Metainformationen zum Buch
In dieser nicht-linearen Erzählung können die Leser an verschiedenen Stellen zwischen alternativen Handlungssträngen auswählen.
Kernhandlung: Florian hat bei der Partnersuche im Netz Marie kennengelernt und hat ihr unter anderem über sein besonderes Interesse an Filmen und Literatur der Genres Horror, Vampire sowie Zombies erzählt. Marie organisiert ein unvergeßliches Treffen auf einem Friedhof in der Gruft eines Mausoleums und spielt zur Prüfung des Kandidaten skurrile Spiele mit ihm.
Dies ist eine vereinfachte Textausgabe ohne eigene Stilvorlagen. Dekorative Elemente wie Graphiken sind hierbei lediglich als zusätzlicher Inhalt explizit getrennt von der Erzählung enthalten. Damit ist diese Ausgabe besonders geeignet für Präsentationsprogramme, Geräte sowie Konversionsskripte, welche EPUB nur sehr rudimentär interpretieren können. Dazu eignet sich diese Ausgabe überdies für Publikum mit einem Hang zur Anmutung von Elementen klassischer gedruckter Bücher.
Einige Charakteristika dieses Buches:
Inhalte
Marie: Die Gruft
Einstiegspunkte
Inhaltsverzeichnis
Epigraph
Hugo Laurenz August Hofmann, Edler von Hofmannsthal
Der Zombie ist wohl auch das Schaf im Wolfspelz in uns.
Zusammengedrängt in einer Herde tun wir wild und mächtig und werden doch immer unwiderstehlich und willenlos zur Schlachtbank der Reklame, des Konsums und der Industrie gelockt.
Bertine-Isolde Freifrau von Brockelstedt
Vampir und Zombie – mit einem kühnen Biß die Welt verändern, das Monster in uns allen ans Licht zerren.
Wenn es nur so einfach wäre.
Was für eine naive Illusion der Unterhaltungsindustrie …
Balthasar Maria Bernhard Freiherr von Brockelstedt
Zombies, Vampire, Fabelwesen – irgendwie die Schrödinger-Katzen der Trivial-Unterhaltung!
Dr. Olaf Hoffmann
Die Furcht ist das Unglück, deshalb ist nicht Mut das Glück, sondern Furchtlosigkeit.
Franz Kafka
Denn wer begehrt, der fürchtet auch. Und wer in Furcht lebt, ist für mich nicht frei.
Quintus Horatius Flaccus (Horaz)
Vieles wird aus Furcht vor Lebensgefahr oder Krankheit unterlassen.
Georg Christoph Lichtenberg
Was Macht hat, mich zu verletzen, ist nicht halb so stark wie mein Gefühl, verletzt werden zu können.
William Shakespeare
Die Angst beflügelt den eilenden Fuß.
Johann Christoph Friedrich von Schiller
Das einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst.
Michel Eyquem, Seigneur de Montaigne
Sind wir doch nach etwas ausgestandener Angst stets merklich heiter.
Arthur Schopenhauer
Emanuel Geibel
Die Angst wird sich immer Götzen schaffen.
Honoré de Balzac
Im Laufe des Lebens verliert alles seine Reize wie seine Schrecken; nur eines hören wir nie auf zu fürchten: das Unbekannte.
Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach
Heutzutage hat jeder vor sich selber Angst.
Aus: ‚Das Bildnis des Dorian Gray‘ von Oscar Wilde
Angst ist für die Seele ebenso gesund wie ein Bad für den Körper.
Alexej Maximowitsch Peschkow (Maxim Gorkij)
Dr. Olaf Hoffmann
Scheuen wir schon vor unseren eigenen Abgründen zurück,
wie könnten wir die der ganzen Welt erdulden?
Marie de Sade
Inhalte
Vorwort
Zum Inhalt
Diese Erzählung knüpft an ein Erlebnis der Autorin Marie an, gleichwohl ist die Angelegenheit nicht so simpel, daß man den Inhalt einfach biographisch verstehen könnte. Marie besteht auf Distanz zwischen ihren eventuellen Erlebnissen und ihrem Hier und Jetzt. Es steht ein Konjunktiv im Raum, das Erlebnis kann nahezu so stattgefunden haben, es kann auch künstlerisch verdichtet sein. So dient auch die Auswahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Handlungssträngen als eine Art absichtlicher Verfremdungseffekt, um sowohl der Autorin als auch den Lesern etwas Distanz zur Reflexion zu verschaffen. Offenbar kann ja in unserer klassischen Welt nicht alles gleichzeitig passiert sein, wie sich Quantenzustände überlagern können, bis diese Superposition durch Messung auf einen Zustand festgelegt wird. In dieser Erzählung verschwinden die anderen Möglichkeiten selbstverständlich keineswegs, wenn eine davon ausgewählt wird; daher wird also allein anhand dieser Erzählung nicht herauszufinden oder gar festzulegen sein, welche Variante wirklich eingetreten ist, aber das tut ja der Unterhaltung und Kurzweil keinen Abbruch.
Marie bewahrt die Distanz ebenso, indem sie auf eine Ich-Erzählung verzichtet, der Erzähler bleibt abstrakter und hat Einblick in verschiedene Gedankenwelten, wie sie Marie als Autorin leicht haben mag, Marie als Protagonistin müßte hingegen sehr scharfsinnig sein, um immer zu ahnen, was genau in den Köpfen der Menschen vorgeht, mit denen sie es zu tun hat - oft ist das zum Zeitpunkt des Erlebens auch von untergeordneter Bedeutung. Marie würde sich da schriftlich nie so genau festlegen.
Die Namen anderer Beteiligter wurden zum Schutz ihrer Privatsphäre natürlich verändert, entsprechend und analog gegebenenfalls vorhandene Beschreibungen äußerer Merkmale von Personen. Auch die Beschreibungen von Gebäuden und sonstigen Örtlichkeiten entsprechen nicht dem Ort des tatsächlichen Geschehens, sind aber nach Ähnlichkeit ausgewählt. Die Örtlichkeiten sind also auch absichtlich verschleiert, um die Privatsphäre zu schützen.
Das Buch gehört zur Serie ‚Marie‘. Die Bücher dieser Serie können unabhängig voneinander gelesen werden. Zeitlich liegen die Ereignisse von ‚Marie: Der Atelierbesuch‘ einen unbestimmten Zeitraum hinter jenen von ‚Marie: Drachen‘, wobei letztere Erzählung etwas später geschrieben wurde. Chronologisch folgt wiederum mit einem unbestimmten Zeitabstand nach diesem Atelierbesuch ‚Marie: Die Gruft‘, kurz darauf folgt ‚Marie: Der Überfall‘. Ein paar Details in diesem Buch stehen in Zusammenhang mit Vorkommnissen in den anderen, insofern können sich aus den anderen Büchern eventuell ein paar mehr Aspekte erschließen, sofern diese Interesse erwecken sollten.
Nutzungshinweise
Dieses Buch enthält eine nicht-lineare Erzählung, in welcher das Publikum an einigen Stellen interaktiv auswählen kann, welchem Handlungsstrang es folgen möchte. Daher gibt es für die eigentliche Erzählung keine lineare Lesereihenfolge. Leser können gerne sowohl genau einem Handlungsstrang folgen als auch beliebige Alternativen ausprobieren, Schleifen gibt es allerdings nur wenige, Alternativen sind unter Umständen am einfachsten über die Inhaltsverzeichnisse zu erreichen.
Zusatzinformationen sowie Einstiegskapitel sind allerdings der Tradition folgend linear angeordnet, um den Einstieg in das Buch zu erleichtern, sie sind allerdings auch untereinander mit den typischen, kleinen Navigationslisten verbunden, welche dem sonstigen Konzept des Buches folgen, auch hier ist es also mitnichten notwendig, die lineare Lesereihenfolge einzuhalten.
Die Auswahl eines nicht-linearen Handlungsstranges erfolgt im normalen Lesefluß durch Auswahl eines Verweises einer Liste am Ende eines Kapitels, für welches es verschiedene Alternativen als Fortsetzungen gibt. Zusätzlich gibt es zur allgemeinen Orientierung im Inhaltsverzeichnis eine Übersicht über sämtliche Kapitel sowie ihren Zusammenhang mit übergeordneten Kapiteln in Listenform.
Das klassische Inhaltsverzeichnis als Liste mit Texteinträgen ist allerdings lediglich begrenzt nützlich und fungiert primär als Hilfe, Zusatzinformationen und den Einstieg ins Buch auszuwählen oder auch ein aktuell zu lesendes Kapitel bei einer Unterbrechung wiederzufinden.
Darstellungsprogramme für EPUB haben meist eine zusätzliche Blätterfunktion, um bei einer linearen Erzählung von einem Kapitel zum nächsten zu gelangen. Dies ist bei einer nicht-linearen Erzählung nicht nützlich. Aufgrund von fehlerhaften Implementierungen kann es allerdings auch bei als nicht-linear gekennzeichneten Inhalten vorkommen, daß solch eine Blätterfunktion auch weiterhin verfügbar ist. Diese führt dann in der Regel allerdings zu falschen, sinnlosen Ergebnissen durch mehr oder weniger zufällige Korrelation. Von einer Nutzung einer derartigen Blätterfunktion ist bei diesem nicht-linearen Buch also abzuraten.
Bedingt durch die Struktur sowie das Konzept des Buches ähneln sich einige Abschnitte oder Kapitel, das kann zu einer Art Déjà-vu-Erlebnis führen, wobei die jeweiligen Kapitel dann bei näherer Betrachtung im Detail doch unterschiedlich ausdifferenziert sind. Also keine Panik, zudem ist eine gewisse Verwirrung der Form ‚hier war ich doch schon einmal!‘ durchaus beabsichtigt. Es gibt allerdings auch wenige Schleifen, wo ein solches Déjà-vu alsdann keine Täuschung ist, man also nicht auf ein neues, eigenständiges Kapitel stößt, sondern auf ein früheres zurückverwiesen wird.
Aber keine Panik!
Das gehört zum Konzept!
Warnhinweise
Dieses Buch enthält Schilderungen, wie eine Person in Panik oder Angst versetzt wird.
In einigen Handlungssträngen werden auch Praktiken aus den Bereich Sadismus und Masochismus geschildert.
Eine Nachahmung wird ausdrücklich nicht empfohlen. Verantwortung für eine Zuwiderhandlung gegen diese Empfehlung kann von der Autorin nicht übernommen werden.
Nicht nur bei Personen mit angegriffener Gesundheit kann ein solches Erschrecken oder eine fehlerhafte sadistisch-masochistische Quälerei gravierende körperliche Folgen haben, welche eine unmittelbare Behandlung durch Fachpersonal notwendig machen kann. Es können zudem psychische Probleme beim Opfer auftreten oder aufgedeckt werden, welche anschließend behandlungsbedürftig sind.
Insbesondere die sadistisch-masochistischen Praktiken und Spielereien sind absichtlich nicht besonders detailliert geschildert, um Nachahmung durch Laien zu vermeiden. Diese Methoden erfordern Erfahrung sowie Disziplin in der Ausführung, zudem gewisse medizinische Grundkenntnisse und eventuell auch medizinisches Gerät für den Notfall, um auf Überreaktionen des Opfers angemessen reagieren zu können. Es wird hier absichtlich nicht präzise aufgelistet, welche Kenntnisse, Maßnahmen und Geräte verfügbar sein sollten, um im Notfall angemessen reagieren zu können, gerade weil von einer Nachahmung dringend abgeraten wird.
Das Buch ist also auf gar keinen Fall als Anleitung oder Empfehlung für derartige Aktivitäten zu verstehen. Als Bestandteil des Lebens der Protagonistin sind diese aber - so weit für den Fortgang der Handlung erforderlich - angedeutet.
Wer Interesse an derartigen Praktiken hat, der sei zum einen an einschlägiges Fachpersonal verwiesen, ferner ebenso auf peinliche, treffsichere sowie treffende Fachliteratur.
In diesem Zusammenhang sei auch noch betont: Viele fühlen sich berufen, doch nur wenige sind befähigt.
Überdies existiert auch noch ein Unterschied zwischen den Gesandten und den Geschickten. Es kann fatale Folgen haben, wenn bei einer peinlichen Behandlung die Berufenen, Gerufenen, Gesandten keine Geschickten sind.
Ausgeprägt psychopathische Sadisten sollten nur unter Aufsicht quälen und Masochisten sollten sich solchen Personen in keinem Falle unter unkontrollierten, unbeaufsichtigten Bedingungen anvertrauen.
Einige Handlungsstränge schildern auch sexuelle Aktivitäten etwas ausführlicher, die allerdings nicht über den üblichen Rahmen hinausgehen. Zur Meidung für in dieser Hinsicht eher desinteressierte Leser sind diese Handlungsstränge in der Auswahl jeweils mit einem (e) versehen.
Technisches
Bei diesem Buch handelt es sich um eine vereinfachte Textausgabe. Anders als die Originalausgabe enthält diese Sonderausgabe auf besonderen Wunsch von BookRix keinerlei bucheigene Stilvorlagen. Graphiken sind zudem klar von der eigentlichen Erzählung getrennt am Beginn sowie am Ende als zusätzliches Material verfügbar, wobei diese Bestandteile derart angeordnet sind, daß diese typischen, ritualisierten Sonderinhalten klassischer gedruckter Bücher entsprechen, siehe auch das Inhaltsverzeichnis.
Diese Ausgabe ist besonders geeignet für Präsentationsprogramme, Geräte und Konversionsskripte, welche EPUB lediglich sehr rudimentär interpretieren können. Für Programme, welche das Format EPUB korrekt interpretieren, ist hingegen die Originalausgabe mit Graphiken sowie Stilvorlagen zu empfehlen.
Autorinnen sowie Mitarbeiter dieses Buches haben keinerlei Einfluß auf Mängel, Fehler, Lücken in der Interpretation von EPUB durch das jeweils verwendete Darstellungsprogramm. Bei Darstellungsproblemen sollten diese zunächst analysiert, lokalisiert werden. Dazu kann es unter anderem als erster Schritt helfen, mit verschiedenen Programmen auf Reproduzierbarkeit zu prüfen oder auch mit speziellen Prüfprogrammen zu verifizieren, daß insbesondere im Buch selbst wirklich kein Fehler vorliegt.
Entsprechend wird es anschließend möglich sein, eine zielführende Fehlermeldung korrekt zu adressieren. Die Autorinnen sowie Mitarbeiter können je nach Fehler durchaus die korrekten Ansprechpartner sein. Bei der Qualität aktueller Darstellungsprogramme können dies jedoch gleichfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit die Entwickler dieser Darstellungsprogramme sein. Entsprechend sind möglichst präzise Angaben zum Problem bei einer Fehlermeldung immer hilfreich.
Generell ist die Fehlerrate bei Darstellungsprogrammen vom Typ Brauser gängiger Anbieter deutlich geringer als bei speziellen Programmen oder Erweiterungen für Brauser zur Interpretation von EPUB. Insofern kann es bei größeren Problemen mit der Darstellung ebenfalls ein Ausweg sein, das EPUB-Archiv zu entpacken (es handelt sich bei EPUB immer um ein Archiv vom Typ ZIP, das Buch alsdann direkt im Brauser zu lesen, wozu zunächst die Datei Inhaltsverzeichnis.xhtml im Verzeichnis Inhalt aufzurufen ist, um einen Einstieg in die Lesereihenfolge sowie einen Überblick über den Inhalt zu bekommen. Über die Verweisfunktion des Verzeichnisses kann anschließend jeweils der gewünschte Inhalt aufgerufen werden. Die Inhaltsseiten haben zudem unten jeweils eine kleines Menü als Hilfe, um zurück zum vorherigen Kapitel zu gelangen, zum Inhaltsverzeichnis oder vor zum nächsten Kapitel, um diese Nutzung als entpacktes Archiv weiter zu vereinfachen.
Diese Nutzung mit entpacktem Archiv kann gleichfalls nützlich sein, um Probleme oder Fehler zu lokalisieren. Bei Einzeldokumenten sind überdies andere Prüfprogramme verwendbar.
Bei automatischen Konversionen dieses Buches im Format EPUB in andere Formate können diverse Mängel auftreten, welche sowohl an Fehlern und Problemen der zu naiv und einfach konzipierten Konversionsprogramme als auch an dem Format liegen können, in welches konvertiert wird. Autorinnen und Mitarbeiter dieses Buches haben keine Kontrolle über spätere Manipulationen oder Formatkonversionen, haben also keinen Einfluß auf die komplette Verfügbarkeit von Inhalten und Hilfen solch manipulierter Versionen. Sie empfehlen daher dringend, das unveränderte Original zu verwenden und sich dieses von einem leistungsfähigen Darstellungsprogramm präsentieren zu lassen.
Manuell ist es recht problemlos möglich, einige Techniken und Merkmale des Buches so weit zu vereinfachen, Inhalte anders aufzubereiten, um diese auch in verminderter Qualität in anderen Formaten verfügbar zu machen. Insbesondere bei wohl noch immer recht beliebten proprietären Amazon-Formaten (Mobipocket oder KF8) ist es recht einfach, ein passend vereinfachtes EPUB zu erstellen, aus welchem sich ein lesbares Buch in diesen minderwertigeren Formaten erzeugen läßt, sofern man sich mit EPUB sowie den Möglichkeiten dieser Formate etwas auskennt.
Inhalte
Probeliegen
Die Kälte kroch langsam von unten über das allerdings kaum feuchte Gras in Maries Leib und zerrte bereits ein wenig mit zaghaften Krallen nach ihrem Lebenspuls. Es war irgendwie schon wieder Herbst geworden, aber heute war noch ein ganz schöner Tag; obgleich schon kühl, schien doch die Sonne noch recht entschlossen durch die teils schon leicht verfärbten Blätter der Bäume, welche somit bereits schon auf die etwas morbide Stimmung von Vergänglichkeit des anstehenden, tristen, düsteren Herbstes einstimmten. Milde und sanft raschelte etwas Wind durch die Blätter, ein ungleichmäßiges Rauschen als Hintergrundgeräusch dieses stillen Momentes beisteuernd.
Für Marie war diese Mischung aus anfangender Herbstmelancholie sowie sommerlicher Reminiszenz ganz in Ordnung. Sie mochte alle Jahreszeiten. Alles hatte seine Zeit, auch die morbide Stimmung mußte die ihre haben. Und diese lag ihr ohnehin, daran gab es keinen Zweifel. Vielleicht genoß sie darum um so intensiver die warmen Sonnenstrahlen und die fröhlichen Momente im Leben. Sie nutzte die noch milde, melancholische Herbststimmung einfach schon einmal, um auf dem Friedhof probezuliegen. Sie hatte sich dazu im Parkbereich des großen Stadtfriedhofs in eine stille Ecke zurückgezogen und sich ins Gras gelegt.
Sie lag auf dem Rücken, ihre Beine lediglich leicht auseinander, ihre Arme etwas vom Körper weg gewinkelt; in dieser Lage war es am einfachsten. Wenn man sich nicht selbst berührt und nur noch still liegt, kommt recht schnell das Gefühl der Entspannung sowie Leere auf, ja eine gewisse Loslösung vom Körper selbst. Eine Illusion natürlich, jedoch eine Stimmung, welche Ruhe und Erholung verspricht.
Ihre Augen geschlossen konnte Marie so leicht ihre Gedanken treiben lassen. Von hier aus gab es verschiedene Möglichkeiten, man hätte konzentriert in die umgebende Natur hineinlauschen können, intensiv das nur leicht feuchte Gras spüren sowie den kalten Boden darunter. So konnte man gut die willkürliche Trennung zwischen dem Ich und der Welt etwas verwischen oder nahezu ganz auflösen. Das Ich kann nie wirklich eins mit der Welt sein, aber man kann Versöhnung anstreben, samt der Akzeptanz der Illusion, vom Rest separiert zu sein und man selbst zu sein.
Marie allerdings zog sich gern weiter zurück und trotzte einmal mehr der Zeit, welche immer zäher wurde, erst noch munter sickerte, dann nur noch tropfte, immer zäher, erst vielleicht noch wie Honig, endlich wie Pech oder gar Eis oder Glas. Irgendwann schien gar die Zeit vor ihr zu zaudern und so einen Bogen um sie zu schlagen, welche einfach bewegungslos lag und dermaßen in sich zurückgezogen war, daß sie gerade noch so eben genießen konnte, daß sie beinahe nicht mehr war. Dies war die Auflösung im Nichts, auch eine Illusion natürlich, denn man konnte nicht Nichts sein und gleichzeitig sein, ent- oder weder. Beides zusammen – unmöglich. Aber man konnte sich an das Nichts heranschleichen wie ein Dieb oder Meuchelmörder und ein wenig die Illusion genießen, Nichts zu sein, während man doch ganz sicher gleichzeitig ist. Ein hinterlistiger Betrug zwar, was zählt dies indes, wenn es niemandem schadet und man dadurch diese einmalige Ruhe genießen kann, eben dahintreiben wie nichts oder Nichts auf der Welt.
Marie hätte schon recht genau schätzen können, wieviel Zeit draußen um sie herum vergangen war, dort, wo die Zeit niemals zauderte und einem Bogen um sie machte, aber hier in ihrer Stille war all dies relativ unwichtig. Das beinahe Nichts erfrischte sie, sie gewann Distanz zur Welt und ebenso zu sich selbst sowie den Bedeutungen, welche man all den Dingen des Alltags gibt, wenn man nicht ab und an mal so einen Schritt zurücktritt und mit innerem Lächeln sein Vergnügen darin findet, die eigene Mühen und Bestrebungen so skurril und amüsant zu sehen, wie sie nun einmal sind – auch nicht weniger als all die der anderen Menschen da draußen außerhalb ihres Kopfes. Denen billigte sie immerhin zu, daß sie gleichfalls jemanden, ein Ich in ihrem Körper, ihrem Kopf haben würden, nur eben jemanden anderen – warum nicht, sollten sie doch.
All diese Ichs da draußen waren natürlich ähnlich geniale Selbsttäuschungen wie ihr eigenes Selbst, aber was zählte das, wenn man sicher fühlte, daß man war?
Das mochte sie wohl auch schon den anderen gönnen. Aber sie wollte es ebenfalls keinesfalls überbewerten. Das Ich ging stetig dahin wie die Zeit. Nur wenn man ganz nahe beim Nichts war, zauderte die Zeit und das Ich trat selbst erstaunt darüber zurück, wie nichtig es im Grunde war, wie klein und belanglos.
Aber hatte das Universum mehr Bedeutung als das eigene Selbst?
Warum sollte es, es machte so ohne Sinn und Verstand dahin, also mal abgesehen vom Verstand in den halbwegs intelligenten Wesen darin, aber der Rest war doch nur ein bunter Reigen von Raumzeit, Energie sowie Materie, was eben tat, was man inzwischen so an Naturgesetzen herausgefunden hatte. Natürlich, das Selbst als Teil davon brachte nichts anderes zustande als der ganze Rest, subjektiv jedoch hatte man schon immer wieder den Eindruck, entscheiden zu können, eine weitere geniale Illusion und Erfindung des Ichs, um sich von der Welt zu separieren.
Heute hatte Marie sich allerdings etwas anderes vorgenommen, als nur dem Nichts nahe zu sein. Das Leben wollte mit Erleben erfüllt sein, mit Sensation.
Das Leben will gelebt sein.
Das Leben will erlebt sein.
Das Leben will genossen sein, in Freude, Lust und Schmerz, gleichviel, man hat ja nur eines, also besser nichts davon verschwenden, nichts als verfehlt, belanglos, nichtig zurückweisen. Weil es das eigene ist, ist das Leben relevant, nicht weil es notwendig ganz anders als das all der anderen ist, einzigartig oder besonders. Das ist es doch nur, weil es das eigene ist, subjektiv erlebt, erfahren, erforscht, erobert.
Es muß etwas im Leben passieren, man muß etwas vom Leben wahrnehmen. Das Selbst geht in die Irre ohne regen Austausch mit dem Rest der Welt. Jene Sensationen, Informationen von der Welt müssen im Gehirn verarbeitet sowie einsortiert werden.
Sie befand sich heute in diesem Zustand der Zurückgezogenheit nicht, um beinahe Nichts zu sein. Dieser kontemplative, meditative Zustand war sehr leicht in einen Klartraum zu überführen, bei dem das Unterbewußtsein, der Rest des Körpers irgendwann davon ausgeht, daß man schläft. Der Körper testet dann, jedenfalls die wenig trainierten Laien, es kribbelt hier und drückt dort, daß man sich bewegen möchte, um das abzustellen. Widersteht man dem überzeugend ohne Bewegung, hat auch der Laie ganz gute Chancen, diesen Zustand des Klartraums zu erreichen, in welchem man wiederum mehrere Möglichkeiten hat. Man kann seinem Unterbewußtsein sozusagen beim Träumen sowie dem Sortieren der Gedanken über die nicht vorhandene Schulter schauen und im Bedarfsfalle etwas eingreifen sowie steuern, wohin das alles geht, in eventuell bereits von selbst einsetzende Träume eingreifen und gezielt darin agieren. Die andere Möglichkeit besteht darin, selbst aktiv zu werden und einen Traum, eine Aktion zu initiieren sowie komplett zu steuern. Weil sich der Körper im Schlaf wähnt, folgt er keinen Bewegungskommandos des Gehirns, weshalb man in diesem Zustand sowie in diesem Bewußtsein seiner selbst die Illusion aufbauen kann, den eigenen Körper zu verlassen und so jenseits des Materiellen dasselbe von außen zu beobachten.
Auf einen solchen ausgedehnten Klartraum hatte Marie sich gut vorbereitet. Sie hatte sich sehr detailliert Karten und Satellitenbilder von Friedhof und Umgebung angesehen und war damit auch aufgrund vorheriger Spaziergänge recht vertraut, der letzte Spaziergang von eben hatte gleichfalls dazu gedient, nicht nur diesen ruhigen Platz aufzusuchen, sondern ebenso, um sich einen aktuellen Eindruck zu verschaffen. Nun brach sie einfach auf. In diesem Klartraum verließ sie ihre körperliche Hülle und stieg ein wenig auf, bis in die Äste des Baumes, unter welchen sie ihren Körper gelegt hatte. Sie drehte sich und schaute auf ihren Körper zurück, wie dieser friedlich, scheinbar schlafend oder gar tot lag. Sie war zufrieden und stieg weiter auf. Von oben ließ sie den Blick zunächst über den Friedhofspark schweifen, Bereiche mit Bäumen und Büschen, geschwungene Wege, dann den See mit seiner kleinen Insel, diverse repräsentative Grabanlagen. Sie stieg höher, so konnte sie ebenfalls die Abteilungen mit den einfachen Gräbern überschauen, überdies die größeren Sektionen mit Gräbern sowie Gedenkmälern noch von oder für die beiden Weltkriege. Von noch weiter oben waren daraufhin bald die Grenzen, teils Mauern, teils Zäune des Friedhofs erkennbar sowie die Stadt drumherum. Dort waren zudem die Schienen der Straßenbahn, welche im Innenstadtbereich lediglich zu Untergrundbahn wurde, hier weiter draußen aber nur neben der Straße ihren eigenen Verkehrsweg hatte, teils in weniger ausgebauten, engeren Bereichen auch die Straßen mit anderen Verkehrsteilnehmern teilen mußte. Um den Friedhof herum waren im wesentlichen mehrstöckige Wohnhäuser, im Bereich des Haupteingangs des Friedhofs mit seiner prächtigen Kapelle ebenso die üblichen einschlägigen Geschäfte. In die richtige Richtung gedreht reichte der Blick von hier ein ganzes Stück weiter bis zur Innenstadt, wo man den Standort des Hauptbahnhofs grob anhand eines benachbarten, heute schon außer Funktion gesetzten Funkturms erkennen konnte. Der erheblich größere, noch in Betrieb befindliche war deutlich weiter draußen in einem anderen Stadtteil, auch den aber konnte man von hier oben gut erkennen, wie gleichfalls den See südlich der Innenstadt, die Waldgebiete, welche die Stadt weiträumig durchzogen. Ja, hier konnte man sich wohlfühlen, nicht zu groß und doch pulsierend lebendig, jedenfalls jenseits der Stille der Friedhöfe.
Marie hatte genug vom Ausblick genossen und kam wieder weiter herunter, machte nun einen kleinen Ausflug über den See des Friedhofs, auch vorbei an diversen Grabskulpturen, von denen es hier einige prächtige besonders bei den repräsentativen Anlagen rund um den See gab. Auch die Insel im See durchstreifte sie flüchtig, hier gab es eher auch aufgrund des begrenzten Platzes nur etwas einfachere Grabmale, aber die Lage war natürlich schon sehr schön, eigentlich recht albern für Gräber, in denen doch letztlich nur noch tote Knochen lagen, welche nichts mehr von der schönen Parkanlage mitbekommen konnten. Die Besucher konnten dies selbstverständlich. Das mochte es auch erfreulicher machen, die verbliebenen Reste der verstorbenen Verwandtschaft oder Bekanntschaft ab und an einmal zu besuchen. Marie hatte hier auf dem Friedhof nur eine Bekannte, die leider an Krebs verstorben war. Auch bei deren Grab hatte sie heute schon kurz persönlich vorbeigeschaut.
Nun aber sauste sie munter am See einer Libelle nach, eine Mosaikjungfer wohl, die das schöne Wetter noch gut ausnutzen konnte und sich dann auch nur flüchtig mit einem Blaupfeil stritt, bis man verärgert übereinander, aber unentschieden in verschiedene Richtungen flog. Wasserläufer zappelten in der Nähe der Ufer, kleinere Fische waren im See zu erkennen und natürlich die Blätter der Seerosen und ebenso die Enten, genauso Schwäne.
Marie genoß das Naturschauspiel hier im Park noch eine Weile. Natürlich war dieser Park auch eine Inszenierung, aber jedes Tier und jede Pflanze wußten die Bühne schon ganz gut für ihr eigenes Stück zu nutzen, bis auch sie irgendwann das Schicksal ereilte, wie all jene, denen hier großzügig Grabmäler gesetzt worden waren.
Marie drehte ohne Eile eine weitere Runde über den Park, danach ging es zurück zu ihrem Körper. Sie mußte gar erst etwas suchen, da sie diesen recht gut verborgen vor Blicken niedergelegt hatte. Aber endlich war sie doch an der richtigen Stelle durch die Baumwipfel durch, drehte sich und legte sich wieder in ihren Körper hinein. Es war ja ohnehin bloß ein Klartraum, von daher war sie natürlich nie weg, allein, es fühlte sich gerade so an, als sei sie von einem Ausflug gerade wieder heimgekommen.
Ihr kam eine philosophische Logelei in den Sinn – was, wenn sie innerhalb eines solchen Klartraums in einen anderen Körper führe und dort scheinbar erwachte?
Was, wenn sie nur scheinbar im Traum in ihren eigenen Körper zurückkehrte und nur träumte, aus dem Klartraum zu erwachen?
Der Gedanke machte ihr schon Spaß, sie schob ihn indes letztlich doch wieder beiseite. Sie befand sich in ihrem Körper, so oder so.
Der Körper war starr, kalt und wie tot. Marie verharrte noch einen Moment und nahm dieses Gefühl tief in sich auf. Das war sozusagen probeliegen, wobei die Vorstellung wörtlich genommen natürlich recht albern war, denn war man tot und der Leib verbrannt oder verscharrt, gab es da nichts mehr, kein Ich, von daher war es egal, wortwörtlich brauchte man nicht probieren – und doch hatte es eine gewisse Faszination, welche sie unterdessen etwas amüsierte. Und danach fühlte man sich umso lebendiger, wenn man diesem Nichts noch einmal von der Schippe gesprungen war. Wenn man tot war, war man keineswegs Nichts, man war einfach nicht mehr, hatte also auch kein Bewußtsein mehr darüber, nicht mehr zu sein. Über den eigenen Tod sowie das Nichts kann bloß reflektieren, wer es nicht ist.
Aber Marie hatte heute noch etwas Praktischeres vor, so beendete sie langsam ihren Klartraum und ihre kontemplative Meditation. Die Kälte hatte wirklich inzwischen mit mächtigen Klauen nach ihrem Leib gegriffen, welcher starr und fröstelig geworden war, deshalb war es gar nicht so einfach, überhaupt wieder Leben sowie Bewegung in ihren Körper hineinzubringen. Nur sehr zögerlich reagierte dieser letztlich doch und Marie konnte ihn wieder bewegen, obgleich er sich noch immer recht taub anfühlte. Aber diese Empfindung war relativ harmlos, bloß vorrübergehend, war ihr bewußt. Blad darauf konnte sie doch aufstehen und bewegte sich nun ordentlich, schüttelte alles durch, rubbelte über Arme und Beine, um das Blut wieder ordentlich in Bewegung zu bringen. Offenbar ließ sich ihr Körper im Grunde recht schnell davon überzeugen, hier probezuliegen oder gar auch liegenzubleiben. Dabei galt es folglich schon aufzupassen, ihr träges Fleisch wieder unter Kontrolle zu bringen.
Marie schaute auf ihre Uhr. Alles war so weit in Ordnung und die angegebene Zeit entsprach recht genau ihrer Schätzung. Sie hatte noch etwas Zeit, bis sie Lotte treffen würde. Deshalb schlenderte sie gemütlich los, einen weiteren Bogen nehmend, welcher sie irgendwann zu jenem Mausoleum führen würde, wo sie sich verabredet hatte. Sie hatte natürlich schon früher einen Blick in das Mausoleum geworfen und sich einen Eindruck verschafft, hatte daher schon recht genaue Vorstellungen, wie es ablaufen sollte, hatte selbst schon ein paar Sachen dort deponiert und mit Lotte grob abgesprochen, was gemacht werden sollte, somit war eigentlich bis jetzt alles gut vorbereitet. Mit Lotte zusammen konnte es alsdann weitergehen, das Mausoleum und die Gruft kurz mit ihr besichtigen, anschließend konnte sie loslegen. Sie würde ihren Spaß haben. Dafür war Lotte zu haben und sie würde später ja auch nicht bleiben, bis ihre Bekanntschaft eintreffen würde.
Sie hatte sich hier mit Florian verabredet, mit dem sie Kontakt über eine Partnerbörse im Netz bekommen hatte. Florian war eigentlich ein ganz lieber, netter Kerl, knuffelig sowie knuddelig. Er war – wie übrigens zahlreiche andere auch – vor ihrem ehrlichen und offenen Profil nicht zurückgeschreckt. Ihre Unterhaltung über Nachrichten war recht kurzweilig. Irgendwann hatte Florian vorgeschlagen, daß sie sich doch einmal persönlich treffen könnten. Marie war skeptisch gewesen. Florian war jedoch nett und überdies in dem Punkt auch noch hartnäckig, deshalb hatte sich Marie schließlich überreden lassen, also wurde eine Treffen zu ihren Bedingungen verabredet. Anschließend hatte sie eben organisiert, wie es ihre Art war.
Ihr Bogen führte sie am Mausoleum vorbei. Sie würde gleich weitergehen, Lotte entgegen, denn sie wußte, welchen Eingang diese nehmen würde.
Im Klartraum verwischte immer ein wenig, was jetzt Traum war und was profanes Jetzt. Sie brauchte immer ein wenig, um genau festzulegen, daß sie nun wieder im Jetzt war. So hielt sie vor dem Mausoleum ein wenig inne und fokussierte ganz auf das Hier und Jetzt. Im Klartraum hatte man eher den Überblick und wie man die Zeit zaudern fühlte, wurde auch der Raum eventueller und nicht mehr so eindeutig präsent. Raum und Zeit bilden in der Raumzeit ja sowieso eine Einheit.
Selbst wenn man nach dem Klartraum schon wieder eine Weile unterwegs war, fühlte sich immer noch alles an, als sei es nicht ganz echt, nicht ganz profan, sondern irgendwie wie hingedacht, wie von einem Impressionisten hastig und doch mit Leidenschaft sowie Einfühlungsvermögen für die Stimmung auf eine Leinwand gebannt, allerdings beweglich und veränderlich, begreifbar. Mit Fokussierung wurde im Anschluß aus dem Impressionisten kurzfristig ein Hyperrealist, welcher alles viel zu genau machte, als daß man es genau hätte erfassen können, aber dabei bloß noch ein kleiner Ausschnitt, der in seinem Detailreichtum, in der Abstraktion dieser Details eigentlich ähnlich rätselhaft erschien wie der Überblick aus der distanzierten Sicht des Klartraums, in welchem sie virtuos in die Schubladen ihres Seins greifen konnte, um alles hervorzuholen und um den kleinen Finger gewickelt gelten zu lassen.
Marie griff mit ihrer linken Hand, mit der Funkuhr dran, in ihre Tasche, um den Schlüssel für das Mausoleum zu ziehen und dann mit einem Blick die Zeit zu fixieren, womit daraufhin schlagartig der Überblick über das Ganze wieder verwischen würde und sie wieder eintauchen mußte in die profane Bestimmtheit des Alltags und schwelgen in der Gestaltung des heutigen Tages …
Der Wind rauschte leicht durch die Blätter der Bäume.
Ein Eichhörnchen zischte vorbei und schaute nur kurz irritiert.
Die Zeit signalisierte, daß sie nicht länger zaudern mochte?
Sie gab sich zu erkennen, daß sie nicht länger einen Bogen um sie schlagen mochte?
Marie schaute auf.
Doch wohl eher nur ein ganz normaler Windhauch an einem sonnigen Herbsttag.
Sonnenstrahlen kitzelten mild und lustig ihr Gesicht und Marie mußte lächeln, zog daraufhin entspannt sowie gelassen ihre Hand aus der Tasche …
Was als nächstes?
Was willst du wissen oder was soll passieren?
Ende
Der Text ist zu Ende. Aufgrund technischer Mängel von Darstellungsprogrammen kann es allerdings sein, daß Seiten aus dem Inhalt in technischer oder alphabetischer Reihenfolge angeboten werden und nicht in der Reihenfolge der Erzählung. Eine solche Anordnung kann komplett ignoriert werden. Im Navigationsmenü gibt es eine Übersicht.
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Ebenfalls verfügbar ist diese Information als eine graphische Visualisierung als Vektorgraphik, in welcher ähnlich wie in einem Inhaltsverzeichnis ein Kapitel oder Handlungsstrang oder sonstiger Inhalt direkt ausgewählt werden kann.
Die Vektorgraphik ist eine Übersicht über im Buch verfügbare Dokumente und Kapitel sowie ihrer inhaltlichen Korrelation. Die Kurven mit Pfeilen daran repräsentieren jeweils verfügbare Verknüpfungen zwischen den Kapiteln, also keinerlei lineare Lesereihenfolge. Eine solche ergibt sich indes, wenn jeweils diesen Pfeilen gefolgt wird, folglich jeweils genau eine Alternative ausgewählt wird.
Weil viele Kapitel auf den Epilog verweisen, wird dieser in der Graphik durch zwei Symbole repräsentiert, einmal wie alle Dokumente durch eine beschriftete Ellipse, zusätzlich oben aber auch noch durch einen Kreis, welcher zum Symbol gehört, aber anders positioniert ist, um die Kurven und Pfeile übersichtlicher anordnen zu können.
Aus entsprechenden Gründen sind dann die im Inhaltsverzeichnis und die in der Vektorgraphik verfügbaren Verknüpfungen nur mit einem symbolischen Element ‚alle Seiten‘ aufgeführt.
Das klassische Inhaltsverzeichnis als Liste mit Texteinträgen ist allerdings lediglich begrenzt nützlich und fungiert primär als Hilfe, Zusatzinformationen, den Einstieg ins Buch oder die graphische Visualisierung der Inhaltsstruktur auszuwählen oder auch ein aktuell zu lesendes Kapitel bei einer Unterbrechung wiederzufinden.
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Weil viele Kapitel auf den Epilog verweisen, wird dieser in der Graphik durch zwei Symbole repräsentiert, einmal wie alle Dokumente durch eine beschriftete Ellipse, zusätzlich oben aber auch noch durch einen Kreis, welcher zum Symbol gehört, aber anders positioniert ist, um die Kurven und Pfeile übersichtlicher anordnen zu können.
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Epilog
Marie saß im Schneidersitz auf einer Wiese im Park, den Rücken ganz gerade und die Hände mit den Innenseiten offen nach oben auf ihre Knie gelegt. Sie hatte die Augen geschlossen, genoß die Wärme sowie das Licht der Herbstsonne auf ihrem Gesicht, wie es ihre dunkle Kleidung erwärmte, sie umschmeichelte. Sie hatte sich einmal mehr in sich zurückgezogen und war in Gedanken vertieft, bekam dennoch ungefähr mit, was sich um sie herum im Park abspielte. Sie bemerkte einige Insekten, welche noch über die Wiese flogen, da waren ebenso Vögel verschiedener Arten und auch mindestens ein keckes Eichhörnchen, welches im Zweifelsfalle aber doch immer gleich sehr schnell auf einem Baum war. Etwas weiter weg flanierten Passanten auf dem Gehweg, murmelnd oder schweigend, ab und an ein Windstoß, ein frisches Lüftchen im Gesicht.
In Gedanken versunken ließ sie einmal mehr die Zeit etwas zaudern; ihr gelang es auch in dieser Position mühelos, ihren Körper sowie ihr Unterbewußtsein glauben zu lassen, sie würde schlafen. In diesem Zustand des Klartraums löste sie sich in Gedanken von ihrem Körper, stieg schwerelos hinauf, schaute über den Park, den Stadtteil, die Stadt, in welcher mehr als eine halbe Million Menschen irrten, wuselten, strebten, hasteten, ihren Angelegenheiten nachgingen oder gleichfalls ruhten, die Zeit verstreichen ließen. Das war gleichzeitig beunruhigend sowie interessant, sich vorzustellen, wie all diese Menschen jeden Moment Entscheidungen trafen und umsetzten, damit die Stadt und die Welt veränderten, während sie hier in aller Ruhe saß und die Zeit um sich herum verstreichen ließ und bis ins Zaudern beeindruckte. All diese Menschen mühten sich, formulierten Ziele, versuchten sie zu erreichen oder lebten einfach nur in den Tag hinein, um ihre Existenz zu genießen.
Wie war das nun mit dem Treffen mit Florian?
Hatte sie gerade nur alles durchdacht und vorbereitet, verschiedene Möglichkeiten durchgespielt oder war alles schon passiert?
Vermischen sich die verschiedenen möglichen Abläufe des Treffens zu einer wilden Superposition sowie unbestimmten Trajektorien, wobei man einen Weg erst festlegen kann, indem man beobachtet, auswählt?
Dies ähnelt ein wenig der Quantenphysik.
Legt man indessen eine Position, eine Entscheidung fest, so verwischt etwas anderes, man kann nicht alles wissen oder festlegen. Die Unbestimmtheit fordert ihren Tribut, sorgt für das angemessene Maß an Unwissen über die Welt. Je genauer wir einen Aspekt erfassen, desto unbestimmter, unschärfer wird unser Bild von der Welt in einem anderen Aspekt. Uns hat ja überdies niemand versprochen, daß alles so einfach sein kann, daß es zu unseren naiven Gedanken, zu unserem naiven Modell von der Wirklichkeit paßt.
Wäre diese Welt so einfach wie unsere naiven Gedanken, könnten wir darin gar nicht existieren!
Gibt es diese Wirklichkeit erst durch die Beobachter, durch jene, welche darüber reflektieren?
Das ist wohl eher nicht der Fall, nur ohne Bewußtsein, welches über sich selbst sowie die Welt reflektieren kann, gibt es diese Fragestellung ja gar nicht und es ist nicht relevant, wie alles funktioniert sowie zusammenpaßt. Erst wenn ein Bewußtsein darin gezielt agieren will, es wahrnimmt, stellen sich ja überhaupt solcherlei Fragen, was wahrgenommen wird, wie wahrgenommen wird, wie etwas darin zu ändern ist, was die Relation des Bewußtseins zum Wahrgenommenen ist.
Niemand hat uns ja unterdessen versprochen, daß es wirklich gelingt, die Welt mit mathematischen, logischen Modellen zu erfassen sowie zu verstehen, obwohl es ja praktisch doch ganz gut funktioniert.
Vielleicht ist die Menschheit aber dann doch einfach zu dumm sowie zu beschränkt, um wirklich ein schlüssiges sowie verständliches Modell für alles zusammen zu erdenken?
Gibt es überhaupt eine Realität oder ist alles lediglich ein Klartraum eines allzu naiven Ichs, welches sich selbst eine Geschichte über die Welt erzählt, deshalb schon glaubt, alles verstanden zu haben, allerdings übersieht, wie anderes verwischt, wenn man einen Zipfel erwischt zu haben meint?
Das alles ist eine Superposition von abhängigen Unmöglichkeiten oder unabhängigen Möglichkeiten. Greift man das eine heraus, gefriert das Ganze und zerbricht in ein Meer oder gar ein Mehr von fraktalen Scherben des Seins, nur noch Facetten, subjektive Impressionen vom Sein. Hält man gedanklich inne, zerfließt die Zeit, schreitet man nicht mehr voran, zerrinnt der Raum. Erfaßt man jedoch Zeit sowie Raum als Raumzeit, drängt diese in enge Schranken, so zerfließt das Sein. Jegliche Erkenntnis zerspringt in facettenreiche, mannigfaltige Splitter, sucht man sie zu fixieren. Alles muß etwas verschwommen, improvisiert bleiben, um lebendig durch Raum und Zeit zu schreiten. Erkenntnis liegt in der Unschärfe des eigenen Standpunktes innerhalb der Raumzeit. Wissen ist ein Arrangement mit dem Universum, ein immerfort währendes Spiel.
Solch eine Anekdote wie diese über die Ereignisse in der Gruft ist ja immer nur Dichtung, Verdichtung der Ereignisse.
Wenn der Leser auswählen kann, was passiert, was ist letztendlich wirklich passiert oder kann etwa der Leser Einfluß darauf nehmen, was passiert ist, nur durch die Auswahl einer Alternative?
Wobei ja ganz klar ist, daß es sich bei den meisten Auswahloptionen bloß um Pseudoalternativen handelt, welche nichts oder fast nichts ändern, lediglich Nuancen, sonst scheint alles festgelegt. Andere winzige Abweichungen, kleine Änderungen scheinen allerdings wieder beinahe alles zu ändern sowie zu einem komplett anderen Verlauf zu führen. Was zutrifft, wie groß die Abweichungen werden, kann man in dem Moment nicht wissen, in welchem man auswählt. Es bleibt der Genuß der Wahl, das Kribbeln der Ungewißheit, die Tendenz der Dinge sowie Personen, so zu sein, wie sie nun einmal sind.
Was jedoch bedeutet dieser Umstand für die Realität, ist alles nur Interpretation sowie Illusion?
Welche Sicht mag Florian auf die Ereignisse haben – oder hat alles gar nicht oder noch gar nicht stattgefunden und es gilt nun, die Weichen zu stellen sowie aus dem Klartraum zu erwachen, um sich dem Treffen zu stellen?
Welche Variante wäre unter dieser Bedingung auszuwählen?
Spielt diese Wahl wirklich eine Rolle?
Wenn ferner alles schon passiert war, welche Konsequenz wäre daraus zu ziehen?
Welchen Sinn hat solch ein Treffen, wenn doch alles zum Scheitern verurteilt ist, lediglich kurzweilige Spielerei bleibt oder spielerische Kurzweil?
Ist solcherlei Spiel nicht im Grunde genug?
Was könnte Marie mehr erwarten, was mehr erreichen?
Wie könnte sie sich auf mehr einlassen?
Sie spürte einerseits die unendlichen Möglichkeiten von Alternativen, war sich jedoch andererseits auch der endlichen Unmöglichkeiten völlig sicher, welche sich ihr dadurch boten.
Sie spürte die enttäuschende Trivialisierung des Seins darin, vermutete dahinter aber ebenso die täuschende Enttrivialisierung des Seins, wenn es allzu einfach war, zu verstehen, wie die Welt funktionierte und welches ihre Spielräume waren, in welchem Rahmen sie variieren konnte. Ausbrechen ist letztlich ja bloß eine Illusion, man kann sich nicht vom eigenen Ich befreien. Was immer man auch tut, letztlich ist es ja doch immer das Ich, welches aus sich heraus agiert. Es gibt keine Freiheit vom Ich und damit auch keine ganz freie Entscheidung, allerdings gleichfalls keine Vorsehung oder Vorherbestimmung, allenfalls die statistische Vorhersagbarkeit großer Menschenmassen, allerdings keinerlei Details. Wie immer bleibt alles etwas verschwommen sowie verwischt irgendwo dazwischen.
Es kam ihr vor, als wäre das Leben ein finsteres Labyrinth, durch Zweifel sowie Versagen verfinstert. Die meisten Abzweigungen sind lediglich Pseudoalternativen, tröstliche Unvollkommenheiten oder untröstliche Vollkommenheiten, welche man durchschreitet. Je mehr man zu verstehen, zu fixieren versucht, den Weg festzulegen trachtet, desto verworrener und ungefährer wird es. Legt man einen Weg durch das Labyrinth fest, wird die Ausdehnung unendlich und jegliche Ausgänge verschwinden im Nebel der Unschärfe des Wissens.
Oder verbleichen sie im Irrtum der Schärfe des Unwissens?
Sie dachte an die Hunderttausende in der Stadt, wie sie alle im eigenen Labyrinth irren, wuseln, hasten, wobei sich manche Wege mit anderen kreuzen, scheinbar Fixpunkte der Gewißheit festlegen, wo eine gemeinsame Interpretation von Wirklichkeit gelingt.
Doch wie oft bleibt die Kreuzung verschwommen, zumal in der individuellen Erinnerung?
Wie oft ist man sich uneins, was passiert ist, wie man verstanden hat, was man angeblich gemeinsam erlebt hat?
Wie oft bleibt ein Konsens aus, obwohl die eigenen Erinnerungen so klar sind?
Die Zeit erscheint als gnadenlose, gleichgültige Putzfrau, welche hinter uns aufwischt, all das Erlebte bestenfalls wieder in den Schmutzeimer gemeinsamer Geschichte auswringt. Dort steht die trübe Brühe und wird bisweilen einmal wieder umgerührt, wenn ein Verzweifelter herauszufinden, festzulegen sucht, was geschah. Aber es bleibt eine trübe Brühe der Täuschungen sowie Interpretationen.
Wo die Brühe klar erscheint, scheinen die Interpretationen zu konvergieren, aber um welchen Preis?
Zwangsläufig muß sich der Schmodder letztlich wieder anderweitig stärker konzentrieren, die Brühe sodann dort zum Ausgleich noch mehr trüben.
Das ist sozusagen die Unschärferelation menschlicher Geschichte sowie Vergangenheit.
Marie sank in Gedanken zurück in ihren Körper, welcher sich taub, leer sowie zeitlos anfühlte, bis sie sich mit Körper und Unterbewußtsein wieder halbwegs darauf geeinigt hatte, was zum Ich gehörte und was Außenwelt war. Wieder einmal war der Kompromiß geschlossen – mit Hand und Fuß, welche nun wieder dazugehörten, Ich waren, ganz praktisch.
Marie bewegte erst einmal ihre Hände ein wenig.
Füße und Beine prickelten, nachdem sie deren Position ein wenig geändert hatte.
Das Blut strömte nun wieder spürbar durch das, was man so als Ich bezeichnen konnte.
Unter sich spürte sie den harten, eher kalten Boden der Wiese.
Das war nicht mehr Ich, dazwischen war irgendwo eine Grenze, auf welche man sich stillschweigend geeinigt hatte.
Dort war schon anders.
Dort war die Welt.
Marie öffnete ihre Augen.
Sie saß immer noch im Park des Friedhofs.
Es war ein prächtiger, sonniger Tag im Herbst.
Insekten und Vögel waren zu beobachten, wie sie lebendig durch die Gegend zischten – hatten diese Zeitgenossen sich jemals gefragt, wer sie waren, hatten diese Wesen jemals über sich sowie die Welt reflektiert, sich jemals überlegt, welchen Firlefanz sie doch jeden Tag veranstalteten?
Und wozu?
Um endlich am nächsten Tag gefressen zu werden oder in der Kälte des Winters zu verenden, was jedenfalls die meisten Insekten betraf?
Die Vögel hatten zumeist ein etwas großzügigeres Arrangement getroffen, jedenfalls falls sie nicht von einem anderen Tier als Beute erwischt wurden.
Nun und die Eichhörnchen waren wie immer schnell sowie fleißig, immer bemüht, einen Vorrat anzulegen und ihn doch bald wieder vergessend, um später in der Not eher zufällig an Stellen zu suchen, wo ein gutes Versteck wäre. Manche Menschen sind auch so. Nicht umsonst heißt es, der Teufel sei ein Eichhörnchen.
Nur welches von den putzigen Tierchen?
Doch nicht alle?
Das wäre eine arge Teufelei – wobei solch ein Teufel ja doch bloß der Name für eigene Defizite ist – oder die Bösartigkeiten anderer – oder die Gleichgültigkeit des sonstigen Universums über das eigene Schicksal.
Marie stand auf und ging entspannt durch den Park.
Wie stand es um ihr eigenes Arrangement mit der Welt?
Es war selbstverständlich albern anzunehmen, daß das alles mehr als der Ablauf der Zeit wäre, eine gleichgültige Zeit, eine gleichgültige Welt.
War das ebenso eine gleichgültige Marie, welche über Zeit und Welt reflektierte?
Sinn kann man alledem bestenfalls selber und rein subjektiv geben – eine Möglichkeit der Beschäftigung mit der Welt, eine Interpretation der Geschehnisse, eigener Entscheidungen, Aktivitäten, keineswegs eine Notwendigkeit.
Sinn kann man nicht finden, sondern nur definieren oder die Definitionen der anderen zur Kenntnis nehmen. Dem Blödsinn kann man natürlich gleichfalls widersprechen, sich dabei an der eigenen Intelligenz erfreuen, welche einen in die Lage versetzt hat, den jeweiligen Blödsinn zu erkennen. Auch das ist Selbsttäuschung, wenn man davon ausgeht, daß bei einem ausreichenden Abstraktionsgrad letztlich alles irgendwann zu Blödsinn sowie Irrtum wird. Jegliche Erkenntnis kann ja nur von endlicher Genauigkeit sein – wenn überhaupt eine vorliegt.
Im Grunde ist doch alles bloß ein kurzweiliges Spielchen, eine Illusion gar des Ichs, wobei das Ich selbst eine geniale Selbsttäuschung des Hirns ist, welches über sich sowie die Welt reflektiert, sich von ihr künstlich separiert, um sich wichtig zu machen mit all der Grübelei. Dennoch, ohne subjektive Trennung, Distanzierung von der Welt, kein Ich, keine Reflexion über das Ich, das Universum sowie den ganzen Rest – sofern da noch mehr sein sollte.
Marie schlenderte lächelnd den Weg entlang, hielt vor einem Mausoleum.
Welcher Tag war heute, welche Realität war gerade?
Wollte sie sich jetzt gleich mit Lotte treffen, um sich für ein Treffen mit Florian zu schminken sowie zu verkleiden für ein späteres, vergnügliches Stelldichein in der Gruft im Mausoleum?
Oder war das schon längst passiert und sie war das alles nur noch einmal in Gedanken durchgegangen?
Hätte sie anders handeln sollen?
Eine andere Alternative auswählen?
Oder hatte sie bislang lediglich alles so sorgfältig durchdacht, um jetzt richtig zu wählen?
Gab es richtig überhaupt?
In dem Zusammenhang?
Oder waren das alles bloß Pläne sowie Ideen, was passieren konnte, wenn sie den Schlüssel für das Mausoleum hätte.
Hatte sie diesen von Thomas erbeten sowie bekommen, um dieses Treffen originell zu gestalten?
Oder sollte sie Thomas erst einmal fragen, ob er irgendwie solch einen Schlüssel einmal organisieren könnte für solch ein lustiges Abenteuer?
Oder war doch schon alles passiert?
Hatte sie sich gerade im Klartraum verirrt?
Hatte sie im Labyrinth von Raum und Zeit sowie Gedanken eine falsche Abzweigung genommen?
Sie brauchte lediglich auf ihrer Funkuhr nach Datum sowie Uhrzeit zu schauen.
Sie brauchte nur in ihre Tasche zu greifen, um den Schlüssel herauszuholen und aufzuschließen.
Sie brauchte bloß auf Lotte zu warten.
Sie brauchte im Grunde nur zu sein.
Da war nicht mehr.
Sein.
Ferner die Zeit spüren wie den lauen Wind, die milden Sonnenstrahlen auf der Haut im Gesicht.
Sie konnte einfach lebendig sein, die Zeit laufen lassen, die Dinge geschehen lassen.
Selbstverständlich wäre dies die pragmatische, einfache Interpretation der Dinge; bekannt ist ja auch das Phänomen der verschachtelten Träume.
Träumt man in einem Traum, man würde träumen, man würde träumen, man würde träumen etc, woher sollte man wissen, welche Stufe dieser Kaskade betroffen war, wenn man erwachte?
Aus welchem Traum war man erwacht?
So konnte es natürlich auch in einem Klartraum passieren.
Entweder, man vergaß ganz, daß man träumte, lebte so immer weiter in einer hypothetischen Variante seines Seins oder aber man erwachte, nahm dabei jedoch versehentlich den falschen Ausgang, keineswegs den nächstliegenden des Klartraums, sondern den eines übergeordneten Klartraums, von dem man gar nichts mehr weiß oder nie gewußt hat – plötzlich steht man in einer ganz anderen Welt. Alles wirkt gebrochen sowie irreal, wenn langsam das Blut wieder durch die Adern fließt und alles prickeln läßt. Hat man den Anfangspunkt des Klartraums vergessen oder verdrängt, aus dem man so erwacht ist, so würde das Jetzt nicht mehr zu dem passen, was man als Vergangenheit, als Anknüpfungspunkt an die Vergangenheit erwartet hatte.
Was, wenn sie plötzlich wieder als Kind, als kleine Marie in jenem Haus erwachte?
Wenn alles, das Heim, das Studium nur ein Traum gewesen war?
Wenn er gleich durch die Haustür kommen würde, in das Zimmer, sie träumend statt lernend vorfinden und sie strafen würde?
Wenn er zornig über sie herfallen würde?
Wenn da wieder der Schmerz wäre?
Wenn da wieder selbst diese ungeheuerliche Pein zu dulden wäre, wenn sie wieder ausgeliefert wäre?
Ein Schlag und sie wäre wieder wach im alten ausweglosen Alptraum des Schmerzes sowie der Erniedrigung.
Alles, was sie dachte erreicht zu haben, alles, was sie war, wäre nur eine Illusion gewesen?
Vor diesem Ausgang sollte sie sich wohl hüten. Das war nicht mehr der ihre.
Eingang oder Ausgang?
Dies sind ihre Schatten der Vergangenheit, welche noch immer ihre Klauen wetzen, um das Ich in den eigenen Abgrund zu ziehen. Festgeklammert, am Leben saugend wie eine feiste Zecke ließen sie sich mitnichten abschütteln und entfernen. Ständig war Kraft notwendig, um sich gegen sie zu wehren, diese doch auch dadurch zu nähren, daß man sie darin bestätigte, daß sie existierten, weil es unmöglich war, ihre Existenz einfach zu negieren, einfach als nicht mehr zutreffend zu erklären.
In einem Labyrinth kann man sich leicht verirren, statt aus einem Klartraum zu erwachen, in einen anderen versinken.
Im Jetzt einer Kindheit erwachen oder in einen Traum über die Vergangenheit versinken, um all das erneut zu erleben?
Ununterscheidbare Möglichkeiten.
Unterscheidbare Unmöglichkeiten.
Scheidbare Ununmöglichkeiten.
Scheinbare Möglichkeiten.
Scheinbare Unmöglichkeiten.
Unscheinbarer Schein.
Mögliche Scheinbarkeiten.
Mögliche Unscheinbarkeiten.
Mögliche Unscheinlichkeiten.
Mögliche Unwahrscheinlichkeiten.
Unmögliche Wahrscheinlichkeiten.
Unmöglicher Schein.
Unscheinbare Wahrmöglichkeiten.
Unscheinbar mögliches Sein.
Fixieren oder verwischen.
Erwachen oder versinken.
…
Marie konzentrierte sich, zuckelte in Gedanken die zerfetzten Reste von Sein zusammen und dachte pragmatisch.
Sie bastelte.
Es mußte ja nur so ungefähr passen, wer würde den Unterschied bemerken?
Wen würde der Unterschied interessieren?
Hauptsache ihr würde der gewählte Ausgang gefallen, konvenieren.
Marie erwachte, erwachte, erwachte, erwachte …
Oder eigentlich war sie ja schon längst wach, stand auf dem Weg vor dem Mausoleum, wollte lediglich sicherheitshalber noch einmal nachsehen, was Sache war.
Marie griff mit der linken Hand, mit der Funkuhr dran – jedenfalls gab es im Klartraum eines kleinen Kindes keine Funkuhr – insofern war sie ziemlich sicher, daß sie derlei Varianten mit großer Sicherheit ausschließen konnte, wenn sie auf die Uhr blickte – in die Tasche, um den Schlüssel für das Mausoleum zu ziehen und danach mit einem Blick die Zeit zu fixieren, womit daraufhin schlagartig der Überblick über das Ganze wieder verwischen würde und sie wieder eintauchen mußte in die trübe Brühe des Alltags sowie schwelgen im Schmodder des heutigen Tages …
Der Wind rauschte leicht durch die Blätter der Bäume.
Ein Eichhörnchen zischte vorbei und schaute lediglich kurz irritiert.
Die Zeit signalisierte, daß sie nicht länger zaudern mochte?
Sie gab sich zu erkennen, daß sie nicht länger einen Bogen um sie schlagen mochte?
Marie schaute auf.
Es war doch wohl eher nur ein ganz normaler Windhauch an einem sonnigen Herbsttag gewesen.
Sonnenstrahlen kitzelten mild sowie lustig ihr Gesicht, Marie mußte lächeln, zog entspannt sowie gelassen ihre Hand aus der Tasche …
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Sitzen
Florian hatte es einmal wieder erwischt – wie konnte es anders sein?
Jedes Mal passierte das vor einem wichtigen Termin, einer Prüfung, einem relevanten Treffen. So hätte er eigentlich nicht wirklich überrascht sein sollen, saß jetzt aber erst einmal recht desillusioniert und ließ alles raus. Das dumpfe Gefühl im Magen war erst nur diffus gewesen, machte sich nun allerdings immer drängender bemerkbar und wurde endlich zur mächtig drückenden Gewißheit. Folglich eilte er im Galopp auf die Toilette, ließ den Dingen nun erleichtert ihren Lauf. Dabei war sein Körper heiß, die Stirn eiskalt; er fühlte sich unwohl sowie wieder einmal von sich selbst betrogen. Immerhin machte sich allmählich und langsam die vertraute Erleichterung in ihm breit, er kannte dieses Gefühl gut, sah nur auf seine Armbanduhr, nickte resigniert, blieb noch eine Weile sitzen. Sein Mobiltelephon hatte er nebenan vergessen – noch wagte er indes mitnichten, schon wieder aufzustehen, denn es war wohl noch nicht alles raus, was seinen Körper so stürmisch zu verlassen trachtete. Deshalb blieb nur warten und frustriert sein, sich der kümmerlichen Körperlichkeit der eigenen, kleinen Existenz bewußt werden. Sein Körper zwang ihn so ganz automatisch wieder einmal, von jeglichen Höhenflügen Abstand zu nehmen sowie den profanen, irdischen Kontakt zu suchen. Immerhin war er heute dermaßen nervös, daß diese Katastrophe recht früh ihren Lauf genommen hatte. Er hatte noch Zeit, konnte sich gleich noch zügig duschen sowie zurechtmachen, wenn dieses unangenehme Intermezzo seinen Lauf genommen hatte.
Marie hatte er über eine Kontaktbörse im Netz kennengelernt. Bei ihrem Profil hatte er sich erst gar nicht getraut. Ihr Bild hatte ihn gleich in ihren Bann gezogen, etwas geheimnisvoll, etwas düster-melancholisch, da wollte man gleich zugreifen, Trost sowie Fröhlichkeit spenden, Geborgenheit und Sicherheit bieten. Das Profil war schon recht heftig und erklärte schon ziemlich gut, warum Marie selbst auf einem Bild diese geheimnisvolle, aber unheimlich anziehende Aura von Düsternis sowie Melancholie umgab. Selbst der Blick aus dem Bild heraus schien einen zu durchbohren, er schien bis ins tiefste Innerste zu blicken, dort alles aufzudecken, was man gerade davor zu verbergen trachtete. Es war ganz klar, Marie pflegte zu entscheiden, wo es langging, würde sich jedoch gewiß keineswegs ausgerechnet bei ihm melden.
So hatte er sich letztlich doch nach ein paar Tagen entschlossen, es gewagt, wenige sowie wenig originelle Zeilen geschrieben, immerhin riß er sich zusammen, schrieb ein paar Absätze mit Bezug zu ihrem Profil sowie seiner eigenen Person.
Dieser kurze schriftliche Erguß schien immerhin gereicht zu haben, damit Marie antwortete. In späteren Nachrichten hatte sie allerdings erwähnt, daß sie jedem vernünftig verfaßten Schreiben antworten würde. Daß seines nicht besonders originell war, war für sie offenbar ganz in Ordnung, auf Imponiergehabe sowie auffälliges Balzverhalten legte sie offenkundig keinen Wert, testete in den Nachrichten allerdings grob ab, ob man sich unterhalten konnte und wie es grob passen konnte. Sie hatte keine Eile, schwelgte im Text, hatte Geduld, ging ferner gerne auf das ein, was geschrieben wurde. Florian war so nicht nur durch ihr Bild und den Profiltext beeindruckt, ebenso dadurch, was sie schrieb, erwiderte oder was sie in den Nachrichten so erzählte, wie sie dies überdies tat.
Florian jedenfalls war begeistert; diese dunkelhaarige, geheimnisvolle Schönheit hatte sich auf eine Konversation mit ihm eingelassen. Allein das schien ihm schon ein Erfolg zu sein, ihre kleinen Anekdoten, Geschichten sowie Einfälle waren schon etwas beunruhigend, zeigten allerdings gleichfalls einen kreativen, wachen Geist sowie in der geradlinigen, direkte Art etwas, mit dem man(n) etwas anfangen konnte, jedenfalls keine Zickerei. Wobei Florian genauso mehr oder weniger jede Zickerei akzeptabel gefunden hätte, nur um am Ball zu bleiben.
Es schien jedenfalls für ihn einmal recht gut zu laufen; Marie fand überdies sein Interesse für Technik, Wissenschaft, Photographie auch gar nicht nervig, seine Vorliebe für Filme sowie Literatur aus den Genres Horror, Vampire und Zombies eher skurril bis lustig als irritierend. Diese Einordnung hatte Florian noch mehr Hoffnungen gegeben.
Hatte er wirklich zufällig jemanden gefunden, bei welchem hinreichend Gemeinsamkeiten sowie Respekt voreinander da waren, damit es mal klappen konnte?
Und was war schon dabei, auf Filme sowie Literatur der Genres Horror, Vampire und Zombies zu stehen?
Schließlich sitzt man dabei sicher sowie geborgen Zuhause, kann sich dadurch wohlig gruseln und in diesen Phantasien schwelgen, weil man ja genau weiß, daß man nie selbst davon betroffen sein wird. Derlei fiktives Grauen kommt nicht bis zu einem selbst heran, daher bleibt alles ein harmloses Vergnügen für den Kopf, ein im Grunde lustiger Spaß, auch wenn man dabei Gänsehaut bekommt, die Haare zu Berge stehen, man sich ordentlich gruselt, aber in solchen Momenten merkt man doch auch, daß man lebt.
Irgendwann riskierte er es endlich, fragte um ein persönliches Treffen. Marie ging keineswegs sogleich darauf ein; es gingen einige Nachrichten hin und her und Florians Mut sank bereits. Plötzlich indes hatte Marie einen Vorschlag unterbreitet. Zunächst – und das fand er schon beinahe rührend – hatte sie darauf bestanden, daß er einen Arztbesuch machen sollte, um den allgemeinen Gesundheitszustand prüfen zu lassen, sich ferner auf besondere ansteckende Krankheiten untersuchen zu lassen, wobei sie angegeben hatte, daß sie letzteres ab und an gelegentlich tat, schon um zu vermeiden, jemanden versehentlich anzustecken. Derlei Fürsorge fand Florian alsdann doch sehr aufmerksam sowie rücksichtsvoll von ihr und so zögerte er nicht mehr, ihrem Wunsch nachzukommen, ging deshalb zum Arzt. Einmal abgesehen davon, daß er nicht gerade als Leistungssportler durchgehen würde, war jedoch alles in Ordnung. Bei den wenigen Intimkontakten, welche er bislang auf dem Kerbholz hatte, von denen der letzte auch schon deutlich mehr als ein Jahr zurücklag, war es außerdem nicht so erstaunlich, daß der Test für ihn gut ausging, also alles im grünen Bereich, was er Marie auch mitteilte.
Diese frohe Botschaft schien Marie daraufhin wirklich erst einmal genug zu sein, offenkundig glaubte sie ihm ohne weiteren Beleg. Er bat erneut um ein persönliches Treffen und wurde schließlich erhört. Anknüpfend an seine Interessen schlug sie ein Treffen auf einem Friedhof vor. Florian war sowohl überrascht als auch begeistert, mit welcher Originalität sie auf seine Interessen gleich beim ersten Treffen einzugehen bereit war. Gut, Friedhof für ein allererstes Rendezvous ist schon ein bizarrer Ort, aber das war anscheinend ihre Interpretation, wie sie seinen Interessen näherkommen konnte. Es wäre doch sehr dumm von ihm gewesen, auf diesen Vorschlag nicht einzugehen, obgleich solch ein echter Friedhof ihm schon ein wenig unheimlich war. Horror, Vampire und Zombies guckte man ja in Filmen oder las in Büchern. Man ging dafür nicht wirklich auf einen Friedhof oder an schauerliche Orte. Marie indessen nahm dies sehr wörtlich sowie direkt – und was dem vor Ort an Realität entsprach, das kam ihr offenbar in den Sinn für einen Treffpunkt, um aufmerksam auf ihn einzugehen. Sie schien viel netter sowie einfühlsamer zu sein, als sie so vorgab. Besser hätte es für ihn doch kaum laufen können.
Das konnte etwas werden!
Ja, er mußte die Chance unbedingt nutzen und daraus etwas machen!
Dieses war seine ultimative Chance!
Wenn er bei diesem Treffen nicht jämmerlich versagte, so war er sich sicher, würde er einen Haupttreffer landen.
Das alles baute aber auch wieder ordentlich Druck auf, während Marie in ihren Nachrichten so locker sowie amüsiert wirkte, daß Florian schon tief ins Herz getroffen war, vor Sehnsucht auf das Treffen zitterte und bangte. Marie hatte zusätzlich zum Termin für das Treffen präzise Angaben gemacht, wo genau und wann – sie legte sehr viel Wert darauf, daß er pünktlich wäre, keinesfalls deutlich zu früh, auf gar keinen Fall deutlich zu spät. Ihre vorgegebene Toleranz lag da bei immerhin zehn Minuten; wenn er früher da sei, könne er ja gut vor dem Friedhof warten. Die Ansage war klar, die Angaben zum Treffpunkt präzise. Florian würde sich unbedingt dran halten, auch wenn ihn das Warten sowie die Neugier, überdies ebenso die Sehnsucht schier umbrachten sowie in den Wahnsinn trieben. Marie hatte ansonsten nur noch auf eine schriftliche Einverständniserklärung gedrungen, in welcher er sich ihr komplett sowie bedingungslos anvertraute, ihr die konkrete Gestaltung des Treffens komplett sowie vertrauensvoll überließ. Diesem Verlagen war er gerne nachgekommen, so viel Vertrauen mußte schon sein. Er hatte ihr das gewünschte Schriftstück gleich digital über das Netz zukommen lassen. Das war alles schon sehr aufregend mit Marie und ein wenig geheimnisvoll genauso.
Aber er hatte ihr Profil gelesen, so war sie eben, das konnte er nicht ändern, mußte sich eben drauf einlassen, wenn er sie kennenlernen wollte – und das wollte er ganz bestimmt, da war er sich ganz sicher. Ihm war schon klar, daß es bei ihr gelegentlich wohl etwas härter zur Sache gehen würde und sie darauf bestand, die Initiative sowie Kontrolle zu behalten, aber das war ihm ganz recht, da wußte er wenigstens, woran er war, Marie schien da ziemlich direkt, geradlinig sowie konsequent zu sein, verließ sich offenkundig wenig darauf, daß andere schon ahnten oder errieten, was für sie von Belang war, derlei Bedingungen, Vorplanungen brachte sie schon selber direkt auf den Tisch, wenn die Zeit dazu gekommen war.
Es war indessen noch genug Zeit, der Druck hatte sich die letzten Stunden immer weiter aufgebaut.
Bloß nicht versagen.
Sich bloß nicht blamieren.
Bloß nicht wieder der Tollpatsch sein.
Zusammenreißen und kein peinliches Verhalten zeigen, nur kein albernes Imponiergehabe, authentisch bleiben, ruhig bleiben, normal erscheinen, freundlich, jedoch keinesfalls anbiedernd. Unterwürfig durfte bei ihr schon sein, jedoch keineswegs zu blöd oder zu plump. Dieses Treffen war eine Prüfung, eine ultimative Prüfung.
Nun allerdings hatte sich erst einmal der aufgebaute Druck massiv entladen, Florian hatte es gerade noch bis auf die Toilette geschafft, bis die Dinge ihren Lauf nahmen. Einerseits hatte ihm das gerade noch gefehlt, andererseits war das jene Reaktion, welche er von seiner Psyche bereits kannte; Aufregung, Nervosität vor einer Prüfung schlug einfach durch auf die Verdauung. Hoffentlich beruhigte sich die Angelegenheit bald wieder.
Sein Puls ging schon heftig, kalter Schweiß – Angstschweiß? – auf der Stirn, er stützte sich mit den Armen auf den Oberschenkeln ab; das Ergebnis des Druckabbaus bereicherte das Drama mit einem nicht sonderlich angenehmen Geruch. Florian zog nun doch schon einmal ab, wagte allerdings noch keineswegs, die Toilette zu verlassen. Es rauschte unter ihm, er wartete indes weiter. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, mißtrauisch zu bleiben. Er hatte immer gut verstanden, warum es darum ging, in diesem Zusammenhang seine Notdurft zu verrichten. Wenn der Druck, der Streß so groß wurde, war wirklich Not am Mann, jedenfalls bei ihm. Nur mühsam brachte er Geduld auf, wartete ab, ob noch etwas nachkommen würde. Nach einer Weile entschloß sich offensichtlich gleichfalls die Nachhut noch zu einem Ausbruch; Florian stöhnte leise auf. Anschließend wartete er noch eine Weile, aber immerhin schien sich der Magen halbwegs beruhigt zu haben, der Darm leer zu sein, dafür zitterten nun Beine sowie Hände etwas. Wie schon zuvor mehrmals putzte er ab, stand nun jedoch mutig vom Abort auf, zog erneut ab, woraufhin das ganze Elend derart aus seinem Gesichtsfeld verschwand.
Die Hose hochgezogen sowie geschlossen, die Hände gewaschen marschierte er auf und ab durch seine Wohnung, legte sich aufs Bett. Noch immer war der Körper heiß, die Stirn kalt vor Schweiß. Immerhin, das Verdauungssystem schien nun wieder halbwegs zu kooperieren, revoltierte jedenfalls nicht mehr. Das war ein Hoffnungsschimmer, an dem er sich krampfhaft festhalten mußte. Florian blieb trotzdem noch etwas liegen, er hatte noch genug Zeit. Unlängst hatte er sich angesehen, welche Straßenbahn er spätestens nehmen mußte, um wie gewünscht pünktlich zu erscheinen. Er hatte alles gründlich recherchiert sowie analysiert, war sich somit weitgehend sicher, den genauen Termin für den Aufbruch zu kennen.
Bald machte er sich Mut, im Grunde hatte er nun alles im Griff, fühlte sich etwas besser, nachdem es im Leib kaum noch rumorte. Er fühlte sich schon beinahe wie ein Sieger, denn irgendwie hatte er wohl doch ganz erfolgreich getrickst, sich dabei bereits über den ganzen gestrigen Tag derart nervös gemacht, daß die Angelegenheit frühzeitig auf die Verdauung durchgeschlagen war, dermaßen rechtzeitig durchgeschlagen war, damit er sich jetzt noch etwas erholen konnte. Tatsächlich fühlte er sich deutlich besser, stand auf, zog sich aus, ging hernach unter die Dusche. Warm sollte sie schon sein, aber nach sorgfältiger Reinigung unter dem warmen Schauer kam ihm doch ein Anfall von alberner Männlichkeit durch, weshalb er sich entschloß, die Dusche kalt zu beenden.
Das war wirklich arg!
Er zuckte nur, griff schnell zu, um dem eiskalten Schauer ein schnelles Ende zu bereiten.
Seine Haut wirkte wie die eines gerupften Huhns oder eben wie die einer gerupften Gans. Zitternd trocknete er sich ab, rubbelte dadurch wieder etwas Wärme in den Körper.
Im Anschluß rasierte er sich, föhnte gar die Haare, verteilte überdies etwas Deodorant auf dem Körper – man(n) kann ja nie wissen!
Am Kleiderschrank grübelte er nicht so lange. Es sollte zwar zivilisiert aussehen, allerdings keinesfalls ausstaffiert wie ein balzender Pfau. Er wußte von Maries Profil, daß er mit ausgeprägtem Balzgehabe samt aufgeplustertem Zubehör nicht gut ankommen würde. Gepflegt war einerseits wichtig, jedoch keineswegs übertrieben albern ausstaffiert. Also Jeans, Sweatshirt, schlicht, sauber sowie solide.
Florian hatte selbstverständlich immer wieder nervös auf seine Uhr gesehen, es war immer noch genug Zeit, prinzipiell war er allerdings nun bereits fertig.
Was also tun?
Doch schon aufbrechen, dem kaum bezwingbaren Drang nachgeben?
Er wollte nichts riskieren und sich nicht bei Marie unbeliebt machen. Deswegen setzte er sich an den Rechner, schaute noch einmal ihr Profil durch. Diese an sich sinnfreie, weil wiederholte Aktion machte ihn keineswegs gerade ruhiger, aber immerhin kooperierte sein Verdauungssystem noch immer. Das war ein Hoffnungsschimmer, es würde gehen. Er konnte gehen.
Zu früh im Grunde stellte er den Rechner ab, stand auf, nahm seine Jacke, zog sie an, drehte noch nervös zwei Runden in seiner Wohnung, prüfte alles, auch sich selbst vor dem Spiegel im Bad, griff noch einmal nach seinem Schlüsselbund, sodann zur Türklinke seiner Wohnungstür. Tür auf, hinaus, Tür zu, abgeschlossen, umgedreht – diese Handbewegungen gingen wie automatisch. Daraufhin hielt er inne, hielt noch einmal prüfend sein Schlüsselbund in der Hand, steckte es in die Tasche seiner Hose, schaute noch einmal zu Tür. Anschließend ging es zügig wie getrieben die Treppen hinab sowie durch die Haustür hinaus, ferner weiter zur nächsten Straßenbahnhaltestelle.
Er eilte dabei, obwohl es noch früh war, wartete alsdann ungeduldig an der Haltestelle, endlich rein und los, erst einmal Richtung Innenstadt. Dort mußte er umsteigen, um in Richtung Friedhof weiterzukommen. Von der Haltestelle am Friedhof aus hatte er eine kleine Skizze, wie es zum Treffpunkt geht.
Er bekam einen Schreck!
Hatte er die Skizze Zuhause vergessen‽
Er schauderte, suchte mit zitternden Händen seine Jackentaschen durch.
Nein, alles in Ordnung!
Er war erleichtert, hatte er den Zettel mit der Skizze doch bereits gestern sorgfältig gefaltet und eingesteckt – und genau dort fand sich der Zettel wieder. Florian drückte sich in den harten Schalensitz der Straßenbahn. Alles in Ordnung, er versuchte, sich zu entspannen, was jedoch im Grunde gründlich mißgelang. In der Reflexion des Fensters der Bahn beobachtete er andere Passagiere, was besser funktionierte, als die Bahn im Bereich der Innenstadt in den Tunnel abtauchte.
In der Innenstadt stieg er aus. Es war noch deutlich zu früh, daher machte er einen recht sinnlosen Spaziergang, ging allerdings nicht einmal in eines der Geschäfte in der Innenstadt. Sich betont zur Ruhe zwingend, schlenderte er stattdessen dahin, dabei grob in jene Richtung, in welche er mußte, immer in Reichweite zur nächsten passenden Untergrundbahnstation, immer wieder sowie viel zu häufig auf die Uhr sehend.
Es war noch genug Zeit.
Es war noch mehr als genug Zeit.
Zwei Stationen weiter war er aus der unmittelbaren Innenstadt heraus und er hatte immer noch genug Zeit. Die nächste Station der Straßenbahn ist schon wieder oberirdisch, die Station an der Universität, an welcher Marie gerade ihr Studium beendet hatte sowie nun in Kürze als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig werden würde. Er hatte keine Ahnung, ob sie direkt in dem Hauptgebäude arbeitete oder in einem der vielen anderen kleineren Gebäude in diesem Stadtteil, welche ebenfalls zur Universität gehören. Marie hatte nicht erzählt, was sie genau studiert hatte oder woran sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin zu forschen gedachte. Trotzdem, in der Nähe des Universitätsgebäudes fühlte er sich ihr schon wieder ein Stück näher. Sein Studienabschluß lag auch noch nicht lange zurück, er hatte danach hier in der Stadt eine Stelle bekommen, war umgezogen, kannte sich nicht sonderlich aus. Er wußte allerdings schon, daß sich von hier aus ein länglicher Park parallel zur Straßenbahnstrecke in die richtige Richtung hinzog.
Es wären schon noch ein paar Stationen bis zum Friedhof, aber er hatte auch noch reichlich Zeit. Die Fahrtzeit hatte er sowieso im Kopf, deswegen konnte er ganz gut abschätzen, wann er spätestens an einer der Stationen einsteigen mußte. Aber es war noch Zeit, so ging er in den Garten, spazierte die Allee entlang. Irgendwie ging er schneller als notwendig gewesen wäre. So würde er am Ende noch den gesamten Weg zu Fuß zurücklegen, aber egal. Es war gutes Wetter, früher Herbst, jedoch Sonnenschein, welcher das Gesicht angenehm wärmte, während die Luft im Garten wohl bekam, daß es ihm nun ganz gut ging, er sich im Gehen etwas entspannte.
Der Park zog sich hin, aber die Bewegung tat ihm gut, jedenfalls besser als weiteres Warten. So ging er einfach weiter einen der Fußwege der im Randbereich durch den Park schnurgerade verlaufenden Allee entlang. Florian schritt entschlossen aus, erreichte endlich auch am Ende der Allee, beziehungsweise in der Verlängerung die Haltestelle der Straßenbahn neben der Straße. Er schaute auf Uhr sowie Anzeige, es war immer noch genug Zeit. Weiter ging es hier allerdings ohnehin bloß entlang von Straße sowie Straßenbahn, von daher entschloß er sich doch, die nächste Bahn zu nehmen, setzte nach einigen Minuten Wartezeit seinen Weg mit der Bahn fort. Ein paar Haltestellen später stieg er am Haupteingang des Friedhofs aus. Natürlich war er zu früh. Vor dem Haupteingang mit Kapelle setzte er sich wie vorgeschlagen, wartete noch ab, bis es Zeit war, den vereinbarten Ort aufzusuchen.
Er war schon neugierig, warum er nicht dort warten sollte, verkniff es sich allerdings, zu früh aufzubrechen. Er wollte keine Verärgerung riskieren. Erst als die Zeit gekommen war, stand er auf, nahm seine Skizze mit nur leicht zitternden Händen, betrat den Friedhof, suchte schließlich seinen Weg zum Treffpunkt. Nun war es entschieden, kneifen oder absagen ging wohl nicht mehr, er war endgültig auf dem Weg, um Marie zu treffen, was auch immer dabei nun passieren mochte.
Oder sollte er doch noch kneifen?
Nein, los rein in den Friedhof, direkt zum Treffpunkt.
Jetzt nur keinen Mist bauen.
Entkommen
Marie dachte in aller Ruhe alles noch einmal durch. Jene Fackeln waren ziemlich stabil, der Stiel des alten Reisigbesens konnte vielleicht noch gleichfalls nützlich sein. Sie kombinierte genau, schätzte ab und befand, ihr mögliches Entkommen sei doch mal ein oder zwei Versuche wert. Trotzdem blieb sie noch ein paar Stunden sitzen, setzte ihre Meditation gelassen fort. Der Ort dazu war eigentlich ganz in Ordnung, ruhig sowie kaum mit einer Ablenkung, ihre Unterlage war hart wie das Leben selbst, jene leicht flackernde Fackel ließ ihren Schatten gemütlich auf den Wänden tanzen, was sie in lockerer Stimmung beobachten konnte, wenn sie die Augen öffnete und darauf achtete.
Nach Ende der meditativen Übung reckte und streckte sich Marie, stieg vom Sarkophag herab, dehnte und belebte ebenfalls ihre Beine wieder, machte ihren ganzen Leib locker. Daraufhin griff sie sich einfach den Reisigbesen sowie eine der Fackeln, stieg hernach die Treppen wieder hinauf. Sie schaute genau, wie das Eisengitter auflag, im Mausoleum war es ja im geschlossenen Zustand bündig in den Boden eingelassen, so daß man einfach darüberlaufen konnte, ohne Gefahr eines Stolperns an einer hochstehenden Kante. Somit lag dies Gitter also rundum auf einem kleinen Absatz oder einer vertieften Kante. Seitlich zur Treppe waren die Scharniere, man klappte es also seitlich weg, um danach der Treppe folgend hinauszugelangen. Wenn man dieses Gitter wirklich ganz auf der offenen Seite, also nicht der mit den Scharnieren andrückte, hatte man den längsten Hebelarm, dies hatte sie ja bereits probiert. Nun sollte es indessen gleichfalls möglich sein, zunächst vielleicht den dünnen Besenstiel in Treppenrichtung durchzuschieben, wenn das Gitter leicht angehoben war. Daraufhin konnte sie absetzen sowie versuchen, in einem zweiten Anlauf die dickere Fackel dazwischenzuklemmen. Im Anschluß konnte sie vielleicht eine Stufe höher steigen, diese Fackel weiter zum Scharnier hin verschieben. Dieses Aktionen konnte sie mehrmals wiederholen, bis der Spalt breit genug war, um sich durchzuquetschen. Zur Sicherung konnte sie den Besen auf einer geeigneten Treppenstufe gegen das Gitter klemmen. Dieses Vorgehen schien ihr ein halbwegs passabler Plan zu sein, den sie einmal ausprobieren könnte.
Marie versuchte diese Strategie, wobei es sich als das Kernproblem erwies, daß die Fackel nicht an der Stelle verblieb, wo diese hingelegt wurde, sondern durch das Gewicht des Gitters wieder langsam von der Scharnierseite weggeschoben wurde. Es war also zu riskant. Zur effektiveren Arbeit holte Marie eine zweite Fackel von unten. So werkelte sie eine Weile, zog endlich den Mausoleumsschlüssel aus der Tasche, verkeilte damit die rutschende eingeklemmte Fackel. Derart ging es endlich ganz gut, bis der Spalt auf der einen Seite groß genug erschien, um sich durchzuquetschen. Wie geplant sicherte sie das Gitter durch ein Verkeilen des Reisigbesens. Testweise stemmte sie sich unter das Gitter, lockerte die eingeklemmte Fackel etwas, unter der ganzen Last knisterte der Besen bedenklich. Zusammen mit der eingeklemmten Fackel, der ebenfalls eingeklemmten Taschenlampe sowie dem Taschenmesser, welches sie im Bereich der Scharnierseite ebenfalls in die Fuge klemmte, schien ihr das Risiko überschaubar. Sie prüfte und klemmte erneut alle Teile noch einmal. Viel höher wäre sie nicht gekommen, dann wäre die Fackel und die Taschenlampe nicht mehr stabil genug festgeklemmt gewesen; dem Besen samt dem Messer als Stütze allein traute sie nicht so richtig.
Es war unvermeidbar, daß sie am Eisengitter ruckelte, wenn sie sich durch den Spalt quetschte. Deshalb konnte sie bloß hoffen, daß ihre waghalsige Konstruktion für die ein oder zwei Minuten hielt, bevor sich zu viele ihrer eingeklemmten Helfer lockerten und jenes Eisengitter sie einklemmen oder gar zerquetschen mußte. Sie riskierte es, erst einen Arm, eine Schulter, letztlich den Kopf. Das Gitter wackelte bedenklich, aber in der Position konnte sie selbst keine nennenswerte Kraft aufwenden, um das Gitter zu halten oder zu stützen, also weiter, zügig weiter. Endlich hatte sie den Oberkörper durch. Alles gut so weit. Sie robbte vorsichtig über den staubigen Boden, die Konstruktion lockerte sich immer mehr, der Besen knirschte bedenklich, als sich die Fackel trotz Sicherung mit dem Schlüssel etwas bewegte. Die Bewegung reichte jedoch offensichtlich, um den Besen in Bewegung zu setzen sowie dessen Verkeilung zu lösen. Die Konstruktion knirschte und knarrte. Der Besen fiel. Marie zog schnell ihre Beine an, allerdings etwas zu langsam, das Eisengitter schnappte sich einen Fuß, klemmte ihn ein, wobei die Fackel rutschte, das eingeklemmte Messer knirschte, beziehungsweise eher der Staub sowie der Stein der Rille, in welcher ihr Messer lag. Der Fuß schmerzte, jedoch nicht wirklich arg. Es war zunächst mehr ein dumpfer Druck, welcher über längere Zeit das Blut abdrücken mochte. Marie krümmte sich herum, bemühte sich, die lockere Fackel zu fassen zu bekommen. Dies gelang irgendwann endlich, sie keilte den Schlüssel dagegen, widerwillig gab die Fackel etwas nach, als sie kräftig zog sowie drehte, bis sie so viel von der Fackel herausgezogen hatte, daß diese als Hebel dienen konnte. Dermaßen stemmte Marie sich mit ganzer Kraft darauf; diese Anstrengung reichte wirklich gerade so eben, um den Fuß unter dem Gitter hervorzuziehen.
Sie war befreit!
Sie hatte sich selbst aus der mißlichen Lage befreit.
Marie lag einfach auf dem Rücken im Staub des Mausoleums, atmete tief durch, genoß bei dieser Gelegenheit die besondere Perspektive der Aussicht auf die Einrichtung des Mausoleums. Das Mausoleumsinventar, Dämon, Knochenmann sowie ebenso Drachen schienen kritisch auf sie herabzuschauen. Es war beinahe so, als bedauerten sie, daß Marie ihnen nun doch nicht erhalten bleiben würde. Damit stimmten sie wohl mit der trauernden Frau überein, welche die gesamte Szene doch noch ein wenig mehr dramatisierte, wobei letztlich nicht ganz klar war, ob sie nicht vielleicht doch eher vor Erleichterung ergriffen war, daß es Marie noch einmal geschafft hatte.
Nun, von dem Steinquartett konnte Marie natürlich keine ernsthafte Anteilnahme erwarten, folglich zuckte die lediglich ihre Schultern, ließ sie einfach sein, was sie nun einmal waren: Leblose Steinskulpturen, hier im Mausoleum zudem noch beinahe ohne Besuch von Kunstinteressierten. Stein ist geduldig, Marie eigentlich gleichfalls, indes, nun hatte sie zuvor unten bereits genug der Kontemplation gefrönt, sich daraufhin am Gitter verausgabt. Eigentlich hatte sie nun keinen dringlichen Bedarf mehr an der Gesellschaft des Steinquartetts.
Als sie sich erholt hatte, richtete Marie sich folglich auf, prüfte den Fuß, außer ein paar Kratzern sowie den blauen Flecken, welche folgen würden, war aber wohl alles in Ordnung. Sie stand auf, belastete den Fuß vorsichtig.
Bei dieser kleinen Pause war die gelockerte sowie losgelassene Fackel langsam weitergerutscht, quittiert von einem üblen Knirschen von der Position des Messers. Marie konnte gerade noch den Schlüssel packen, bevor dieser die Treppe hinunterfiel und so verloren gewesen wäre. So schlimm wäre das keineswegs gewesen; selbst wenn sie die Kurbel nicht mehr hätte betätigen können, denn die Außentür war ja nur mit diesem einfachen Mechanismus verschlossen, den man ohne Schlüssel öffnen konnte, aber es wäre unangenehm gewesen, das Mausoleum auflassen zu müssen und Thomas nach einem zweiten Schlüssel zu fragen. Aber es war ja gerade noch einmal gutgegangen. Das Problem war gelöst, die kritische Situation überstanden. Marie sah sich den Kurbelmechanismus des Gitters an. Die Kurbel drehte leicht, jedoch mitnichten das Gitter hoch oder runter. Beim Herunterfallen waren die Zahnräder offenkundig abgerutscht. In der Rumpelkammer fand sich nach kurzer Suche allerdings eine Stange, mit welcher es Marie dann gelang, den Mechanismus wieder einrasten zu lassen. Nun sollte die Winde wieder funktionieren. Marie kurbelte also vorsichtig; tatsächlich ging es jetzt deutlich schwerer, die gewünschte Funktion war wieder gegeben, der Sicherungsmechanismus klapperte leise sowie beruhigend. Offenbar hatte nur irgendwo etwas nachgegeben, weswegen das Gitter heruntergefallen war. Gedacht war das so vermutlich keineswegs, vielleicht also doch ein altersbedingter Mangel. Die Grundfunktion war allerdings nun wieder vorhanden. Also kurbelte sie in aller Ruhe das Gitter komplett in die senkrechte Position hoch, sicherte es diesmal mit Arretierung sowie Schloß. Anschließend räumte sie alle Sachen zusammen; sogar der Besen hatte es ganz gut überstanden, war weder zerbrochen noch angeknackst. Der Griff ihres Messers wies einige Kratzer auf, welche sie an dieses kleine Abenteuer erinnern würden, sie steckte es ein, wie auch ihre Taschenlampe. Letztendlich brachte sie Besen sowie Fackeln wieder runter, räumte dort etwas auf.
Inzwischen war die Fackel beinahe heruntergebrannt. Marie entschloß sich, dies noch abzuwarten. Sie hockte sich wieder auf den Sarkophag, beobachtete die Flamme der Fackel, meditierte darüber ein wenig sowie in sich gekehrt. Mathematisch betrachtet war das Eingesperrtsein lediglich eine Definitionsfrage von Innen sowie Außen. Definierte der Eingesperrte einfach um, wären plötzlich alle anderen seine Gefangenen und er der Wärter der Welt. Der Haken an der Betrachtung war allenfalls, daß nach wie vor die Schlüssel für die Verbindung zwischen Innen und Außen bei der anderen Seite liegen mochten.
Marie sann ruhig weiter nach, hatte es nicht eilig, genoß die kühle Stille der Gruft noch einmal.
Die Kälte zog in den Körper, betäubte und stellte dadurch irgendwann immer deutlicher die Frage, was man eigentlich wollte, leben oder vergehen, auskühlen?
Marie wollte eindeutig weiter leben, wartete deshalb bloß noch, bis die Flamme unruhiger wurde und schließlich verlöschte, statt ihrer vergangen war. Marie nahm in aller Ruhe ihre Taschenlampe heraus, leuchtete, stand auf, reckte und streckte sich, lockerte und belebte ihre Glieder wieder. Ruhig ging sie die Treppe hinauf, löste die Arretierung des Gitters wieder, kurbelte herunter, schloß ab, öffnete die Außentür, ging hinaus, schloß ab, schlenderte in aller Ruhe über den Friedhof, drehte noch eine Runde durch den Park, setzte sich irgendwann noch abermals kurz hin …
Warten
Marie beschloß, einfach erst einmal zu warten. Die Option eines ernsthaften Befreiungsversuchs mit den verfügbaren Mitteln schien ihr einstweilen zu riskant zu sein. Immerhin, ihr standen mit dem Reisigbesen, den Fackeln und einigen Kleinteilen einige Mittel zur Verfügung, um den mit Muskelkraft erzeugten Spalt zwischen Gitter sowie Steinboden offenzuhalten und anschließend nach und nach das Gitter immer etwas weiter hochzudrücken und wieder zu sichern. Auf diesem Wege mochte eine Befreiung mit eigenen Mitteln gelingen – vermutlich aber auch nicht.
Sie grübelte weiter.
Die Balken waren zu massiv und groß, um durch das Gitter zu passen oder sinnvoll als Hebel dienen zu können. Die Flaschenzüge waren schon interessant, wenn sie sich oben befunden hätte, aber von hier unten brauchte sie ja irgendwie eine Umlenkung, um eine Kraft nach oben auf das Gitter auszuüben.
Wie sollte das gehen?
Nachdenklich sah sie sich Seile sowie Flaschenzüge an, schüttelte letztlich jedoch lediglich den Kopf, hatte einstweilen keine Idee, wie ihr derlei Hilfsmittel hier unten weiterhelfen könnten.
Sie räumte allerdings ein, wenn sie einen eigenen Versuch mit Hebeln oder Flaschenzügen noch irgendwann probieren wollte, sollte sie diesen Versuch starten, solange sie noch ihre vollen Kräfte aufbringen konnte, nicht durch Durst und Hunger geschwächt war, ihre Denkleistung bereits beeinträchtigt war. Davon war aber über ein oder zwei Tage noch nicht auszugehen.
In der Zeit würde sie doch sicher jemand vermissen?
Würde sie indessen in der Zeit jemand hier suchen?
Zudem war es etwas unangenehm, zugeben zu müssen, dermaßen dumm sowie ungeschickt gewesen zu sein, sich selbst hier eingesperrt zu haben. Nun gut, sie konnte auch über sich selbst lachen, von daher war es ebenso in Ordnung, wenn andere dies taten, dies wiederum als kleine, lustige Anekdote in ihrem kleinen Kreis der Libertines in Erinnerung blieb. Die gefangene Marie – eine kurzweilige Anekdote zu erzählen, wenn es sonst nichts Wichtiges zu diskutieren gab, man sich gegenseitig einmal wieder mit vergangenen Mißgeschicken foppte. Letztlich war es gar nicht so schlecht, wenn sie dabei nicht immer so glatt sowie unbefleckt herauskam. Dies Mißgeschick, eine Legende darüber machte sie menschlicher, nahbarer, lebendiger in der Gruppe. Von daher war diese Variante schon in Ordnung.
Und wenn niemand kam, wenn niemand sie vermißte?
War das möglich?
Kaum.
Immerhin liebten es zwei Personen, ihre Hände, beziehungsweise Füße zu pflegen, unweigerlich würden diese in heftige Unruhe verfallen, wenn sie sich nicht blicken ließ, sie würden leiden und aufgrund ihrer sonstigen Zuverlässigkeit die richtigen Fragen stellen. Weil zudem Thomas der Fußfetischist war und ja auf jeden Fall auch die Schlüssel zurückhaben wollte, war dieser auf jeden Fall der Richtige, welcher intensiv nach ihr suchen würde.
Er war überdies in jener Hinsicht der Richtige, wenn sie sich doch entschloß, daß diese kleine Anekdote sich nicht herumsprechen sollte, denn bei Thomas dürfte ein freundlicher Wink, ein gehobener Zeigefinger reichen, um ihn zum Schweigen zu verpflichten.
Lotte würde sicherlich genauso suchen wollen, aber ob hier?
Lotte würde weniger geneigt sein, über diese lustige Episode Schweigen zu bewahren. Aber so oder so, sie konnte sich hier unten schlecht aussuchen, wer als erstes vorbeikam um hier zu suchen.
Das hätte sie ja allenfalls beeinflussen können, wenn sie ihr Mobiltelephon dabei gehabt hätte. Aber leider war dies ja nicht der Fall, also mußte sie abwarten, die Aktivität diesmal anderen überlassen, was nicht unbedingt ihre Spezialität war, denn sie behielt nicht nur gern, sondern gar notwendig die Kontrolle über eine Situation.
Marie ließ einfach die Zeit verstreichen und genoß es regelrecht, wie sich das Nichts, die Ereignislosigkeit allmählich ausbreitete. Überhaupt, draußen im Alltag gab es immer diese Reizüberflutung mit Belanglosem, mit Reklame sowie dünnen, schlecht durchdachten Geschichten, bloß Ablenkung von den existenziellen Fragen des Seins.
Daher kam etwa die Frage auf, warum es so viel dumme Reklame gibt.
Eine andere von den vielen Fragen, welche sich einem irgendwann ganz automatisch stellen: Warum haben die meisten Menschen die Neigung, immer das dünnste Brett zu bohren, statt Dinge einmal ordentlich durchzuziehen, schon um zu zeigen, was sie wirklich können und zu leisten vermögen, wenn sie wirklich wollen und wenn sie sich darauf konzentrieren, eine Sache einmal richtig und durchdacht anzugehen sowie durchzuziehen?
Waren nicht letztlich jene Dünnbrettbohrer verantwortlich für so viele technische Katastrophen, für Ressourcenverschwendung, Klimaänderung, für viel Blödsinn sowie Elend auf der Welt, welches auch vielen Menschen regelmäßig das Leben kostete?
Umweltverschmutzung, Klimakatastrophe, letztlich konnte man das alles als Konsequenz des Dünnbrettbohrens sehen. Aber dies schien eine intrinsische Eigenschaft der Menschheit zu sein. Nicht mehr tun, als unbedingt für den Moment notwendig, was gerade für einen selbst oder die eigene Gruppe notwendig erscheint, was bequem ist sowie einfach zu erreichen, aber auch keinesfalls mehr. Bloß niemals vorausschauend, systematisch denken sowie handeln, lieber dümpeln, improvisieren, ausweichen, mauern, persönliche Lasten, Unannehmlichkeiten für kurzfristige Vorteile ablehnen, dicke Bretter lieber anderen überlassen, welche in der überwiegenden Mehrheit jedoch ebenso denken, weswegen die eigentlichen Probleme dann gerne eben liegenblieben, bis zur Katastrophe, bis der Imperativ des ‚Letztlich gibt es nichts umsonst‘ zuschlägt, Zinsen für all diese Versäumnisse erbarmungslos eintriebt, die fällige Rechnung präsentiert.
Die Zeit ging dahin.
Die Fackel erlosch.
Lange Zeit saß Marie einfach im Dunkeln. Nachdem sie wohl einen Tag gewartet hatte, regte sie sich wieder, reckte und streckte sich, stand auf, lockerte, bewegte all ihre Glieder, brachte diese ins Leben zurück, steckte eine weitere Fackel an, ging ein paar Runden um den Sarkophag, anschließend ferner noch einmal die Treppe hoch. Oben war selbstverständlich alles unverändert. Sie drehte wieder um, setzte sich wieder im Schneidersitz auf den Sarkophag. Sie fühlte sich noch recht frisch, gut, stark, also noch keinerlei Grund zur Beunruhigung. Sie baute noch längst keineswegs ab. Gut, etwas zu trinken wäre angenehm gewesen. Der Drang, sich zu entleeren, hielt sich zum Glück bislang in Grenzen. Nicht, daß sie derlei perfekt kontrollieren konnte, aber irgendwie schien ihr Körper mitbekommen zu haben, daß nun auf Sparflamme gearbeitet werden mußte, so blieb es an dieser Front einstweilen noch ruhig. Marie war mit sich zufrieden, versank wieder in Meditation. Es war sozusagen ein Arrangement mit der Zeit, diese verging, Marie harrte indessen aus, ließ alle Zeit an sich vorbeiströmen, behinderte diese möglichst nicht, stellte sich ihr nicht in den Weg.
Bald war die Fackel wieder erloschen. Bald war ein weiterer Tag vergangen. Marie erhob sich wieder, um ihren Körper zu beleben. Nach dem Entzünden einer weiteren Fackel sowie einem Rundgang wie am Tag zuvor setzte sie sich wieder.
Noch bevor die Fackel erloschen war, meinte sie etwas zu hören, ein dumpfes Pochen oben?
Sie holte sich selbst hervor aus ihrer Versenkung, bewegte sich eilig, stieg die Treppen empor, wirklich, es klopfte an der Tür, jemand fragte: „Marie?
Bist du hier?
Wir suchen dich!
Marie?“
Marie räusperte sich, ihr Mund war trocken, aber es ging doch, sie erwiderte laut: „Lotte?
Bist du das?
Lotte?
Bist du da?“
Dumpf, allerdings gleichfalls etwas erleichtert klang es von draußen: „Ja, ich bin es, Thomas und ich haben uns schon Sorgen gemacht!
Ist alles in Ordnung?“
Marie kommentierte mit Haltung sowie Ruhe: „Ja, es ist alles in Ordnung. Ich bin lediglich etwas ungeschickt gewesen. Ein massives Gitter ist zugefallen. Alleine bin ich so nicht mehr herausgekommen. Ich dachte schon, daß ihr mich früher oder später hier suchen würdet, habe deshalb erst einmal einfach gewartet.“
Lotte verkündete: „Gut, ich hole Thomas mit einem weiteren Schlüssel, dieser hat hoffentlich einen weiteren, sonst wird es etwas aufwendiger.
Du kannst solange warten?“
Marie war zufrieden, das lief doch sehr gut, deshalb war sie natürlich sogleich einverstanden mit Lottes Plan: „Du weißt ja, warten ist kein Problem für mich. Wenn du Thomas benachrichtigen könntest, wäre dies sehr nett von dir.“
Lotte antwortete sofort: „Moment, ich rufe ihn an!“
Eine kurze Zeit bleib alles still, Lotte hatte sich vermutlich etwas von der Außentür entfernt, um zu telephonieren.
Endlich tat Lotte kund: „Gute Nachricht. Thomas hat einen weiteren Schlüssel. Er ist unterwegs. Die Befreiung naht.“
Marie erwiderte: „Prima, kannst dich ja solange auf eine Bank setzen, mußt mitnichten dort vor der Tür warten, um mich zu unterhalten.“
Lotte war einverstanden: „In Ordnung, bis gleich!“
Marie setzte sich auf eine Stufe der Treppe, harrte dort ihrer Befreiung.
In der Tat dauerte es dann nicht mehr so lange, bis Thomas eintraf. Marie hörte den Schlüssel im Schloß, wie dieser die Arretierung löste, immerhin funktionierte dies, selbst wenn die Tür von innen mit dem speziellen Mechanismus verriegelt war. Thomas und Lotte traten ein; als sie Marie auf der Treppen unter dem Gitter sahen, lachten sie erleichtert auf.
Thomas begann sogleich, die Kurbel zu drehen. Die Kurbel drehte leicht, allerdings keineswegs das Gitter hoch oder runter. Beim Herunterfallen waren die Zahnräder offensichtlich abgerutscht. In der Rumpelkammer fand sich allerdings kurz darauf eine Stange, mit welcher es Thomas endlich gelang, den Mechanismus wieder einrasten zu lassen. Nun sollte die Winde wieder funktionieren. Thomas kurbelte also vorsichtig, tatsächlich ging es jetzt deutlich schwerer; es war wieder die gewünschte Funktion gegeben, der Sicherungsmechanismus klapperte leise sowie beruhigend Offenbar hatte nur irgendwo etwas nachgegeben, weswegen das Gitter heruntergefallen war. Gedacht war das so vermutlich keineswegs, vielleicht also doch ein altersbedingter Mangel. Die Grundfunktion war allerdings nun wieder vorhanden.
Marie wartete ruhig ab, bis das Gitter wieder oben war. Sie stand auf, wies Thomas auf jene von ihr leider vergessene Arretierung des Gitters hin, woraufhin dieser jenes schwere Gitter auch gleich damit sicherte. Lotte umarmte Marie erleichtert; die drei plauderten noch eine Weile. Anschließend wurde aufgeräumt, Marie übergab ihre Schlüssel für das Mausoleum an Thomas. Sie schlossen ab und gingen …
Zurückweisen
Marie beschloß, einfach noch einmal alles genau zu durchdenken. Die Option eines ernsthaften Befreiungsversuchs mit den verfügbaren Mitteln schien ihr einstweilen zu riskant zu sein. Immerhin, ihr standen mit dem Reisigbesen, den Fackeln und einigen Kleinteilen einige Mittel zur Verfügung, um den mit Muskelkraft erzeugten Spalt zwischen Gitter sowie Steinboden offenzuhalten und anschließend nach und nach das Gitter immer etwas weiter hochzudrücken und wieder zu sichern.. Auf diesem Wege mochte eine Befreiung mit eigenen Mitteln gelingen – vermutlich aber auch nicht.
Sie grübelte weiter.
Die Balken waren zu massiv und groß, um durch das Gitter zu passen oder sinnvoll als Hebel dienen zu können. Die Flaschenzüge waren schon interessant, wenn sie sich oben befunden hätte, aber von hier unten brauchte sie ja irgendwie eine Umlenkung, um eine Kraft nach oben auf das Gitter auszuüben. Wie sollte das gehen?
Nachdenklich sah sie sich Seile sowie Flaschenzüge an, schüttelte letztlich jedoch lediglich den Kopf, hatte einstweilen keine Idee, wie ihr derlei Hilfsmittel hier unten weiterhelfen könnten.
Sie räumte allerdings ein, wenn sie einen eigenen Versuch mit Hebeln oder Flaschenzügen noch irgendwann probieren wollte, sollte sie diesen Versuch starten, solange sie noch ihre vollen Kräfte aufbringen konnte, nicht durch Durst und Hunger geschwächt war, ihre Denkleistung bereits beeinträchtigt war. Davon war aber über ein oder zwei Tage noch nicht auszugehen.
In der Zeit würde sie doch sicher jemand vermissen?
Würde sie indessen in der Zeit jemand hier suchen?
Ferner gab es immer noch die Option, daß sie sich in einem Klartraum verirrt hatte, wenn sie unter diesen Umständen nie aktiv wurde, nie wieder erwachte, würde sie für immer hier verharren, eventuell gar erlöschen, ohne jemals wieder zur profanen Realität zu finden. Ernsthaft dramatisch für sie sowie den Rest der Welt wäre dieses Schicksal objektiv betrachtet vermutlich mitnichten, jedenfalls wenigstens für sie schon etwas schade. Solcherlei dubiose Dramen wollte Marie vermeiden.
Fühlte sich ihre Befindlichkeit nicht so an, als sei dies lediglich eine ungünstige Teilabzweigung eines Klartraums, bei welchem sie irgendwo einfach unachtsam war sowie etwas verpaßt hatte?
Konnte sie sich wirklich noch genau erinnern, wie sie hier hergekommen war?
Daran hing es vielleicht.
Also, sie stand vor dem Mausoleum und überlegte, ob Traum oder nicht, welcher Tag war. Im Anschluß hatte sie den Schlüssel aus der Tasche gezogen, an den Angaben ihrer Uhr gezweifelt.
Erneut schaute sie auf ihre Uhr, schaute jene Schlüssel genau an, welche sie bei sich hatte.
War dies alles realistisch oder bloß ein Traumgebilde?
Was war überhaupt Realität?
Machte man sich nicht immer im eigenen Kopf ein eigenes Bild von der Welt aufgrund von unvollständigen Informationen, naiv sowie einfach, vielleicht gleichfalls verrückt, widersprüchlich, abstrus, absurd, albern?
Aber Marie wollte jetzt nicht wieder philosophisch abdriften, sie konzentrierte sich auf die konkrete Frage – was passierte eigentlich, bevor sie vor dem Mausoleum in die Tasche griff und den Schlüssel zog?
Die Vergangenheit wurde diffus und unklar.
Hatte sie im Park des Friedhofs gelegen, um einen Klartraum zu genießen sowie probezuliegen?
War sie daraus erwacht und war losgegangen, um sich mit Lotte zu treffen sowie später mit Florian?
Dazu paßte allerdings nicht, daß ihr Rucksack nicht oben im Mausoleum gewesen war. Weiter zurück.
War ihre Vorstellung vom Klartraum samt dem Probeliegen draußen im Park des Friedhofs auch bloß ein weiterer Klartraum gewesen, aus dem sie noch gar nicht erwacht war?
Eine andere diffuse Option: Das Treffen hatte bereits stattgefunden und sie hatte im Schneidersitz im Park gesessen, in einem Klartraum vertieft, war alsdann von dort aus aufgebrochen, innerhalb des Klartraums oder nach dem Erwachen daraus?
War sie so deutlich nach dem Treffen zum Mausoleum gekommen, um noch einmal hineinzuschauen, alles in Ordnung zu bringen, bevor sie Thomas den Schlüssel zurückgab?
Marie war sich nicht mehr sicher.
Oder lag diese Angelegenheit so, daß sie Zuhause war, sich ein warmes Bad eingelassen hatte und darin in Meditation versunken war, um über ein Stelldichein in einer Gruft nachzusinnen?
Spürte sie, wie das Wasser im Bad langsam kälter wurde?
Aus einem derartigen Klartraum würde sie doch von selbst erwachen, wenn es zu ungemütlich wurde?
Duschte sie nicht eigentlich viel lieber als zu baden?
Oder war sie abends vor dem Rechner eingenickt, nachdem sie eine Nachricht in der Partnerbörse von Florian beantwortet hatte?
Hatte sie ein Treffen abgelehnt oder eine entsprechende Frage einfach in ihrer weitschweifigen Antwort, ohne darauf einzugehen, unter den Tisch fallenlassen?
Hatte sie danach darüber nachgedacht, war dabei in einen Traum versunken, in welchem sie erlebte, was sie abgelehnt hatte?
Oder hatte sie zugestimmt, war in einen Traum versunken, in welchem sie nun durchging, wie das Treffen verlaufen könnte, je nachdem, wer wann was tat oder sagte, entschied?
Oder war sie schlicht bei einer Sitzung der Libertines und war in ihren Überlegungen versunken in eine Meditation, einen Klartraum verfallen?
Nun amüsierten sich zweifellos schon alle, weil sie gar nicht mehr reagierte, dabei komplett abgedreht sowie abgehoben war.
Oder war sie jemand ganz anderes, ein ganz anderer Mensch, welcher nur träumte, wie es wäre, sie zu sein?
Vielleicht war es sogar ein Außerirdischer irgendwo in den Weiten des Weltraums oder des Welttraums, der sich erträumte, ein Mensch zu sein?
Welcher die Fähigkeit hatte, all dies zu ersinnen sowie zu erträumen?
Ein viel gewaltigerer Klarträumer, als sie es jemals vermocht hätte?
Sie sollte nicht so spekulativ sein.
Sie sollte sich konzentrieren.
Wie plausibel war es wirklich, daß dies real war?
Wie plausibel war es wirklich, daß sie trotz besseren Wissens oben am Eisengitter die Arretierung nicht benutzt hatte, in die Gruft gegangen war und daraufhin hatte das Gitter zufallen lassen?
Sie war nun entschlossen, diese Abzweigung, diese Alternative zurückzuweisen. Sie schloß ihre Augen, versank in tiefer Kontemplation.
Anschließend wollte sie erwachen, erwachen aus allen Klarträumen. Sie wollte ganz zurück, auf Anfang, ganz zurück in jene profane Variante ihres Seins, welche einer kollektiven Wirklichkeit mit anderen Menschen darin noch am nächsten kam.
Was, wenn sie wieder als Kind erwachte und der Alptraum ihrer Kindheit nicht abgeschlossen war, nicht hinter ihr lag, sondern noch immer präsent war?
Was, wenn sie an jenem Tisch auf jenem harten Stuhl erwachte und er einfach um die Ecke kam, sie anlächelte, daß sie gleich wußte, was nun kommen würde, was kommen mußte?
Konnte das so weit zurückgehen?
All das dazwischen konnte ja keine Illusion sein, kein Klartraum konnte über so viele Jahre dauern.
An welcher Stelle hätte sie verdrängen sollen, daß der Traum nicht real war?
Oder kann das Gehirn im Traum so viel schneller denken, daß all diese Jahre in einer Nacht durchlebt werden?
Sie durfte sich jetzt nicht selbst verwirren.
Also konzentrieren.
Nach dem richtigen Ende dieses Wollknäuels von roten Fäden greifen, wo es nur einen Faden mit einem richtigen Ende geben sollte.
Raus!
Sie wollte raus!
Koste es, was es wolle!
Koste es, was es wolle‽
Wirklich, im schlimmsten Falle auch ganz zurück in seine Hände.
Das konnte nicht sein.
Das war vorbei.
Da war sie sich sicher.
Da war sie sich sicher‽
War sie sich sicher‽
Wessen war sie sich überhaupt jemals sicher?
Oder war doch noch alles gut und noch gar nichts passiert?
War sie noch gar nicht geboren, sondern noch geborgen im Bauch ihrer Mutter?
Konnte sie noch alles wenden, damit diese lebte und sie selbst starb‽
Konnte sie noch alles wenden, damit sie beide lebten und er dabei keine Rolle spielen würde‽
Oder war es ein Geschenk für ihre Mutter gewesen, durch den Tod befreit zu sein?
Hatte sie bei der Geburt ihre Mutter vor ihm gerettet?
Oder hatte damit erst alles begonnen, war er allein ihretwegen zu jenem Monster geworden?
Weil sie bei der Geburt ihre Mutter getötet hatte?
Oder war er unabhängig davon ein Monster und hatte lediglich die Gunst der Stunde genutzt, in welcher sie in seine Hände gespielt worden war, wehrlos, formbar, manipulierbar?
So herum mußte es sein.
Sie hatte so oft überlegt, wie dies alles zusammenhängen mochte.
Sie war noch nicht geboren, der Tod ihrer Mutter konnte nicht ihre Schuld sein. Sie konnte keinesfalls daran Schuld sein, daß er war wie er war und handelte, wie er es tat.
Sie durfte sich jetzt nicht selbst verwirren sich selbst in längst abgeschlossener Vergangenheit verlieren.
Diese Ereignisse waren längst vorbei, Geschichte.
Vorbei und erledigt.
Sie wußte es doch.
Das hatte sich tief in ihre Erinnerungen gegraben. Sie hatte neben seinem toten Leib gestanden, wohin sie die Leute gestellt hatten, um ihn zu identifizieren.
Dort hatte sich sein Monster mit dem verbunden; was schon in ihr gewesen war, hatte sich als ihr Monster tief in ihr Hirn, in ihr Sein, in ihr Selbst gefressen und rasselte da, von ihr nur mühsam in Fesseln gehalten, bei karger Kost unterhalten sowie kontrolliert, damit es nicht ausbrach.
Maries Kopf schmerzte.
So viele Wege und Abzweigungen.
Wie hatte sie die Übersicht verlieren können?
Sie versuchte, Distanz zu gewinnen, hoch über dem Labyrinth der Möglichkeiten die Kontrolle, den Überblick wieder an sich zu reißen.
War sie dem Wahnsinn nahe?
Sollte sie über diese Idee lachen?
Wenn hier jemand wahnsinnig, irrsinnig war, dann doch wohl die Welt und nicht sie!
Aber war nicht auch sie ein Teil dieser wahnsinnigen Welt?
Oder war die wahnsinnige Welt lediglich ein Teil von ihr?
Wie man es auch wendete, wenn es irgendwo Wahnsinn gab, mußte es sie treffen.
Ja, damit hatte sie einen Zipfel ihrer selbst zurück.
Selbstbewußt richtete sie sich auf, wies all dies entschieden zurück.
Folgerichtig erwachte sie nach diesem Gedankengang aus diesem Klartraum.
Es war ganz leicht.
Sie spürte ihren Körper wieder, atmete, hatte jedoch ihre Augen noch geschlossen. Der Leib war ganz taub, als hätte sie wie Dornröschen in ihrem Schloß all die Jahre geschlafen. Bestimmt hatte sie niemand wachgeküßt. Das Erwachen wollte sie schon selbst übernehmen. Noch spürte sie mit ihrem tauben Leib, ihren tauben Armen Händen, den tauben Füßen sowie Beinen keineswegs, wo sie war, aber sie war wach. Ihr Körper folgte noch nicht richtig. Aber dem Unterbewußtsein war klar geworden, daß sie mitnichten schlief, sondern ganz wach war. Sie hatte gar nicht geschlafen. Diese Einsicht sickerte durch ihr Gehirn und diese Erkenntnis erreichte nun auch das Unterbewußtsein, welches erst verblüfft war, sich daraufhin betrogen fühlte.
Marie hatte es hereingelegt – oder hatte es Marie hereingelegt als Strafe für all die bisherigen Klarträume?
Hatte ihr Unterbewußtsein einen Kerker für sie erschaffen, wie sie für das Monster in sich?
Rasselte dies gleich nebenan?
Nein, das konnte nicht sein, nun nicht wieder ablenken lassen, konzentrieren, zusammenreißen.
Nun alle Kraft sowie alle Konzentration auf die Augen – öffnen.
Ja!
Sie war zurück im Hier und Jetzt! …
Wo erwacht Marie?
Aufziehen
Marie dachte in aller Ruhe alles noch einmal durch. Sie war wieder aufgestanden und betrachtete nachdenklich den Kram, welcher in der Nische neben der Tür zu finden war. Die Fackeln waren ziemlich stabil, selbst der Stiel des alten Reisigbesens konnte vielleicht noch nützlich sein.
Sie hatte ja auch selbst noch Kleinkram in den Taschen, insbesondere den Mausoleumsschlüssel, ein Taschenmesser, vielleicht konnte sie mit all dem etwas erreichen und das Gitter anheben?
Das aber wäre wohl ziemlich gefährlich, vermutlich würde sie sich einklemmen, das Genick brechen oder mit eingeklemmtem Kopf ersticken. Darauf hatte sie keinerlei Lust.
Sie grübelte weiter. Die Balken waren zu massiv und groß, um durch das Gitter zu passen oder sinnvoll als Hebel dienen zu können. Die Flaschenzüge waren schon interessant, wenn sie sich oben befunden hätte, aber von hier unten brauchte sie ja irgendwie eine Umlenkung, um eine Kraft nach oben auf das Gitter auszuüben.
Wie sollte das gehen?
Nachdenklich sah sie sich Seile und Flaschenzüge an. Anschließend ging sie wieder die Treppe hinauf, legte sich auf die Stufen und betrachtete, was sie vielleicht vom Gitter aus oben erreichen könnte.
Gab es da etwas, um ein Seil umzulenken?
Der Mechanismus mit der Kurbel für das Gitter war schon nahe. Die Kurbel hätte Anknüpfungspunkte geboten, war überdies beweglich.
Konnte sie mit einem Seil die Kurbel von hier unten bedienen?
Sie überlegte, spielte es in ihrer Vorstellung durch, machte dazu ebenfalls Gesten, aber es schien ihr zu schwierig.
Sie schaute weiter, stockte endlich bei dem Haken oder Mechanismus, mit dem man wohl das Gitter im offenen Zustand arretieren konnte. Es war ärgerlich, daß sie eben dies unterlassen hatte.
Es gab sogar eine Öse, um das Gitter mit einem Schloß am Haken zu sichern!
Beides eine verpaßte Chance.
Aber da gab es noch einen zweiten Punkt. Weil es ein Haken war, schien es ihr durchaus möglich, ein Seil drumherum laufen zu lassen.
So könnte sie das eine Ende über den Haken laufend am Gitter befestigen, das andere indes mit Hilfe des irgendwo unten befestigten Flaschenzuges anziehen, worauf sich das Gitter öffnen mußte!
Hatte sie einen Weg gefunden?
Vielleicht.
Vielleicht könnte es klappen!
Aber wie sollte sie ein Seil um den Haken bekommen?
Der Haken war ja außerhalb der Reichweite ihres Armes, selbst wenn sie von der Treppe hinten hoch zum Gitter sprang, sich mit einer Hand hielt sich ferner daran hochzog, um mit dem Arm durch das Gitter zu greifen. Der Haken war zu hoch.
Konnte sie das Seil auf gut Glück werfen und bei vielen Versuchen geduldig auf einen zufälligen Treffer hoffen?
Das schien ihr der einzige Weg zu sein.
Seufzend ging sie wieder hinunter. Das würde eine Geduldsprobe werden. Aber sie war eigentlich ganz ruhig und war bereit, ein wenig zu probieren.
Schließlich hatte sie ja gerade sonst nichts zu tun, warum also nicht?
Sollte sie es lieber mit den alten, dicken Seilen probieren oder zunächst mit dem Zwirn aus ihrer Jackentasche, daran nach erfolgreicher Umschlingung das dickere Seil nachziehen?
Sie ging wieder hinunter in die Gruft, sah sich alles noch einmal an, plante inzwischen mit mehr Mut, Fokus auf dem Problem, was sie zuerst probieren wollte.
Sie hatte sich letztlich entschlossen, wenigstens ein paarmal direkt ein Seilende durch das Gitter nach oben zu werfen, vielleicht hatte sie ja Glück und es würde sich um den Haken legen. Die praktische Durchführung war indes wie vermutet knifflig, denn auf der Treppe stehend mußte sich ja durch die nicht besonders breiten Schlitze des Gitters nach oben werfen. Sie versuchte es, traf jedoch meistens bloß das Gitter. Die wenigen Male, bei denen sie durchkam, verfehlte sie natürlich oben wiederum den Haken. Nach einiger Zeit hatte sie den Eindruck gewonnen, so nicht wirklich weiterzukommen, ihre Chancen auf einen Glückstreffer waren einfach zu klein.
Im nächsten Versuch kam der Zwirnsfaden zum Einsatz; vorne hatte sie den Mausoleumsschlüssel aus ihrer Jackentasche als Gewicht angebunden, derart mochte es vielleicht ja gehen. Also probierte sie wieder, warf, traf natürlich meistens erneut das Gitter, versuchte es geduldig weiter, aber selbst wenn sie durch die Schlitze des Gitters durchkam, verfehlte sie meist den Haken, zweimal immerhin traf der Mausoleumsschlüssel den Haken, der Faden indessen kam auch da nicht über den Haken, es fiel leider alles wieder runter. Sie probierte trotzdem weiter. Ihr schien, mit der Methode sei sie schon näher dran, war allerdings nach längerer Zeit voller geduldiger, konzentrierter Würfe doch etwas frustriert, als sich endlich wirklich in drei von weiteren vielen Versuchen der Faden erst um den Haken legte, der Schwung des Mausoleumsschlüssels allerdings dafür sorgte, daß alles wieder abflog. Es wollte einfach nicht klappen. So brach sie letztlich auch ihre Versuche zu dieser Idee ab.
Als nächstes hängte sie sich mit einer Hand an das Gitter, stand schräg und nur noch mit einer Fußspitze auf der Treppe, fummelte mit der freien Hand Schlüssel und Faden durch den Gitterschlitz und versuchte, so zu werfen. Das war aber ziemlich schwierig sowie anstrengend, die Zielsicherheit war zudem ebenfalls niedrig. Deswegen gab sie auch diese Idee schnell auf, ging darauf etwas entmutigt wieder hinunter.
So saß sie dann wieder unten auf dem Sarkophag und grübelte.
Hatte sie vielleicht doch zu schnell aufgegeben?
Sollte sie es weiter mit Mausoleumsschlüssel sowie Faden probieren?
Irgendwann würde das doch zum Erfolg führen‽
Sie war mehrmals bereits nahe dran gewesen, diesen ersten Schritt zu ihrem Fluchtplan erfolgreich auszuführen. Sie schüttelte dann jedoch ihren Kopf, sie mußte sich einfach etwas Besseres einfallen lassen.
Sie betrachtete noch einmal die ihr zur Verfügung stehenden Hilfsmittel genauer, bis sie an dem alten Besen hängenblieb. Der Stiel war prinzipiell dazu geeignet, durch das Gitter bis nach oben an den Haken zu reichen. Zwar war der Kopf des Stiels gut abgerundet, sie entdeckte allerdings, daß der Stiel ein wenig unterhalb des Kopfes durchbohrt war. Vermutlich war das gerade für einen Zwirnsfaden geeignet, um den Besen damit an einer Schlaufe irgendwohin zu hängen, was hier unten in der Gruft nicht vorgesehen war, daher fehlte die Schlaufe. Marie fädelte geduldig ihren eigenen Zwirnsfaden durch das Loch im Stiel, nahm das Messer und schnitt den Faden durch und band eine Schlaufe. Durch die Schlaufe zog sie alsdann den Zwirnsfaden und beschwerte eine Seite wieder mit dem Mausoleumsschlüssel.
Gespannt ging sie mit dieser improvisierten Konstruktion wieder ein Stück die Treppe hoch, steckte den Besenstiel samt Schlaufe, Mausoleumsschlüssel sowie Faden durch das Gitter, fummelte damit daraufhin geduldig am Haken herum und bereits nach kurzer Zeit war es ihr gelungen, so den Faden um den Haken zu legen!
Damit war der erste Schritt erfolgreich gelungen!
Vorsichtig ruckte sie am Faden, konnte dadurch den Mausoleumsschlüssel langsam herablassen. Auf der anderen Seite mußte sie entsprechend und sehr vorsichtig den Besenstiel mit der Schlaufe um den Faden herablassen, stellte ihn danach an die Wand gelehnt auf der Treppe ab.
Marie war ganz zufrieden mit ihrem Geschick sowie Einfallsreichtum, aber es blieb noch viel zu tun und es konnten noch einige Punkte schiefgehen, vielleicht mußte sie überdies einige Punkte aufgrund von Mißgeschicken wiederholen. Aber damit würde sie schon gut zurechtkommen, denn sie war ja geduldig sowie hartnäckig. Notfalls konnte sie bei aufkommender Frustration ja immer noch eine Pause einlegen, ein wenig meditieren, ihre Frustration einfach entspannt wegatmen.
Als der Schlüssel kurz über dem Gitter war, war das nächste Problem zu lösen. Der Haken war ja in der Wand, der Faden lief hier auch dicht an der Wand und auch an den Scharnieren des Gitters hindurch. Um das Gitter später aufziehen zu können, mußte sie das spätere Seil aber unbedingt auf der anderen Seite, den Scharnieren gegenüber am Gitter befestigen. Immerhin kam sie mit etwas Mühe, halb hängend, noch mit einem Fuß geradeso die Treppe berührend mit den Fingern durch das Gitter und bewegte den Schlüssel geduldig Schlitz für Schlitz in die gewünschte Richtung, bis das Ziel endlich erreicht war. Vorsichtig ließ sie nun den Schlüssel weiter herab durch das Gitter hindurch.
Damit war der nächste Schritt gelungen!
Für die nächste Aktion holte sie eines der Seile aus der Gruft, tauschte anschließend Mausoleumsschlüssel gegen Seilende aus, zog das Seil sehr vorsichtig hoch, danach mit etwas Mühe das Ende durch das Gitter sowie weiter hinauf bis zum Haken. Das war eine kritische Stelle, denn das dickere Seil wollte nicht so unbedingt um den Haken herum. Aber Marie war geduldig, bewegte Faden sowie Seil mit viel Fingerspitzengefühl, bis auch dies geschafft war. Bald hatte sie nun das Seilende wieder in den Händen und das Seil war um den Haken herumgeführt. Nun konnte sie den Faden vom Seil lösen.
Ganz langsam zog sie weiter und weiter, bis sie das andere Ende am Gitter festmachen konnte. Damit war der nächste Schritt gelungen!
Nun suchte sie unten in der Gruft eine gute Befestigungsmöglichkeit für den Flaschenzug, begutachtete einige Alternativen, bis sie eine Stelle fand, die sich gut für ihren Zweck eignen würde. Also befestigte sie das Seil am Haken des Flaschenzuges, spannte mit dem Flaschenzug vorsichtig das Seil. Zunächst schaute sie nochmals besorgt von der Treppe aus, wie es um das Seil im Bereich des Hakens stand, das sah allerdings noch ganz gut aus. obgleich sie bei der schrägen Zugrichtung schon sehr aufpassen mußte, daß das Seil nicht vom Haken springen würde. Sie mußte also langsam sowie möglichst gleichmäßig ziehen. Das tat sie dann auch.
Sie hörte oben etwas von dem Gitter!
Nun nur nicht ungeduldig werden!
Ganz langsam weiter!
Am Flaschenzug gab es eine Möglichkeit, dessen Position beziehungsweise die des Seiles zu fixieren, sonst wäre sie so auch nicht viel weiter gewesen als zuvor. So fixierte sie nach einer Weile den Flaschenzug und ging wieder zur Treppe.
Wirklich hatte sie das Gitter bereits ein Stück weit hochgezogen!
Aber es war auch gut, daß sie innegehalten hatte, denn das Seil hatte sich bedenklich auf dem Haken verschoben!
Es drohte abzuspringen!
Und damit wäre alle bisherige Mühe vergeblich gewesen!
Marie schaute genau.
Konnte der Spalt reichen, um hindurchzugelangen?
Vielleicht!
Aber wenn sie dabei an das Gitter kam, würde sich vermutlich gleich das Seil vom Haken lösen und sie vom Gitter eingeklemmt werden. Der Winkel des Gitters war bereits so groß, daß sie nicht direkt von unten den Besen gerade nach oben bis zum Haken schieben konnte. Deshalb schaute sie weiter und hatte Glück, denn weiter von der Wand weg paßte der Winkel gut, um den Besen derart durchzustecken, daß sie vorsichtig gegen das Seil in der Nähe des Hakens drücken konnte, um das Seil wieder in Position zu bringen.
Wenn das Gitter nun herunterknallte, würde der Besenstiel heftig in ihren Händen drehen, also war die Aktion schon riskant, aber sie war vorsichtig, schob und drückte ein wenig, bis das Seil einen kleinen Ruck machte, jedoch keineswegs absprang, sondern ganz zurück auf den Haken, wobei das Gitter in den Scharnieren knirschte!
Marie überzeugte sich, daß nun wirklich wieder alles in Ordnung war. Danach ging es zurück zum Flaschenzug und sie zog langsam sowie vorsichtig weiter, bis es ihr genug erschien.
Gespannt ging sie wieder ein Stück die Treppe hoch.
Und wirklich, nun reichte die Öffnung gut aus!
Das Seil hing noch ausreichend sicher auf dem Haken!
Dies war ihre Chance!
Marie überlegte nicht lange, stieg weiter die Treppe hoch, sich gleichzeitig bückend, um im Falle eines Nachgebens nicht doch noch das Gitter an den Kopf zu bekommen. Aber einige Stufen später war sie natürlich so hoch, daß das nicht mehr viel nützte.
Und dann war es aber auch schon geschafft!
Sie war durch, atmete erleichtert im Mausoleum neben dem Gitter auf!
Das war geschafft!
´ Sie machte eine kleine Verschnaufpause auf der Steinbank neben der trauernden Frau. Knochenmann, Drachen und Dämon schauten steinern sowie ziemlich ausdruckslos zu ihr. Auch die trauernde Steinfrau ließ sich selbstverständlich nichts weiter anmerken, war ganz versunken in ihrer beinahe ewigen Trauer, welche andauern würde, bis der Stein dann doch irgendwann verwittert oder anderweitig zerstört wäre. All diese Steinwesen strahlten eigentlich eine unheimliche Ruhe aus, welche Marie allerdings nicht im Mindesten beeindruckte. Ihrem Gefängnis war Marie gerade noch einmal entgangen. Marie stand sodann auf, streichelte fast zärtlich und ebenfalls grinsend über die Steinskulpturen, wendete sich daraufhin jedoch wieder dem Gitter zu. Sie war hier noch nicht fertig. Marie sah sich den Kurbelmechanismus des Gitters an. Das Gitter hing ja nun allein am Flaschenzug. Die Kurbel drehte leicht, allerdings keineswegs das Gitter hoch oder runter. Beim Herunterfallen waren die Zahnräder offensichtlich abgerutscht. In der Rumpelkammer fand sich jedoch bald eine Stange, mit welcher es Marie nach kurzer Zeit wieder gelang, den Mechanismus wieder einrasten zu lassen. Nun sollte die Winde wieder funktionieren. Marie kurbelte also vorsichtig, tatsächlich ging es jetzt deutlich schwerer und es war wieder die gewünschte Funktion gegeben, der Sicherungsmechanismus klapperte leise sowie beruhigend, nun sprang das Seil vom Haken, aber der dafür gedachte Kurbelmechanismus hielt das Gitter sicher. Marie kurbelte weiter, bis das Gitter ganz geöffnet war. Nun sicherte sie es wie vorgesehen an dem Haken an der Wand. Danach löste sie das Seil, ließ alles hinunter auf die Treppe fallen.
Marie atmete noch einmal durch, nickte Kurbel sowie Gitter lächelnd zu, ging anschließend die Treppe wieder hinunter, nahm Seilende sowie Besenstiel mit, wieder ganz hinunter in die Gruft. Dort räumte sie nun in aller Ruhe auf.
Inzwischen war die Fackel beinahe heruntergebrannt. Marie entschloß sich, dies noch abzuwarten. Sie hockte sich wieder auf den Sarkophag, beobachtete die Flamme der Fackel, meditierte darüber ein wenig sowie in sich gekehrt. Mathematisch betrachtet war das Eingesperrtsein lediglich eine Definitionsfrage von Innen sowie Außen. Definierte der Eingesperrte einfach um, wären plötzlich alle anderen seine Gefangenen und er der Wärter der Welt. Der Haken an der Betrachtung war allenfalls, daß nach wie vor die Schlüssel für die Verbindung zwischen Innen und Außen bei der anderen Seite liegen mochten.
Marie sann ruhig weiter nach, hatte es nicht eilig, genoß die kühle Stille der Gruft noch einmal.
Die Kälte zog in den Körper, betäubte und stellte dadurch irgendwann immer deutlicher die Frage, was man eigentlich wollte, leben oder vergehen, auskühlen?
Marie wollte eindeutig weiter leben, wartete deshalb bloß noch, bis die Flamme unruhiger wurde und schließlich verlöschte, statt ihrer vergangen war. Marie nahm in aller Ruhe ihre Taschenlampe heraus, leuchtete, stand auf, reckte und streckte sich, lockerte und belebte ihre Glieder wieder. Ruhig ging sie die Treppe hinauf, löste die Arretierung des Gitters wieder, kurbelte herunter, schloß ab, öffnete die Außentür, ging hinaus, winkte noch einmal grinsend und über die Schulter durch die noch offene Tür Drachen, Dämon, Knochenmann und trauernder Frau zu, schloß ab, schlenderte in aller Ruhe über den Friedhof, machte noch eine Runde durch den Park, setzte sich irgendwann noch abermals kurz hin …
Abschütteln
Marie beschloß, einfach noch einmal alles genau zu durchdenken. Die Option eines ernsthaften Befreiungsversuchs mit den verfügbaren Mitteln schien ihr einstweilen zu riskant zu sein. Immerhin, ihr standen mit dem Reisigbesen, den Fackeln sowie diversen Kleinteilen einige Mittel zur Verfügung, um den mit Muskelkraft erzeugten Spalt zwischen Gitter und Steinboden offenzuhalten, weiterhin nach und nach das Gitter immer etwas weiter hochzudrücken und wieder zu sichern. So mochte es gelingen – vermutlich aber auch nicht.
Sie grübelte weiter.
Die Balken waren zu massiv und groß, um durch das Gitter zu passen oder sinnvoll als Hebel dienen zu können. Die Flaschenzüge waren schon interessant, wenn sie sich oben befunden hätte, aber von hier unten brauchte sie ja irgendwie eine Umlenkung, um eine Kraft nach oben auf das Gitter auszuüben. Wie sollte das gehen?
Nachdenklich sah sie sich Seile und Flaschenzüge an, schüttelte daraufhin jedoch lediglich den Kopf, hatte einstweilen keine Idee, wie ihr das hier unten weiterhelfen konnte.
Ihr war schon klar, wenn sie einen eigenen Versuch mit Hebeln oder Flaschenzügen noch irgendwann probieren wollte, sollte sie es tun, solange sie noch ihre vollen Kräfte aufbringen konnte sowie nicht durch Durst und Hunger geschwächt war, ihre Denkleistung beeinträchtigt war. Davon war allerdings über ein oder zwei Tage noch nicht auszugehen.
In der Zeit würde sie doch sicher jemand vermissen?
Würde sie jedoch in der Zeit jemand hier suchen?
Ferner gab es immer noch die Option, daß sie sich in einem Klartraum verirrt hatte, wenn sie unter diesen Umständen nie aktiv wurde, nie wieder erwachte, würde sie für immer hier verharren, eventuell gar erlöschen, ohne jemals wieder zur profanen Realität zu finden. Ernsthaft dramatisch für sie sowie den Rest der Welt wäre dieses Schicksal objektiv betrachtet vermutlich mitnichten, jedenfalls wenigstens für sie schon etwas schade. Solcherlei dubiose Dramen wollte Marie vermeiden.
Dies schien ihr allerdings ein interessanter Punkt zu sein, denn ein tiefer, intensiver Klartraum bot durchaus allerhand Möglichkeiten, warum sich also nicht darin verirren?
Warum nicht im Klartraum in einen weiteren Klartraum fallen und darin in einen weiteren, sich in einem Labyrinth von Klarträumen verfangen?
Fühlte sich ihre Befindlichkeit nicht so an, als sei dies lediglich eine ungünstige Teilabzweigung eines Klartraums, bei welchem sie irgendwo einfach unachtsam war sowie etwas verpaßt hatte?
Konnte sie sich wirklich noch genau erinnern, wie sie hier hergekommen war?
Daran hing es vielleicht.
Also, sie stand vor dem Mausoleum und überlegte, ob Traum oder nicht, welcher Tag war. Im Anschluß hatte sie den Schlüssel aus der Tasche gezogen, an den Angaben ihrer Uhr gezweifelt.
Erneut schaute sie auf ihre Uhr, schaute jene Schlüssel genau an, welche sie bei sich hatte.
War dies alles realistisch oder bloß ein Traumgebilde?
Was war überhaupt Realität?
Machte man sich nicht immer im eigenen Kopf ein eigenes Bild von der Welt aufgrund von unvollständigen Informationen, naiv sowie einfach, vielleicht gleichfalls verrückt, widersprüchlich, abstrus, absurd, albern?
Die Zeichen auf der Uhr wirkten irgendwie verwischt sowie unklar, nicht einmal ein Datum auszumachen, die Uhrzeit mochte wohl so stimmen, aber dieser Eindruck als solcher blieb irgendwie nicht im Kopf hängen – oder war das alles lediglich im Kopf und da war gar keine Uhr?
Ist nicht irgendwie sowieso alles eine Vorstellung im Kopf?
Aber Marie wollte jetzt nicht wieder philosophisch abdriften, sie konzentrierte sich auf die konkrete Frage – was passierte eigentlich, bevor sie vor dem Mausoleum in die Tasche griff und den Schlüssel zog?
Auch die Vergangenheit war irgendwie diffus und unklar, selbst bereits auf die letzten Stunden bezogen.
Hatte sie im Park des Friedhofs gelegen, um einen Klartraum zu genießen sowie probezuliegen?
War sie anschließend erwacht, war losgegangen, um sich mit Lotte zu treffen sowie später mit Florian?
Dazu paßte jedoch mitnichten, daß ihr Rucksack nicht oben im Mausoleum gewesen war.
Sie mußte weiter zurück in die Vergangenheit, mußte sich erinnern.
War die Vorstellung vom Klartraum sowie dem Probeliegen draußen im Park des Friedhofs auch nur ein weiterer Klartraum gewesen, aus dem sie noch gar nicht erwacht war?
Eine andere diffuse Option: Das Treffen hatte bereits stattgefunden und sie hatte im Schneidersitz im Park gesessen, in einem Klartraum vertieft, war alsdann von dort aus aufgebrochen, innerhalb des Klartraums oder nach dem Erwachen daraus?
War sie so deutlich nach dem Treffen zum Mausoleum gekommen, um noch einmal hineinzuschauen, bevor sie Thomas den Schlüssel zurückgab?
Sie war sich nicht mehr sicher.
Oder war es so, daß sie Zuhause war, sich ein warmes Bad eingelassen hatte, darin in Meditation versunken war, um über ein Stelldichein in einer Gruft nachzusinnen?
Spürte sie, wie das Wasser im Bad langsam kälter wurde?
Aus einem derartigen Klartraum würde sie doch von selbst erwachen, wenn es zu ungemütlich wurde?
Duschte sie nicht eigentlich viel lieber als zu baden?
Oder war sie abends vor dem Rechner eingenickt, nachdem sie eine Nachricht in der Partnerbörse von Florian beantwortet hatte?
Hatte sie ein Treffen abgelehnt oder eine entsprechende Frage einfach in ihrer weitschweifigen Antwort, ohne darauf einzugehen, unter den Tisch fallenlassen?
Hatte sie danach darüber nachgedacht, war dabei in einen Traum versunken, in welchem sie erlebte, was sie abgelehnt hatte?
Oder hatte sie zugestimmt, war in einen Traum versunken, in welchem sie nun durchging, wie das Treffen verlaufen könnte, je nachdem, wer wann was tat oder sagte, entschied?
Oder war sie schlicht bei einer Sitzung der Libertines und war in ihren Überlegungen versunken in eine Meditation, einen Klartraum verfallen?
Nun amüsierten sich zweifellos schon alle, weil sie gar nicht mehr reagierte, dabei komplett abgedreht sowie abgehoben war.
Oder war sie jemand ganz anderes, ein ganz anderer Mensch, welcher nur träumte, wie es wäre, sie zu sein?
Vielleicht war es sogar ein Außerirdischer irgendwo in den Weiten des Weltraums oder des Welttraums, der sich erträumte, ein Mensch zu sein?
Welcher die Fähigkeit hatte, all dies zu ersinnen sowie zu erträumen?
Ein viel gewaltigerer Klarträumer, als sie es jemals vermocht hätte?
Sie sollte nicht so spekulativ sein.
Sie sollte sich konzentrieren.
Wie plausibel war es wirklich, daß dies real war?
Wie plausibel war es wirklich, daß sie trotz besseren Wissens oben am Eisengitter die Arretierung nicht benutzt hatte, in die Gruft gegangen war und daraufhin hatte das Gitter zufallen lassen?
Sie war nun entschlossen, diese Abzweigung, diese Alternative einfach abzuschütteln. Sie schloß ihre Augen, versank in tiefer Kontemplation.
Anschließend wollte sie erwachen, erwachen aus allen Klarträumen. Sie wollte ganz zurück, auf Anfang, ganz zurück in jene profane Variante ihres Seins, welche einer kollektiven Wirklichkeit mit anderen Menschen darin noch am nächsten kam.
Was, wenn sie wieder als Kind erwachte und der Alptraum ihrer Kindheit nicht abgeschlossen war, nicht hinter ihr lag, sondern noch immer präsent war?
Was, wenn sie an jenem Tisch auf jenem harten Stuhl erwachte und er einfach um die Ecke kam, sie anlächelte, daß sie gleich wußte, was nun kommen würde, was kommen mußte?
Konnte das so weit zurückgehen?
All das dazwischen konnte ja keine Illusion sein, kein Klartraum konnte über so viele Jahre dauern.
An welcher Stelle hätte sie verdrängen sollen, daß der Traum nicht real war?
Oder kann das Gehirn im Traum so viel schneller denken, daß all diese Jahre in einer Nacht durchlebt werden?
Sie durfte sich jetzt nicht selbst verwirren.
Also konzentrieren.
Nach dem richtigen Ende dieses Wollknäuels von roten Fäden greifen, wo es nur einen Faden mit einem richtigen Ende geben sollte.
Raus!
Sie wollte raus!
Koste es, was es wolle!
Koste es, was es wolle?
Wirklich, im schlimmsten Falle auch ganz zurück in seine Hände.
Das konnte nicht sein.
Das war vorbei.
Da war sie sich sicher.
Da war sie sich sicher‽
War sie sich sicher?
Wessen war sie sich überhaupt jemals sicher?
Oder war doch noch alles gut und noch gar nichts passiert?
War sie noch gar nicht geboren, sondern noch geborgen im Bauch ihrer Mutter?
Konnte sie noch alles wenden, damit diese lebte und sie selbst starb?
Konnte sie noch alles wenden, damit sie beide lebten und er dabei keine Rolle spielen würde?
Oder war es ein Geschenk für ihre Mutter gewesen, durch den Tod befreit zu sein?
Hatte sie bei der Geburt ihre Mutter vor ihm gerettet?
Oder hatte damit erst alles begonnen, war er allein ihretwegen zu jenem Monster geworden?
Weil sie bei der Geburt ihre Mutter getötet hatte?
Oder war er unabhängig davon ein Monster und hatte lediglich die Gunst der Stunde genutzt, in welcher sie in seine Hände gespielt worden war, wehrlos, formbar, manipulierbar?
So herum mußte es sein.
Sie hatte so oft überlegt, wie dies alles zusammenhängen mochte.
Sie war noch nicht geboren, der Tod ihrer Mutter konnte nicht ihre Schuld sein. Sie konnte keinesfalls daran Schuld sein, daß er war wie er war und handelte, wie er es tat.
Sie durfte sich jetzt nicht selbst verwirren und sich selbst in längst abgeschlossener Vergangenheit verlieren.
Diese Ereignisse waren längst vorbei, Geschichte.
Vorbei und erledigt.
Sie wußte es doch.
Das hatte sich tief in ihre Erinnerungen gegraben. Sie hatte neben seinem toten Leib gestanden, wohin sie die Leute gestellt hatten, um ihn zu identifizieren.
Dort hatte sich sein Monster mit dem verbunden, was schon in ihr gewesen war, hatte sich als ihr Monster tief in ihr Hirn, in ihr Sein, in ihr Selbst gefressen und rasselte da, von ihr nur mühsam in Fesseln gehalten, bei karger Kost unterhalten sowie kontrolliert, damit es nicht ausbrach.
Maries Kopf schmerzte.
So viele Wege und Abzweigungen.
Wie hatte sie die Übersicht verlieren können?
Sie versuchte, Distanz zu gewinnen, hoch über dem Labyrinth der Möglichkeiten die Kontrolle, den Überblick wieder an sich zu reißen.
War sie dem Wahnsinn nahe?
Sollte sie über diese Idee lachen?
Wenn hier jemand wahnsinnig, irrsinnig war, dann doch wohl die Welt und nicht sie!
Aber war nicht auch sie ein Teil dieser wahnsinnigen Welt?
Oder war die wahnsinnige Welt lediglich ein Teil von ihr?
Wie man es auch wendete, wenn es irgendwo Wahnsinn gab, mußte es sie treffen.
Ja, damit hatte sie einen Zipfel ihrer selbst zurück.
Selbstbewußt richtete sie sich auf, schüttelte all dies entschieden von sich ab.
Alsdann erwachte sie aus diesem Klartraum.
Es war ganz leicht.
Sie spürte ihren Körper wieder, atmete, hatte jedoch ihre Augen noch geschlossen. Ihr Leib war ganz taub, als hätte sie wie Dornröschen in ihrem Schloß all die Jahre geschlafen. Bestimmt hatte sie niemand wachgeküßt. Das Erwachen wollte sie schon selbst übernehmen. Noch spürte sie mit ihrem tauben Leib, ihren tauben Armen Händen, den tauben Füßen sowie Beinen keineswegs, wo sie war, aber sie war wach. Der Körper folgte noch nicht richtig. Aber dem Unterbewußtsein war klar geworden, daß sie mitnichten schlief, sondern ganz wach war. Sie hatte gar nicht geschlafen, das sickerte durch das Gehirn und diese Erkenntnis erreichte nun ebenso ihr Unterbewußtsein, welches erst verblüfft war, sich danach betrogen fühlte.
Marie hatte es hereingelegt – oder hatte es Marie hereingelegt als Strafe für all die bisherigen Klarträume?
Hatte ihr Unterbewußtsein einen Kerker für sie erschaffen, wie sie für das Monster in sich?
Rasselte dies gleich nebenan?
Nein, das konnte nicht sein, nun nicht wieder ablenken lassen, konzentrieren, zusammenreißen.
Sie mußte diese Überlegungen, diesen Klartraum, diese Verirrung im Labyrinth der Träume einfach abschütteln, sich dem normalen Fortgang der Dinge widmen, ohne noch weiter darüber nachzusinnen, was normal wäre und was eigentlich ein Fortgang wäre oder wie real Realität ist. Eine ganz naive Auffassung von Wirklichkeit würde einstweilen völlig ausreichen, darin war sie sich ganz sicher, keine ausschweifende Philosophie war derzeit notwendig oder wünschenswert, keine albernen Zweifel.
Nun alle Kraft sowie alle Konzentration auf ihre Augen – öffnen.
Ja!
Sie war zurück im Hier und Jetzt!
Dieses Sein fühlte sich echt an, obwohl sie immer noch nicht ganz zurück in ihrem Körper war, erst langsam wieder in ihn hineinsickerte.
Umgebung sowie Perspektive konnte sie allerdings gleich wieder einordnen.
Der Körper war starr, kalt und wie tot. Marie verharrte noch einen Moment, nahm dieses Gefühl tief in sich auf. Das war sozusagen probeliegen, wobei die Vorstellung wörtlich genommen natürlich recht albern war, denn war man tot sowie der Leib verbrannt oder verscharrt, gab es da nichts mehr, kein Ich, von daher war es egal, wortwörtlich brauchte man nicht probieren – und doch hatte es eine gewisse Faszination, welche sie ebenso etwas amüsierte. Danach fühlte man sich umso lebendiger, wenn man diesem Nichts noch einmal von der Schippe gesprungen war. Wenn man tot war, war man keineswegs Nichts, man war einfach nicht mehr, hatte also auch kein Bewußtsein mehr darüber, nicht mehr zu sein. Über den eigenen Tod sowie das Nichts kann nur reflektieren, wer es nicht ist.
Aber Marie hatte heute noch etwas Praktischeres vor, deshalb beendete sie langsam diesen Klartraum sowie ihre kontemplative Meditation.
Nun war sie wieder in der richtigen Spur, das hatte sie genau im Gefühl, so sollte es doch laufen, so war es richtig, sie war zurück im Rennen, diese Umgebung war nun echt!
Die Kälte hatte wirklich inzwischen mit mächtigen Klauen nach ihrem Leib gegriffen, welcher starr sowie fröstelig geworden war, deswegen war es gar nicht so einfach, da überhaupt wieder Leben und Bewegung hineinzubringen. Nur sehr zögerlich reagierte ihr Körper letztlich doch und Marie konnte ihn wieder bewegen, obgleich er sich noch immer ziemlich taub anfühlte. Aber dies vorübergehende Gefühl war nicht so schlimm. Endlich konnte sie doch aufstehen, bewegte sich nun ordentlich, schüttelte alles durch, rubbelte über Arme sowie Beine, um das Blut wieder ordentlich in Bewegung zu bringen. Ja, sie schüttelte entschlossen den ganzen Klartraum von sich ab, dadurch sich zurück in das wirklich Leben, in das Hier und Jetzt.
Offenkundig ließ sich der Körper im Grunde recht schnell davon überzeugen, hier probezuliegen oder gar auch liegenzubleiben. Daher galt es schon aufzupassen, diese Trägheit, Passivität des Leibes wieder unter Kontrolle zu bringen.
Marie schaute auf die Uhr. Alles war so weit in Ordnung, nichts war mehr verwischt oder unscharf, Uhrzeit passend, Datum wie erwartet, die angegebene Zeit entsprach recht genau ihrer Schätzung. Sie hatte noch etwas Zeit, bis sie Lotte treffen würde. Sie hatten gleich einen Termin. Alle Zweifel waren von ihr gewichen. Datum und Uhrzeit paßten, dieses Erlebnis des Seins war nun wieder echt.
Nun fühlte sie sich bereits wieder frisch, erfrischt sowie hellwach und eindeutig.
In diesem Zustand schlenderte sie gemütlich los, einen weiteren Bogen nehmend, welcher sie endlich irgendwann zu jenem Mausoleum führen würde, wo sie sich verabredet hatte. Sie hatte natürlich schon früher einen Blick in das Mausoleum geworfen und sich einen Eindruck verschafft, hatte daher schon recht genaue Vorstellungen, wie alles ablaufen sollte, hatte selbst schon ein paar Sachen dort deponiert sowie mit Lotte grob abgesprochen, was gemacht werden sollte, deshalb war eigentlich bis jetzt alles gut vorbereitet. Mit Lotte zusammen konnte es danach weitergehen, das Mausoleum sowie die Gruft kurz mit ihr besichtigen, anschließend konnte sie loslegen. Sie würde ihren Spaß haben. Dafür war Lotte zu haben, diese würde indes ja auch nicht bleiben, bis ihre Bekanntschaft eintreffen würde.
Sie hatte sich hier mit Florian verabredet, mit dem sie Kontakt über eine Partnerbörse im Netz bekommen hatte. Florian war eigentlich ein ganz lieber, netter Kerl, knuffelig sowie knuddelig. Er war – wie übrigens zahlreiche andere gleichfalls – vor ihrem ehrlichen sowie offenen Profil nicht zurückgeschreckt. Ihre Unterhaltung über Nachrichten war recht kurzweilig. Irgendwann hatte Florian dann vorgeschlagen, daß sie sich doch einmal treffen könnten. Marie war skeptisch gewesen. Florian war allerdings nett sowie zudem in dem Punkt auch noch hartnäckig, so hatte sich Marie schließlich überreden lassen, also wurde eine Treffen zu ihren Bedingungen verabredet. Anschließend hatte sie organisiert.
Ihr Bogen führte Marie am Mausoleum vorbei. Sie würde gleich weitergehen, Lotte entgegen, denn sie wußte, welchen Eingang diese nehmen würde.
Im Klartraum verwischte immer ein wenig, was jetzt Traum war und was profanes Jetzt. Sie brauchte immer ein wenig, um genau festzulegen, daß sie nun wieder im Jetzt war. Deshalb hielt sie vor dem Mausoleum ein wenig inne, fokussierte ganz auf das Hier und Jetzt. Im Klartraum hatte man eher den Überblick, sobald man die Zeit zaudern fühlte, wurde auch der Raum eventueller, keineswegs mehr so eindeutig präsent. Selbst wenn man dann schon wieder eine Weile unterwegs war, fühlte sich immer noch alles an, als sei es nicht ganz echt, mitnichten ganz profan, sondern irgendwie wie hingedacht, wie von einem Impressionisten hastig und doch mit Leidenschaft sowie Einfühlungsvermögen für die Stimmung auf eine Leinwand gebannt, allerdings beweglich sowie veränderlich, begreifbar. Mit Fokussierung wurde schließlich aus dem Impressionisten kurzfristig ein Hyperrealist, welcher alles viel zu genau machte, als daß man es genau hätte erfassen können, aber dann nur noch ein kleiner Ausschnitt, welcher in seinem Detailreichtum, in der Abstraktion dieser Details eigentlich ähnlich rätselhaft erschien wie der Überblick aus der distanzierten Sicht des Klartraums, wo sie virtuos in die Schubladen ihres Seins greifen konnte, um alles hervorzuholen und um den kleinen Finger gewickelt gelten zu lassen.
Marie griff mit der linken Hand, jener mit der Funkuhr dran, in ihre Tasche, um den Schlüssel für das Mausoleum zu ziehen, danach mit einem Blick die Zeit zu fixieren, womit letztlich schlagartig der Überblick über das Ganze wieder verwischen würde, sie wieder eintauchen mußte in die profane Bestimmtheit des Alltags sowie schwelgen in der Gestaltung des heutigen Tages …
Der Wind rauschte leicht durch die Blätter der Bäume.
Ein Eichhörnchen zischte vorbei, schaute dabei lediglich kurz irritiert.
Die Zeit signalisierte, daß sie nicht länger zaudern mochte‽
Sie gab sich zu erkennen, daß sie nicht länger einen Bogen um sie schlagen mochte?
Marie schaute auf.
Doch wohl eher nur ein ganz normaler Windhauch an einem sonnigen Herbsttag.
Sonnenstrahlen kitzelten mild sowie lustig ihr Gesicht; Marie mußte lächeln, zog entspannt sowie gelassen ihre Hand aus der Tasche …
Was als nächstes?
Was willst du wissen oder was soll passieren?
Ziehen
Marie zögerte etwas, zog dann aber doch den Schlüssel für das Mausoleum aus der Tasche. Sie dachte nach, schwankte in ihrer Einschätzung, etwas verwirrend war diese Situation doch. Traum oder nicht, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft.
Sie sah auf ihre Uhr, aber war dieser Angabe zu trauen?
In einem Traum würde diese ja doch genau das anzeigen, was im Traum die angemessene Angabe wäre, keineswegs, was wirklich war. Also war darauf kein Verlaß.
Marie dachte hier in diesem Moment auch eher an ein naives Verständnis des Begriffes Wirklichkeit und wollte keinen philosophischen Diskurs mit sich selbst darüber beginnen, sich dabei selbst vorhalten, wer schon alles was über Wahrheit oder Wirklichkeit geäußert hatte. Derlei Erwägungen brachten ihr ja jetzt alles nichts. Es sah echt aus, es fühlte sich echt an, hörte sich echt an, es roch echt, also war es echt, basta, jedenfalls so weit man es mit einer Überprüfung der eigenen Sinne bringen konnte.
Denen konnte sie natürlich mitnichten notwendig trauen, doch dieser Gedankengang würde jetzt wieder einen endlosen Rattenschwanz von formalen, philosophischen Argumenten nach sich ziehen und auf Rattenschwänze hatte sie gerade wirklich keine Lust.
Natürlich war das alles hirnrissiger Blödsinn, aber wenn sie doch versehentlich in eine Art Parallelwelt abgedriftet war, wenn sie doch versehentlich die falsche Abzweigung gewählt hatte?
Sollte sie nicht doch einfach im Mausoleum nachsehen?
Es mußten sich doch Spuren finden, wenn alles bereits stattgefunden hatte?
Immerhin hatte sie alles bloß sehr flüchtig sowie mit leichter Hand wieder übergestaubt. Wenn es nicht schon passiert war, sie aber gleich mit Lotte verabredet war, mußte auch schon ihr Rucksack im Mausoleum stehen – ja und es mußten doch ihre Spuren dort sein, weil sie diese erst verwischt hätte, nachdem das Treffen stattgefunden hatte, mitnichten jedoch, nachdem sie nur kurz hineingesehen sowie ihren Rucksack abgestellt hatte.
Aber hätte das genug Spuren hinterlassen, um nun überzeugend zu sein?
Fragen über Fragen!
Sie entspannte sich. Eigentlich reizte sie diese Situation ja doch, so in der Schwebe, im Ungefähren lag auch Spannung sowie Kurzweil, auf welche sie sich jedenfalls ein wenig einlassen konnte.
Marie schmunzelte, das machte nun doch richtig Spaß, daß sie bereit war, sich darauf einzulassen.
Was konnte schon passieren?
Schlimmstenfalls der ganz normale Wahnsinn des Alltags, das Drama der täglichen Existenz.
Also los!
Marie ging auf das Mausoleum zu, schloß auf und es war schon etwas Kraft notwendig, um mit der massiven Klinke den kompletten Schließmechanismus zu bewegen, welcher auch offenkundig lediglich selten benutzt wurde, erst mit leichtem Quietschen und Stöhnen zögerlich nachgab. Dafür konnte Marie die massive Tür zwar mit beiden Händen, dann aber doch recht einfach öffnen, welche sich anschließend träge im Scharnier drehte, welches damit überdies kundtat, daß etwas Öl gelegentlich mal ganz angemessen wäre. Sie hatte keines dabei, also war das einstweilen nicht ihr Problem, räumte der Tür gegenüber ein, daß sie vielleicht gelegentlich mal eine Kleinigkeit nachölen könnte, was sie allerdings keineswegs als Versprechen verstanden wissen wollte, wobei es ja ohnehin reichlich Unfug ist, einem Gegenstand etwas zu versprechen.
Sie trat in den dämmrigen Raum, welcher lediglich durch kleine, jedoch kunstvoll bunte Fenster Licht erhielt, was allerdings erst richtig auffiel, nachdem Marie die Tür wieder hinter sich zugezogen hatte.
Es handelte sich primär um einen Andachtsraum mit sicherlich sehr harten sowie unbequemen Steinbänken, zudem gleichermaßen einer steinernen Ablage, dazu war der Innenraum neben den Fenstern mit einigen Skulpturen verziert, welche ungefähr dem typischen Trauer- und Totenstil von Friedhöfen folgten. Auch draußen konnte man ja schon außer den Tafeln mit Inschriften zu den Verstorbenen entsprechende Dekoration bewundern, allerdings nicht direkt am Bau, sondern in Bezug auf das Mausoleum freistehend zwischen Büschen und Bäumen. Den Tafeln war allerdings zu entnehmen gewesen, daß es hier schon seit Jahrzehnten keinen Neuzugang mehr zu verzeichnen gab – oder aber man solche nicht mehr vermerkte. Es handelte sich also um eine ältere Anlage, eventuell gar nicht mehr von der ursprünglichen Familie genutzt. Eventuell war es auch deshalb Thomas gelungen, die Schlüssel zu organisieren.
Etwas seitlich neben der Wand war ein massives Eisengitter im Boden eingelassen. In der Verlängerung des Eisengitters gab es massive Bodenplatten mit Metallösen daran. Der Zweck ließ sich erst erahnen, wenn man nach oben sah. Unter der Decke gab es eine Art Schienensystem an massiven Trägern. Das konnte sich gut eignen, um die Steine des Bodens anzuheben sowie zu verschieben. Über die so entstehende Öffnung mußte es hernach leicht möglich sein, etwa Särge in die Gruft abzulassen, denn diese über jene unter dem Eisengitter befindliche Treppen runterzutragen, wäre zwar möglich gewesen, weil jene Treppe jedoch keineswegs besonders breit war, sicherlich ziemlich unbequem.
Sie sah sich noch etwas weiter um, es gab noch eine unscheinbare, ganz gut verborgene Tür zu einer kleinen Rumpelkammer. In dieser fand sich nach dem Öffnen zum einen eine Leiter, Ketten, massive, aber alte Seile, Flaschenzugsysteme. Dies diente offenbar dazu, um oben an dem Schienensystem befestigt zu werden, um einerseits die Bodenplatten zu heben sowie zur Seite zu schieben, andererseits dann auch wohl, um Särge sicher in die Gruft abzulassen. Obwohl alt, war alles noch in gutem Zustand, aber dies Mausoleum war auch trocken sowie ganz gut belüftet.
Sie hatte es nicht erwartet, von ihrem Rucksack war nichts zu sehen und es gab auch keine auffälligen Fußspuren im Staub; was sich eventuell im Staub abzeichnete, war nicht eindeutig, also kaum zu sagen, wann diese jemand hinterlassen hatte und ob der Staub auf den Spuren sich über Monate oder Jahre abgelegt hatte oder deswegen, weil er kürzlich im gesamten Gebäude aufgewirbelt worden war und sich daraufhin über Stunden oder Tage wieder gelegt hatte.
Marie wandte sich wieder dem Eisengitter zu, unter dem sich die Treppe hinunter in die Gruft verbarg. Es verfügte ebenfalls über ein gutes Schloß, für welches Marie gleichfalls einen Schlüssel hatte. Sie schloß auf und schon kurbelte sie an einer Winde, welche offenbar eine Untersetzung über Zahnräder hatte, so daß es mit der Gittertür im Boden zwar nur langsam, aber nicht schwer voranging. Auch diese gab mit entsprechenden Geräuschen ihre Bedenken kund, daß man sie so einfach aus ihrer Ruhe störte, Marie indessen irritierte dies nicht. Sie drehte weiter. Dabei klackerte überdies ein Schutzmechanismus an einem der Zahnräder, welcher dazu gedacht war zu verhindern, daß das schwere Eisengitter ungewollt wieder zufiel. Dieser Mechanismus wirkte allerdings etwas verdreckt sowie verschmiert, insgesamt jedoch zuverlässig.
Bestand dabei nichtsdestotrotz eine gewisse Gefahr, daß er versagte und die Sicherung abrutschte, das Gitter wieder herunterkrachte?
Allein des Dreckes wegen vielleicht?
Ganz geöffnet prüfte Marie den Mechanismus sowie die Stabilität, ohne der Stelle nahezukommen, wo das Gitter gegebenenfalls herunterkrachen konnte. Sie hatte es etwas eilig und der Mechanismus hielt der oberflächlichen Begutachtung stand. Damit war jedenfalls sichergestellt, daß das massive Eisengitter nicht bei einer kleinen Erschütterung wieder aus seiner senkrechten Position herunterfiel und den Ausgang aus der Gruft versperrte, denn es schien ziemlich ausgeschlossen, das Gitter von unten aus alleine hochzudrücken, dazu war es doch ziemlich schwer. Nicht umsonst hatte der Kurbelmechanismus für das Gitter eine ordentliche Untersetzung sowie diesen Klackermechanismus ähnlich der Hemmung bei einer mechanischen Uhr, welcher aktiviert wirkungsvoll verhinderte, daß man das Gitter mit der Kurbel lediglich hochziehen konnte, unterdessen gleichfalls pausieren konnte, ohne daß das Gitter wieder herunterfiel. Um es wieder abzulassen, war es offensichtlich nur notwendig, mit einem Riegel etwas umzustellen, hatte dadurch im Anschluß beim Ablassen eine ähnliche Sicherung, welche ein Pausieren ermöglichen würde sowie ein Herunterfallen verhinderte.
Bevor Marie hinunterging, ging sie jedoch zunächst zur Außentür und schaute noch einmal hinaus. Es war niemand zu sehen, in der Ferne allenfalls ein rot-braunes Eichhörnchen, welches bloß kurz herüberzublicken schien, danach jedoch munter weiter Eicheln sowie ähnlich nützlichen Dingen für den Wintervorrat nachjagte. Marie schloß die Tür, legte ferner einen kleinen Riegel um, welcher sicherstellte, daß sie hier niemand ohne Schlüssel stören konnte. Durch Lösen des Riegels konnte man von Innen die Tür natürlich ebenso ohne Schlüssel öffnen.
Anschließend stieg sie in die Gruft hinab. Marie hatte dabei ihre Taschenlampe angeschaltet. Sonst wäre es deutlich zu finster gewesen, um Details zu erkennen. Das fahle Licht aus dem Mausoleum reichte gerade noch, um die Stufen zu erkennen. Diese Treppenstufen bestanden aus massiven Steinplatten, auch die Wände waren solide aus großen Steinblöcken gemauert, deren Oberfläche absichtlich rau sowie ungleichmäßig gehalten war, was die rustikale Stimmung gut unterstrich. Obwohl alle Steine so nur grob behauen wirkten, war alles sehr akkurat angelegt sowie bedingt durch das Material der Steinblöcke ebenfalls sehr massiv sowie solide ausgelegt. Selbst mit Werkzeug wäre es sicher nur sehr schwierig, sich einen Weg durch diese Wände zu bahnen. Weil die gesamte Anlage so aufwendig sowie massiv gefertigt war, mußte es bestimmt teuer gewesen sein, dies Mausoleum mit seiner Gruft errichten zu lassen. Unten gab es noch eine Tür, welche man jedoch wohl offengelassen hatte, um für eine halbwegs funktionierende Lüftung zu sorgen.
Mittig in der Gruft stand ein massiver Steinsarkophag, eine Inschrift gab Auskunft darüber, wessen Reste darin wohl zu finden waren. Es war jedenfalls niemand, den Marie kannte.
Oben an der Decke konnte man jene von oben entfernbaren Platten erkennen, welche sich sehr präzise an den Treppenbereich anschlossen. Für einen einfachen Sarg mußte es reichen, die Platte direkt im Anschluß an die Treppe zu entfernen, um genug Platz zu haben, einen solchen Sarg in die Gruft herabzulassen. Hier unten gab es an der Decke ein ähnliches Schienensystem, allerdings weniger massiv ausgelegt, weil man hier damit wohl damit lediglich Särge bewegen sollte, keine massiven Steinplatten. Der Steinsarkophag war hingegen derart positioniert, daß man diesen wohl mit dem Schienensystem oben aus dem Mausoleum herabgelassen sowie positioniert hatte. In den Wänden waren einige weitere Nischen mit massiven Särgen, auch dort gab es Inschriften. Allerdings waren auch noch Nischen frei; in einer Nische fanden sich auch ein paar Urnen, offensichtlich hatte man irgendwann auf Verbrennung umgestellt, denn hier deuteten die Daten auf Plaketten an, daß es sich um die neuesten Zugänge handelte, allerdings waren diese gleichfalls bereits älteren Datums.
Lichtschalter waren keine zu finden, auf Elektrifizierung hatte man offenkundig verzichtet, allerdings gab es Halter für Fackeln und Kerzen sowie in der Ecke neben der Tür sogar überdies in einer kleineren Nische einen Vorrat von Fackeln sowie Kerzen, an denen es also keinerlei Mangel herrschte. Jede davon mußte einige Stunden halten. Trotzdem begnügte sich Marie einstweilen mit ihrer Taschenlampe, welche zwar recht leistungsstark war, deren relativ kaltes LED-Licht die tote, staubige Stimmung in der Gruft allerdings nicht erwärmen konnte, alles hier würde mit flackernden Fackeln gleich etwas anders wirken, dies war klar, offenes Feuer würde ganz andere Farben ergeben, eine bewegliche Flamme würde zudem eine lebendigere Stimmung ergeben, welche munter Schatten über Wände, Nischen, Särge, Sarkophag zittern ließe.
Auf der anderen Seite der Tür fand sich sogar in einer weiteren Nische noch ein kleines Reinigungssortiment: ein ziemlich antiker Reisigbesen, ein ähnlich alt aussehender Handfeger, ein dazugehöriges Blech, bei Bedarf konnte man also grob säubern. Sie unterließ dies allerdings, denn derlei Aktivitäten würden hier unten garantiert so viel Staub aufwirbeln, daß man kaum noch würde atmen können.
In jener Nische gab es ferner auch noch weitere Utensilien für das Schienensystem: Flaschenzüge, Seile, Streben sowie Balken, Ketten, eine Leiter, wobei so halbwegs einsichtig war,
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Publication Date: 08-05-2016
ISBN: 978-3-7438-1261-1
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