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Der Kampf der Erinnerungen

 

Ich lief durch den Zug und als ich ein freies Abteil wahrnahm, blieb ich stehen und zog die Tür auf. Wie gehofft saß wirklich niemand darin und ich ging hinein. Kurz bevor ich die Sitze erreicht hatte, stolperte ich. Es zog mich unfreiwillig auf den Boden. Über mir lagen meine Koffer, die ich während meines Sturzes auf meinen Körper geworfen hatte.
Ächzend schaufelte ich mir einen Weg nach oben frei und setzte mich schwer atmend auf. Nach einer kurzen Pause stand ich auf, warf mein Gepäck in die dafür vorgesehenen Fächer und ließ mich mit einem lauten Plumpsen in den nächstbesten Sitz fallen.
Meine Handtasche legte ich auf dem Nebensitz ab. Erst dann blickte ich mich erst einmal richtig um: Die Holzverkleidung an der Decke hatte bereits viele Risse und auch die Wände sahen stark mitgenommen aus. Angewidert verzog ich das Gesicht, als ich einen Fleck an der Wand mir gegenüber entdeckte, der verdächtig nach Blut aussah. Auch die Sitze hatten schon bessere Tage gesehen, die Polster waren verschlissen und der Geruch war auch nicht besonders angenehm.
Aber ich saß ja auch in einem Great Southern Rail-Zug, dieser führte uns mitten durch Australien. Auch einige kleinere Orte in den äußeren Gebieten würden wir anfahren. Ich freute mich schon besonders auf die Übernachtungen in Adelaide und Alice Springs.
Seit Jahren sparte ich auf diesen Traum und vor ein paar Monaten hatte ich beschlossen, dass es an der Zeit war, mir diesen zu erfüllen.
Deswegen saß ich nun in diesem schon etwas älteren Zug und beschloss, ein bisschen durch den Zug zu laufen, um mir anzuschauen, wo ich essen und trinken konnte.
Nach diesem kleinen Rundgang ließ ich mich wieder in meinem Abteil nieder und schloss die Augen, da ich doch schon etwas müde war.
Ich wachte erst wieder auf, als eine Sprecherin ankündigte, dass wir gleich in Alice Springs halten würden.
Als ich dann meine Augen aufschlug, fiel ich fast von meinem Sitz, denn mir gegenüber saß eine Person, die ich zuletzt vor zwanzig Jahren gesehen hatte. Wir waren damals nicht im Guten auseinander gegangen und deswegen war ich umso schockierter, sie jetzt hier zu sehen. Diese Person starrte mich nur an, sie sagte kein Wort, sondern fesselte mich mit dem Blick aus ihren eisblauen Augen, die mich unverwandt ansahen.
Sobald ich mich wieder von diesem Schock erholt hatte, wollte ich meinen Mund aufmachen, um zu fragen, was um alles in der Welt das sollte.
Doch bevor ich auch nur ansatzweise versuchte etwas zu sagen, bedeutete die Person mir mit einer Geste, dass ich den Mund halten solle.
Im selben Moment wurde der Zug langsamer und wir rollten in den Bahnhof von Alice Springs ein.
Ich konnte mich immer noch nicht rühren und so musste ich mit ansehen, wie mein Koffer geholt und die Abteiltür aufgemacht wurde.
Ausschließlich durch Gesten brachte man mich dazu aus dem Zug auszusteigen, den Bahnhof zu verlassen und in einen Jeep zu steigen. Noch immer wurde nichts gesprochen und so langsam wurde mir dieses ganze Getue unheimlich; ich hatte keine Ahnung was man mit mir vorhatte oder wohin man mich brachte. Stumm schaute ich aus dem Fenster und auf die vorbeifliegende Landschaft. Ich hatte nicht einmal die Kraft und die Nerven alles zu genießen. Immer wieder schoss mir die gleiche Frage durch den Kopf: ‚‚Warum jetzt? ‘‘
Nach gefühlten zehn Stunden Autofahrt quer durchs Land, wurden wir schließlich langsamer und ich fand mich plötzlich an einem Platz wieder, den ich zuletzt vor genau 20 Jahren, zwei Monaten und acht Tagen gesehen hatte. Ich hatte vor, nie wieder hierherzukommen. An diesem Ort war etwas passiert, dass mich davon abgehalten hatte, mit der Person, die jetzt vor dem Auto stand, Kontakt zu halten.
Mir stiegen die Tränen in die Augen und ich versuchte krampfhaft, ein Schluchzen zu unterdrücken.
Auf einmal wurde meine Autotür abrupt aufgerissen und ich wurde hinausgezerrt. Geblendet vom hellen Sonnenlicht und überrascht von der Hitze stolperte ich erst einmal nach vorne und konnte mich nur knapp auf den Füßen halten.
Die Person bedeutete mir, auf das Haus zuzugehen, doch meine Füße wollten mich nicht tragen und so fiel ich auf den harten, mit rotem Sand bedeckten Boden.
Als ich, immer noch liegend, auf das Haus starrte, konnte ich nicht mehr an mich halten und fing laut an zu weinen.
Doch dann passierte plötzlich etwas, womit ich nie im Leben gerechnet hätte: Man zog mich an den Armen nach oben und dann lag ich plötzlich in den Armen der Person, von der ich es niemals für möglich gehalten hätte, dass sie mich auch nur ansatzweise mochte.
Den Kopf an eine durchtrainierte Brust gedrückt, heulte ich einige Minuten lang und klammerte mich fest an ein kariertes Hemd.
Als mein Tränenstrom versiegte, griff mir eine Hand unters Kinn und drückte es nach oben.
Ich sah nach fast zwanzig Jahren endlich wieder richtig in das Gesicht von dem Menschen, der mich seit meiner Geburt kannte; es war das Gesicht meines Bruders…
Der Tag, an dem ich ihn zuletzt sah, war der Todestag meiner Eltern: Damals waren wir beide Anfang 20 und lebten in genau dem Haus, vor dem wir jetzt standen. Unsere Eltern waren nicht sonderlich reich, sie stammten beide aus Arbeiterfamilien, aber sie waren trotzdem zufrieden mit dem, was das Leben ihnen geschenkt hatte, einschließlich zweier Kinder.
Ich, Chloe Rose und mein Bruder Ethan Riley, wir waren zweieiige Zwillinge. Damals hatten wir eine besondere Bindung, wir verstanden uns ohne Worte und wussten immer, was der andere dachte. Uns konnte niemand trennen, wir waren nur im Doppelpack erhältlich.
Bis zu dem Tag, als die Soldaten in unser kleines Dorf einmarschierten, mit meinem Bruder unter ihnen. Um den Lebensunterhalt für meine Eltern und mich aufzubringen, da meine niemand von uns arbeiten ging, meldete sich mein Bruder freiwillig bei den Soldaten.
So kam es dazu, dass er mitmusste, als der Befehl kam, das gesamte Dorf einzunehmen, jeden aus seinem Haus zu vertreiben und alles niederzumetzeln, was im Weg stand.
Als sie bei uns ankamen, stellten sich meine Eltern den Soldaten in den Weg um mich vor ihnen zu beschützen, denn sie wussten was manche von ihnen mit jungen, hilflosen Mädchen anstellten.
Bei diesem Versuch wurden die beiden erschossen, vor meinen Augen und vor denen meines Bruders. Für mich zerbrach eine Welt und als mich dann einer der Soldaten grob anpackte, ließ ich es einfach geschehen. Ich wurde damals mehrfach von verschiedenen Soldaten vergewaltigt, da ich mich nicht mehr wehren konnte und auch nicht wollte.
Das Schlimmste war jedoch, dass mein Bruder nur daneben stand und zusah. Er sah mit an, wie seine Zwillingsschwester von seinen Kameraden vergewaltigt wurde.
Damals verstand ich nicht, dass sie ihn auch umgebracht hätten, wenn er sich dazwischen gestellt hätte und so verschwand ich, nachdem sie von mir abgelassen hatten.
Ich schlug mich mit verschiedenen Arbeiten durchs Land und heiratete schließlich aus Not einen reichen Mann, der mich für attraktiv genug befunden hatte, um Kinder zu zeugen.
Bis zu seinem Tod hatte ich ihm zwei Kinder geboren, mit denen ich nach seinem Dahinscheiden nach Europa verschwand. Dort lebten wir zu dritt nicht gerade unter den besten Bedingungen, aber nach einer Weile hatten wir uns etwas Gutes aufgebaut.
Doch ich hatte nie aufgehört, mein Heimatland und vor allem meinen Bruder zu vermissen. Deswegen hatte ich mich überhaupt auf diese Reise gemacht: Ich wollte noch einmal im Leben zurückkehren und die Schönheit des Landes genießen, in dem ich 20 Jahre meines Lebens verbracht hatte. Meine Kinder hatte ich zuhause gelassen, sie hatten Jobs und kamen auch eine Weile gut ohne mich zurecht.
Nie hätte ich daran gedacht, dass ich meinen Bruder wiedersehen würde.
Aber als wir jetzt fest umschlungen hier vor unserem Elternhaus standen, war jeglicher Groll verschwunden und ich war froh, meinen Bruder nach so langer Zeit wieder in den Armen halten zu können.

Ab diesem Tag hatte sich etwas Entscheidendes in unser beider Leben verändert: Ich war zusammen mit meinen Söhnen Cooper und Noah zurück nach Australien gezogen. Wir lebten mit Ethan und seiner Familie auf einer großen Ranch. Hier konnte ich meiner Leidenschaft, der Pferdezucht nachkommen und die ganze Zeit ohne meinen Zwilling in aller Ruhe nachholen.

Die Vergangenheit hatte mich eingeholt, aber wir hatten alles in eine bessere Zukunft verändert. Um es in einem Zitat auszudrücken: ‚‚Wer vor seiner Vergangenheit flieht, verliert immer das Rennen. ‘‘
Ich habe das Rennen gewonnen, zwar ganz knapp, aber immerhin…

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Text: Dieser Text ist geistiges Eigentum der Autorin Elaya Flynn!
Images: www.pixabay.com & www.pexels.com
Publication Date: 01-13-2017

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