marie ihre Fertigkeiten zur Selbstverteidigung zur Anwendung bringen und anschließend sehr schnell lernen, wie Inken wieder aus der Schockstarre dieses grauenhaften Erlebnisses zu befreien ist.
Weitere Probleme lassen nicht lange auf sich warten.
Die Kapitel werden jeweils von Inken und Marie kommentiert.
Dies ist eine vereinfachte Textausgabe ohne eigene Stilvorlagen. Dekorative Elemente wie Graphiken sind hierbei lediglich als zusätzlicher Inhalt explizit getrennt von der Erzählung enthalten. Damit ist diese Ausgabe besonders geeignet für Präsentationsprogramme, Geräte sowie Konversionsskripte, welche EPUB nur sehr rudimentär interpretieren können. Dazu eignet sich diese Ausgabe überdies für Publikum mit einem Hang zur Anmutung von Elementen klassischer gedruckter Bücher.
Einige Charakteristika dieses Buches:
Marie: Der Überfall
Einstiegspunkte
Inhaltsverzeichnis
Epigraph
Darin besteht die Liebe: Daß sich zwei Einsame beschützen und berühren und miteinander reden.
Rainer Maria Rilke
Ich will geliebt sein oder ich will begriffen sein. Das ist eins.
Bettina von Arnim
Freiwillige Abhängigkeit ist der schönste Zustand, und wie wäre der möglich ohne Liebe!
Johann Wolfgang von Goethe
Die Liebe will ein freies Opfer sein.
Johann Christoph Friedrich von Schiller
Liebe ist Qual, Lieblosigkeit ist Tod.
Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach
Meine Liebe ist so tief: je mehr ich dir gebe, desto mehr habe ich, denn beides ist unendlich.
William Shakespeare
Wilhelm Busch
Liebe kennt keine Belohnung. Liebe ist um der Liebe willen da.
Konfuzius
Viele verstehen nur, die Liebe zur Unmöglichkeit zu machen, versagen bei der Möglichkeit zu lieben.
Bertine-Isolde Freifrau von Brockelstedt
Im Augenblick der Liebe wird der Mensch nicht nur für sich, sondern auch für den anderen Menschen verantwortlich.
Franz Kafka
Kein Werk ist zu niedrig, das aus Liebe getan wird.
Bettina von Arnim
Vorwort
Zum Inhalt
Diese Erzählung knüpft an Erlebnisse der Autorinnen Marie und Inken an, gleichwohl ist die Angelegenheit nicht so simpel, daß man den Inhalt einfach biographisch verstehen könnte. Marie und Inken bestehen auf Distanz zwischen ihren eventuellen Erlebnissen und ihrem Hier und Jetzt. Es steht ein Konjunktiv im Raum, das Erlebnis kann nahezu so stattgefunden haben, es kann auch künstlerisch verdichtet sein.
Marie und Inken bewahren die Distanz auch, indem sie auf eine Ich-Erzählung verzichten, der Erzähler bleibt abstrakter und hat Einblick in verschiedene Gedankenwelten, wie sie Marie und Inken als Autorinnen leicht haben mögen, Marie und Inken als Protagonistinnen müßten hingegen sehr scharfsinnig sein, um immer zu ahnen, was genau in den Köpfen der Menschen vorgeht, mit denen sie es gerade zu tun haben – oft ist das zum Zeitpunkt des Erlebens auch von untergeordneter Bedeutung. Marie und Inken würden sich da schriftlich nie so genau festlegen.
Marie und Inken haben länger überlegt und geknobelt, wie sie ihr Kennenlernen schildern können, wie künstlerisch verdichten. Wirklich geschrieben hat das Buch Marie, Inken hat aber ihre Sichtweise eingebracht, intensiv beraten und viel aus ihrer Erinnerung erzählt.
Hinzu kommen ferner die Kommentare von Marie und Inken, die noch einmal eine etwas andere Sichtweise auf die Ereignisse werfen, die zum Zeitpunkt des Schreibens etwa ein Jahr zurückliegen. So ergibt sich auch eine interessante Erzählsituation, in welcher die Protagonisten am Ende eines jeden Kapitels über die Ereignisse reflektieren und diese kommentieren. Damit gibt es ebenso für das Publikum immer wieder eine gute Gelegenheit zum Innehalten und Reflektieren statt nur einfach mitzuerleben.
Das heikle sowohl bei persönlichen Geschichten als auch bei Geschichte weitreichenderer Ereignisse ist, daß jene Geschehnisse alle in einer Vergangenheit stattfanden, welche im Moment des Erzählens oder Diskutierens einer Überprüfung nur noch bedingt zugänglich sind – es mag Zeitzeugen geben, Indizien, Spuren der Vergangenheit, mehr aber auch nicht.
Wer mag sie nennen, wer finden?
Persönliche Erinnerungen unterliegen im Gehirn natürlich immer einem steten Wandel, einer Anpassung an den Verlauf der Zeit, an neue Erfahrungen, an die Reflexion über die Ereignisse, von daher werden gerne die anderen Spuren der Vergangenheit oder wenigstens die Erinnerungen vieler Menschen verwendet, um daraus ein sozialisiertes Bild der Vergangenheit zu konstruieren. Dieses Bild ist absichtlich oder eben durch die Auswahl der Personen immer unvollständig sowie der aktuellen Sicht der Erzähler auf jene betrachteten Ereignisse unterworfen. Folglich gibt es formal eigentlich keine nachvollziehbare Wahrheit über die Vergangenheit, alles ist Erzählung, alles verdichtet zu einer Idee, einer Geschichte, die so ungefähr stimmen mag. Die Erzählung wird im besten Falle zur Essenz der Reflexion über die Ereignisse, welche gerade im Fokus der Betrachtung standen.
Diese Erzählung reiht sich in diesen munteren Reigen des Verdichtens und Dichtens natürlich ein, erhebt nicht einmal den Anspruch, historisch genau zu sein. Dies wird ja auch niemand von den Klassikern der Belletristik behaupten, im Grunde nicht einmal von Autobiographien allgemein. Diese Genauigkeit wird vielmehr der künstlerischen Verdichtung oder auch Dichtung explizit untergeordnet, um vor allem ein literarisches Werk mit einer Sicht zu erschaffen, wie sie die Autorinnen vertreten möchten, wie diese sich erinnern möchten.
Es wurde auch ausgiebig diskutiert, wie ausführlich welche Details der Erzählung geschildert werden sollten, an welchen Stellen die Erzählung besser etwas allgemeiner gehalten werden soll und wie und mit welchen Worten, Wörtern alsdann bestimmte Details beschrieben werden sollen. Solcherlei Auswahl oder Entscheidung ist nicht so einfach, die Geschmäcker sind ja verschieden, es hat sich jedoch herausgestellt, daß Marie und Inken in der Hinsicht einen ziemlich ähnlichen Geschmack haben, lediglich hinsichtlich der Fülle der Details hat Inken etwas mehr ermuntert sowie angeregt.
Lokalitäten ebenso wie Forschungs- und Studieninhalte wurden hingegen absichtlich allgemein gehalten oder aber gar künstlerisch verfremdet, auch um beteiligte Personen vor einer Identifizierung zu bewahren. Entsprechend sind einige Zeitabläufe leicht modifiziert.
Die Anwendung bestimmter Praktiken und Methoden sowohl in der Selbstverteidigung als gleichfalls bei den Libertines sind absichtlich nicht sonderlich realistisch, detailgetreu und zur Nachahmung geeignet geschildert. Wer sich fachgerecht und erfolgreich selbst verteidigen möchte oder muß, auch wer Angreifer abschrecken will, dem seien dafür vorgesehene Kurse mit praktischer Anleitung sowie Betreuung empfohlen.
Für Praktiken der peinlichen Behandlung ist ebenfalls dringend zu empfehlen, sachgerechte Anleitung hinzuzuziehen und sich ebenfalls mit Materialien sowie Kursen auf unvorhergesehene Zwischenfälle vorzubereiten:
Diese Methoden erfordern Erfahrung sowie Disziplin in der Ausführung, zudem gewisse medizinische Grundkenntnisse und eventuell ebenso medizinisches Gerät für den Notfall, um auf Überreaktionen des Opfers angemessen reagieren zu können. Es wird hier absichtlich nicht präzise aufgelistet, welche Kenntnisse, Maßnahmen und Geräte verfügbar sein sollten, um im Notfall angemessen reagieren zu können, gerade weil von einer Nachahmung dringend abgeraten wird.
Die Namen anderer Beteiligter wurden zum Schutz ihrer Privatsphäre natürlich verändert. Entsprechend sind die Portraits fiktiv und entsprechen nicht den wirklichen Konterfeis dieser Beteiligten. Zur künstlerischen Freiheit und Verdichtung ist hier ebenfalls zu zählen, daß einige Charaktereigenschaften verfremdet oder von anderen Personen übernommen wurden. Letztlich sind die jeweiligen Vorbilder also mitnichten im biographischem Sinne realistisch beschrieben.
Das Buch gehört zur Serie ‚Marie‘. Die Bücher dieser Serie können unabhängig voneinander gelesen werden. Zeitlich liegen die Ereignisse von ‚Marie: Der Überfall‘ jedoch kurz hinter denen von ‚Marie: Die Gruft‘, deutlich früher ist ‚Marie: Der Atelierbesuch‘ anzusiedeln. Die Rahmenhandlung von ‚Marie: Drachen‘ ist noch etwas früher anzusiedeln. Ein paar Details in diesem Buch stehen in Zusammenhang mit Vorkommnissen in den anderen, insofern können sich aus den anderen Büchern eventuell ein paar mehr Aspekte erschließen, sofern diese Interesse erwecken sollten.
Warnhinweise
Das Buch enthält in einigen Bereichen Schilderungen von Praktiken aus den Bereich Sadismus.
Eine Nachahmung wird ausdrücklich nicht empfohlen. Verantwortung für eine Zuwiderhandlung gegen diese Empfehlung kann von den Autorinnen nicht übernommen werden.
Nicht nur bei Personen mit angegriffener Gesundheit kann ein solches Erschrecken oder eine fehlerhafte sadistisch-masochistische Quälerei gravierende körperliche Folgen haben, welche eine unmittelbare Behandlung durch Fachpersonal notwendig machen kann. Es können zudem psychische Probleme beim Opfer auftreten oder aufgedeckt werden, welche anschließend behandlungsbedürftig sind.
Insbesondere die sadistisch-masochistischen Praktiken und Spielereien sind absichtlich nicht besonders detailliert geschildert, um Nachahmung durch Laien zu vermeiden. Diese Methoden erfordern Erfahrung sowie Disziplin in der Ausführung, zudem gewisse medizinische Grundkenntnisse und eventuell auch medizinisches Gerät für den Notfall, um auf Überreaktionen des Opfers angemessen reagieren zu können. Es wird hier absichtlich nicht präzise aufgelistet, welche Kenntnisse, Maßnahmen und Geräte verfügbar sein sollten, um im Notfall angemessen reagieren zu können, gerade weil von einer Nachahmung dringend abgeraten wird.
Das Buch ist also auf gar keinen Fall als Anleitung oder Empfehlung für derartige Aktivitäten zu verstehen. Als Bestandteil des Lebens der Protagonistin sind diese aber – so weit für den Fortgang der Handlung erforderlich – angedeutet.
Wer Interesse an derartigen Praktiken hat, der sei zum einen an einschlägiges Fachpersonal verwiesen, ferner ebenso auf peinliche, treffsichere sowie treffende Fachliteratur.
In diesem Zusammenhang sei auch noch betont: Viele fühlen sich berufen, doch nur wenige sind befähigt.
Überdies existiert auch noch ein Unterschied zwischen den Gesandten und den Geschickten. Es kann fatale Folgen haben, wenn bei einer peinlichen Behandlung die Berufenen, Gerufenen, Gesandten keine Geschickten sind.
Ausgeprägt psychopathische Sadisten sollten nur unter Aufsicht quälen und Masochisten sollten sich solchen Personen in keinem Falle unter unkontrollierten, unbeaufsichtigten Bedingungen anvertrauen.
Technisches
Bei diesem Buch handelt es sich um eine vereinfachte Textausgabe. Anders als die Originalausgabe enthält diese Sonderausgabe auf besonderen Wunsch von BookRix keinerlei bucheigene Stilvorlagen. Graphiken sind zudem klar von der eigentlichen Erzählung getrennt am Beginn sowie am Ende als zusätzliches Material verfügbar, wobei diese Bestandteile derart angeordnet sind, daß diese typischen, ritualisierten Sonderinhalten klassischer gedruckter Bücher entsprechen, siehe auch das Inhaltsverzeichnis.
Diese Ausgabe ist besonders geeignet für Präsentationsprogramme, Geräte und Konversionsskripte, welche EPUB lediglich sehr rudimentär interpretieren können. Für Programme, welche das Format EPUB korrekt interpretieren, ist hingegen die Originalausgabe mit Graphiken sowie Stilvorlagen zu empfehlen.
Autorinnen sowie Mitarbeiter dieses Buches haben keinerlei Einfluß auf Mängel, Fehler, Lücken in der Interpretation von EPUB durch das jeweils verwendete Darstellungsprogramm. Bei Darstellungsproblemen sollten diese zunächst analysiert, lokalisiert werden. Dazu kann es unter anderem als erster Schritt helfen, mit verschiedenen Programmen auf Reproduzierbarkeit zu prüfen oder auch mit speziellen Prüfprogrammen zu verifizieren, daß insbesondere im Buch selbst wirklich kein Fehler vorliegt.
Entsprechend wird es anschließend möglich sein, eine zielführende Fehlermeldung korrekt zu adressieren. Die Autorinnen sowie Mitarbeiter können je nach Fehler durchaus die korrekten Ansprechpartner sein. Bei der Qualität aktueller Darstellungsprogramme können dies jedoch gleichfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit die Entwickler dieser Darstellungsprogramme sein. Entsprechend sind möglichst präzise Angaben zum Problem bei einer Fehlermeldung immer hilfreich.
Generell ist die Fehlerrate bei Darstellungsprogrammen vom Typ Brauser gängiger Anbieter deutlich geringer als bei speziellen Programmen oder Erweiterungen für Brauser zur Interpretation von EPUB. Insofern kann es bei größeren Problemen mit der Darstellung ebenfalls ein Ausweg sein, das EPUB-Archiv zu entpacken (es handelt sich bei EPUB immer um ein Archiv vom Typ ZIP, das Buch alsdann direkt im Brauser zu lesen, wozu zunächst die Datei Inhaltsverzeichnis.xhtml im Verzeichnis Inhalt aufzurufen ist, um einen Einstieg in die Lesereihenfolge sowie einen Überblick über den Inhalt zu bekommen. Über die Verweisfunktion des Verzeichnisses kann anschließend jeweils der gewünschte Inhalt aufgerufen werden. Die Inhaltsseiten haben zudem unten jeweils eine kleines Menü als Hilfe, um zurück zum vorherigen Kapitel zu gelangen, zum Inhaltsverzeichnis oder vor zum nächsten Kapitel, um diese Nutzung als entpacktes Archiv weiter zu vereinfachen.
Diese Nutzung mit entpacktem Archiv kann gleichfalls nützlich sein, um Probleme oder Fehler zu lokalisieren. Bei Einzeldokumenten sind überdies andere Prüfprogramme verwendbar.
Bei automatischen Konversionen dieses Buches im Format EPUB in andere Formate können diverse Mängel auftreten, welche sowohl an Fehlern und Problemen der zu naiv und einfach konzipierten Konversionsprogramme als auch an dem Format liegen können, in welches konvertiert wird. Autorinnen und Mitarbeiter dieses Buches haben keine Kontrolle über spätere Manipulationen oder Formatkonversionen, haben also keinen Einfluß auf die komplette Verfügbarkeit von Inhalten und Hilfen solch manipulierter Versionen. Sie empfehlen daher dringend, das unveränderte Original zu verwenden und sich dieses von einem leistungsfähigen Darstellungsprogramm präsentieren zu lassen.
Manuell ist es recht problemlos möglich, einige Techniken und Merkmale des Buches so weit zu vereinfachen, Inhalte anders aufzubereiten, um diese auch in verminderter Qualität in anderen Formaten verfügbar zu machen. Insbesondere bei wohl noch immer recht beliebten proprietären Amazon-Formaten (Mobipocket oder KF8) ist es recht einfach, ein passend vereinfachtes EPUB zu erstellen, aus welchem sich ein lesbares Buch in diesen minderwertigeren Formaten erzeugen läßt, sofern man sich mit EPUB sowie den Möglichkeiten dieser Formate etwas auskennt.
Maries sowie Inkens Kommentar
„Na?
Nun ist Sommer 2022, also genau ein Jahr nach der Veröffentlichung der ersten Ausgabe dieser vereinfachten Händler-Version des Buches, und das Buch noch immer nicht bei den Händlern verfügbar‽“, fragte Inken.
Marie antwortete: „Nun, es ist doch erst ein Jahr verstrichen, es gab anfangs die üblichen Zurückweisungen, zunächst von einem Händler, welcher von BookRix nicht namentlich genannt wird.“
Inken hakte nach: „Woran lag es?
War etwas falsch?“
Marie erläuterte: „Nein, wir hatten ja selbstverständlich alles vor der Veröffentlichung geprüft, entspricht natürlich komplett den Spezifikationen. Woran es liegt, daß BookRix den Namen des Händlern nicht offenbaren will, kann ich nicht sagen, sie mauern diesbezüglich immer, bloß in wenigen Fällen ist es eindeutig den weitergeleiteten Fehlermeldungen zu entnehmen, in diesem Falle allerdings nicht.
Zudem haben wir ja bereits eine stark vereinfachte Textausgabe extra für Händler eingereicht, welche hinsichtlich bekannter Vorgaben von BookRix gegenüber der normalen Ausgabe pessimiert wurde. Dabei wurden auch bekannte Willkürlichkeiten oder Mängel von Prüfskripten der Händler berücksichtigt, eventuell mit Künstlicher Dummheit in diesen Skripten drin inklusive. Allerdings habe ich den Eindruck, daß dieser oder jener Händler absichtlich sowie per Zufall falsche Fehlermeldungen zurückgibt, um Macht durch Willkür zu demonstrieren. Diese Leute möchten demütigen, indem sie unabhängige Autoren dazu nötigen, bei ihnen lediglich schlecht umgesetzte digitale Bücher zu veröffentlichen.“
Inken zog ihre Nase kraus: „Demütigen sowie Machtspiele lassen wir ja nicht gerne mit uns machen …“
Marie meinte dazu: „Nun, diese Leute leben in einer eigenen Welt ihrer persönlichen Irrungen, Verfehlungen, sitzen jedoch am längeren Hebel, was sie ausnutzen, eben eine grobe Charakterschwäche. Wir sollten uns darüber amüsieren, wie die sich mit immer neuen, absurden Einfällen aufplustern. Sie verhindern ja keineswegs die Veröffentlichung der Texte an sich auch bloß eine Sekunde, dafür haben wir seit Jahren gesorgt. Nun, also ironische, lustige Revanche kommentieren wir nun obendrein eben ein wenig.“
Inken wollte wissen: „Worum ging es genau bei den obskuren Meldungen?“
Marie informierte: „Plötzlich sollen Beschreibung oder Klappentext lediglich noch maximal 250 Zeichen lang sein …“
Inken bekannte: „Was nicht viel ist, mal gerade zwei oder drei einfache Sätze?“
Marie stimmte zu: „So in etwa …“
Inken erkundigte sich weiter: „Wie haben wir darauf reagiert?“
Marie tat kund: „Wir umgehen das Problem auf technischer Ebene, also selbe Beschreibung, jedoch vermutlich derart ausgezeichnet, daß das fehlerhafte Programm die Beschreibung nicht mehr als solche findet oder identifiziert, andere Programme allerdings vermutlich auch nicht – steht bloß noch so da …“
Inken war erstaunt: „Ach?
Ist dies nicht semantisch mangelhaft?“
Marie beruhigte: „Kein Drama, formal ist alles korrekt, formal weiterhin maschinenlesbar, semantisch einwandfrei, bloß unerwartet umgesetzt. Das menschliche Publikum findet den Text bei Bedarf ohnehin anderweitig unverändert inklusive semantischer Textauszeichnung mit Absätzen bei den bibliographischen Angaben zum Buch. Drollig zudem: Durch die andere Umsetzung mit zwei Elementen in dieser Ausgabe mit verändertem Inhalt ist die Beschreibung nunmehr ja sogar noch länger geworden – passiert eben, wenn Unfug gefordert wird …“
Inken fragte: „Noch mehr Probleme oder Fehlleistungen von jenem anonymen Händler?“
Marie nickte: „Ja, einen zweiten Ablehnungsgrund gibt es noch, welcher zudem typisch unspezifisch formuliert ist, damit es im Grunde unmöglich wird, herauszufinden, was wirklich gemeint ist.“
Inken erwiderte: „Um was geht es in einfachen Worten?“
Marie versuchte es: „Es wurde behauptet, daß Inhaltsverzeichnis enthielte weniger als drei Einträge, es sollte mindestens einer zum Titelbild, einer zum Titel, einer zum Impressum sowie einer zum Textbeginn vorhanden sein …“
Inken brummte: „Hmmm, dies wären schon vier Einträge, mitnichten drei, wobei wir diese vier sowieso alle bereits im Impressum haben, insgesamt sind es deutlich über vierzig Einträge in der beanstandeten Ausgabe gewesen …“
Marie hob den Finger: „Sage ich doch, widersprüchliche, unzutreffende Angaben ohne nachvollziehbare Möglichkeit, damit gezielt umzugehen!“
Inken spekulierte: „Pfft, hört sich wirklich nach Psychopathen oder Soziopathen mit einem erheblichen persönlichen Defizit an – doch wir können mangels persönlicher Bekanntschaft oder anderweitiger psychologischer Expertise bloß spekulieren, was die Ursachen dieser Fehlleistungen beim Händler ist.
Was ist unser nächster Zug in diesem verwirrenden Spiel?“
Marie erläuterte die Strategie: „Wir legen ähnlich wie bei einem gedruckten Buch eine traditionelle Titelei an. Buchhändler, Verleger und so weiter sind meist Traditionalisten oder eben auch Papierbuchfetischisten. Deshalb wird auch noch immer wieder versucht, digitalen Büchern geradezu zwanghaft den Charakter eines auf Seiten gedruckten Buches aufzudrücken, obgleich dies ziemlich abwegig ist …“
Inken stimmte zu: „In der Tat, eine Perversion, wohl nur nachvollziehbar, wenn man demselben Fetisch verfallen ist – jedoch, was bringt diese Titelei konkret für das Publikum?“
Marie grinste: „Im besten Falle nichts, im ungünstigeren Falle bei fehlerhaften Darstellungsprogrammen einen Programmabsturz, denn nun haben wir etwas Neues drin: Neben dem alten Titelbild, welches als Vektorgraphik eingebettet ist, welches nun im Inhaltsverzeichnis als Antiporta, auch Schmutztitel oder Schutztitel benannt ist, kommen noch zwei weitere Titel hinzu …“
Inken bekannte schmunzelnd: „Ui, das sind viele Titel …“
Marie verkündete süffisant: „Papierbuchfetischisten können nie genug von Titelseiten sowie Buchtiteln bekommen. Da gehen die richtig ab. Vakatseiten, also absichtlich leere Seiten lieben sie allerdings beinahe gleichermaßen …“
Inken warf ein: „… welche man in gedruckten Büchern gut für Notizen, Besitzansprüche, Grüße bei Geschenken nutzen kann, als Exlibris, wie bereits Christian Morgenstern in einem schönen Gedicht eindringlich formulierte – hmmm, bei einem digitalen Buch indes … nutzlos …“
Marie widersprach: „Keineswegs für Papierbuchfetischisten oder Seitenblätterfetischisten. Diese gehen darin auf, ejakulieren geistig geradezu, wenn man ihnen einfach mal eine absichtlich leere Seite anbietet, um diese wenigstens gedanklich beflecken zu dürfen, dadurch fühlen diese sich warm verstanden.
Doch zurück zum Problem:
Zuvor war auch ein Pixelbild im Format PNG im Buch enthalten, dieses wird nun als Frontispiz in ein gesondertes Titeldokument integriert …“
Inken sprach nach: „Frontispiz – schönes Wort, bin unbedingt dafür, daß ein solches ins Buch kommt – warum auch immer!“
Marie lachte, versicherte: „Ist schon drin.
Das läuft nun mit den Titelseiten fast wie mit den Buletten vom Bäcker – ‚hätte gerne noch ein Brötchen dazu‘ – ‚ist bereits drin‘ – ‚hätte trotzdem gerne noch ein Brötchen dazu‘ – ‚ist auch schon drin!‘
Ferner kommt somit noch einmal die gleiche Vektorgraphik wie beim Schmutztitel als Titelbild vor, diesmal allerdings nicht eingebettet, vielmehr als eigenes Inhaltsdokument als Titelblatt …“
Inken sinnierte: „Dies sollte doch auch Seitenblätterfestischisten befriedigen. Wobei ja sowieso bei einem digitalen Buch eigentlich nichts schmutzig werden kann …“
Marie berichtigte: „Inken, schmutzige Gedanken können alles beschmutzen, wer einmal dem Papierbuchfetisch verfallen ist, wird automatisch zum digitalen Schmutzfinken. Allerdings hat dies Vorgehen einen klitzekleinen Haken …“
Inken hakte also nach: „Welchen?“
Marie schmunzelte: „Ich ahnte, daß du dies fragst, aber gut. Bei der ersten Version der Textausgabe hatten wir einen Fehler kaschiert oder vertuscht, dem Publikum erspart, welchen leider mehrere Darstellungsprogramme aufweisen, darunter beispielsweise die Versionen 4 sowie neuer von Calibre, diese quittieren den Dienst, wenn sie eine Vektorgraphik als Inhaltsdokument darstellen sollen, wobei dies einerseits bei älteren Versionen problemlos funktionierte, der Fehler dem Entwickler von Calibre überdies lange bekannt ist, es zudem technisch auch noch einfacher ist, derartige Graphiken als eigenständige Dokumente zu präsentieren als dies eingebettet in ein anderes Format sowie trickreich mit einer besonderen Stilvorlage dimensioniert zu tun. Jedenfalls, klickern nun die bedauernswerten Nutzer derart grob fehlerhafter Programme das Titelblatt im Inhaltsverzeichnis an, so bekommen sie statt Inhalt die Fehlermeldung des jeweiligen Programmes oder auch nichts mehr dargestellt …“
Inken schüttelte den Kopf: „Klingt nach einer lustigen Falle, klickern sie es nicht an, funktioniert indes unser Buch?“
Marie nickte: „Klar doch, ist mehr oder weniger bloß eine Falle für Seitenblätterfestischisten sowie Papierbuchfetischisten, welche sich gerne in der Titelei immer wieder die gleiche Information ansehen möchten, jedoch lediglich, wenn sie diese Programme mit dem Fehler verwenden, die anderen haben weit weniger Spaß dabei …“
Inken bekannte: „Was soll’s?
Was ist sonst noch drin in der Titellei?
Schutztitel oder Schmutztitel bei einem digitalen Buch ist ja sowieso witzig, versehentlich beschmutzen sollte erheblichen absichtlichen Aufwand bedeuten …“
Marie merkte dazu an: „Das Buch ist ja nicht verschlüsselt, läßt sich also durchaus digital beschmutzen, wobei ein Schmutztitel dies in der Tag niemals verhindern kann. Ferner könnte jemand etwa auch ein weiteres Inhaltsdokument mit einer Widmung hinzufügen, dafür braucht es nicht einmal eine Vakatseite.
Primär steht im Inhaltsverzeichnis nun jedenfalls explizit, daß in den Metainformationen zum Buch auch das Impressum sowie sonstige bibliographische Angaben zu finden sind …“
Inken fragte verblüfft: „Wo sollten diese sonst zu finden sein?“
Marie zuckte ihre Schultern: „Keine Ahnung, sobald wir derlei Seitenblätterfestischisten, Unordnungsfanatiker, Wortklabauterer sowie Traditionalisten verstehen könnten, wären wir ja selbst auf die schiefe Bahn geraten, besser also nicht zu sehr in diese Irrungen sowie Hirngespinste hineinversetzen … immerhin haben wir uns durchaus Mühe gegeben, das Inhaltsverzeichnis wird dadurch nun zu einer verschachtelten Liste, hat also eine zweite Strukturebene bekommen, welche die Titelei vom eigentlichen Inhalt als solche abhebt, die magische dritte Strukturebene ergibt sich obendrein, weil ja dieses Vorwort drei Unterabschnitte hat, welche also diese dritte Strukturebene darstellen …“
Inken wollte sichergehen: „Abheben, verschachtelte Listen, Strukturebenen, erläuternde Worte dazu, Strukturen, welche auf der magischen sowie geforderten Drei basieren – einige speziellere Gemüter werden dies Inhaltsverzeichnis lieben … sowieso könntest du durchaus mal ein Buch veröffentlichen, welches bloß aus verschachtelten Inhaltsverzeichnissen mit magischen oder märchenhaften Anzahlen von Einträgen sowie Ebenen besteht, allesamt ungeschriebene Bücher betreffend …“
Marie warf ein: „Quasi eine Hommage an Stanisław Lem, einst gab ich dir ‚Die vollkommene Leere‘ sowie ‚Imaginäre Größe‘ zum Lesen, daher vermutlich deine Assoziation …“
Inken stimmte sogleich zu: „In der Tat. Wie dem auch sei.
Damit hätten wir’s?“
Marie seufzte, führte weiter aus: „Wo denkst du hin. Weil ja nun einerseits ebenfalls die Kennzeichnung des Textanfangs gefordert wurde, andererseits nun die Titelei abgesondert als Sektion des Inhaltsverzeichnisses strukturiert ist, kommen nun also die Kapitel mit der Erzählung samt unseren Kommentaren in eine entsprechende eigene Sektion auf gleicher Ebene …“
Inken strahlte: „Prima – es war doch allerdings noch die Rede von magischen drei Einträgen?
Ist dies auch in dieser Dimension hinzugekommen, über die Anzahl der Unterabschnitte des Vorwortes hinaus sowie die Verschachtelungstiefe betreffend?“
Marie lobte: „Gut aufgepaßt. Folglich dachte ich mir, muß noch eine dritte Sektion her, um alles abzurunden …“
Inken stieß hervor: „Uff, nun bin ich wirklich gespannt wie ein Flitzebogen – was bloß tun wir da noch rein, ohne etwas am Inhalt zu ändern?“
Marie neigte milde den Kopf: „Na, überlege doch mal, was beim gedruckten Buch nach den eigentlichen Kapiteln kommt …“
Inken grübelte: „Hmmm, Nachwort oder Epilog, eventuell noch ein paar von diesen leeren Seiten, dazu der Buchdeckel hinten …“
Marie klopfte ihr lobend auf die Schulter: „Eben, genau so wird es gemacht, um das Buch hintenrum harmonisch abschließen zu können …“
Beide lachten.
Inken fragte neugierig: „Mit welchem Fachwort wird denn eigentlich dieser Rest vom Buch nach den eigentlichen Kapiteln mit dem Inhalt bezeichnet?“
Marie sann nach, räumte alsdann ein: „Knifflig. Buchdecke bezieht sich auf die Titelseite sowie die rückwärtige Seite, ebenso der Schutzumschlag, Buchspiegel sind die Innenseiten des Deckels, ebenfalls beidseitig, Abspann gilt lediglich bei Filmen, der Anhang wiederum beinhaltet etwas anderes, was eher noch zum eigentlichen Inhalt gehört oder sich unmittelbar darauf bezieht, ähnlich wie eigentlich Epilog, Glossar, Nachwort, Register, Addendum, Appendix, Annex, Nachtrag, Endnoten. Wird solch ein Anhang allerdings mit Buchspiegel, Vakatseiten, hinterer Buchdeckel zusammengefaßt, paßt diese Kombination nicht mehr gut unter diesen Begriff.
Dafür gibt es somit in der deutschen Sprache wohl keinerlei Fachbegriff, im Englischen nennt man den Teil vorne übersetzt einfach den vorderen Teil oder die vordere Angelegenheit oder Materie, hinten entsprechend den hinteren Teil oder die hintere Angelegenheit. Analog dreht man Titelei nicht so einfach um …“
Inken schlug vor: „Hmmm, Finalisierung, Buchabschluß, wegen hintenrum vielleicht Potelei, Endelei, oder irgendwas in Latein, klingt immer, als ob wir uns auskennen würden – oder wirklich umgedreht: Ieletit“
Marie bekannte: „Potelei, Endelei, Ieletit gefallen mir persönlich sehr, allerdings als Neologismen zu gewagt in Hinblick auf Traditionalisten, nun, wir könnten es in Klammern setzen, ansonsten Schluß statt Kuß?“
Inken lachte, nickte: „Schluß sollte wohl reichen, soooo vertraut wollen wir mit diesen Fetischisten doch nun auch wieder nicht werden …“
Marie brummte: „Nun gut, gestalten wir dies ähnlich wie die Titelei, spendieren als Buchspiegel oder Dublüre sowie Buchdeckel noch jeweils einen dekorativen Wumms als Vektorgraphik, dazu noch den Buchrücken sowie eine Vakatseite zur Abrundung … Latein ist allerdings ein wirklich wertvoller Gedanke: in extremo libro“
Inken nickte begeistert: „Gefällt mir!
Also kommt diese Ausgabe somit auf mehr als fünfzig Einträge im Inhaltsverzeichnis, eindeutig mehr als wenigstens drei, welche nachgezählt mindestens vier sein müssen.“
Nach einer kleinen Pause nahm Inken das Gespräch erneut auf: „Also, alle Ergänzungen sind im Grunde ein Spaß, Dekoration, welche eigentlich vermieden werden sollte, ein Tribut an den Papierbuchfetischismus zur Erbauung weniger des Publikums, mehr schon weniger Buchprüfer, welche unverbesserliche, unbelehrbare, mit Spezifikationen, guten Sitten unvertraute Traditionalisten sind …“
Marie mahnte mit dem Finger: „Wirst ja richtig fuchtig!
Soviel Aufmerksamkeit, Emotion, Aufgewühltheit haben diese Fragwürdigen doch gar nicht verdient!
Aber nein, für das allgemeine Publikum ist die zusätzliche Dekoration doch auch nett, dazu unser Dialog hier als kurzweilige Dreingabe, den es so ja bloß in der vereinfachten Händlerausgabe geben wird, also exklusiver Bonusinhalt, was will das kaufwillige Publikum mehr – also falls überhaupt jemand je zugreifen mag … ist ja mitnichten gesagt …“
Inken schmunzelte: „Ich mache mir keine Illusionen, reich werden wir damit wohl keinesfalls werden … ob diese irre Diskussion zudem wirklich für andere ebenso kurzweilig wie für uns ist?“
Marie bekräftigte: „Klar, für uns schon einmal gewiß, Spaß muß sein, wenn wir schon noch einmal an dem Buch etwas ändern müssen – was wäre das Leben ohne Spaß über ein paar Fetischisten?
Es ist möglich – jedoch sinnlos!“
Inken hatte noch eine Frage auf Lager: „Also, gehen wir mal davon aus – verwegener Gedanke, daß ist nicht bloß Perversion, Fetischismus oder fehlgeschlagene Autorendemütigung – was könnten jene anonymen Händler-Phantome sonst davon haben?
Letztendlich handelt es sich doch wahrscheinlich um Kapitalisten, verdienen mit am verkauften Buch …“
Marie nickte: „Nicht zu knapp, je nach Händler kommen vom Bruttopreis bei uns bloß grob fünfzehn bis dreißig Prozent an, selten mehr, ein kleinerer Teil geht als Mehrwertsteuer weg, ein weiterer an BookRix, die Händler bedienen sich allerdings zuerst. Der Haken bei der Buchpreisbindung besteht darin, daß wir nicht festlegen können, was wir pro verkauftem Buch Netto heraushaben wollen, somit gibt es keinerlei Marktanreiz für die Händler, welcher die Preise fair regeln würde. Wenn ein Händler eine größere Marge haben will, ist dies immer zum Nachteil der Autoren oder auch Verteiler wie BookRix, mitnichten zu Lasten etwa der Käufer. Die Marktmacht trifft also vor allem Autoren, welche selbst veröffentlichen. Diese Art von Buchpreisbindung ist beim anvisierten Ziel des Schutzes von Bildung sowie Kultur folglich mindestens ein Schuß in den Ofen, in dieser Form eher kontraproduktiv, schafft eher Frustration statt Anreiz zu unternehmerischer Tätigkeit als selbständige Autoren im Dschungel von Verlagen, Verteilern, Händlern.
Ferner ist es den Händlern ja sowieso egal, wessen Bücher sie verkaufen, Hauptsache die eigenen Einnahmen stimmen. Von daher ist es vorteilhaft, wenn das Publikum primär teure gedruckte oder digitale Bücher von Verlagen bei der Suche beim Digital-Händler findet. Durch Werbung für diese haben die Händler zudem zusätzliche Einnahmen, ebenso durch Herdentrieb, ausgelöst durch Ranglisten – was oben in irgendeiner Liste steht, wird öfter gekauft; in Kombination mit Werbung, geschickter Anordnung ist es somit gar nicht gut für Händler, wenn das Publikum im großen Umfang Bücher unabhängiger Autoren findet. Entsprechend ist auch die Suche gezielt pessimiert, daß möglichst bloß gefunden wird, was dem Händler mehr Geld pro Buch einbringt.
Dazu gibt es den Trick ‚Wird oft zusammen gekauft‘, wo immer ein oder mehrere teure Bücher vorgeschlagen werden, wobei es ja bereits gelungen ist, den Betrug darin zu belegen, wenn sich das fragliche Buch zu dem Zeitpunkt kurz nach Beginn der Verfügbarkeit beim Händler noch kein einziges Mal verkauft hat …“
Inken warf ein: „Betrug der Kunden!“
Marie grinste.
Kurz darauf führte Marie weiter aus: „Gedruckte Bücher von Verlagen lassen sich teurer verkaufen, sind folglich für den Händler lukrativer, warum sollte dieser also ein Interesse daran haben, günstige, qualitativ hochwertige digitale Bücher zu verkaufen?
Für den Händler ist es sehr vorteilhaft, immer weiter die Illusion zu verbreiten, daß die Technik der digitalen Bücher nicht ausgereift, fehlerhaft ist, daß es sich eigentlich um unattraktive Mängelexemplare handelt – was wiederum auch ein Grund ist, warum digitale Bücher vor einer Aufnahme beim Händler derart pessimiert werden müssen, daß sich jenes Märchen auch weiterhin verfestigt, das Publikum bekomme damit bloß technischen Schund, mit einem gebundenen Stoß bedrucktem Papier in der Hand erwirbt der Kunde hingegen handfestes, solides Eigentum.
Ein am eigenen Profit orientierter Händler wird also niemals etwas tun, was Autoren hilft oder auch etwas, was dem Publikum helfen würde, frei die Literatur zu wählen, welche wirklich dem eigenen Interesse entspricht. Immerhin können Leser bloß eine feste Menge von Literatur pro Zeiteinheit rezipieren. Folglich wäre es aus der Sicht der Händler dumm, wenn die Leser gute günstige oder gar kostenlose Bücher finden würden. Insofern muß ein Laden im Netz immer so schlecht gestaltet sein, daß das Publikum möglichst teure Bücher mit hoher Gewinnmarge möglichst einfach über Vorschläge oder angebliche Ranglisten vorfindet, welche somit vermeintlich bei vielen anderen Menschen sehr beliebt sind – eventuell jedoch unter anderem auch deshalb oft gekauft werden, weil sie suggestiv nach vorne geschoben werden.“
Inken bekundete: „Diese Argumentation klingt schon überzeugender als jene mit den schmuddeligen Fetischisten, schon ein wenig verschwörerisch-theoretisch oder verschwörungstheoretisch, oder?“
Marie grinste fein: „Ein wenig Spaß muß sein – ferner bereitet es gleichfalls viel Vergnügen, über die durchschaubaren eigennützigen Motive anderer ein wenig zu lästern …“
Inken gab zu: „In der Tat!“
Marie räumte anschließend ein: „Natürlich wissen wir als Wissenschaftler, daß es bei realen Phänomenen oft vielerlei Einflüsse gibt, somit greift eine einzige einfache Erklärung wohl auch hier zu kurz, welche bloß auf fetischistische Neigungen oder Profitstreben abzielt …“
Inken neigte den Kopf: „Aha, was noch?“
Marie erwiderte: „Im Grunde hast du dies ja bereits in den letzten Jahren selbst mitbekommen, doch weil dies sowieso ein fiktives Gespräch ist, tun wir eben so, als wüßtest du dies nicht bereits: Es gibt allerhand reale Probleme im Umfeld digitaler Bücher, deren Ursachen auf verschiedene Akteure verteilt sind. In der groben Reihenfolge, nach der Größe der Wahrscheinlichkeit sortiert, wem die Probleme ursächlich zuzuordnen sind, sind gewiß zunächst Autoren zu nennen. Diese machen Fehler, welche zu technischen Problemen führen können. Damit sind nun mitnichten Rechtschreibfehler, schlechter Schreibstil genannt, Unkenntnis oder Mißachtung des Urheberrechts. Vielmehr geht es um falsche Syntax, Strukturen, welche nicht den Spezifikationen der verwendeten Formate entsprechen oder eben Inhalte, welche durch die Spezifikationen nicht erlaubt sind. Sofern etwas erlaubt ist, dessen Interpretation bei der Darstellung jedoch optional ist, können Autoren zudem versäumen, angemessene Alternative anzubieten. Die Möglichkeiten sind also vielfältig.
Immerhin gibt es mit epubcheck ein passables Programm, mit dem ein digitales Buch auf allerhand Fehler gegenüber den Spezifikationen prüfbar ist. Dies Programm versteht nun allerdings den Inhalt nicht, kann daher nicht wirklich beurteilen, ob alternative Inhalte notwendig oder angemessen sind, ob Strukturen semantisch korrekt verwendet wurden. Insofern bleiben nach der Prüfung noch einige mögliche Quellen für Probleme der Eigenverantwortung der Autoren überlassen …“
Inken bestätigte: „Dies ist einsichtig. Selbst beim Korrekturlesen übersehen wir ja leider durchaus immer mal wieder etwas, ist folglich nicht allein das Problem von Programmen, nicht perfekt zu sein, immerhin ermüden diese nicht, Fehler, welche sie zuverlässig erkennen können, werden sie also immer wieder erkennen, in diesem Sinne dieselben Fehler nicht auch einmal übersehen.
Wie geht es weiter in der Reihenfolge?“
Marie fuhr fort: „Die nächsten Verdächtigen sind die Darstellungsprogramme für digitale Bücher sowie deren Entwickler. Einordnen könnte man hier auch noch einige schlecht umgesetzte Konversionsprogramme, um Bücher automatisch in andere Formate zu konvertieren. Ein Händler sabotiert ja etwa gezielt den Standard EPUB, indem in ein proprietäres eigenes Format konvertiert wird, welches bei genauerer Betrachtung in der aktuellen Version lediglich eine Pessimierung oder Verballhornung von EPUB ist, einzig zu dem Zweck erfunden, daß die Bücher alsdann nicht von anderen als den eigenen Programmen präsentiert werden können. Dadurch kann dieser Konzern eigene Geräte zur Präsentation von Büchern in diesem Format verkaufen, welche wiederum den Standard EPUB nicht interpretieren, insofern also technischer Schrott sind. Dadurch gelingt allerdings eine Kundenbindung, zudem ermöglichen die eigenen, nicht quelltextoffenen Programme eine detaillierte Überwachung der Leser sowie deren Leseverhalten zur weiteren Profitmaximierung. Ausgewertet lassen sich ja daraus Schlußfolgerungen ziehen, was diesen Kunden sonst noch zum Kauf untergeschoben werden kann, was gleichfalls eigentlich gar nicht gebraucht wird.
Jedenfalls sind derartige Konversionsprogramme einerseits gezielt so eingerichtet, daß sie das Original bei der Konversion verschlechtern, andererseits stecken unabsichtliche Fehler oder auch Vereinfachungen drin, welche nach der Konversion Probleme beim Publikum verursachen können, welche fälschlich den Autoren zugeordnet werden könnten. Ferner produzieren diese Konversionsprogramme bei der Konversion weitere Fehlermeldungen, welche primär mit eigenen Defiziten oder absichtlichen Inkompatibilitäten zu tun haben. Diese Fehler müßten eigentlich von den Entwicklern behoben werden, werden in der Praxis allerdings oft den Autoren übermittelt, damit diese ihre Bücher derart verschlechtern oder manipulieren, daß diese Fehlermeldungen nicht mehr auftreten, die Fehler also letztlich lediglich durch die Autoren vertuscht oder kaschiert werden sollen, damit das Publikum davon nichts mitbekommt, dadurch kundig wird, für welche mangelhaften Geräte sowie Programme sie auch noch ihr Geld verplempert haben.“
Inken meinte dazu: „Naja, zu derartigen Konversionprogrammen haben wir einen Hinweis in diesem Vorwort als Warnung vor den Folgen einer Konversion stehen.
Was ist mit den normalen Darstellungsprogrammen?“
Marie erläuterte zu diesen: „Davon können wir uns als Autoren lediglich einige selber ansehen, also deren Fehler, Lücken oder Schwächen oder optionale Mehrleistungen in der Interpretation der Spezifikation ansehen. Immerhin hat unser lieber, inzwischen langjähriger treuer Mitarbeiter Olaf dazu ja eine eigene Testumgebung mit sehr vielen Test sowie Testergebnisse zu zahlreichen Programmen. Daraus lassen sich natürlich einige Schlußfolgerungen ziehen, wir bekommen ein gewisses Gefühl für Schwächen sowie Mängel derartiger Programme …“
Inken nickte: „Ja, diese Informationen sind eine tolle, sehr nützliche Sache.
Selbstverständlich kann nicht jedes Programm geprüft werden; worin bestehen die meisten Fehler oder deren Ursachen?“
Marie antwortete: „Kernursache der meisten Probleme in der Präsentation für das Publikum besteht im erwähnten Fetischismus oder der unter den Entwicklern weit verbreiteten Zwangsvorstellung, unbedingt eine Seiteneinteilung von gedruckten Büchern simulieren zu wollen. Aus diesem persönlich bedauerlichen Defizit resultieren allerhand Probleme, weil es diese Seiteneinteilung im Buch selbst ja gar nicht gibt, eine Anmutung davon wird erst durch die Programme unmittelbar bei der Präsentation generiert, allerdings gewöhnlich mit ziemlich dürftigen, unzureichenden Mitteln. Gekonnte, elegante automatische Seiteneinteilung ist keine Trivialität. Mit dem Versuch kommt folglich auch Selbstüberschätzung ins Spiel, damit gewiß obendrein der Dunning-Kruger-Effekt.
Oft werden eigentlich leistungsfähige Bibliotheken zur Präsentation der Inhalte verwendet, welche selbst weit weniger Fehler aufweisen. Bei der Integration dieser Bibliotheken in ein Darstellungsprogramm können allerdings Fehler gemacht werden, der Entwickler erwartet vielleicht bloß sehr einfachen Inhalt im Format XHTML, keine Graphiken, Bilder, besondere Strukturen wie verschachtelte Listen oder Tabellen darin. Kommen derlei Inhalte vor, kann es insbesondere zu unzugänglichem oder nicht oder bloß teilweise dargestelltem oder sich überlappendem Inhalt kommen, wenn der Inhalt in eine Seiteneinteilung gepreßt werden soll.
Ferner werden öfter offenkundig die Stilvorlagen dieser Programme mit falscher Priorität in die Präsentation eingebaut, dazu inkonsistent eingesetzt, was wiederum dazu führt, daß fälschlich konsistente Angaben der Autoren überschrieben werden, was wiederum zu Unlesbarkeit von Inhalten, Unzugänglichkeiten, Barrieren für das Publikum führen kann.
Teilweise können Autoren diese Probleme umgehen, wenn sie davon Kenntnis haben. Teils erfordert dies allerdings Stilvorlagen oder Möglichkeiten, welche lediglich optional interpretiert werden müssen, was folglich bei unbekannten, ungetesteten Programmen Probleme in der Präsentation verursachen kann, insbesondere wenn diese unbekannten Programme wiederum eigene mangelhafte Stilvorlagen oder andere Fehler aufweisen.
An sich gute Präsentationsprogramme sind eigentlich Erweiterungen für Brauser. Durch eine mutwillige Verschlechterung von diesbezüglichen Schnittstellen bei den typischen Brausertypen Mozilla/Gecko (besonders Firefox, Tor, nicht jedoch SeaMonkey, Waterfox, Pale Moon) oder auch webKit/Blink (Chromium, Vivaldi, Opera, Brave, Chrome, Safari, Edge etc) sind diese Erweiterungen allerdings in ihren Möglichkeiten eingeschränkt, was neuere Versionen davon schlechter macht als ältere, welche indes wiederum auf den neuen Versionen der betroffenen Brauser nicht mehr lauffähig sind.
Nach dem Entpacken eines digitalen Buches lassen sich die Inhalte alternativ direkt mit dem Brauser ohne Erweiterung ansehen, was deutlich bessere Präsentationsergebnisse mit weniger Problemen ergibt, dafür fehlt allerdings die Funktion der automatischen Lesereihenfolge.
Wünschenswert wäre also eine direkte Implementierung der Interpretation von EPUB ohne die Krücke von Erweiterungen oder eine zwanghaften Seiteneinteilungsanmutung.“
Inken war einverstanden: „In der Tat. Nun, prinzipiell könnten wir selbst diese Navigation für die richtige Seitenreihenfolge einbauen, was ja jedenfalls bei deinen Büchern mit nicht-linearen Inhalten bereits zwangsläufig der Fall ist …“
Marie überlegte: „Dies ist bei Büchern wie diesem hier mit linearer Lesereihenfolge eher unüblich. Hier haben wir nun lediglich wenige nicht-lineare Inhalte in der Titelei sowie dem Buchabschluß, welche über das Inhaltsverzeichnis aufgerufen werden. Eine kleine Navigationsstruktur am Ende jedes Kapitels kann sicherlich nicht schaden, verbessert die Zugänglichkeit für die Verwendung direkt im Brauser ohne Erweiterung, da gebe ich dir Recht. Diese Idee wird folglich umgesetzt.“
Inken fragte geduldig weiter: „Welche Akteure gibt es sonst noch?“
Marie informierte: „Zunächst wären da natürlich Verteiler wie BookRix oder eben auch die Händler. Diese Akteure haben teils eigene oder eigenwillige – je nach Perspektive – Ansichten darüber, wie ein digitales Buch sein soll, wie dessen Dekoration mit Stilvorlagen sein soll.
Teilweise basieren diese Vorstellungen wiederum auf Traditionen aus dem Bereich billiger gedruckter Bücher, wie etwa das Bedürfnis, die erste Zeile von Absätzen unbedingt eingerückt haben zu wollen, was wohl primär statt des vergrößerten Leerraums zwischen Absätzen in der Druckerei eingeführt wurde, um wenige Bögen Papier zu sparen, bei digitalen Büchern ist dies demzufolge rein dekorativ, im deutschen Sprachraum zudem historisch eher unüblich, ebenso bei der üblichen Darstellung der Inhalte in (X)HTML, was in EPUB zur Auszeichnung von Texten verwendet wird. Eine derart willkürliche Dekoration für eine Veröffentlichung vorauszusetzen, ist ziemlich befremdlich.
Ferner setzen sie Prüfprogramme wie epubcheck ein, oftmals allerdings eine den Autoren nicht im Detail bekannte ältere Version davon, welche einige Fehler aufweisen kann, welche in neueren Versionen bereits behoben sein können. Umgedreht kann eine neuere Version von epubcheck ebenso Fehler finden, welche älteren Versionen eventuell verborgen bleiben können. Allein daraus können Probleme resultieren, welche für Autoren überraschend sind, welche die aktuelle Version des Programms verwenden.
Daneben betreiben diese Akteure noch eigene Programme mit zusätzlichen Kriterien, welche keiner Spezifikation entsprechen, oftmals nicht veröffentlicht sind, inhaltlich oftmals ziemlich fragwürdig sind, insofern also einen Quell von Überraschungen für Autoren darstellen können.
Gelegentlich entsteht obendrein der Eindruck, als würden die Händler eher zufällig würfeln, welche unzutreffende Fehlermeldung sie verwenden, um ein Buch einfach mal abzulehnen. Jedenfalls ist auffällig, daß diese durchgereichten Meldungen eigentlich fast immer willkürlich, nicht nachvollziehbar, nebulös sowie unklar formuliert sind. Insofern sind diese geheimnisvollen Programme oder Prüfkriterien folglich selbst entweder grob fehlerhaft oder darauf ausgelegt, selbständige Autoren technisch qualitativ hochwertiger digitaler Bücher gezielt zu frustrieren, wir hatten das Thema bereits. So oder so ergeben sich damit reichlich mehr Quellen für mögliche Probleme, denn diese Programme können ja bei jedem Händler nach anderen Kriterien vorgehen, damit auch untereinander widersprüchliche Anforderungen stellen.“
Inken nickte: „Verstehe, ein intransparentes Minenfeld voller unausgegorener, willkürlicher Prüfkriterien sowie untestbarer, grob mangelhafter Programme.
Letztlich sind die Versionen der digitalen Bücher, welche über Händler verfügbar sind, also deshalb so stark vereinfacht, minimalistisch, um die Anzahl derartiger Probleme mit Händlern zu reduzieren. Diese vereinfachte Ausgabe ist ja um Dekorationen, Abbildungen sowie alternative Stilvorlagen erleichtert worden, damit ebenso um einige Nutzerhilfen, verläßt sich dadurch ausschließlich auf eine angemessene voreingestellte Darstellung durch die eigene Stilvorlage des jeweiligen Darstellungsprogrammes.
Technisch wirklich gute digitale Bücher oder digitale Prachtausgaben mit individueller, auf den Inhalt bezogener Dekoration sowie mit reichlich Nutzerhilfen wird man also bei den Händlern vergeblich suchen.
Dies weist schon in die Richtung, daß dahinter in der Tat eine Absicht, eine bestimmte Weltsicht stecken könnte, welche durchgesetzt werden soll. Dies alles hat jedenfalls nur noch sehr wenig damit zu tun, daß die Autoren frei im Rahmen der Spezifikationen kreativ sein sollten, damit ihre eigene Sicht der Dinge veröffentlichen können, welche für sie relevant erscheint. Das Publikum wiederum sollte frei auswählen können, was es rezipiert. Gemäß den alten geflügelten Worten verderben viele Köche den Brei, so ist es auch bei den digitalen Büchern, welche bei Händlern erhältlich sind.
Wen gibt es sonst noch als Akteur?“
Marie verkündete: „Sozusagen Alpha und Omega stellen die Spezifikationen der verwendeten Formate selbst dar, samt deren Autoren. Perfekt sind diese Spezifikationen natürlich auch nicht, diese können einerseits Fehler enthalten, Schlampereien, Ungenauigkeiten. Hinzu kommen unberücksichtigte oder unterschätzte Anwendungsfälle. Insgesamt sind die Spezifikationen allerdings eher selten Ursache für konkrete Probleme bei der Präsentation von Büchern beim Publikum. Die Wirkung liegt eher darin, daß bestimmte Inhalte erst gar nicht oder in suboptimaler Form beim Publikum ankommen.
Deutlich wahrscheinlicher ist, daß diese von den anderen Akteuren falsch interpretiert werden – mutwillig oder aber auch, weil diese Spezifikationen ungeschickt oder unverständlich für Autoren oder Programmierer formuliert sind oder aber unübersichtlich aufgebaut sind.“
Inken resümierte: „Gut, verstehe. Deshalb haben wir ja auch den Absatz oben in diesem Vorwort, welcher vereinfacht darauf hinweist, wer für Probleme verantwortlich sein könnte, wer folglich der richtige Adressat für Fehlermeldungen sein könnte, was ein zielführendes Vorgehen ist, um Fehler den korrekten Ursachen zuzuordnen …“
Marie bestätigte: „Genau. Wenn uns Fehler, Probleme oder Lücken auffallen, kommt es ja durchaus vor, daß wir diese Entwicklern oder auch den Autoren der Spezifikation mitteilen, indes können wir ja weder alles testen noch uns um alles kümmern …“
Inken hatte noch weiteren Klärungsbedarf: „Was aber ist nun im Herbst sowie Winter 2021 mit dem Buch passiert?“
Marie antwortete: „Nichts weiter. BookRix behauptete zunächst nach den letzten Änderungen vom Juli 2021, das Buch sei nun bald im Handel erhältlich – es dauert wohl nunmehr Monate oder Jahre, bis eine Neuerscheinung in den Handel kommt, eventuell auch eine Folge der Pandemie, wenn alle Mitarbeiter der Händler ohne Rechner Heimarbeit machen, ist es eben mühsam mit dem Vertrieb digitaler Bücher …“
Inken erwiderte: „Verblüffend eigentlich bei digitalen Werken, der breiten Verfügbarkeit des Zugangs zum Netz. Digitale Bücher können ja doch automatisch verarbeitet werden, immerhin steht alles an relevanten Metadaten im Buch oder wird doch bei BookRix in einem Formular nochmal zusätzlich angegeben, da sollte solch eine Verarbeitung eigentlich bloß Sekunden dauern …“
Marie grinste: „Tja, sollte man meinen, aber dies ist eben offensichtlich nicht so, in der Hinsicht sind diese Händler unverkennbar aus der Zeit gefallen – nun, damals, also noch vor Gutenberg hat es ja auch einige Zeit gedauert, bis ein Buch abgeschrieben war, damit ein Exemplar in den Handel kommen könnte. Stellen wir uns nun vor, die Mitarbeiter der Händler sitzen alle bei der Heimarbeit, schreiben händisch Bücher ab, weil der Arbeitgeber Rechner sowie Netzverbindung nicht finanzieren mag …
Vielleicht, tja, vielleicht beschäftigen die Händler ja heute wirklich auch wieder solche Schreibmönche, welche alles nochmal abschreiben, mag ja alles sein, prekäre Arbeitsverhältnisse und so …“
Inken grinste: „Faszinierend!
Gut jedenfalls, daß wir auch eine bebilderte, mit alternativen Stilvorlagen versehene Prachtausgabe haben, welche stets verfügbar ist …“
Marie neigte den Kopf: „Zweifellos. Jene Textausgaben sind ja auch bloß ein Notbehelf, eben weil die Händler bloß derart minimalistische digitale Bücher anbieten wollen. Aus unserer Sicht ergeben derartige Ausgaben bloß einen Sinn, um über die Händler solche Leser zu erreichen, welche eben bloß dort nach Literatur oder lediglich Bücher lesen mögen, für welche sie etwas bezahlen sollen. Ein anderer Fall könnten auch Bibliotheken sein, welche eben kostenlose Literatur außerhalb des Handels prinzipiell zu ignorieren pflegen, dort besteht die Auffassung, ihre Kunden finden derartige Bücher auch ohne sie im Netz, also keine Notwendigkeit, diese im eigenen Sortiment anzubieten. Entsprechend eingeschränkt ist das Angebot dann auch in den Bibliotheken – wer glaubt, dort ein repräsentatives Angebot von Literatur zu finden, geht heute eben fehl …“
Beide reflektierten kurz wortlos über diesen bedauerlichen Sachverhalt.
Inken fragte weiter nach: „Und welche schicksalhaften Ereignisse um das Buch sind im ersten Halbjahr 2022 zu verzeichnen?“
Marie grinste: „Nunmehr behauptet BookRix auf der Vorschauseite zum Buch, das Buch sei explizit bei einem Händler sowie bei zahlreichen anderen ungenannten erhältlich. Klickert frau den Reklameverweis allerdings an, so findet sich bei dem Händler lediglich der Hinweis, daß dieser zu der ISBN des Buches keinen Titel kenne oder anbiete. Versucht man es ähnlich bei zahlreichen anderen Händlern oder Suchmaschinen seines Vertrauens, findet sich zu der ISBN nichts …“
Inken atmete tief durch, stellte eine Hypothese auf: „Folglich ist jener Text auf Buchvorschauseite eine freche Lüge?“
Marie zuckte ihre Schultern: „Ich habe nicht nachgefragt, vielleicht auch bloß ein Fehler – allerdings, nachdem es zuvor über viele Monate als bald erhältlich gekennzeichnet war?
Fragwürdig – Interpretation überlassen wir doch den Lesern …“
Inken schaute erstaunt: „Wie denn, wenn das Buch nicht in den Handel kommt?“
Marie spitzte ihre Mund: „Oh, unser fingierter Dialog hier ist ja so weit vorne im Buch, daß er noch in der bei BookRix verfügbaren Leseprobe enthalten ist, von daher also schon lesbare Kurzweil für unser Publikum …“
Inken lächelte gequält: „Ja dann! – Immerhin!“
Marie meinte: „Jedenfalls zum Jubiläum ein Jahr warten auf das Erscheinen bei Händlern hauen wir jetzt einfach noch eine dritte Ausgabe raus.“
Inken erwiderte: „Unbedingt, also bis auf Aktualisierungen, Ergänzungen hier sowie bei den bibliographischen Angaben ist allerdings nichts Neues drin?“
Marie schüttelte den Kopf: „Nö, alles beim Alten …“
Inken fragte nun noch: „Dürfen wir uns an dieser Stelle des Buches eigentlich überhaupt schon unterhalten?
Immerhin lernen wir uns doch erst im ersten Kapitel kennen‽“
Marie widersprach beruhigend: „Klar dürfen wir. Vom Konzept her sind die Kommentare ja deutlich später als die eigene Handlung angesiedelt, insofern können wir über alles reflektieren, was mit dem erzählten Geschehen oder dem Buch zu tun hat. Ferner fungieren diese Kommentare ja auch ähnlich wie Brechts Verfremdungseffekte, um das Publikum ebenfalls in die Reflexion über Sachverhalte, die Handlung zu führen. Von daher hat dies alles schon seine Richtigkeit. Zwar bricht es die Konvention von Traditionalisten, doch auch dies ist eine wichtige Aufgabe von Literatur, überkommene, stereotype Sichtweisen, Konventionen aufzubrechen, durch etwas andere Herangehensweisen Kurzweil zu bereiten.
Die Freiheit der Kunst zu zelebrieren, ist eine wichtige Aufgabe, insofern muß stets hinterfragt werden, ob Konventionen, Angewohnheiten eben bloß Vorurteile, diskriminierende Ansichten sind, mit deren Verbindlichkeit ruhig gebrochen werden kann, wenn dies zu neuen Einsichten führt.
Insgesamt haben ja alle bislang geschriebenen vier Bücher der Marie-Serie in dieser Hinsicht jeweils ein deutlich anderes Konzept verfolgt. Auch dies macht die Serie interessant.“
Inken überlegte: „Nun, vielleicht haben wir mit unserem kleinen Diskurs rund um die Probleme der Veröffentlichung von digitaler Literatur über Händler sowie sonstige Seiteneffekte des Mediums bereits erfolgreich alle Leser verschreckt – mal kurz melden, wer ist noch da?“
Marie warf schmunzelnd ein: „Tztz – kannst doch nicht erwarten, daß sich jemand meldet – ist ein digitales Buch, keine Podiumsdiskussion in Echtzeit …“
Inken war geduldiger, optimistischer: „Warten wir noch einen Moment …“
Zuruf aus dem Publikum: „Doch doch, ist noch wer da, herzlichen Dank für die Erläuterungen, warum die digitalen Bücher im Handel so sind, wie sie sind, warum nicht besser …“
Marie antwortete: „Dafür nich’ – verblüffend, was heute alles möglich ist, sogar Publikum in Echtzeit in einem Buch, macht Laune …“
Anderer Zuruf aus dem Publikum: „Allmählich könntet ihr aber schon einmal loslegen mit der Erzählung …“
Marie beugte sich vor, wendete sich direkt ans Publikum, nickte dies ab: „Also gut, genug der Reflexion über das Buch selbst – vielleicht im Epilog noch ein wenig mehr Laberei, ist da ja nichts dabei, kostet nichts extra …“
Inken schloß ihr Gespräch: „Bleibt uns also nun für dies Vorwort bloß noch, dem Publikum viel Spaß bei der weiteren Lektüre zu wünschen, ebenso Kurzweil, Erbauung, einen Zugang zur Reflexion über das Werk, das eigene Ich, das Universum sowie den ganzen Rest …“
Noch ein Zuruf aus dem Publikum: „Werden wir haben – melden uns im Bedarfsfalle schon …“
Personen der Erzählung
Hauptpersonen
Die Libertines
Ein lockerer Zusammenschluß von Personen, welche sich regelmäßig zum philosophischen Diskurs sowie zu sadistisch-masochistischen Aktivitäten treffen, Marie gehört zu dieser Gruppe.
Benannte Personen dieser Gruppe (welcher deutlich mehr Personen angehören):
Das Institut
Marie forscht und arbeitet im Institut für ihre Promotion, Doktorarbeit. Zu Beginn der Erzählung hat sie gerade eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin bekommen, hat zuvor kurze Zeit bereits als Übergang als wissenschaftliche Hilfskraft dort gearbeitet, nachdem sie ihren Master-Abschluß erreicht hatte.
Benannte Personen des Instituts (welchem mehr Personen angehören):
Studenten
Erstsemesterstudenten, einige Kommilitonen von Inken und diese selbst.
Inkens Familie
Zwei besondere Typen
Ob sie sich dazusetzen dürfe, sprach Marie höflich zu der jungen Studentin, welche in der Mensa allein an einem Tisch saß und offenbar mehr in ihren auf dem kleinen Tisch verteilten Vorlesungsskripten und Übungszetteln vertieft war als in ihr Essen. Diese nickte daher auch nur und sprach kurz sowie etwas brummelig-abwesend „Ja“, ohne auch nur aufzublicken und wechselte weiter etwas zappelig zwischen den Blättern, welche über den halben Tisch chaotisch verstreut waren. Marie blieb so von den vier Stühlen nur der Platz der jungen Studentin gegenüber, welche ihren Kram hauptsächlich über die andere Tischhälfte ohne erkennbares Ordnungsprinzip verteilt hatte. Man konnte förmlich sehen, wie chaotisch und hektisch ihre Gedanken ihren Blicken folgend von einem Blatt zum nächsten sprangen und nirgends irgendeinen Halt fanden, gleichfalls hektisch suchten, ohne noch eigentlich zu wissen, wonach nun ganz genau und was alsdann passieren sollte, wenn etwas gefunden wäre.
Marie schmunzelte, es war Semesteranfang und die Mensa daher sehr voll. Sie stellte ihr Tablett mit Chili sin Carne samt Fladenbrot auf den Tisch und setzte sich, ließ flüchtig den Blick über die Lektüre ihrer Tischgenossin fallen. Ohne Probleme konnte Marie Schrift verkehrt herum lesen und sah ziemlich Vertrautes. Ja, diese junge Dame ihr gegenüber hatte offenbar gerade ihre allerersten Übungszettel bekommen – Erstsemester. Da war die Aufregung groß, ebenso die Motivation, bloß nichts falsch zu machen, aber ebenso die Hektik sowie Nervosität, nur nichts zu übersehen und sich gleich unsicher überfordert zu finden.
Hatte frau das Studienfach wirklich richtig gewählt?
War frau dem wirklich gewachsen?
Wenn nicht, wäre dies doch eine persönliche Blamage, eben eine solche für die Emanzipation – oder war dies wiederum ein Fehlschluß?
Würden nun endgültig alle anderen erkennen, wie doof frau eigentlich war?
Oder bekam frau es doch irgendwie halbwegs auf die Reihe und überraschte damit sich selbst noch viel mehr als andere?
Selbstzweifel gleich zu Beginn des Studiums?
Ging es anderen auch so?
Jedoch geradezu mit einer Frage diesbezüglich sich selbst gleich offenbaren?
Ouuu, das geht doch nicht!
Und wie sie Zuhause gucken würden, wenn man geknickt angeschlichen käme!
Versagen demzufolge rein gar keine Option. Also doch zusammenreißen, es irgendwie geregelt kriegen, muß doch zu schaffen sein. Im Grunde gucken die anderen in der Vorlesung auch nicht schlauer. Nunja, eventuell doch diese oder jener, dennoch sicherlich bloß einzelne.
Waren die anderen bloß locker drauf, weil es für diese einfach, im Fachjargon trivial war oder waren sie bereits abgehängt oder noch einfach sorglos noch ohne Erfolgskontrolle?
Marie hatte die junge Dame diese Woche schon zweimal gesehen, was aufgrund der vollen Mensa einerseits nicht sonderlich wahrscheinlich war, andererseits war ihre Tischgenossin schon irgendwie auffällig. Sie hatte eine wilde, rotblonde Haarpracht, welche irgendwie ungebändigt, lang und lockig ihr Eigenleben führte, kaum eingeschränkt durch ein Bändchen, mit welchem das lange Haar teilweise neckisch hochgesteckt war, wobei sich einige Strähnen ohnehin dieser Einschränkung erfolgreich entzogen hatten. So aus der Nähe waren jetzt auch reichlich Sommersprossen erkennbar. Bis dahin war ihr Aussehen schon etwas stereotyp, aber doch irgendwie auch ein schöner, etwas drolliger Anblick. Und dieser Eindruck steigerte sich ja noch, diese junge Dame trug einen weiten, dicken, selbstgestrickten, abstrakt bunten Pullover, welcher jedenfalls zusammen mit ihrer rotblonden Haarpracht durchaus auf- und aus dem Rahmen fiel. Ihre vermutlich ebenfalls selbst gefertigte Hose aus bunten Flicken fiel dabei nicht weniger aus dem Rahmen als ihr lustig-bunter Pullover, all dies harmonierte auf jeden Fall, Marie hätte lediglich an der Hose noch Schellen sowie Glöckchen erwartet, wo sich allerdings nur an einigen Flicken einige Fransen keck in die Gegend reckten. Marie hätte irgendwie auch eine Narrenkappe mitnichten verblüfft, diese schien allerdings ebenfalls zu fehlen, was zusammen mit den fehlenden Schellen und Glöckchen immerhin vermuten ließ, daß sie es eigentlich keineswegs mit einer ausgewiesenen Närrin zu tun hatte, sondern doch eher mit einer sehr bunten Persönlichkeit, welche dieses durchaus auch gleich offensiv nach außen zu zeigen wagte. Nun, eventuell war ihr dies auch gar nicht bewußt oder komplett die Außenwirkung komplett egal, vielleicht wirbelte sie einfach im eigenen Universum.
Wenn auch in ganz anderer Weise als Marie zeigte sich ihre Tischgenossin damit ziemlich resistent gegenüber den faden Verlockungen der Mode-Industrie sowie der blödsinnigen Reklame, fiel deshalb schon auf, weil sie sich dem Mode-Diktat offenbar gänzlich verweigerte, wie auch dem üblichen Schönheitsideal, welches doch irgendeine Schminke und aufwendige Frisur, exponierende Büstenhalter sowie enge Kleidung vorsehen würde. Derlei kratzte ihre Tischgenossin offenbar gar nicht, vermutlich ebensowenig wie die Wolle ihres weiten Pullovers. Und Marie fand gleich, diese auffällige Erscheinung brauchte auch gar keine Unterstützung durch die Mode- und Kosmetik-Industrie. Vielleicht nicht so nach dem stereotypen Schönheits-Ideal, jedoch besonders in ihrer ganz individuellen Erscheinung war sie schon sehr bemerkenswert hübsch, keine Frage. Sie verstand es allerdings irgendwie, das nicht sonderlich auffallen zu lassen. Beziehungsweise ihre komplette Anmutung lenkte davon nahezu perfekt ab, sicherlich keineswegs absichtlich. Allein ihr Auftreten, Kleidung, Verhalten spielten für flüchtige Betrachter leicht über den Zauber ihrer Erscheinung hinweg. Dieser Kontrast, diese unabsichtlich Tarnung waren Marie gleich ganz sympathisch, denn das überzogen künstlich Aufgedonnerte fand sie schon etwas widerlich bis abstoßend. Da war dies schon eine interessante Alternative, welche einfach mit Spaß zu erleben war.
Mehr noch als diese auffälligen Merkmale war Marie bei den früheren Sichtungen auch schon die unruhige Art aufgefallen, sehr lebendig, aber eigentlich nicht unelegant, vielleicht eher eine Mischung aus ungelenk und unbändig, derzeit gleichfalls etwas nervös bis zappelig. Die hübsche Stirn hatte ihr Gegenüber kraus gezogen, eine Hand wischte nur so von einem Blatt zum nächsten, ihre Augen folgten der Richtung, eine Konzentration auf eins schien da nicht möglich. Ihr Essen wiederum, in ihrem Falle das Chili con Carne, schien zwar nicht gänzlich, jedoch doch ziemlich vergessen zu sein. Sie saß dabei irgendwie schräg und ebenso ein wenig kindisch auf ihrem Stuhl, als könne sie sich nicht entscheiden, wohin sie gehöre, ja als oszilliere ihre Aufmerksamkeit zwischen all den Reizen, welche sie selbst auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Dies Schauspiel war gleichfalls ziemlich unterhaltsam, der Gesamteindruck eine Augenweide für die amüsierte, demgegenüber tiefenentspannte Betrachterin.
Denn bei Marie sah das dann schon ganz anders aus, in sich selbst ruhend, ruhig sowie konzentriert hatte sie sich gerade hingesetzt, trug wie immer bequeme, einfarbig dunkle Kleidung, passend auch zum dunklen, langen, offen getragenen Haar, welches ordentlich gekämmt keinen Moment gewagt hätte, irgendwie unbändig zu erscheinen. Marie konzentrierte sich auf ihr Essen und auf nichts sonst – einmal abgesehen von ihrer Tischgenossin. All dies gehörte ganz zu ihr, elegante, effiziente Bewegungen, gerade, aufrechte Haltung, Organisation, Selbstdisziplin, Ruhe in sich selbst und sorgfältig beobachten, reflektieren, einschätzen, was gerade um sie herum vorgeht, bei Bedarf agieren, wenn notwendig überdies reagieren, jedoch alles überlegt sowie koordiniert, alles zu seiner Zeit und effizient und durchdacht. Ihre Auffälligkeit lag in der Reduktion auf das Hier und Jetzt, in der Bestimmtheit ihrer aktuellen Position in der Raumzeit, im eigenen Sein.
Obwohl die Mensa voll war, hätte Marie gut schon noch einen anderen Platz finden können, aber wo dieser eigenartig bunte Vogel schon ihre Aufmerksamkeit geweckt hatte, hatte sie heute den günstigen Moment genutzt und sich einmal herangemacht. Der Kontrast zwischen ihnen beiden zog sie an, amüsierte sie gleichfalls ein wenig. Schon jetzt bereitete es ihr etwas Kurzweil, das munter-chaotische Treiben zu beobachten. Gleich beim ersten Mal, als sie diese Studentin gesehen hatte, fand sie sie ganz spannend und jedenfalls lohnenswert als Ziel weiterer Beobachtung sowie Überlegung, was da in dem hübschen Köpfchen wohl vorgehen mochte. Oh, das war sowie ihr Pläsir, zunächst zu spekulieren, was in den Köpfen anderer Menschen vor sich geht. Das andere Pläsir bestand für sie ferner darin, psychisch in einige willige Köpfe einzudringen, in dem dortigen Wirrwarr zu forschen und zu stochern, ebenso zur Kurzweil wie zur persönlichen Erkenntnis über die Abgründe menschlichen Seins wie Denkens. Dabei finden sich immer wieder erhebliche Überraschungen sowie Verblüffungen, welche die Mühe wert sind.
Aber vielleicht war für Marie ebenso interessant, daß diese Person trotz ihrer Auffälligkeit allein saß, von der Körperhaltung auch eher nicht den Eindruck machte, als erwarte sie Gesellschaft. Diesr Paradiesvogel schien Einzelgängerin zu sein, vielleicht auch gerade aufgrund dieser individuellen Kleidung, dem hektischen Verhalten, der ganzen Erscheinung ihrer Person, bei welcher durchschnittliche Menschen eher distanziert und vorsichtig reagieren würden, gelegentlich jedoch bei entsprechender Neigung zur Boshaftigkeit vielleicht auch gleich ein potentielles Opfer für irgendwelchen Schabernack sahen, das Narrenkostüm war ja quasi schon vorhanden, daher war es doch naheliegend, Blödsinn, Verwirrung sowie Spektakel zu erwarten, eine Störung der eigenen Bahnen, insbesondere dem wohlgeordneten Kosmos aus Konsum, Reklame und Konvention, bei welchem man besser mitnichten derart aus dem Rahmen fiel, um dabei zu sein, akzeptiert zu werden, en vogue zu sein.
Marie wußte nicht genau, was sie erwartet hatte, aber weil ihr Gegenüber nicht einmal aufgeschaut hatte, war sie sich nun auch keineswegs so sicher, wie sie eine angestrebte kleine Plauderei anfangen könnte. Sie hoffte ja hier auf Verblüffung, etwas Neues, Überraschendes, das Erlebnis eines weniger langweiligen Menschen als all jene anderen, aber offenbar hatte ihr Gegenüber mit sich selbst genug zu tun, vielleicht war da bereits genug Überraschung sowie Verblüffung zugegen, als daß diese wunderliche junge Dame geneigt war, sich zusätzlich auch noch mit anderen Menschen auseinanderzusetzen.
Marie wollte es allerdings doch ganz gerne versuchen, in diesen Kosmos der Unordnung vorzudringen sowie etwas Konversation treiben, welche hoffentlich ganz lustig, wenigstens kurzweilig werden konnte. Frisch gewagt ist halb gewonnen, ist leicht gesagt, aber in der Praxis mußte sie ja irgendwas Belangloses finden, um ins Gespräch zu kommen.
Hätte sie sich derlei nicht eigentlich vorher überlegen sollen?
Hier ließ ihre sonstige gute Organisation etwas zu wünschen übrig, aber auch sie verstand andere Menschen im Grunde schlecht, daher war es ebenso für sie immer ein Abenteuer herauszufinden, wie es gehen konnte.
Was also nun sagen?
Und war das wirklich wichtig?
Marie sann weiter nach, zögerte noch, ließ weiter ihren Blick schweifen:
Nun ja, dieser kleine Paradiesvogel sah aber auch zu köstlich aus. Bei genauerer Betrachtung schien das Haar stellenweise auch verschiedene Töne von rotblond aufzuweisen, machte aber keinesfalls einen irgendwie getönten oder gefärbten Eindruck – oder lag die Farbnuancierung nur an Licht und Schatten, an einer Durchleuchtung, wo das Haar aufgrund der Lockenpracht und der wilden Anordnung mehr Licht durchließ als an anderen Stellen?
Marie war fasziniert.
Marie versuchte es ganz locker: „Dein Chili wird noch kalt …“
Wirklich, nun blickte die junge Dame auf und zuckte sichtlich kurz zusammen, als sie nun offenbar bewußt und direkt auf Marie schaute, ihre dunkle Art offenbar gleich erfaßte – oder war es etwas anderes?
Sie erwiderte unsicher schluckend: „Oh … … oh … ja, ja, ich sollte etwas essen … meine Sachen, Aufzeichnungen, die Vorlesungen, diese Übungszettel, ich muß mich drum kümmern, muß fertig werden …“
Marie konnte nun auch ihre Augen kurz aus der Nähe genauer betrachten, eine undefinierbare Farbe oder eher Farbmischung vielleicht grün, grau, blau, irgendetwas von allem oder eine Mischung davon.
Marie lächelte: „Erstes Semester, hmm?
Erste Übungszettel, nicht wahr?
Großes Drama, was?
Ist doch erst Donnerstag, die mußt du doch bestimmt erst nächste Woche abgeben!“
Ihr Gegenüber schluckte erneut: „Ja schon, aber ich wollte gucken, was ich machen, schaffen muß. Es ist gerade alles ziemlich eindrucksvoll und neu. Ich … ich kann mich nicht so gut länger auf eine Sache konzentrieren, meine Aufmerksamkeit springt immer ziemlich schnell.“
Marie nickte: „Das dachte ich mir schon. Aber du wirst schneller und besser fertig, wenn du eins nach dem anderen machst, einen Schritt nach dem anderen, ganz ruhig und gelassen.“
Ihr Gegenüber hätte ihr gerne zugestimmt: „Schon, aber das habe ich noch nie hinbekommen. In der Schule schon galt ich immer als Zappelsuse, Hampelmädchen und Störenfriedin, ich bekomme das einfach nicht hin mit der Konzentration auf eine Angelegenheit und so.“
Marie nickte erneut: „Hmm, ja, ich sehe das Problem. Na, für jetzt könntest du es doch erst einmal mit zwei Sachen auf einmal probieren, dem Essen und ein wenig Plauderei.
Übrigens, ich bin Marie.
In gewisser Weise habe ich Anfang Oktober auch etwas Neues angefangen; nachdem ich meinen Master-Abschluß gemacht habe, habe ich nun einen Vertrag als wissenschaftliche Mitarbeiterin unterschrieben und habe mit Forschung begonnen, um dann hoffentlich eine Promotion hinzubekommen, also gleichfalls wieder alles neu und aufregend, da haben wir quasi etwas gemeinsam!“
Ihr Gegenüber lächelte scheu und stellte sich ebenfalls vor: „Ich heiße Inken.“
Inken machte einen beeindruckten Gesichtsausdruck und fügte hinzu, während ihre Finger noch immer sowie etwas zitternd durch ihre Papiere fuhren und die Augen schnell zwischen verschiedenen Aufmerksamkeitspunkten wechselten, zu denen nun immerhin auch das Chili und Marie gehörten: „Oh, so weit schon; wenn ich mein Studium mal jemals bis zum Abschluß schaffe. Zum Glück verstehe ich meist ziemlich schnell, obwohl ich oft abgelenkt bin, zusammen reichte diese Kombination bislang geradeso, um durchzukommen, aber ob dies auch für ein Studium reicht?
Ich bin mir unsicher geworden.
Ist schon alles sehr eindrucksvoll hier an der Uni!“
Marie ließ eine kleine Pause, bevor sie vorschlug: „Nun mach doch einfach erst einmal deine Aufzeichnungen zu, dann setzt du dich gerade vor dein Essen und genießt einfach mal, dies Chili ist hier in der Mensa wirklich gut, beide Sorten sogar, sowohl con als auch sin. Kannst auch dabei deine Augen schließen und dies allgegenwärtige Gemurmel der Mensa ausblenden.“
Inken nickte einverstanden und folgte, legte ihre Sachen zusammen, wobei ihr Marie gar half, bis alles ordentlich sowie akkurat gestapelt war, mit einem komplett leeren Einband nach oben. Inken hatte sich wirklich ordentlich hingesetzt, nahm gar Maß an Maries Haltung und widmete sich dem nun ebenfalls samt Tablett akkurat ausgerichteten Essen. Sie aß und hatte tatsächlich ihre Augen geschlossen, meinte alsdann: „Du hast Recht, es ist wirklich gut. Ich habe dies gar nicht richtig mitbekommen, auch der Duft des frischen Fladenbrots – gut!“
Marie schmunzelte, war bereits mit ihrem Essen beinahe fertig, dieser Erstkontakt klappte irgendwie ganz gut mit Inken. Trotz des Kontrastes, all der Unterschiede spürte sie, beide hatten irgendwie einen Draht zueinander, irgendeine Verbindung war da und es war spannend, dem weiter nachzugehen.
Auf Maries Nachfrage hin erzählte Inken ein bißchen was über sich. Sie kam vom Land, hatte dort Eltern, Großeltern sowie eine Urgroßmutter. Hier hatte sie ein Zimmer in einem der Studentenwohnheime, was ihre Eltern irgendwie kompetent und frühzeitig organisiert hatten, was ja nicht einmal so einfach ist, denn es suchen ja immer viele Studenten nach günstigen Unterkünften in der Stadt. Inken erzählte auch kurz über die Vorkurse sowie den Semesteranfang und bekannte sich auch ein wenig zu ihrer Scheu vor all dem Neuen, den vielen Eindrücken, welche da auf sie einstürmten. An die Rezeption vieler Eindrücke war sie aufgrund ihres unsteten Wesens an sich gewohnt, doch dies war nun noch einmal eine andere Nummer für sie, weg von Zuhause, von der gewohnten Umgebung, ratzfatz wirklich alles anders bis auf ihre Kleidung, ihr Konterfei im Spiegel.
Alle Erstsemester werden ja auch immer von etwas älteren Studenten betreut, so gehörte auch Inken zu einer dieser Gruppen, es war ihr allerdings bislang mitnichten gelungen, irgendeine Freundschaft zu schließen. Marie riet ihr daraufhin immerhin dringend, den Anschluß nicht zu verlieren, denn es sei ja oft nützlich, in der Gruppe die Bearbeitung der Übungszettel zu vergleichen und sich auszutauschen, zu fachsimpeln sowie manchmal auch einfach nur entspannt zu plaudern. Auch wenn man die eigenen Lösungen anderen erkläre, helfe das enorm, mit der Thematik vertrauter zu werden sowie im Umgang mit anderen Studenten oder allgemein Personen an der Universität sicherer. Inken verstand dies wohl, hatte allerdings offenbar doch einige Probleme, sich auf solch eine Gruppe näher einzulassen – und sie befürchtete unterdessen gleich wieder, gerade wegen ihrer Lebendigkeit und Sprunghaftigkeit sofort, wie bereits zuvor in der Schule, zur Außenseiterin, zum Problemfall zu werden.
Über sich erzählte Marie nur sehr knapp, sie habe keine Verwandten, sei aus dem Heim zum Studieren in die Stadt gekommen.
Sie unterhielten sich noch ein wenig weiter und Marie riet Inken dann überdies, sich dann eben nach der Uni hinzusetzen und einen Übungszettel nach dem anderen abzuarbeiten, eine Aufgabe nach der anderen, immer exakt eine Sache auf einmal zu machen, alles andere beiseite zu legen und systematisch vorzugehen, um sich nicht abzulenken und zu verzetteln, das etwas sprunghafte Verhalten durch gezielte Konzentration auf kleine Aufgaben allmählich zu kontrollieren, die nacheinander abzuarbeiten seien, das sei viel effektiver als zu versuchen, alles auf einmal zu erledigen und dabei den Überblick zu verlieren.
Inken wollte dies gerne versuchen, den Tip umsetzen. Also immer alles bis auf eine Aufgabe wegräumen, sonst eine leere Arbeitsfläche, bis das Problem gelöst sei. Inkens Hände zitterten bei dem Gedanken an eine solche Herausforderung.
Inken hatte dann auch bald noch eine Vorlesung, deshalb gingen beide schon zur Geschirr-Rückgabe, als Marie sie fragte, ob oder wann sie morgen wieder in der Mensa sei. In der Folge verabredeten beide sich für den nächsten Tag zum Mittag, zu welchem Anlaß Inken dann schon einmal berichten sollte, wie gut oder schlecht alles geklappt habe mit dem systematischen Vorgehen. Inken zockelte sodann eilig los Richtung Hauptgebäude der Universität und Marie schaute ihr lächelnd nach, denn lustig sah ihre neue Bekanntschaft schon irgendwie aus, Kleidung, Bewegungen alles auffällig, hektisch, ungewohnt und doch gleichfalls fremd, spannend, aufregend frisch sowie lebendig.
Inkens Kommentar
Also, Marie, natürlich kannte ich ihren Namen vor unserem ersten Gespräch noch nicht, war mir schon vorher in der Woche in der Mensa aufgefallen. Dunkel gekleidet, mit dunklen Haaren sowie mit ihrer Ruhe, ihren eleganten Bewegungen beeindruckte sie einfach durch ihre Präsenz. Sie wirkte jedoch gleichfalls etwas unheimlich, schon aus der Ferne. Ich meine, sie saß dann auch allein und um sie herum schien eine unsichtbare Aura zu sein, an der alles abprallte und wo niemand gewagt hätte, in diese, ihre Sphäre einzudringen. Der Gesamteindruck war in jeder Hinsicht beeindruckend, eigentlich sogar provokant, wobei diese Aura beinhaltete, diese innere Provokation Marie gegenüber besser nicht nach außen zu tragen, um Unheil zu vermeiden. Es war ja nicht so, daß sie nun in der ganzen Mensa Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte, von weiter weg war sie im Gegenteil nahezu unsichtbar und verschwand in der Menge der Studenten unauffällig wie unter einer Tarnkappe. Kam ein Beobachter aber nah genug in diese Art von Aura oder psychologischer Wechselwirkungszone, zeigte sich diese Separation, fast wie ein psychologischer Ereignishorizont. Außerhalb gibt es bei Annäherung eine Verzerrung, einen Linseneffekt, welcher um sie herum die Wege krümmt. Bei zu großer Annäherung jedoch gibt es bizarre Effekte, welche dazu führen, daß alle aktiv versuchen, den Abstand zu wahren. Dies Phänomen hat mich fasziniert, aber auch ein wenig beunruhigt. Aufgrund meiner eingeschränkten Aufmerksamkeitsspanne nahm ich dies allerdings nur flüchtig wahr. Vielleicht wurde dies mir indes auch bloß bewußt, weil ja gleichzeitig meine Aufmerksamkeit ständig von einem Fokus zum nächsten sprang, es mir also gar nicht gegeben war, dem Linseneffekt einer solchen psychologischen Verzerrung zu folgen, damit die Tarnkappe mir gegenüber funktioniert hätte. Sie tat es bloß eben bei diesen ersten Sichtungen dadurch, daß mein Fokus ja sowieso gleich auf etwas anderes umsprang, sich lediglich im Hinterkopf eine flüchtige Erinnerung einlagerte, gar nicht einmal so bewußt.
Ja, sie wirkte schon etwas unheimlich, beinahe also wie ein endloser Abgrund, dem man besser nicht zu nahe kommt, der einen aber doch gleichzeitig irgendwie anzieht und neugierig macht – mich jedenfalls, aber ich hätte nie gewagt, derlei von mir aus näher zu ergründen. Sie wirkte wie ein finsteres Rätsel, eine Konkretion kribbelnder Düsternis, gern hätte meine Neugier daran geknobelt, von sich aus gewagt allerdings hätte ich dies doch keinesfalls.
Nun bin ich ja keineswegs mutig oder heldenhaft, im Gegenteil wohl eher ein kleiner Feigling im tiefsten meines Inneren. Trotzdem war ich fasziniert, vielleicht auch etwas in den Bann geschlagen, wie das Kaninchen vor der züngelnden Schlange.
Ich war dann ja sowieso stark mit meinen eigenen Angelegenheiten und Problemen beschäftigt. Mit meinen Eltern hatte ich im September ein paar meiner Sachen in mein neues Zimmer im Studentenwohnheim gebracht. Es war irgendwie klar, daß ich nach dem Abitur studieren wollte und ebenso, daß ich das Abitur wohl ohne Probleme schaffen würde. Numerus Clausus war zum Glück in meinem Studienfach nie angelegt, so konnte geplant und vorbereitet werden und meine Eltern hatten es wieder einmal irgendwie hinbekommen, alle Hindernisse aus dem Weg geräumt und so hatte ich mein erstes eigenes Zimmer weg von Zuhause, eigene Wohnung wäre wohl zuviel gesagt. Es war uns von Anfang an klar, eine Wohngemeinschaft mit anderen Studenten käme für mich nicht in Frage, dafür wäre ich wohl denkbar ungeeignet. Meine Unruhe hätte doch bloß alles aufgemischt. Bereits eine Vorstellung, eine Bewerbung bei anderen Mitbewohnern wäre eine Herausforderung gewesen. Von meinen ehemaligen Mitschülern studierten wohl ebenfalls einige, aber natürlich keineswegs alle in derselben Stadt. Und mit jenen, von denen ich zufällig mitbekommen hatte, daß sie gleichfalls hier studieren wollten, hatte ich keinen näheren Kontakt, daher hätte ich diese sicherlich auch nie gefragt, wie diese untergebracht waren oder wonach die suchten.
Die Kosten sollten ja auch im Rahmen bleiben, eine eigene Wohnung wäre also auch etwas viel verlangt gewesen, eine solche wäre auch gar nicht mein Begehr gewesen, somit blieb letztlich eine Einzimmerwohnung in einem Studentenwohnheim, wobei diese natürlich begehrt und nicht einfach zu bekommen sind. Ich weiß nicht wie, aber meine Eltern haben es irgendwie hinbekommen. Sie kennen einige Leute und telephonieren bei Bedarf viel, zudem recht geschickt, teils auch um die Ecke über Seilschaften, ich blicke da gar nicht durch …
Ende September saß ich schließlich irgendwann allein auf meinem Bett in meinem neuen Zimmer und mir wurde schlagartig klar, es würde nun alles anders sein. Gut, in der Schule war ich schon immer irgendwie Außenseiterin und Sonderling gewesen, als Einzelkind war ich zudem nicht besonders an Gesellschaft gewöhnt, außer natürlich die meiner Großeltern und meiner Urgroßmutter, meine Eltern hatten immer viel zu tun, aber die waren natürlich auch da.
Hier an der Uni in der Stadt mußte ich nun allein zurechtkommen und es war alles neu. Ohne meine Familie fühlte ich mich ferner plötzlich schon sehr allein. Die Vorkurse haben alsdann schon irgendwie gezeigt, daß Studieren anders ist als Schule. Einerseits kam mir das Selbständigere dabei gleich entgegen, andererseits rät einem auch niemand mehr, was nun wie zu tun sei, was dann jedenfalls bei mir schnell dazu führte, daß ich mich in allem verlor, alles gleichzeitig machen wollte, immer hin und her sprang, gar nicht vorankam. So kann es gehen. Im Grunde war das bereits vor Beginn die Prognose insbesondere meiner Eltern, die Mahnung meiner Großeltern, die Warnung meiner Urgroßmutter. Ach, wie Recht sie hatten. Eigentlich hatte ich es doch auch gewußt.
Doch wie hätte ich dieser Konfrontation mit der Selbständigkeit entgehen können?
Einfach auf Pause oder Rücklauf drücken geht beim eigenen Leben ja nicht. Zeit ist eine kuriose Koordinate unseres Universums. So im Kopf verzweigt und verästelt sich zwar der Moment in viele viele Einzeleindrücke, doch die Zeit läuft damit. Kognitiv interpretiert ist die Zeit die Verästelung der Möglichkeiten des eigenen Seins im Jetzt. Nun, genug mit Aphorismus oder Philosophie.
Oder taugt das schon ernsthaft als Aphorismus oder Binsenweisheit?
So heftig verästelt jedenfalls war das auch an jenem Donnerstag in der Mensa. Es gab so viele neue Eindrücke, die Vorlesungen, die ersten Übungszettel, für sich genommen alles machbar, ich bin ja keineswegs doof, nichtsdestotrotz saß ich nun da und hatte mich verloren zwischen all dem. An diese Erfahrung bin ich gewöhnt, keine Frage, dennoch schliddere ich da immer so rein oder eben auch von einem Zweig der Verästelung in den nächsten, wo ich mich wieder vertiefe und sich erneut alles verästelt, bis ich mich kurz darauf im Labyrinth all dieses Astwerkes der Möglichkeiten verirrt oder verfangen habe.
Ich erinnere mich noch, wie nervös ich war, wie alles sprang und wirbelte, wie mir bei all dem schon ganz schwindelig im Kopf wurde. Als Marie dann gefragt hatte, ob sie sich dazusetzen dürfte, habe ich gar nichts richtig registriert, wer überhaupt, war in meinem eigenen Labyrinth gefangen. Auch sonst hatten gelegentlich schon Leute gefragt, denn die Mensa war ziemlich voll. Von daher hat es mich erst einmal gar nicht interessiert, wer sich da unbedingt setzen wollte, sicherlich auch doch nicht extra zu mir, sondern nur, weil der Platz ziemlich knapp war, sonst machte man ja auch eher einen Bogen um mich, wenn sich das halbwegs machen ließ.
Als Marie daraufhin noch etwas gesagt hat und ich aufgeschaut habe, wäre mir vor Schreck beinahe das Herz stehengeblieben.
Da saß diese unheimliche, faszinierende Frau genau mir gegenüber, welche mir diese Woche schon aufgefallen war!
Ich war erst wie vor den Kopf geschlagen!
Ganz perplex!
Wieso setzte sie sich ausgerechnet zu mir?
Noch ein weiteres Rätsel für meinen ohnehin schon verwirrten Kopf!
Was würde passieren?
Aber wir waren ja in der Mensa unter hunderten von Menschen, was sollte schon groß passieren?
Nun, bei mir passierte jedenfalls allerhand, statt stehenzubleiben, entschloß sich mein Herz jedenfalls, sehr schnell weiterzuschlagen!
Es tat sich natürlich keineswegs wirklich ein Abgrund auf, aber diese Aura, diese Präsenz war plötzlich deutlich zu spüren. Ich war innerhalb ihres Bannkreises geraten, ohne mein Zutun. Sie hatte das entschieden, mit damit hineingezogen in diese kribbelnde Linse der Konkretion des Unheimlichen, des Bestimmt-Unbestimmten ihres Rätsels. Marie hatte offenbar wirklich klare Vorstellungen über meine Verirrung im eigenen Labyrinth, hatte ferner genau beobachtet und schnell erfaßt, daß ich mich irgendwie verloren hatte, daß alles in mir sich über tausend Eindrücke gleichzeitig zerstreute und zerfloß, daß ich etwas Orientierung gut brauchen konnte, um nicht gleich komplett durchzudrehen und irre wie ein Pingpong mit Flummi drin durch die Gegend zu springen.
Marie sprach mit mir, ganz ruhig und sanft. Das tat mir sehr gut. Sie war plötzlich gar nicht mehr so unheimlich, im Gegenteil, ihre Art wirkte sehr beruhigend. Wer im Licht stets geblendet ist durch all diese Eindrücke, dem ist es ein Labsal, auf die Dunkelheit fokussiert zu werden. Es war, als hätte sie irgendwie die Zeit im Griff und ließ sie ruhig und gleichmäßig fließen, kein Labyrinth mehr, kein Sumpf, keine Flockung oder auch Zerstreuung des Momentes mehr in tausende von Möglichkeiten, Eindrücken, Entscheidungen. Marie strukturierte und fokussierte – und zwar mich einerseits auf das Essen, andererseits auf sie!
Das tat mir sehr gut.
Es ordnete sich alles ein wenig und da waren nicht mehr tausende von Eindrücken auf einmal, welche um Aufmerksamkeit konkurrierten. Marie kanalisierte das irgendwie auf sich sowie auf die eigentlich einfache Aufgabe zu essen.
Wie hatte sie das geschafft?
Immerhin hatten da schon ein paar Leute an mir herumprobiert, meine Hyperaktivität zu fokussieren, mir Konzentration näherzubringen – nahezu ohne Effekt.
Marie hingegen setzte sich hin, sprach ein paar Worte mit mir und das das Labyrinth schauderte, schickerte zusammen zu einem geraden Weg, einem Blick – faszinierend!
Das Rauschen drumherum war urplötzlich ausgeblendet, alles wurde klar, reduziert, wohltuend ruhig.
Soviel dazu.
Die Beschreibung oben von mir:
Phantasievoll bunt und alternativ sowie vom Lande kann ich sicher keineswegs abstreiten. Zur Närrin hatte ich mich ebenfalls schon oft gemacht, war mir jedoch in der Tat gar nicht so klar, daß man das irgendwie schon an der Kleidung festmachen kann.
Was allerdings meine Augen anbelangt – na, so außergewöhnlich sind die doch eigentlich gar nicht, habe zwei davon, die gar ohne Brille auskommen – und das Farbspiel meiner Iris ist jedenfalls aus meiner Sicht im Spiegel eher unspektakulär, bei beiden Augen sehr ähnlich, aber gut, wenn es Marie gefällt – umso besser. Ich gucke damit ja eher raus aus der Pupille und nicht drauf, mag also ohnehin sein, daß ich das deshalb nicht so gut beurteilen kann.
Mit den Haaren ist es wirklich etwas seltsam, wurde mir gelegentlich schon zuvor berichtet. Als kleines Kind war ich wohl deutlich blonder. Ich meine zudem, im Sommer, wenn ich mich viel in der Sonne aufgehalten habe, wird es tatsächlich etwas heller, im Winter gibt es hingegen weniger Licht und wenigstens das nachgewachsene Haar ist dunkler.
Bleicht das bei Sonnenschein aus?
Keine Ahnung, ist allerdings schon so, bei genauer Betrachtung lassen sich leicht verschiedene Rottöne entdecken, Marie ist eine sehr genaue Beobachterin …
Maries Kommentar
Warum ich Inken an jenem Donnerstag angesprochen hatte – schwer zu sagen. Sie war mir schon die Tage zuvor aufgefallen, unübersehbar, irgendwie eine Assoziation zwischen Pippi Langstrumpf, Pumuckl, Wickie sowie Till Eulenspiegel, ein richtiger Wildfang nur eben ohne Fang, was man schon berücksichtigen sollte. Sie fing sich nicht, wirbelte, stürmte, hibbelte, sprang und zuckelte. Ich dachte gar nicht, daß man so aufgedreht, hektisch, chaotisch sein kann. Derlei kann doch niemand über mehrere Stunden durchhalten, hätte ich zuvor vermutet. Gut, Inken schaffte das irgendwie von selbst sowie spielend, mußte sich da gar keine Mühe geben, im Gegenteil sozusagen, das Leben, das Chaos sprudelte nur so aus ihr heraus. Dieser Kontrast zu meiner Persönlichkeit wiederum faszinierte mich sofort. Nun sind sehr viele Leute deutlich anders drauf als ich, gewiß. Inken war irgendwie auf der Skala ziemlich am anderen Ende verglichen mit meinem Ende der Verhaltensskala. Nicht daß ich bei Bedarf nicht auch sehr wild werden kann, aber wohl nie so chaotisch und dabei doch so liebenswert hilflos und harmlos, wie Inken nun einmal wirkte. Werde ich wild, folgt das einen genauen Plan, einem Ziel, einer Absicht, einer Entscheidung. Inken schwebt stets über den Möglichkeiten und Eventualitäten, sie stippt mal hier, mal da im Chaos des Lebens. Ich pflüge meinen Weg hindurch.
Wenn man mich zwingt, wild zu werden, bin ich jedenfalls keineswegs mehr liebenswert, hilflos oder harmlos, dann gibt es wirklich Probleme – und zwar für die anderen, welche mich zu einem derartigen Verhalten nötigen. Bei Inken vermutete man das sicher nicht.
Gut, vermutlich schreckte ihre Art trotzdem viele andere Leute wirklich etwas ab. Wer irgendwie am Rande der Verhaltensskala angesiedelt ist, ist schlecht kompatibel mit dem großen Haufen weiter in der Mitte, welcher sich für normal hält. Wenn auch aus anderen Gründen, so waren wir doch beide offenbar irgendwie Einzelgängerinnen. Dabei hätte man eigentlich schon vermuten können, daß bei Inken ansonsten die Typen Schlange stehen müßten, um etwas von dieser Köstlichkeit zu erhaschen und zu vernaschen, aber derzeit war der Andrang offenbar noch überschaubar, vielleicht hatten auch ihre Kommilitonen einstweilen andere Sorgen, als gleich auf die Balz zu gehen. Aber vielleicht war ihr unruhiges, unstetes Verhalten auch für diese befremdlich und letztlich nicht so attraktiv – der Mann an sich ist vielleicht überdies vorsichtig bei der Annäherung an Frauen in dicken, selbstgestrickten Pullovern und flippigen Flickenhosen mit der Erscheinung eines hyperaktiven Hydranten. Wenn sowas hochgeht oder eskaliert, will Mann vielleicht nicht gerade danebenstehen oder dazugehören.
Mich jedenfalls schreckt so schnell nichts, mich zog es eher an, ähnlich wie die Motten vom Licht angezogen werden vielleicht. Sie sind die Schwärmer des Dunkels und streben zum Licht. So strebte ich nun zu Inken. Vielleicht erhoffte ich mir etwas mehr Belebung oder jedenfalls eine abwechslungsreiche Unterhaltung.
Im Grunde ist das natürlich falsch, ich hoffte schon auf mehr, hatte allerdings keine Ahnung, ob oder wie ich das anstellen sollte. Ich wollte sie in meinen Bann ziehen, sie für mich interessieren, so oder so, irgendwas könnte sich aus diesem Kontrast entwickeln, welchen ich zudem zu studieren erhoffte, was immer sich daraus für Erkenntnisse oder Folgen ergeben mochten. In meinen Bann gelockt könnte ich sie erziehen und mich gleichzeitig an ihrer Lebendigkeit laben, so dachte ich damals vielleicht, vielleicht sah ich aber auch schon noch mehr, etwas jenseits eigennütziger Bedürfnisse und abgründiger Neigungen. Der aufgespießte Schmetterling mag zwar noch bunt sein, allerdings hat er den Reiz der Lebendigkeit längst ausgehaucht. Als niemals diese Schönheit ersticken oder zerstäuben, wer sich dran erfreuen will.
Zu meinen Bedürfnissen oder Ideen sollte ich vielleicht etwas weiter ausholen. Spätestens nach meinem Abschluß hatte ich mich eigentlich dazu durchgerungen, es doch einmal mit einer ernsthaften Beziehung zu versuchen. Also habe ich mich dann irgendwann im September im Netz bei so einer Partnerbörse angemeldet, alles akkurat ausgefüllt, sogar ganz offen meine sadistische Neigung angegeben, mein Bedürfnis zu dominieren und den Ton anzugeben, also klare Sache von Anfang an. Ich hatte da primär Männer im Blick als Objekte meines Interesses.
Das ist dann natürlich so auch nicht ganz richtig. Während des Studiums habe ich ja immer wieder Selbstverteidigungskurse geleitet, kenne mich mit diversen Kampftechniken gut aus. Aufgrund meiner Entschlossenheit und meiner Art, unbedingt gewinnen zu wollen, habe ich dann von den anderen ja auch den Spitznamen Marie de Sade bekommen, also die Kombination aus meinem Vornamen und dem Namen jenes einschlägig bekannten Herren, wobei die Kampfkollegen nicht einmal wissen konnten, daß ich wirklich sadistische Neigungen habe, aber egal.
Jedenfalls ist da in einem Kurs im Sommer zuvor etwas passiert, was mich zunächst ziemlich verblüfft hat. Ein Mädchen, eine Kursteilnehmerin von knapp sechzehn Jahren hat mich irgendwie ziemlich fasziniert. Sie hat mich beinahe in den Wahnsinn getrieben, bei jedem Male, wo wir miteinander gekämpft haben, wo ich mit ihr gespielt habe, um ihr Erfolge zu gönnen, um sie dann letztlich doch niederzuringen – gut, aber mit der hätte ich ja nichts anfangen können, das wäre falsch gewesen. Und doch hat es mich fasziniert, die Nähe, ihre lebendige, hilflose Gegenwehr, wenn ich sie schon längst hatte, aber ebenso ihr Triumph, wenn ich ihr mal einen Erfolg gegönnt habe, ihr ganzes Wesen, ihr Verhalten, ja ihr Duft und ihre Zartheit, schon nicht mehr ganz Kind und doch noch nicht Frau, so frisch und ahnungslos, daß es mir überall kribbelte, daß ich sie haben müßte, daß sie ganz mein sein sollte, ich sie ganz führen wollte. Aber das wäre eben mitnichten korrekt gewesen, nicht mehr als die Führung als Kursleiterin war da in Ordnung, dann vielleicht nur Nuancen subtiler Bevorzugung, wenn man das so nennen kann, wenn ich mir bei ihr immer etwas mehr Zeit nahm als bei anderen und ich sie öfter als andere hernahm, um etwas vorzuführen.
Jedenfalls waren Aktivitäten mit Männern bei mir ja nie ganz unproblematisch. Männer habe ich immer fixiert sowie dominiert, damit da was laufen konnte und dabei habe ich mich doch immer zurückgezogen, bevor es für mich ernst wurde und ich mich hätte verlieren können. So kam eben der Gedanke auf, daß es mit einer Frau ja auch mal ganz reizvoll sein könnte und vielleicht andererseits auch nicht so spannungsgeladen mit der Notwendigkeit, starke Dominanz zu zeigen, um bedingungslos die Kontrolle zu behalten. Erfahrungen mit Frauen hatte ich ohnedies schon gehabt, allerdings ebenfalls keine regelrechte Beziehung, eher eben so unverbindlich herumprobieren, sich miteinander verlustigen ohne weiteren Tiefgang. Frau sucht den Kontakt, um Bedürfnisse zu befriedigen, nicht mehr und nicht weniger, eine faire Vereinbarung mit Spaß dabei.
Nun wollte ich es also mal mit Beziehung probieren. Deshalb hatte ich in der Partnerbörse jedenfalls einfach mal angegeben, daß ich ‚jemanden‘ suche. Gemeldet haben sich Männer oder in einem Falle wohl ein Mann, der sich als bisexuelle Frau ausgegeben hat, welche für sich und ihren Partner jemanden für Spielchen gesucht hatte, als es um ein Treffen ging, jedoch erst einmal den Mann vorschicken wollte, eben das übliche alberne Spielchen, um Frauen dieser Präferenz hereinzulegen. Einige Männer haben da echten Größenwahn und wollen unbedingt bekehren, bilden sich ein, mit ihrem Wesen alle einnehmen zu können, was schon deshalb lächerlich ist, weil es gerade bei denen doch überhaupt nicht funktioniert.
Trotz meiner Offenheit über meine Neigungen sowie Leidenschaften im Profil gab es rege Zuschriften in dieser Partnerbörse. Ich hatte sodann sogar auch mal wen getroffen, allerdings ohne konkretes Ergebnis. Die Kandidaten konnten nicht überzeugen, wobei es meist nicht viel Zeit brauchte, bis ich mich davon überzeugt hatte, daß diese Herren mitnichten als Gespiele für längere Zeit taugen würden. Bei den meisten hatte sich ein Treffen ohnehin schon bei der schriftlichen Konversation erübrigt, einige haben sich letztlich doch nicht getraut, einem persönlichen Treffen zuzustimmen, was teils auch daran gelegen haben mag, welche aufregende Spiele ich für solch ein Treffen andeutet habe. Das heißt schließlich nicht ohne Grund so, wenn ich mir schon die Zeit nehme, will ich beim Treffen den Kandidaten auch wirklich möglichst im Kern treffen. Was ist das mir, wenn sie bereits kneifen, wenn ich mal einfach so einen Vorschlag für den Ablauf ins Gespräch bringe. Gut – und ähnlich bei jenen, welche nicht gekniffen haben, war es dann letztlich für mich nicht so überzeugend prickelnd, daß ich da länger hätte weiterforschen wollen.
Weitergekommen war ich so also nicht mit der Idee einer Beziehung. Verzagt war ich deshalb noch lange nicht. Nicht jeder Versuch muß ja sofort gelingen. Scheitern bringt Erfahrung mit sich. Die Zeit hält neue Möglichkeiten für einen bereit.
Wozu also weiter grübeln über abgeschlossene Experimente?
Und dann fiel mir in der Mensa Inken ins Auge und ich war augenblicklich gefesselt sowie fasziniert. Zur gleichen Zeit hatte ich ja in dieser Partnerbörse immer noch Kandidaten auf Eignung geprüft, um jemanden zu finden, der oder die bereit ist, ganz mein zu sein.
So persönlich bei einer so jungen Studentin war das etwas ganz anderes. Sie wußte nichts über mich und ich konnte gar nicht davon ausgehen, daß sie sich auf mich einlassen würde. Würde ich ihr offenbaren, was so meine Neigungen und Verlustigungen waren, hätte sie das vermutlich gleich verschreckt, obwohl ich ja gar nichts vorhabe, was nicht dem Wunsch und Willen der behandelten Person entspricht.
Demzufolge galt es also ganz überraschend und ohne Vorlauf, das Interesse dieser jungen Studentin zu gewinnen – immerhin eine Herausforderung auch für mich. Darin habe ich nicht so direkt Erfahrung, ich ziehe keineswegs herum und reiße andere Menschen auf, weder wortwörtlich noch im übertragenen Sinne.
Aber wie sollte ich es anstellen, ihr Interesse zu wecken – und was wollte ich überhaupt genau von ihr?
Freundschaft oder doch mehr?
Ein Spielchen, ein Versuch?
Oder doch mehr?
Ich war mir ganz unsicher, was ich wollte und wie das laufen könnte. Unsicher indessen war ich mir ja eigentlich selten. Nicht daß ich auf alles eine Antwort hätte, im Gegenteil, weil mir klar ist, daß auch ich meist keine habe, schreite ich einfach mutig voran, in diesem Falle zauderte ich, was mich überraschte.
Ging es doch irgendwie um mehr?
Um etwas, was mehr Bedeutung für mich hätte?
Ich war sehr verblüfft über meine Verblüffung über mich selbst.
Irgendwie war ich dabei, mir selbst einen Streich zu spielen und was dabei noch lustiger war – das war mir irgendwie schon klar.
Vermutlich wäre die Auserkorene ja ohnehin nur an Männern interessiert und hatte gar einen solchen oder mehrere davon auf Vorrat bei Bedarf verfügbar. Es ist ja nicht so schwierig für eine attraktive, junge Frau, bei Bedarf einen passablen Mann aufzutreiben, um eben die aktuellen Bedürfnisse zu decken – Männer sind da irgendwie deutlich naiver, das bekommt die entschlossene Frau dann schon hin. Frauen sind komplizierter. Und dazu kommt ferner ja überdies noch, daß nur eine Minderheit homosexuell oder eben auch flexibel sein wird – oder wenn schon heterosexuell, dann vermutlich mitnichten gerade in einer Experimentierlaune, von daher also nicht so einfach.
Jemanden jetzt gleich verschrecken, indem ich sofort ein Angebot mache, schien mir unklug zu sein. Vielleicht ist Freundschaft ohnehin wichtiger. Sex wird oft überschätzt. Also an sich nicht, macht schon eine Menge Spaß. Verquickt man jedoch die Freundschaft damit, kommt es schnell zu Konflikten, es wird unübersichtlich, der Sex wird zum Klotz am Bein der Freundschaft, weil man sich uneins ist, was dieser bedeutet, wann und wie wer will oder auch nicht. Freundschaft ist daher lockerer, flexibler als die Verengung auf Sexualität. Die wiederum reizt gar sehr, besonders, wenn man jemanden sehr mag, wenn alles kribbelt bei Anwesenheit oder auch bloß in Gedanken an diese Person.
Also erst einmal schon etwas wagen, aber auch vorsichtig bleiben, das war die Devise. Die Evaluation der Möglichkeiten sollte ergebnisoffen durchgeführt werden. Immerhin ist sie nicht gleich vom Stuhl gekippt und war zur Konversation bereit. Das ließ mich hoffen, daß sich daraus schon noch etwas entwickeln könnte, was auch immer, mein Interesse jedenfalls war geweckt. Ich war sozusagen schon angefixt und hing locker am Haken, hielt es allerdings kaum für möglich, ausgerechnet in Inken auf eine geschickte Anglerin gestoßen zu sein, die mich angeln würde, statt umgekehrt, wobei mir kaum in den Sinn kam, daß es stattdessen komplizierter sein könnte, als daß eine Seite fischt und die andere gefischt sowie anschließend eingewickelt wird.
Zu meiner Beobachtungsgabe – gut, ich schaue schon genau, insbesondere natürlich, was mich besonders interessiert, was mich angeht oder bewegt. Dahingehend hatte Inken gewiß schon bei diesem ersten direkten Aufeinandertreffen eingehendere Betrachtung verdient. Nun im Rückblick betrachtet fällt mir ja auch gleich ein, was Christian Morgenstern einmal gesagt hat: Schön ist eigentlich alles, was man mit Liebe betrachtet.
Wobei Inken natürlich auch jenseits solcher Generalisierungen einen erheblichen Reiz hat, welcher leicht nachvollziehbar ist, wenn sich die Gelegenheit ergibt, ihre anmutige Persönlichkeit persönlich zu erleben. Aber genug eingeschmeichelt, weiter geht es im Text …
Liebe und Leidenschaft
Abends war Marie beim Treffen der Libertines.
Die Libertines sind eine lockere Gruppen von Individualisten, keineswegs gerade ein Geheimbund, agieren aber schon vorsichtig im Verborgenen für sich und nicht öffentlich. Neben Konversation und Philosophie geht es bei diesen hinsichtlich sadistischer sowie masochistischer Neigungen und Bedürfnisse überdies regelmäßig handfester zur Sache, auch in der Hinsicht ist es eine ziemlich schlagkräftige Gruppe, wo indes mal ordentlich hingelangt wird, wo es ferner mal herzhaft knallt und spritzt. Das ist eine Gemeinschaft, welche zu ihren Leidenschaften steht, diese auslebt, sich daran gebunden fühlt und ausschlaggebend daran hängt. Da wird keinesfalls ein jeder mit Samthandschuhen angefaßt, da ist auch mal was los, da geht es munter rund, allerdings immer mit viel Spaß dabei. Die Behandlung ist jeweils peinlich bis eindringlich und geht auch mal unter die Haut, zudem bis aufs Blut. Wie intensiv und einfühlsam da auf besondere Bedürfnisse eingegangen wird, kann auch schon einmal zu Tränen rühren oder verzückte Schreie sowie entrückte Seufzer oder inbrünstiges Stöhnen entlocken, weshalb diese Gruppe dabei lieber für sich bleibt und nicht direkt etwas nach außen dringen läßt.
Marie hatte in dieser Gruppe schnell eine starke Position eingenommen, einfach weil sie mit ihrer Präsenz, jedoch ebenso durch Argumentation und mit ihrem umsichtigen Verhalten gut dazu geeignet war, weitreichende Kontrolle zu übernehmen, wenn es auch andere waren, welche die Treffen an sich organisierten und überdies finanzierten. Natürlich lassen sich derartige Individualisten mit derartigen Leidenschaften keineswegs wirklich kontrollieren, es ist immer ein subtiles Spiel von Dominanz, Unterordnung, Anleitung, symbolischen Gesten sowie einem bestimmten Ton bei der Unterbreitung eines Vorschlages, welcher dazu führt, ganz von selbst auf den Vorschlag eingehen zu wollen.
Vermutlich war Marie es selbst gewesen, wobei man das nicht so genau sagen kann, denn die Diskussionen sind immer sehr lebendig, welche nach der Besprechung aktueller Themen die Diskussion in eine bestimmte Richtung lenkte, so ging es daraufhin insbesondere bald darum, was die Liebe sei und was es damit auf sich habe. Theoretische Konzepte und auch die Biologie waren natürlich weit bekannt, allein Marie und auch einigen anderen war das vom Erleben her nicht so richtig vertraut.
Waren das nun eher romantische, alberne Vorstellungen von profanen Sachverhalten oder steckte doch mehr dahinter?
In dieser Runde setzte man schon eher auf Kontrolle, Dominanz, Unterordnung sowie klare Ansagen, um den Leidenschaften Tribut zu zollen. Dennoch war man recht begeistert dabei, verschiedene Ideen und Anekdoten zum Thema zum besten zu geben, damit folglich ebenso diesen Teil des Abends unterhaltsam zu gestalten.
Die biologischen Aspekte des Themas waren natürlich ziemlich schnell abgehandelt. Wie sich bei Hermaphroditen oder Zwittern als Tierarten zeigt, artet das Sexualverhalten schnell in einen Kampf aus, wer nun wen begattet und wer sich nachher um den Nachwuchs kümmern muß, dafür Energie Aufwand treibt, bis sich dieser entwickelt hat, selbständig seinen Bahnen ziehen kann. Demgegenüber geht es bei Pflanzen durchaus deutlich flexibler zu und dort findet man auch eher Möglichkeiten, selbst Ableger zu bilden oder sich auch selbst zu befruchten, während dies bei Tieren, insbesondere den komplexeren Arten selten oder jedenfalls keineswegs regelmäßig vorkommt. So sind es heute überwiegend zweigeschlechtliche Tierarten, welche einen evolutionären Vorteil haben, weil schon einmal der Streit wegfällt und Rollen und Aufgaben bereits biologisch festgelegt klarer verteilt sind.
Das andere Geschlecht muß eine gewisse Attraktion aufweisen und der Akt an sich muß ebenfalls attraktiv sein, warum sollte man sich sonst darum mühen und sich verausgaben?
Sich mit einer anderen Person beschäftigen, diese für sich gewinnen oder faszinieren, damit es zum Akt kommt?
Es muß also einen physiologischen Reiz geben. Klar auch, wer unter den Umständen nicht kopuliert, vermehrt sich nicht, diese Gene haben keine Nachfahren, sind von der Evolution her erfolglos, können also über mehrere Generation nicht abhängig voneinander vorkommen. Auch von daher ist klar, daß eine gewisse Lust zur Kopulation evolutionär ein Selbstläufer ist, denn wer keine Lust hat, von dem gibt es dann später auch keinerlei Nachwuchs. Pflanzen als weniger aktive Lebewesen können es allerdings etwas entspannter treiben, da kommen somit gleichfalls eher Zwitter in Frage und die Fortpflanzungsmethoden können oder müssen gar deutlich subtiler sein, auch benutzen diese gerne andere Spezies als Hilfsmittel beim Sex, besonders Insekten und ebenso Vögel, mit der Bildung von Früchten auch weitere Spezies der Tiere für die Verbreitung des Nachwuchses in der Landschaft. So gesehen kann man also schon sagen, daß das Sexualleben der Pflanzen deutlich komplexer und kreativer ist als das von zweigeschlechtlichen Tierarten, wo die Abläufe dann doch meist immer ziemlich ähnlich sind.
Ob man daraus allerdings auch pauschal bei all diesen Arten auf eine Emotion wie die Liebe schließen kann?
- Unklar, wobei eine solche Emotion vermutlich schon ein Gehirn gewisser Komplexität benötigt, um die Emotion jedenfalls bewußt zu verarbeiten. Grundlage sind so oder so Hormone, welche den Sexualtrieb ansteuern. Liebe mag also auch ein gedanklicher Überbau sein, ein Artefakt eines dafür jedenfalls übermäßig leistungsfähigen Gehirns. Nun hat der Mensch ein solches, somit keine Wahl. Er muß sich damit auseinandersetzen, weil der Mensch Mensch ist.
Aus der Zweigeschlechtlichkeit ergibt sich allerdings eine gravierende Asymmetrie der Belastung und der Möglichkeiten. Das Weibchen muß ungleich mehr in den Nachwuchs investieren als das Männchen, gleichzeitig kann es potentiell deutlich weniger Nachwuchs produzieren als das Männchen, welches ja bei vorhandener Attraktivität seinen Samen sehr breit streuen kann. Bei einigen Tierarten führt die Asymmetrie zu gravierenden Unterschieden zwischen Weibchen und Männchen sowohl in körperlichen Merkmalen als auch im Verhalten. Bei Menschen ist der Unterschied indessen nicht so dramatisch. Aufgrund der Asymmetrie muß das Weibchen allerdings sorgfältiger wählen und das Männchen indessen aggressiver werben sowie balzen, um erfolgreich zu sein.
Biologisch ebenfalls gut erklärbar ist Liebe und Vorsorge für den Nachwuchs, denn wenn sich die Eltern oder die Verwandten kümmern, haben die Kinder bessere Chancen zu überleben. Liebe und Verbundenheit zwischen den Eltern stärkt deren Zusammengehörigkeit und die gemeinsame Verantwortung für die Kinder verbessert deren Überlebenschancen. Von daher führt die Evolution klar zu Vorteilen durch die Liebe, die dann wohl mindestens so lange halten sollte, bis die Kinder aus dem Gröbsten raus sind und selbst zurechtkommen, wenn sich die Eltern dann doch irgendwann zerstritten haben.
Beim Menschen ist die Situation da insofern speziell, als Kinder relativ lange brauche, um selbständig für sich zu sorgen, was alsdann wiederum eine lange Bindung der Eltern vorteilhaft erscheinen läßt. Es läßt sich genauso umgedreht sehen, wenn die Eltern eine längere Bindung eingehen können, ist es auch gut möglich, den Kindern mehr Zeit für die Entwicklung zu gönnen. Paarbindung der Eltern ermöglicht also eine längere Entwicklungsphase der Kinder, damit folglich höhere Komplexität, im Falle der Menschen eben ein stark entwickeltes Gehirn, in wenigen Fällen gar bemerkenswerte Intelligenz darin.
Als Nebeneffekt ist es allerdings natürlich auch attraktiv, anderen die eigenen Kinder unterzuschieben oder eben gezielt andere Partner für die Zeugung als für die Versorgung zu wählen. Das sind somit Strategien, um mit möglichst wenig Aufwand Anzahl wie Überlebenschancen des eigenen Nachwuchses zu verbessern. Solch ein Betrug kann also einerseits vorteilhaft sind, erhöht allerdings auch das Risiko, denn bei Entdeckung des Betruges entfällt objektiv für den betrogenen Teil die Grundlage der Unterstützung und damit bricht letztlich überdies die optimale Versorgung des Nachwuchses schnell zusammen. Dies erklärt zudem gut, warum zum einen Betrug stattfindet, zum anderen wiederum mitnichten derart häufig oder auffällig, sonst wäre der Vorteil dahin. Mißtrauen und Vertrauen müssen sich in einen gewissen Bereich die Wage halten, damit das System gut funktioniert, womit allerdings damit schon die Grundlage für Gruppenbildung sowie soziale Fürsorge gelegt ist, jedoch ebenso für Betrug und Handel bis hin zur Prostitution.
Weil die Gene in der eigenen Verwandtschaft ähnlich sind und damit genauso die Gene der Verwandtschaft in Kindern weitergegeben werden, kann es somit gleichfalls in gewissem Umfange sinnvoll sein, die Verwandtschaft sowie die eigene Sippe zu unterstützen, derart erklärt sich auch recht zwanglos die Liebe zu Geschwistern, Eltern und abgestuft auch zur weiteren Verwandtschaft. Da die Verteidigung gegen externe Gefahren in der Gruppe deutlich besser klappt als allein, ist gleichfalls die Gruppenbildung evolutionär vorteilhaft, wenngleich sich mittlerweile bei der vorherrschen Überbevölkerung zunehmend die Nachteile von Gruppenbildung zeigen – Kriege, Völkermorde, Massaker, überbordende Gewalt, willkürliche Bildung von rivalisierenden Untergruppen, Zerfall der Gruppen durch Konkurrenz in der Gruppe, Revierverhalten.
Vieles über die Liebe läßt sich so also ziemlich schlüssig in einen evolutionären, biologischen Rahmen bringen. Ein gewisses Maß an Liebe bestimmten Personen gegenüber führt zu besseren Überlebenschancen der Nachkommen oder der eigenen Gene. Derart wird also eher das Überleben jener gefördert oder ist von größerer Wahrscheinlichkeit, welche zu solchen Empfindungen fähig sind, wobei diese Kooperationswilligkeit vieler Menschen wiederum auch eine Minderheit sehr vorteilhaft für eigennützige Zwecke nutzen kann. Somit ergibt sich von selbst eine gewisse Mischung von Zuneigung und Trickserei als durchschnittlich zu erwartendes Verhalten, wobei die Ausprägungen und Eigenheiten bei Einzelpersonen breit gestreut sein können, sehr schlechte Strategien fallen dabei eben mangels Erfolg in zukünftigen Generationen eher raus. Wie immer bei der Evolution spielen natürlich gleichfalls Zufall und Glück eine große Rolle, wer Opfer eines Raubtieres, eines Unfalles oder eines Massakers wird, kann hinsichtlich seines Sozialverhaltens eine noch so tolle Strategie aufweisen, diese Person ist eben trotzdem raus und trägt nicht weiter zum genetischen Bestand bei, wenn es nicht schon gelungen ist, Nachkommen zu haben.
Aufgrund der Intelligenz des Menschen, welche allerdings oft nichtsdestotrotz überschätzt wird sowohl hinsichtlich des Umfanges als auch der praktischen Bedeutung, aber auch aufgrund seines Abstraktionsvermögens, erhält die biologische Grundlage natürlich einen psychologischen und soziologischen Überbau, teils der Konvention der Gruppe geschuldet, teils auch einfach der Reflexion über das eigene Sein und Verhalten, weswegen es zu allerhand Ausschmückungen und Variationen zum Thema kommt, die besser auf anderer Ebene als der rein biologischen betrachtet zu werden pflegen.
Zur mangelnden Selbsteinschätzung von Intelligenz als Individuum wurde zudem auf den bekannten Dunning-Kruger-Effekt verwiesen, wobei kurz überlegt wurde, ob dieser analog auf die ganze Spezies zutreffen könnte – ja vielleicht halten wir uns bloß für schlau und kompetent, bekommen jedoch bloß gerade so am Rande, deutlich verspätet mit, wie wir Planeten und Lebensgrundlage zerstören. Immerhin reicht die Intelligenz zur Selbstreflexion, zur Ironie oder auf zum Zynismus über die eigene Dummheit.
Ich bin dumm sowie ignorant, also bin ich?
Nach der Abschweifung über die Frage der Intelligenz der Spezies gelang es, den Bogen zurück zum Thema zu schlagen. Auf die Klärung der biologischen Grundlagen folgten alsdann in der Diskussion allerdings fürderhin noch eher philosophische und soziologische Konzepte sowie Erklärungen. Überdies ging es um spezielle Erscheinungen, die vordergründig nicht so gut in das einfache biologische Erklärungsmodell passen.
Die Fürsorge oder gar Liebe zur Verwandtschaft ist ja noch sehr einfach als evolutionär vorteilhaft erklärbar, bei der Nächstenliebe allerdings wird es schon komplizierter. Aber eine solche ist auch weit weniger etabliert. Dennoch gibt es da natürlich einen Zusammenhang in der Gruppe. Der Mensch ist ein soziales Wesen, was in der Gemeinschaft leistungsfähiger in der Bewältigung von Aufgaben ist, daher eher gemeinsam überlebt als allein. Daher ist die Fürsorge in der Gruppe ziemlich vorteilhaft. In der Frühzeit der Menschheit waren es allerdings nur eher kleine Gruppen, welche sich als solche wohl ursprünglich nach Ausbildung der Sprache und hinreichendem Abstraktionsvermögen über gemeinsame Geschichten identifizierten, was sich dann zu religiösen Vorstellungen degenerierte, mit denen man die eigene Gruppe gut von anderen separieren konnte, welche eben nicht mit den gruppenidentitätstiftenden eigenen Geschichten, der eigenen Religion, den eigenen Ritualen vertraut waren. Menschen sind keineswegs immer freundlich oder harmlos, von daher bedeuten andere, unbekannte Menschen in einer Zeit der Knappheit sowie Konkurrenz der Gruppen um Ressourcen gleichfalls Gefahr, keineswegs nur die Chance auf Innovationen und neue Erkenntnisse, welche durch Fremde in die eigene Gruppe hineingetragen werden könnten. Deshalb ist ein einzelner Fremder eventuell noch interessant, um Informationen auszutauschen, Handel zu treiben, eine andere Gruppe ist hingegen eher bedrohlich. So entwickelt sich auch Haß.
Je weiter weg und fremder andere Menschen sind, desto größer das Mißtrauen und die Vorsicht. Rein biologisch wären deutlich andere Menschen hingegen attraktiv, weil eine Vermischung des Genmaterials mehr Potential für leistungsfähigere, den Umweltbedingungen besser angepaßte Nachkommen bedeutet, insbesondere hinsichtlich der Immunabwehr gegen Mikroorganismen. Sozial hingegen sind insbesondere viele andere Menschen eine Herausforderung für eine Gruppe.
Und deswegen heißt es auch nicht umsonst Nächstenliebe, man liebt, was einen nah sowie vertraut ist, was vertrauenswürdig ist, wo man von Gemeinsamkeiten weiß, mitnichten, was einem fernliegt. Der wesentliche allgemeinere Ansatz, daß die Nächstenliebe allen Menschen gelten sollte, eventuell sogar Tieren und Pflanzen, ist da eher etwas für besonders ausgeprägte Idealisten mit deutlich leistungsfähigerem Gehirn, die mit einem hohen Abstraktionsvermögen in der Lage sind, die großen Gemeinsamkeiten mit anderen deutlich über die kleinen Unterschiede in den Auffassungen oder dem Aussehen oder der Herkunft zu stellen. Die meisten anderen Menschen sehen eher die Unterschiede und hauen lieber sicherheitshalber erst drauf und stellen danach erst Fragen. Das ist so profan wie alltäglich, ein angemessenes, friedliches und tolerantes Sozialverhalten ist vom Durchschnitt keineswegs von sich aus zu erwarten, das ist eine angelernte Kulturleistung, welche leistungsfähige Gehirne erfordert, damit jedoch unter einem Haufen von intoleranten Dummköpfen leider erhebliche Risiken birgt.
Geistig verklärt ist der Blick auf die Liebe besonders zwischen Mann und Frau. In neuerer Zeit, wo Gefühle und sexuelle Bedürfnisse stärker abgekoppelt sind von der reinen Biologie, zudem allgemeiner zwischen Partnern einer Lebens(abschnitts)gemeinschaft. Da gibt es Begriffe wie die platonische Liebe, die romantische Liebe, die erotische Liebe, die reine Liebe.
Was versteht man darunter?
Die Liebe wird rein genannt, wenn sie uneigennützig ist. Dabei geht es um Hingabe und Liebe ohne weiteren Zweck, wobei das Wohl und die Förderung der geliebten Person besonders im Fokus des Interesses stehen. Im Sinne der fundamentalen Nächstenliebe kann sich diese in der Verallgemeinerung auch auf alle Menschen oder schlicht auf alles erstrecken, verliert sich dabei jedoch letztlich irgendwann in Funktionslosigkeit sowie Beliebigkeit, eben weil kein Zweck und Sinn mehr erreichbar ist, keine weitere Differenzierung der Welt mehr angestrebt wird. Wer alles liebt, wird letztlich zum sabbernden Idioten, welcher nichts mehr versteht, dem alles eins ist.
Als platonische Liebe wird eine Beziehung frei von Sexualität verstanden, eine asexuelle Beziehung. Gleichwohl kann bei der platonischen Liebe allerdings das gegenseitige Wohl sowie die Förderung der geliebten Person im Fokus des Interesses stehen. Andere Bedürfnisse jenseits des Sexuellen sind dabei jedoch ebensowenig ausgeschlossen.
Die romantische Liebe, allgemeiner auch leidenschaftliche Liebe ist im Grunde eine soziologisch, geisteswissenschaftlich verklärte Beschreibung oder Verkleidung der biologischen Grundlagen der Liebe. Menschen fühlen sich sexuell zueinander hingezogen, streben nach einer stabilen, langfristigeren Partnerschaft einschließlich reger sexueller Kontakte. Kopulation und Vermehrungstrieb bilden hier eindeutig die Grundlage des gemeinsamen Treibens wie Strebens. In der romantischen Liebe werden idealerweise sämtliche Stadien der Beziehung durchlebt, Balz- und Werbungsverhalten, Kopulation, Aufzucht des Nachwuchses und letztlich auch Krisen bis zur Trennung.
Die erotische Liebe, auch sinnliche Liebe oder auch spielerische Liebe betont noch mehr als die romantische Liebe die Sinnesfreuden, jegliches Ausleben der Gefühle, Begehrlichkeiten sowie Leidenschaften der Beteiligten zueinander. Die Liebe ist hier stärker abgekoppelt vom Vermehrungstrieb und wird eher als zweckfreies Vergnügen angesehen. Der menschliche Verstand hat sich hierbei vom eigentlichen Zweck der Biologie gelöst, hat erkannt, daß die Lust im Grunde nur ein Lockmittel der Biologie ist, eine Belohnung für die Mühen der Fortpflanzung. Wird beides voneinander getrennt, so bleibt dem Verstande die Lust, das Spiel, das Vergnügen, aber durchaus ebenso das der reinen Liebe innewohnende Bedürfnis des Wohles der geliebten Person, fürderhin die Förderung derselben, wobei es bei der erotischen Liebe eindeutig um eine wechselseitige, gegenseitige Förderung geht, eine gegenseitige Beschäftigung mit den Bedürfnissen der geliebten Person. Das Glück und die Lust gründet darauf, daß beide gleich teilhaben am Vergnügen und an der Lust.
Ebenfalls interessant ist, daß dem biologischen Erklärungsmodell der Liebe unterdessen gleichfalls ein geisteswissenschaftlich-philosophisches entgegengesetzt werden kann, wobei der Liebe in diesem Modell eine andere Funktion zukommt. Der menschliche Geist ist komplex, er ist dazu in der Lage, über sich und die Welt zu reflektieren. Ja, er bildet eine eigne Identität, ein Ich aus, um reflektieren zu können. Damit dies möglich wird, muß dieses Ich allerdings differenzieren zwischen dem, was zum Ich gehört und dem anderen, der Welt. So kommt es zu einer eigentlich zwar willkürlichen, für das Ich jedoch notwendigen Trennung von der Welt. Getrennt ist das Ich allerdings einsam und allein. Im geliebten Partner spiegelt sich alsdann quasi die Welt, das Nicht-Ich, das außen. In der Liebe wird versucht, die isolierte Position des Ichs zu überwinden, wobei die geliebte Person die (Außen-)Welt repräsentiert und mit der Liebe die Vereinigung mit der Welt angestrebt wird. Natürlich kann derlei Ansinnen nie gänzlich gelingen, sonst gäbe es kein Ich mehr, aber im Sinne der reinen Liebe ist eine Verallgemeinerung auf die Welt, keineswegs bloß eine repräsentierende Person, durchaus die Grundidee und die Auflösung des Ichs in der Welt, im Nichts durchaus ein philosophischer Gedankengang, der erstrebenswert erscheint. Das Spannungsfeld oder das Paradox besteht natürlich darin, daß das Ich nur sein und lieben kann, solange es sich von der Welt getrennt wahrnimmt, geht es darin auf oder vergeht es (etwa weil es stirbt oder Schwachsinn einsetzt), so gibt es kein Ich mehr und somit auch keine Liebe dieses Ichs mehr.
Das Erkennen des eigenen Ichs, das Bewußtsein, die Wertschätzung gegen sich selbst kann so gleichfalls als Voraussetzung für Liebe gegenüber anderen Wesen gesehen werden. Wer sich selbst nicht achtet und als eigene Persönlichkeit herausbildet, hat zudem ja ferner anderen Personen wenig zu bieten, was liebenswert wäre.
Von Interesse war bei dem Diskurs natürlich ebenso die Fragestellung, was Liebe mit den eigenen sadistischen oder auch masochistischen Neigungen zu tun haben könnte. Ist es etwa Nächstenliebe, welche letztlich Sadisten dazu drängt, masochistischen Bekannten einen Gefallen zu tun und dabei unterdessen selbst nicht gänzlich zu kurz zu kommen?
Ist es die Hingabe, die den Masochisten dazu drängt, sich gänzlich jemandem sowie dessen Launen auszuliefern?
Oder ist es dann doch eher das egoistische Streben nach Stolz und Ehre, es ausgehalten zu haben, selbst daran im eigenen Wertgefühl zu steigen, wenn die Tortur überstanden ist?
Ist es hemmungsloser, skrupelloser Egoismus, welcher Sadisten dazu drängt, den eigenen Impulsen ohne Zögern zu folgen?
Oder ist es die tiefe Liebe zur Welt, welche wohl genau weiß, wessen innerstes Sein da wohl so schädlich und zerstörerisch wirkt – ist es im Angesicht der Menschheit als Zerstörer der Welt nicht ein Akt der Nächstenliebe zu zerstören und zu zernichten, was zerstört und zernichtet?
Besondere Spielarten der Liebe sind Fetischismus und die Liebe zu Objekten. Eine Zwischenstufe ist das artübergreifende sexuelle Interesse, also etwa von Menschen an Tieren, wenn zum Beispiel Lust daran besteht, Schafe, Kühe, Ziegen zu besteigen oder umgedreht sich von Hengsten decken zu lassen etc. Bleibt die Betrachtung beim Extrem der Liebe zu Objekten, so kann man hier wohl einerseits eine Spezialisierung der Liebe vermuten, welche sich eben nicht auf Lebewesen richtet, sondern auf Objekte, beziehungsweise auf Lebewesen in Kombination mit Objekten oder eben eine bestimmte Kombination von Lebewesen oder besonderes Interesse an speziellen Aktivitäten von Menschen, welche nicht offensichtlichen Bezug zur sexuellen Aktivität haben. Andererseits könnte indes provokant eine besondere Ausprägung der reinen Liebe sehen darin gesehen werden, weil sich diese Liebe hier nicht auf eine bestimmte Person bezieht, ferner von Objekten keine Gegenliebe erwartet werden kann. Der Fetischismus ist dann allerdings auch hier eine Spezialisierung oder eine Abkehr vom Allgemein-Beliebigen hin zu etwas Speziellen, nur eben nicht zu einem bestimmten Lebewesen hin. Etwas gewöhnlicher ist ferner die Hypothese, daß sich die spezielle Neigung, der Fetisch einfach aus einer positiven Rückkopplung aus einem Zufall entwickelt. Eine gute, angenehme Erfahrung wird in einer bestimmten Situation mit dem Objekt der späteren Begierde erlebt und fortan wird die angenehme Erfahrung reflexartig mit diesem Fetisch assoziiert und umgedreht. Dies entspräche folglich einer Konditionierung, bei welcher letztlich irgendwann der bloße Fetisch reicht, um die angenehme Erfahrung auszulösen, das sexuelle Interesse verlagert sich endlich komplett auf den Fetisch.
Natürlich konnte man sich nicht so richtig einig werden, wie ihre Leidenschaften unter dem Blickwinkel zu bewerten seien, man war sich indessen sicher, daß man ihr nichtsdestotrotz diesen Abend folgen sollte, so ließ man die Diskussion solch philosophischer Fragen und Scharmützel sowie Wortgefechte bald ausklingen und wechselte in den ‚Folterkeller‘, um sich der praktischen Umsetzung zu widmen.
Wie so oft hatte Marie primär die Aufsicht und Übersicht. Seit einiger Zeit schon beteiligte sie sich nur noch sehr sporadisch an den handgreiflichen Aktivitäten, leitete oder litt bei Bedarf an oder drängte zur Mäßigung. Sie hatte ganz von sich aus das Auftreten sowie die geeignete Wirkung, um selbst die härteren Sadisten wirksam darauf hinzuweisen, wann ihr Opfer wohl genug hatte. Denn diese Gruppe wollte auf jeden Fall Ärger vermeiden, welcher insbesondere durch Verstümmelungen oder gar Leichen in die Öffentlichkeit getragen werden würde, derlei Spielarten waren also grundlegend zu vermeiden.
Marie kam auch diesmal wieder in den Genuß von Maniküre sowie Pediküre als besonderer Huldigung zweier diesbezüglich besonders geneigter sowie geeigneter Kandidaten, was indes ebenso sowohl von diesen als genauso von Marie genossen werden konnte.
Inkens Kommentar
Erst später hat mir ja Marie von den Libertines erzählt. Und hätte ich das früher gewußt, sie wäre mir sehr unheimlich gewesen. Zum Glück jedoch habe ich sie anders kennengelernt, denn das wäre nun so gar nicht meine Welt. Philosophische Diskussionen sind natürlich schon sehr interessant, doch die praktischen Aktivitäten der Gruppe scheinen mir sehr grenzwertig zu sein. Aber ich muß auch betonen, die Menschen und ihre Geschmäcker sind eben verschieden. Sie sind sich einig in dem, was sie miteinander tun und fallen anderen damit nicht zur Last.
Wie dumm wäre es da, naiv die eigenen Maßstäbe anzulegen, wenn man selbst gar nicht beteiligt ist?
Schon als ich Marie das erste Mal sah, hatte sie diese besondere Erscheinung, ruhig, entspannt, jedoch gleichfalls unnahbar, unergründlich, sowohl anziehend als auch etwas unheimlich. Ja, sie hat diese Wirkung, wozu sie gar nichts tun braucht, von daher kann ich mir ohne weiteres vorstellen, daß sie ebenso bei den Libertines respektiert wird als besondere Persönlichkeit, als jemand, der unbedingt beeindruckt und dessen gesprochenes Wort nicht einfach übergangen werden kann. Weil sie gleichzeitig so ruhig und ausgeglichen ist, ist die Wirkung wohl noch dramatischer als bei jemandem, welcher etwa durch erhobene Stimme oder gar durch unkontrollierte Wutausbrüche bedrohlich, eher gefährlich wirken würde. Gerade ihre Subtilität verstärkt den Effekt.
Ihre sadistische Art bekommt sie natürlich keineswegs komplett versteckt, allerdings hat sie diesen Teil ihrer Persönlichkeit ganz gut im Griff. Sie kann mit Worten, mit Zynismus, Ironie, mit kleinen Gesten nur quälen, wenn sie es drauf anlegt. Es kann einem irgendwie eng werden, es kann einem der Atem knapp werden, die Brust eng, wenn sie es will. Diese Empfindungen kommen gleichwohl im Grunde indes noch aus einem selber heraus. Dies Erlebnis kann unheimlich sein, Marie überzieht diese Fähigkeit jedoch wiederum auch nicht, sie weiß, was und wie es wirkt und zeigt bald mit einem Lächeln oder einer entspannten Geste, daß der kritische Moment vorbei ist und alles gut, ein kleiner Spaß vielleicht nur oder eine Reaktion auf etwas, was ihr nicht gefallen hat. Die Bedrohlichkeit sowie Enge ist nie von Dauer und danach fühlt man sich erleichtert und gleichfalls stärker, bestärkt und überdies respektiert.
Indessen gibt es allerdings wohl gleichfalls einige Mitmenschen, welche es nicht aushalten, diese können in einer derlei angespannten Befindlichkeit leicht gereizt oder verstimmt sein, wobei die Ursache primär in ihnen selbst liegt, gerade weil und wenn sie den richtigen Moment verpaßt haben mitzulächeln und zu entspannen.
Die sorgfältige sowie liebevolle Pflege von Füßen und Händen bei den Libertines ist natürlich eine feine Sache. Diese sehen bei Marie wirklich vorbildlich gepflegt aus. Auch hier ist ihre Erscheinung praktisch von Perfektion nicht zu unterscheiden. Ohne der Geschichte ernsthaft inhaltlich vorzugreifen, kann ich ja schon einmal sagen – natürlich kümmert sie sich vor den Treffen darum, daß ihre kleinen Fetischisten nicht wirklich viel zu tun haben und gar noch allzu viel Vergnügen darin finden, sich darum zu kümmern. In der Hinsicht ist sie mit dieser Vorsorge schon ein bißchen fies zu diesen, wenn sie vorher duscht, Hände und Füße sorgsam wäscht und die gröbsten Mängel schon einmal selbst beseitigt, sofern überhaupt über die Woche welche angefallen sein sollten.
Wie ich trägt sie die Nägel unlackiert und kurz, was praktisch ist, jedoch für die beiden betroffenen Libertines vielleicht auch eine kleine Qual, denn so schlicht und natürlich ist die Variationsbreite beim Ausleben der fetischistischen Neigung ja vermutlich doch sehr überschaubar, wobei es natürlich mehr als die Nägel gibt und ebenso der Rest an Händen und Füßen gepflegt sowie umsorgt sein will.
Maries Kommentar
Intellektuell sind mir natürlich diese Konzepte über die Liebe schon bekannt gewesen.
Ob ich es nun ernsthaft mal selbst versucht hatte?
Das weiß ich nicht so genau, erlebt hatte ich das selber bis zu dem Zeitpunkt nie, gut Lust, wilder Sex, Neigung, das Schwelgen in gewissen Leidenschaften, Überlegung hinsichtlich eigenen Nachwuchses, das kommt schon einmal vor.
Aber Liebe, verliebt sein?
Vielleicht hatte ich da zuvor schon zuviel Arges erlebt. Aber diese Diskussion kam mir zu dem Zeitpunkt gerade recht.
Ich war mir natürlich gar nicht sicher, wie sich das mit Inken entwickeln könnte, nur eine flüchtige Begegnung oder doch gar eine schöne Freundschaft?
Das konnte man zu dem Zeitpunkt gar nicht einschätzen.
Gut, da ich ja ohnehin zu der Zeit im Netz in dieser Kontaktbörse unterwegs war und bereits wen getroffen hatte, ergab sich natürlich schon die Frage, was das überhaupt soll und was es für mich persönlich mit der Liebe auf sich hat. Ich mochte mich nicht so richtig auf jemanden einlassen. Diese sadistisch-masochistischen Spielchen sind ja kein Problem, dabei kommt einem niemand wirklich nahe, wenn man nicht will, selbst wenn man eifrig seinen Impulsen folgt, geht das nicht wirklich tief, also für die Opfer manchmal körperlich vielleicht schon mal aus Versehen, aber generell ist das ja eher Kurzweil und Vergnügen, vielleicht überdies Nächstenliebe, die einen dazu bewegt, da aktiv zu werden und zu tun, was manche erfreut oder eben auch aus etwas herausholt, was bei manchen Fetischen eher die falsche Richtung ist, von welcher man jemanden gut befreien kann, welcher überzieht, indem man selbst ein wenig überzieht, woraufhin die Süßigkeit des Genusses in Bitterkeit der Erkenntnis der eigenen Irrung umschlagen kann, ja, wenn der Schlag zu fest ist oder zu oft oder an scheinbar falscher Stelle einschlägt. Doch das macht den Reiz des Spiels aus, keineswegs bloß bei Pralinen weiß man nicht so genau, was man bekommt.
Zu den Libertines bin ich ja eher zufällig gekommen. Aber das traf sich ganz gut. In die Stadt bin ich ja primär des Studiums wegen gezogen. Und gut, mit den eigenen Bedürfnissen war das alsdann natürlich nicht so einfach. Ich wollte ja auch nicht in größerem Umfange etwa Kommilitonen mit meiner Neigung verschrecken oder diese geradezu schlagfertig verschleißen. So war es deutlich mühsamer, jemanden zu finden und es ist dabei immer ein gewisses Risiko, unschuldige Burschen einfach so mit meinen Neigungen zu überraschen, diese wissen das in dem Moment eventuell nicht zu schätzen, fixiert und ein wenig gequält zu werden, obgleich ich natürlich immer darauf bedacht war, es nicht zu übertreiben. Aus der Irrung über meine Leidenschaft wie Intention entsteht mit dem Knebel im Munde schnell existentielle Not beim leidenschaftlichen Spiel mit der Qual.
Jedenfalls gab es irgendwann mal eine Veranstaltung mit philosophischer Ausrichtung sowie Fragestellung. Da bin ich hin, habe dabei sogar mal aus dem Publikum heraus eine Frage gestellt, als die Fragerunde nach einem Vortrag eröffnet wurde. Jedenfalls hat sich nach Abschluß jener Veranstaltung eine Diskussion entwickelt und ich wurde von irgendwem zu einer anderen mit ähnlicher Thematik eingeladen. Auch da wurde selbstverständlich wieder gründlich philosophiert sowie diskutiert und dabei war ich schon mehr mit drin sowie beteiligt am Diskurs. Bei einer anderen Veranstaltung dieser Art ging es ferner zudem stärker um Fragen rund um Donatien Alphonse François Marquis de Sade sowie die Frage, ob man wirklich hemmungslos seinen Impulsen folgen solle oder dürfe. Gut, das war natürlich schon ein Thema, welches mich mehr anging, einerseits Bedürfnisse sowie Neigungen, andererseits gewisse ethische Bedenken, Zweifel oder Konflikte, es bloß nicht zu überziehen. Offenbar haben mein Auftreten und meine Diskussionsbeiträge gefallen, denn ich bin in der Folge eingeladen worden und letztlich bin ich eben plötzlich bei den Libertines gewesen und geblieben, ein lockerer Bund von Freigeistern, die gerne philosophieren und sich danach eben auch noch gerne ihren Fetischen und sadistisch-masochistischen Neigungen widmen. Unter schlagender Verbindung stellt man sich gemeinhin an der Universität etwas anders vor, nun waren dies auch keineswegs bloß Studenten, es ging also schon etwas robuster zu, nach ganz eigenen Regeln fern einer regelrechten Tradition, dennoch stets kontrolliert von der Gruppe.
Denn in der Gruppe hat man den Verlauf der Interaktionen doch besser unter Kontrolle als allein und so ist dann auch gut gewährleistet, daß einige Leute über die Woche normal sowie ausgeglichen ihrem Beruf, häufig in Führungspositionen, nachgehen und sodann eben einmal in der Woche richtig Dampf ablassen. Wer sonst unter Druck und Verantwortung steht, gibt diese Machtposition auch gerne einmal ab, wird gerne auch einmal selbst erst zur Schnecke gemacht und danach noch zur Sau, um durch den ‚Folterkeller‘ getrieben zu werden.
Derlei spielerischer Trieb ausgelebt, kann ganz befreiend sein.
Aber es geht natürlich ebenso umgekehrt.
Ist man die ganze Woche in feinsten Zwirn gezwängt und hat sich ein stets freundliches Lächeln ins Gesicht getackert, darf selbst bei den größten Idioten nicht ausfallend werden, muß man immer korrekt und ausgeglichen sein, so steigt bei einigen Leuten der Druck im Kessel. Dieser Druck muß raus, abgelassen werden, daß der Kessel nicht unkontrolliert explodiert. An einem Abend mal etwas pisacken, peitschen, sengen, schlagen und schreien, brüllen, es einfach rauslassen dürfen, das tut gut, das kann befreien sowie für Ausgleich sorgen, daß man schließlich morgen wieder mit getackertem Grinsen ausgeglichen seiner Arbeit nachgehen kann. Derart ergeben sich eben in solch einer eingeschworenen Gruppe mehr Möglichkeiten, etwas auszuleben, etwas zu probieren, sich ebenfalls weiterzuentwickeln ohne gleich zu verstören oder zu zerstören oder im Skandal bloßgestellt zu werden. Einschlägige Talente werden gefördert, Techniken geübt sowie verfeinert, neue Ideen probiert. Es ist ein spielerisches Umgehen mit speziellen Interessen. Weil dies alles nicht ganz ungefährlich ist, gibt es jedoch nebenbei eine profanere Förderung, etwa der Besuch von Kursen zur ersten Hilfe und einigen weiteren Techniken, um im Notfall helfen zu können, denn etwas Risiko ist natürlich schon dabei, wenn man da bei sadistisch-masochistischen Spielchen voll bei der Sache ist.
Bei psychopathisch veranlagten Leuten ist die Kontrolle der Gruppe besonders wichtig, damit sich diese Neigung niemals hemmungslos zum Massaker aufschaukelt, sondern im akzeptablen Rahmen bleibt, Übergriffe auf unfreiwillige Opfer vermieden werden. Manchmal ist es ein Drahtseilakt, aber in der Gruppe kann man das besser bewerten und beobachten, korrigieren. Auch deshalb sind die Diskurse sehr wichtig, um immer wieder festzulegen, wo Grenzen und Probleme sind, was noch angemessen ist, wo jemand auf dem Holzweg ist, einem groben Irrtum aufgesessen ist. Diskussionen und ebenso die Aktivitäten erfolgen immer im gegenseitigen Respekt. Bei den Diskussionen geht es ja um die Sache, nicht darum, rhetorisch mit irgendwas zu überzeugen. Es kommt darauf an, inhaltlich gute Argumente zu finden, mitnichten mit Blödsinn zu manipulieren, daher werden auch ähnliche Themen immer wieder aufgegriffen und aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet, gleichsam um zu vermeiden, auf eine rhetorische Manipulation, auf eine Falle schöner Worte hereingefallen zu sein.
Direkt im Studium hatte ich solchen Druck natürlich weniger, den es abzulassen galt, da gibt es nicht so viele nervige Leute, Verantwortung für andere, Entscheidungen über und für andere zu treffen. Aber in meinem Kopf lauert ein Monster mit seinen sadistischen Launen, was gefüttert werden will, damit es nicht eines Tages seine Ketten sprengt und außer Kontrolle gerät. Die Kontrolle darüber zu behalten, ist gleichfalls ein Grundbedürfnis von mir. Jene Aktivitäten bei den Libertines erleichtern es mir, das Monster unter kontrollierten Bedingungen zu halten, denn loswerden kann ich es nicht. Es rasselt an seinen Ketten tief im Abgrund im Kopf, im eigenen Denken, im Ich. Wenn es indes wenigstens ein wenig gefüttert wird, ist es halbwegs umgänglich und gibt sich drein und ich bin ein gutes Stück frei davon. Ein Mittel, das Monster ganz loszuwerden, habe ich natürlich nicht gefunden. Es gehört zu mir, zu meinem Ich, das muß ich wohl akzeptieren. Solange ich lebe, ist es ein Teil von mir. Dermaßen in die Gruppe der Libertines hatte ich mich ganz gut arrangiert. Deshalb war es gar nicht so oft nötig, das Monster wirklich zum Festmahl zu laden. Bei einem solchen wird ein Kandidat fixiert, damit ich die Kontrolle behalte, und im folgenden Geschehen wird neben den sexuellen Kontakten, Spielchen, Verzögerungen, Frustrationen oder gelegentlich überraschenden Erfüllungen gleichfalls ein wenig mit der Atemkontrolle gespielt, ja vielleicht ist das mein Fetisch, atemberaubend zu sein, mein Opfer nach eigenem Ermessen mit meinem Atem zu füttern oder eben auch nicht, zu kontrollieren, ebenso zu verantworten, was mit dem Opfer passiert, wie es auf diese Not reagiert, aber ebenfalls auf Schmerz sowie Pein, wie es in Selbstzweifel gestürzt werden kann, wie psychisch demontiert und erschöpft werden kann, ja das interessiert mich und mein Monster, das ist prickelnd, da fühle ich mich lebendig.
Warum nicht einen Fetisch zerstören?
Warum nicht die wunden Punkte des Opfers finden, um darin peinlich zu bohren sowie herauszuarbeiten, was da faul ist?
Das kann auch eine Bereicherung, Befreiung für das Opfer sein, wenn es dann überstanden, überwunden ist.
Aber das geht auch nicht ohne Bedenken. Nicht nur über das Opfer muß ich die Kontrolle behalten, auch über das Monster, nichts überdrehen, kein bedauerlicher Unfall, nicht letztlich zu wenig Atem oder zuviel Pein. Es ist eben ein heikler Drahtseilakt zwischen Kurzweil, Lust und Verantwortung. Besser also nicht abstürzen, das kann eine Menge Probleme bringen, nicht nur für das Opfer. Die Kontrolle zu verlieren, ist mein Alptraum. Und das ist sicher meine Schwachstelle, mein wunder Punkt.
Später habe ich mich überdies noch mit Lotte und Thomas unterhalten. Die hatten mir schon zuvor bei einem Treffen mit einem Kandidaten aus der Partnerbörse im Netz geholfen, so daß beide auch mal nachfragten, wie der aktuelle Stand nun sei. Da ich da nun nichts spektakulär Neues zu berichten hatte, habe ich also einfach mal so einfließen lassen, daß ich ganz unabhängig von den Bemühungen in der Partnerbörse an diesem Tag Inken in der Mensa kennengelernt habe. Gut, ich habe daraufhin ein wenig erzählt und bin vielleicht etwas ins Schwärmen geraten, daß gleich nachgefragt wurde, was da los sei. Diese Frage konnte ich zu dem Zeitpunkt beim besten Willen nicht beantworten, ließ allerdings mal einfach meine Überlegungen so einfließen, was sich daraus machen ließe, Hilfe für einen netten Menschen, Freundschaft …
Ich wollte in der Folge jedoch erst einmal ablenken und fragte daher Lotte gegenüber zurück, was bei ihr so laufe. Sie hatte ja einen netten jungen Mann kennengelernt, der irgendwie ihr Herz erwärmte, aber sie hatte irgendwie Bedenken, war dieser doch um einige Jahre jünger und ähnlich wie sie eher von der harmlosen, sensiblen Art. Dabei hatte sie sich nun erneut getroffen und wir redeten ihr gut zu, am Ball oder eher am Burschen zu bleiben und das süße Früchtchen ruhig voll auszukosten. So ermutigten wir sie also, bei dem knuffeligen Kerl einfach einmal beherzt zuzugreifen und ihn sich zu greifen. Schmerz und Enttäuschung kommen irgendwann von ganz allein, da kann man vorher ruhig ordentlich Spaß haben und muß sich derlei Gefühle nicht gleich vorher antun, obwohl Lotte ja gerne einmal in allerdings nur einem milden Fall von Masochismus in Schmerz und Enttäuschung schwelgen konnte, ohne vorher noch genossen zu haben, indessen, die Pein ist noch viel süßer, wenn sie vorher das Früchtchen ausgiebig vernascht hätte, so versicherten wir ihr und dies Argument schien ihr dann auch ganz überzeugend zu sein. Sie wollte es wohl versuchen mit der Liebe und der Not damit und dem süßen Früchtchen, auch schon, damit unsere heutige Debatte praktische Konsequenzen hätte. Nun, so hatte ich letztlich für diesen Tag wieder eine gute Tat auf dem Kerbholz. Bei dem Altersunterschied war Enttäuschung früher oder später durchaus wahrscheinlich, aber da Lotte insbesondere darin schwelgen konnte, war diese Konsequenz doch weitgehen unproblematisch oder gar letztlich wünschenswert.
Es ergeben sich doch einfach viel mehr Möglichkeiten, wenn man es probiert, statt gleich vorher zu bocken und zu blocken und so über diese Abkürzung nur zur peinlichen Frage zu kommen, was alles hätte passieren können, wenn man es riskiert hätte, also stattdessen doch besser das Probieren über das Theoretisieren stellen und erst danach vielleicht aus den Konsequenzen etwas lernen, ist am Ende einer solchen Affäre ja noch früh genug.
Lotte konnte bei dem knuffigen Burschen doch mal hemmungslos ihren Impulsen folgen, das schadete sowieso niemandem, so waren wir uns schnell einig in der Beurteilung der Situation, also grünes Licht für Lotte!
Von meiner Situation hatte ich indes damit immerhin geschickt abgelenkt und würde nun die nächsten Tage erst einmal sehen, wie sich das entwickeln mochte. Allerdings wurde ich in der Wendung des kleinen Diskurses von den beiden dazu veranlaßt, doch einmal von mir aus bei nächsten Treffen Bericht zu erstatten, was sich mit jener zappeligen und doch so süßen Inken so ergeben hätte. Das mußte ich endlich wohl den beiden zusagen, wie Lotte ja ebenso über den Fortgang ihrer Angelegenheit berichten wollte oder sollte.
Fördern und Fordern
Mit dem Tablett Essen in der Hand schaute sich Marie in der Mensa um, ob schon etwas von Inken zu sehen wäre. Sie hatten sich grob für einen bestimmten Bereich in der Mensa verabredet, den man relativ gut übersehen konnte, Marie war aber etwas früh, zudem kam Inken ja direkt von einer Vorlesung, daher mußte man immer damit rechnen, daß das Ende nicht besonders präzise war und insbesondere kleine Verzögerungen eintreten konnten.
Marie setzte sich also an einen der kleineren Tische und begann schon einmal mit dem Essen. Bald darauf jedoch sah sie auch schon Inken, winkte und wurde deshalb schnell gefunden. Inken trug wieder einen dieser weiten, flippigen, selbstgestrickten Pullover, die einerseits sehr kuschelig und gemütlich aussehen, andererseits aber auch sehr aggressiv ins Auge des Betrachters springen. Heute war es ein anderer als am Tag zuvor, allerdings ähnlich die unangepaßte, wilde Individualität betonend. Die Flickenhose war dieselbe wie am Tag zuvor, aufgrund der Vielfalt der Flicken war dies jedoch weniger aufmerksamen Beobachtern als Marie nicht unbedingt erkennbar.
Aufmunternd fragte Marie Inken sodann beim Erreichen des Tisches, wie es heute gelaufen sei. Daraufhin berichtete Inken den Kopf wiegend kurz über ihre Eindrücke der beiden bisherigen heutigen Vorlesungen, setzte sich dabei und begann ebenfalls gleich zu essen, ohne wie am Tag zuvor etwas auszupacken. Marie nahm das wohlwollend zur Kenntnis.
Hatte ihr Tip bereits etwas bewirkt, was für Inken hilfreich sein könnte?
Nach der kurzen Pause des Ankommens fragte Marie: „Und, wie ist es gestern noch mit deinen Übungszetteln gelaufen?“
Inken kaute zu Ende, nickte, meinte danach: „Viel besser, ist jedoch immer noch nicht so einfach, mich länger auf eine Sache zu konzentrieren, immerhin, ein paar Aufgaben habe ich gut sowie einzeln nacheinander abgearbeitet, ohne mich besonders ablenken zu lassen.“
Marie lächelte und sprach: „Das hört sich doch schon ganz gut an. Es braucht immer etwas Übung sowie Zeit, bis solch eine Strategie verinnerlicht ist.“
Inken lächelte zurück und erwiderte: „Ich hoffe, daß es noch besser wird, sonst bekomme ich doch noch Probleme, dies sind ja jetzt am Anfang wohl eher noch die einfachen, kleinen Aufgaben, bis übernächste Woche oder die Woche darauf sollte ich mich wohl drauf einstellen, ein gutes sowie zudem zügiges Arbeitstempo zu finden.“
Marie grinste: „Da hat du wohl Recht, einfacher wird es mitnichten, jedenfalls nicht die ersten paar Semester, da gilt es allerhand zu bewältigen sowie Wissen zu kumulieren, damit man dies später auch gut anwenden kann. Allerdings lernst du ja jede Woche etwas dazu, was du nutzen kannst und sollst. Du wirst das schon hinbekommen, da bin ich ganz zuversichtlich.
Hast du heute noch Vorlesungen oder eine Übung?“
Inken gab Auskunft: „Eine Vorlesung noch, danach ist für diese Woche mit dem offiziellen Teil Schluß.“
Marie lachte: „Jaja, der Dozent als solcher und ebenso die Dozentin, die wollen nicht unbedingt am späten Freitag Nachmittag oder genauso am frühen Montag Morgen Termine ansetzen, wenn es sich vermeiden läßt.“
Inken lächelte: „Soso, daher, hatte mich schon gewundert. Nun, du hast Erfahrung damit, kannst das besser einschätzen.“
Sie plauderten noch eine Weile beim Essen, bald hatte Inken allerdings bereits ihre Vorlesung. Sie machte sich indessen immer noch Sorgen, die Sache mit der Konzentration nicht so gut hinzubekommen.
Daher schlug Marie vor: „Wenn du magst, kannst du mich ja nachher besuchen.
Ich zeige dir alsdann bei Interesse kurz ein paar Labore als Ansporn, anschließend setzen wir uns in mein Bureau und schauen einfach mal, wie wir das mit deiner Konzentration bei der Bearbeitung deiner Übungen optimieren können – du hast die Zettel doch dabei?“
Inken nickte betont, erwiderte: „Ja, habe ich dabei. Gern komme ich dich besuchen.
Labore?
Klingt in der Tat spannend für mich.“
Marie lächelte freundlich: „Ja, wirst du dann schon sehen. In den ersten Semestern hocken die Studenten ja doch nur in den Vorlesungssälen, aber es gibt in späteren Semestern ja gleichfalls Praktika und noch später ferner größere Projekte bis zum Abschlußprojekt. Gut, danach für die Promotion wird ja ebenfalls geforscht, in dem Zusammenhang selbständiger an wirklich aktuellen Sachen. Und wenn man nicht gerade Theorie macht, ist da ja ebenfalls allerhand Praktisches zu tun, um Ergebnisse zu bekommen.“
Inken schaute sehr gespannt und hätte gerne mehr gehört, dazu war jedoch keine Zeit mehr. Marie beschrieb ihr noch genau, wie sie nachher ihr Bureau finden würde und anschließend eilte Inken auch schon wieder fort zu ihrer Vorlesung. Marie schlenderte gemütlich über einen kleinen Umweg zurück zum Institut, um ihre Arbeit fortzusetzen. Dort angekommen räumte Marie allerdings erst einmal ihr Bureau auf und ebenso das Labor, in welchem sie hauptsächlich arbeitete. Unordnung machte ihr selbst nicht so viel aus, denn sie hatte sowieso im Kopf, wo sie etwas zuletzt hingelegt hatte. Gut, im Labor hatten ja gleichfalls Kollegen Zugang, da war ein gewisses Maß an Ordnung schon wichtig, sonst fand sich schnell niemand mehr zurecht, von daher war sie dort schnell fertig. Auch im Bureau war es nicht übermäßig unordentlich. Marie war organisiert, also in gewissem Umfange genauso ihr Bureau. Es ist indessen ja keineswegs notwendig, alles in eine für andere nachvollziehbare Ordnung zu bringen, wenn sowieso alles akkurat sowie abrufbar im Kopf abgelegt ist, was wo zu finden ist. Jedenfalls wollte sie Inken nicht so viele Reize zur Ablenkung bieten, deswegen schien es ihr nützlich zu sein, schlicht die Zahl der sichtbaren Objekte zu reduzieren. Ihre Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin hatte sie ja offiziell erst seit Anfang des Monats, allerdings war sie zuvor schon provisorisch als wissenschaftliche Hilfskraft eingestellt worden, weil die richtige Stelle noch nicht frei war, deshalb hatte sie sich schon gut eingearbeitet, war schon halbwegs mit den Laboren vertraut und hatte auch schon etwas Gelegenheit gehabt, sich ihr Bureau zu eigen zu machen, was sie nun jedoch gezielt wieder reduzierte, um Inken eine ruhige Umgebung ohne große Ablenkung zu bieten. Im Grunde war ihre Wohnung ähnlich karg, auf das Wesentliche reduziert eingerichtet. Falls sie Inken einlud, sollte sie diese allerdings ebenfalls noch einmal konsequent aufräumen, entsprechend alles wegräumen, was redundant war oder Anlaß zu unnötiger Ablenkung geben könnte. Dies schien ihr eine nützliche Idee zu sein, um in der Reduktion und Konzentration eine klare Richtung vorzugeben.
Ein Kollege hatte Marie einmal berichtet, daß man hier noch im letzten Jahrhundert auch häufig am Wochenende intensiv gearbeitet habe, in dieser Hinsicht war es inzwischen ruhiger geworden. Gut, mittlerweile ließ sich ja gleichfalls zu Hause allerhand am eigenen Rechner erledigen oder man konnte sich mit dem auf den Rechnern in der Universität aufschalten, um von zu Hause aus zu arbeiten, von daher war persönliche Anwesenheit eher in den Laboren notwendig, wobei man dort ebenfalls schon bei einigen Experimenten automatisiert hatte, damit diese über einige Stunden oder auch über ein oder zwei Tage ohne Aufsicht vor Ort laufen konnten. Allerdings ist anders als direkt an der Universität die Anbindung ans Netz bei privaten Netzbetreibern selbst in der Großstadt noch immer unzureichend, um wirklich effizient auf entfernten Rechnern mit graphischer Oberfläche arbeiten zu können, zumal man ja nun die Verbindungen im Netz durchgehend verschlüsselt, um die Seuche der Lauscher von der eigenen Arbeit fernzuhalten, was in der Folge noch mehr Rechenleistung sowie Übertragungsraten erfordert. Spionage durch Konzerne und Regierungen fördert folglich durch die notwendigen Gegenmaßnahmen Ressourcen- und Energieverschwendung, bindet Arbeitsleistung von Programmierern in prinzipiell reinen Beschäftigungstherapien. Die Gesellschaft schafft sich Aufwand, Arbeit, Verschwendung aus dem Nichts für nichts. Von daher sind die Möglichkeiten der Heimarbeit immer noch deutlich eingeschränkt. Vor Ort ist der Schutz vor Belästigung durch Lauscher einfacher umzusetzen. Solche verschlüsselten Verbindungen reichen jedoch locker, um zum Beispiel auf Großrechnern Rechnungen anzuwerfen, zu beobachten oder ebenfalls bei eventuell laufenden Messungen zwischendurch mal zu gucken, wie der aktuelle Stand ist.
Natürlich besteht immer noch die Hauptarbeit im Labor darin, ein Experiment in einen Zustand zu versetzen, in dem es über Stunden oder gar Tage automatisch Messungen durchführen sowie digital aufnehmen kann. Weil ferner einige Arbeit nicht so ganz ungefährlich ist, wäre es ohnehin falsch gewesen, diese am Wochenende allein durchzuführen, wenn niemand von einem Unfall etwas mitbekäme. So oder so würde es jedenfalls bereits im weiteren Verlauf des Nachmittags deutlich ruhiger im Institut werden. Marie mochte diese Ruhe. Zwar konnte sie sich auch sonst bei allerlei Trubel leicht konzentrieren und auf ihre aktuelle Arbeit fokussieren, aber die einkehrende Ruhe, die Stille war gleichfalls ein guter Genuß. Von anderen Mitarbeitern oder Studenten ungestört kommt die eigene Arbeit ebenso deutlich effizienter wie schneller voran, darum war sie gern hier, auch oder insbesondere, wenn es ruhiger wurde, letztlich am Wochenende beinahe schon still. Mehrere Stunden am Stück ungestört und es kamen die besten Ideen oder gar schon Resultate bei Experimenten. Es ist natürlich aber genauso wichtig, dies nicht zu überziehen und Entspannung sowie Erholung keineswegs zu kurz kommen zu lassen. Einigen bereitete es wohl Schwierigkeiten, gleichfalls einmal abzuschalten. Selbst wenn sie am Wochenende nicht persönlich hier anwesend waren, mochte es doch Stunden oder gar das ganze Wochenende dauern, bis es ihnen gelang abzuschalten, wobei es im Anschluß ja am Montag schon wieder angemessen war, voll anzuschalten. Insofern ist es wichtig zu lernen, sich einerseits auf Projekte zu fokussieren, ebenso allerdings, den glatten Schnitt zu setzen, Freizeit von der Forschung konsequent zu trennen. Wenn es ihr gelänge, Inken dies zu vermitteln, wäre dies sicherlich schon eine erhebliche Hilfe zum Studienerfolg, ein guter Lernerfolg auf dem langen Weg zum Abschluß.
Marie war ganz in die Lektüre eines wissenschaftlichen Artikels vertieft, als es zaghaft an der Tür klopfte. In ihrer ausgeglichenen Art hätte Marie dies Geräusch allerdings weder überhören können, noch hätte sie dadurch aufgeschreckt werden können.
Ohne noch vom Bildschirm aufzusehen, fragte sie einfach laut sowie vernehmlich: „Ja? Ist offen!“
Zaghaft, langsam und unsicher öffnete sich die Tür, während Marie den aktuellen Absatz zu Ende gelesen hatte und sich zur Tür drehte. Es war Inken.
Sofort lächelte Marie, nickte ihr aufmunternd zu, schlug vor: „Du kannst deine Sachen einfach auf dem Tisch ablegen, anschließend gucken wir ein wenig herum, in Ordnung?“
Inken atmete erleichtert über die freundliche Begrüßung tief durch und nickte, legte ihre Sachen ab, während Marie am Rechner den Paßwortschutz aktiviert hatte und auch schon aufgestanden war, auf Inken sowie die Tür zuging, dabei eine Geste zur Tür machte, um den Weg zu weisen.
Danach ging die kleine Besichtigung auch schon los. Draußen auf dem Flur erläuterte Marie an ein paar Postern, worum es grob bei der Forschung hier ging, anschließend gingen sie durch die Labore, wobei Marie erklärte, Inken staunte. Einige Sachen konnte Marie überdies vorführen, ein paar Kleinigkeiten konnte Inken ausprobieren, so daß es eine sehr kurzweilige, interessante sowie ebenso spannende Führung wurde, jedoch keineswegs besonders lang, denn Inken sollte ja noch an ihren Aufgaben arbeiten. Nun war Inken ja ohnehin erst ganz am Anfang des Studiums, auch von daher konnte man mitnichten erwarten, daß sie aktuelle Spitzenforschung gleich im Detail nachvollziehen konnte, daher bemühte sich Marie, ihre Erklärungen anschaulich sowie einfach zu halten und für Inken mehr die Entdeckung in den Vordergrund zu stellen, in dem Sinne, daß diese ebenfalls selbst mal etwas probieren sollte, direkt Effekte bewirken, einfach einmal Kontakt aufnehmen, im wahrsten Sinne des Wortes erfassen sowie begreifen.
Marie hatte sich nur grob überlegt, wie sie vorgehen könnten, um Inken zu einer organisierten sowie effizienten Arbeitsweise zu führen. Jedenfalls saß Inken bald an ihrem Tisch mit Stift, leerem Blatt samt Übungszettel. Marie forderte eine gute Haltung beim Sitzen, korrekt zum Tisch ausgerichtet. Der Rücken sollte gerade bleiben, die Beine entsprechend gerade vom Stuhl herunter, dazu wurde ergänzend der Bureaustuhl präzise passend eingestellt, um alleine dadurch einen ergonomischen Sitz zu erleichtern, damit die Fokussierung auf die aktuelle Aufgabe. Diese Umsetzung, Vorbereitung hatte etwas von einem Ritual, einer Zeremonie, ebenso etwas, um Inkens Aktivität zu kanalisieren sowie ihre Aufmerksamkeit zu fokussieren. Alles war ordentlich sowie geordnet, also nickte sie Inken aufmunternd zu. Diese las anschließend eine Aufgabe vor, woraufhin Marie Inken ermunterte, ihre Gedanken und Ideen dazu zu formulieren. Sie meinte dazu überdies, daß das Formulieren dabei
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Publication Date: 06-16-2021
ISBN: 978-3-7487-8575-0
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