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Nicht gesucht und doch gefunden...

Steve spürte die Hand von Laura auf seiner Schulter, doch er schüttelte sie ab. Er wollte jetzt keinen Trost und erst recht nicht, dass sie oder ihre Freunde ihn weinen sahen.
„Steve..:“ setzte sie an, doch er ließ sie wortlos stehen und lief in die Nacht.

Der Abend hatte so gut angefangen. Laura wollte ihren Geburtstag feiern und hatte die Party spontan an den Strand vom Biggesee verlegt, da ihr Bruder als Oberbrandmeister dort die Aufsicht über das alljährliche Feuerwerk hatte. Und obwohl sein Freund Maik, mit dem er seit zwei Jahren fest zusammen lebte, arbeiten musste, genoss er die ausgelassene Feier. Kurz nach Mitternacht hatten sie auf Lauras neues Lebensjahr angestoßen und sich dann das Feuerwerk angesehen. Später wollten sie noch gemeinsam in einen Club, um weiter zu feiern. Doch als sie vor dem Club ankamen, trafen sie auf Maik – der gerade Arm in Arm und wild knutschend mit einer Blondine heraus kam….

Immer wieder tauchte Maiks Gesicht in seiner Erinnerung auf, wie er die Frau verliebt ansah. Wie er sie küsste… so wie er ihn noch am Abend geküsst hatte, als Steve sich für die Party fertig gemacht hatte. „Schade, dass ich ins Büro muss. Ich wäre so gern mit gegangen!“
Wie verlogen diese Worte jetzt doch klangen. Steve lief und lief immer weiter. Er wusste nicht einmal wohin. Allein die Bewegung half ihm, nicht zusammen zu brechen. Wie lange schon? Schrie es durch seinen Geist. Und eine Frau? Wie konnte Maik ihn mit einer Frau betrügen? Was für eine Chance hatte er denn dagegen zu kämpfen? Und wollte er das überhaupt noch?
Schnaubend wischte er diese Gedanken weg. Er wollte jetzt nicht daran denken. Sich nicht damit beschäftigen, was morgen kommen würde. Mit einem Mal fühlte er sich schrecklich erschöpft. Er blieb stehen und sah sich um. Nirgends war ein Haus zu sehen, nur Wald auf der linken und Feld auf der rechten Seite der Landstraße. Steve fröstelte. Es war kalt geworden, der Himmel hatte sich bezogen und es roch nach Regen. Er tastete nach seinem Handy, um sich über Google Maps den Weg zurück in die Zivilisation zu suchen, doch es war nicht da… Er hatte es in seiner Jacke, die in Lauras Auto lag, weil er es nicht im Club verlieren wollte.
Da er sich nicht sicher war, wie weit er gelaufen war, beschloss er, den Weg einfach zurück zu laufen. Irgendwann würde er ja schon wieder dort ankommen, wo er los war, und vielleicht suchten die Anderen nach ihm und würden ihn sicher entgegen kommen. Und gerade als er los lief, begann es zu regnen. „Toll!“ murmelte Steve und fühlte sich vom Schicksal verraten. In seinem Kopf erklang plötzlich „Crying in the Rain“ von Aha.

Als er das erste Haus erreichte, war der bis auf die Knochen durchnässt und durch gefroren. Es war ein einzelnes, freistehendes Haus, weit und breit keine Nachbarhäuser in Sicht. Steve erinnerte sich nicht wirklich, dass er auf dem Hinweg hier vorbei gekommen war. Aber er war auch ein ganzes Stück quer Feld ein gelaufen. Einen Augenblick lang zögerte er. Das Haus lag dunkel vor ihm. Die Bewohner schliefen mit Sicherheit. Es war ja schon halb zwei gewesen, als sie gemeinsam zum Club gefahren waren. Und das lag bestimmt schon Stunden zurück. Er überlegte, weiter zu laufen, bis er vielleicht eine Telefonzelle finden würde, doch die waren in der Stadt schon selten geworden und hier auf dem Dorf? Nein, er musste ins Warme, also fasste er sich ein Herz und schellte. Das Schrillen hallte auf der leeren Landstraße wie ein Fanfarenzug. Im ersten Stock ging das Licht an und kurze Zeit später steckte jemand den Kopf durchs Fenster.
„Wer ist da?“ fragte ein verschlafen klingender Mann.
„Entschuldigen Sie bitte dass ich Sie geweckt habe. Es ist ein Notfall. Dürfte ich vielleicht ihr Telefon benutzen?“ beim Sprechen klapperten seine Zähne vor Kälte auf einander. Der Mann im Haus schienen einen Moment zu zögern, dann verschwand sein Kopf aus dem Fenster. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, dann ging im Hausflur das Licht an und ein Schatten kam auf die Haustür zu. Vorsichtig wurde sie geöffnet. Im Eingang erschien das Abbild eines archaischen Gottes in Boxershorts. Der Mann war vielleicht Mitte dreißig, mit einem Körperbau, den man locker in Gladiatorenfilmen finden konnte. Sein kurzes dunkles Haar stand verstrubbelt in alle Richtungen und über seine linke Körperhälfte schlängelte sich ein tätowierter Drache bis zur Schulter. Seine rechte Hand baumelte scheinbar lässig an seiner Seite herunter, hielt sich dabei aber dezent in der Nähe des Baseball Schlägers, der wie zufällig neben der Tür an der Wand lehnte
„Hatten Sie einen Unfall?“ fragte er misstrauisch und beäugte den Fremden vor der Tür.
„Nicht direkt, ich habe mich irgendwie verlaufen und habe kein Handy dabei. Wenn ich bei Ihnen kurz telefonieren dürfte, dann könnten meine Freunde mich abholen.“ Mühsam versuchte Steve, das Klappern seiner Zähne zu unterdrücken. Der Bewohner überlegte nochmal einen winzigen Moment, doch da er im Lichtschein sehen konnte, wie sehr der Fremde zitterte, trat er zur Seite und machte eine einladende Geste. Steve beeilte sich, der Einladung zu folgen und aus dem Regen zu kommen. Doch als er im Flur stand, hielt der Mann ihn auf.
„Nehmen Sie es nicht persönlich, aber ich würde gern sicher gehen. Wenn Sie sich bitte an die Wandstellen und die Hände dagegen stemmen. Ich durchsuche Sie kurz nach Waffen!“ Die Stimme des Mannes duldete keinen Widerspruch, also folgte Steve mit mulmigem Gefühl den Anweisungen.
Mit offenbar geübten Handgriffen tastete der Mann ihn ab und zog plötzlich seine Brieftasche aus der Gesäßtasche.
„Steve Tanner? Aus Dortmund?“ las er offenbar von seinem Führerschein ab.
„Ja.“ Bestätigte er knapp und wartete ab, was nun geschehen würde. Doch der Bewohner entspannte sich sichtbar und reichte ihm seine Brieftasche zurück.
„Tut mir leid, aber ich bin berufsbedingt misstrauisch!“ entschuldigte er sich. „Mein Name ist Thomas Hinzmann.“ Er reichte Steve seine Hand und drückte kräftig zu, als dieser sie ergriff.
„Das Telefon steht dort. Die Adresse ist Am Sessenhahn 45, Wegerinhausen. Soll ich Ihnen einen Kaffee machen? Oder einen Tee?“
„Oh danke, gern, Kaffee wäre wirklich toll.“ erwiderte Steve und griff zum Hörer. Lauras Nummer kannte er auswendig. Es klingelte zwei Mal, dann hörte er ihre zögerliche Stimme: „Ja bitte?“
„Laura, ich bin´s Steve!“
„Gott, Steve! Wo bist du nur? Wir haben uns Sorgen gemacht.“ Hastete sie los. Er beeilte sich, sie zu unterbrechen, bevor sie zu einem Ihrer gewaltigen Vorträge ansetzen konnte.
„Ich bin hier in Wegerinhausen. Die Straße ist Am Sessenhahn 45, bei einem Herrn Hinzmann. Kannst du mich hier abholen? Ich bin in den Regen gekommen!“
Sie bat ihn noch einmal die Adresse zu wiederholen, dann versprach sie, so schnell wie möglich zu kommen.
Als er auflegte, erschien der Hausherr wieder im Flur. Er hatte sich ein T-Shirt übergezogen, was Steve ein wenig enttäuschte.
„Wenn Sie möchten, können Sie kurz duschen, um wieder warm zu werden. Ich hätte auch ein paar alte Klamotten, die Ihnen passen müssten.“
„Vielen Dank, duschen ist nicht nötig. Meine Freundin sollte bald hier sein. Aber umziehen würde ich mich sehr gern.“ Er folgte ihm ins Wohnzimmer, wo auf dem Tisch ein zwei dampfende Tassen Kaffee standen. Auf einem Sessel lag eine Trainingshose und ein Sweatshirt bereit, ebenso ein Paar Socken. Steve beäugte nochmal den Mann und wunderte sich. Die Kleidungsstücke schienen für ihn – Steve – genau richtig zu sein, doch Thomas Hinzmann war gut zwei Köpfe größer und sicher fast fünfzig Pfund schwerer als er selbst.
„Ich lasse Sie kurz allein, damit Sie sich umziehen können. Rufen Sie einfach, wenn Sie fertig sind. Ich bin solange in der Küche!“

Als er allein war, blickte Steve sich etwas um. Die Einrichtung wirkte ehr altmodisch. Als ob hier seine Großeltern leben würden. Hinzmann passte nicht wirklich hier her. Doch an den Wänden hingen Fotos von ihm – als Schüler, als Studienabsolvent und – in Polizeiuniform. Darum also die Fachmännische Durchsuchung. Gleich fühlte er sich wohler. „Also doch kein Psychokiller.“ Dachte er und lachte leise. Schnell beeilte er sich, die nassen Klamotten auszuziehen und die frischen an zu legen. Etwas verloren stand er nun da, mit dem Haufen Nässe in der Hand.
„Ich… ich bin fertig!“ rief er und wartete auf Hinzmanns Rückkehr. Als dieser zurück kam, hatte er einen Teller mit Kuchen in der Hand.
„Hunger?“ fragte er und stellte den Teller auf den Tisch. Erst jetzt merkte Steve, dass ihm tatsächlich der Magen knurrte. Gemeinsam setzten sie sich hin und tranken Kaffee.
„Jetzt erzählen Sie mal, was sie morgens um fünf hier an meine Tür verschlagen hat!“ forderte Hinzmann ihn mit dem Tonfall eines TV Cops auf. Steve beeilte sich, das Stück Kuchen, das er grad abgebissen hatte, herunter zu schlucken, und überlegte währenddessen, wie er das erklären sollte.
„Nun, ich war mit Freunden auf einer Geburtstagsparty. Erst am See, dann wollten wir in den Club. Doch… sagen wir, es gab eine unschöne Überraschung für mich dort und ich bin abgehauen. Ich hab mich dann irgendwie verirrt und bin hier gelandet. Danke nochmal für Ihre Hilfe.“ Hinzmann winkte ab und trank einen Schluck Kaffee.
„Leben Sie hier ganz allein? Oder mit ihrer Frau?“ fragte Steve hastig um von Nachfragen abzulenken.
Hinzmann blickte zu einem Bild an der Wand, auf dem er im Anzug mit einer Braut zu sehen war. Ein eigenartiges Lächeln huschte über sein Gesicht.
„Nein, ich bin nicht verheiratet. Nicht mehr. Ich lebe hier mit meiner Großmutter. Sie hatte einen Schlaganfall und braucht Betreuung. Ich kümmere mich seit einem Jahr um sie.“ Nach einem weiteren Schluck Kaffee fragte er: „Steve Tanner, das klingt nicht wirklich „deutsch“. Darf ich fragen, wo Sie her kommen?“
Steve lachte leise auf. Mit der Frage hatte er gerechnet. Sie gehörte zum Standard, wenn man ihn Kennenlernte. „Ich bin tatsächlich Deutscher. Hier geboren und aufgewachsen. Mein Großvater war amerikanischer Soldat im zweiten Weltkrieg und hier in Deutschland stationiert. Er hat sich hier in meine Oma verliebt und sie geheiratet. Und später die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Mein Vater hat mich nach ihm benannt, aber ansonsten bin ich durch und durch Deutsch.“ In dem Moment erinnerte er sich, als er mit Maik dieses Gespräch hatte und es versetzte ihm einen Stich ins Herz. Tränen stiegen ihm in die Augen und er sprang hastig auf, um sie zu verbergen.
„Toilette.“ Fragte er hastig und sah zur Seite weg. „Kann ich mal eben auf die Toilette?“
Hinzmann deutete auf eine Tür gegenüber im Flur und er eilte hinaus, damit der Mann ihn nicht weinen sah. Während er noch im Bad stand und sich das Gesicht wusch, klingelte es an der Tür. Das konnte nur Laura sein. Als er in den Flur trat, stand Hinzmann mit Laura im Eingang.
„Ja, er ist sofort da. Kommen Sie doch kurz herein!“ hörte er ihn erklären.
„Ich bin schon fertig, nur schnell noch meine Klamotten holen!“ rief er ihr zu und beeilte sich. Als er an Hinzmann vorbei zum Ausgang ging fing er Lauras besorgten Blick ein. Durch ein Lächeln bedeutete er ihr, dass alles ok sei und sie los könnten.
„Danke nochmal für ihre Hilfe. Ich würde Ihnen die Sachen gern gewaschen zurück bringen. Darf ich mich in den nächsten Tagen melden?“
Hinzmann nickte und schrieb ihm eine Telefonnummer auf einen Zettel.
„Unter der Nummer bin ich normal immer zu erreichen. Aber, die Klamotten brauche ich nicht wieder. Die sollten längst in die Altkleider Sammlung.“

Als sie im Auto saßen, blickte Laura ihn fragend an. „Willst du erst mal mit zu mir?“
Steve nickte dankbar. Während der Fahrt starrte er hinaus in die Dunkelheit. Die Regentropfen auf der Scheibe spiegelten sein Innerstes wieder. Doch während er mit den Erinnerungen an Maik aus ihren vergangenen 2 Jahren und dem Maik von letzter Nacht mit der Blondine im Arm rang, mischten sich auch immer wieder Bilder von Thomas Hinzmann dazwischen. Der Moment, als er die Tür öffnete, von hinten angestrahlt, muskelbepackt, männlich…
„Steve?“ Lauras Stimme riss ihn aus den Gedanken. „Wir sind da. Du kannst aussteigen.“ Lächelte sie nachsichtig. In ihrer Wohnung deutete sie aufs Schlafzimmer.
„Willst du dich gleich hinlegen? Oder erst duschen?“
„Eigentlich bin ich gar nicht müde.“
„Willst du reden?“ Er zuckte mit den Schultern. Gemeinsam setzten sie sich aufs Sofa.
„Er hat dich gesehen, als du weg bist.“ Erzählte sie nach dem sie sich eine Weile angeschwiegen hatten. „Er ist dann zu uns rüber, wollte sich erklären.“
„Und?“
Laura lachte gehässig auf. „Yassin hat ihm die Nase gebrochen!“
Steves Mundwinkel zuckten kurz zu einem Lächeln. Nicht, weil Maik Schmerzen zu gefügt wurden, aber weil seine Freunde für ihn da waren. Er erinnerte sich zurück, als sie gerade ihr Abi zusammen bestanden hatten und gemeinsam nach Rügen gefahren waren. Sie saßen abends gemeinsam am Strand und da hatte Steve allen Mut zusammen genommen und seinen vier besten Freunden, Laura, Stefan, Yassin und seiner Zwillingsschwester Yasmin, gestanden, dass er schwul ist. Nach einer langen Pause, in der er schon dachte, seine Freunde verloren zu haben, war Yassin aufgestanden, hatte ihn bei der Hand genommen und war mit ihm den Strand entlang spaziert. Irgendwann war er stehen geblieben und hatte Steve angeschaut. „Mit wem du schläfst, interessiert mich nicht. Du warst für mich da, als ich am Boden war. Ich werde immer dein Freund bleiben!“
Und das hatte er offenbar heute Nacht unter Beweis gestellt.
„Was hast du jetzt vor?“ fragte Laura und lehnte sich in die Kissen zurück. Ihrem Gesicht konnte er die Müdigkeit deutlich ansehen. Sein schlechtes Gewissen regte sich. Immerhin hatte sie Geburtstag.
„Ich weiß es nicht. Ist es ok, wenn ich ein paar Tage bei dir bleibe?“
„Natürlich, Dummerchen. Mi casa es su casa. Bleib solange du willst.“ Sie murmelte schon schläfrig.
„Lass uns schlafen gehen. Und später schau ich, dass ich ein paar Klamotten aus der Wohnung hole.“

Mittags borgte er sich Lauras Auto und fuhr nach Hause. Vor dem Haus stand Maiks Audi und Steves Magen zog sich zusammen. Er hatte gehofft, dass Maik im Büro war und sie sich nicht begegnen würden. Aber die Unterhaltung wäre dann auch nur verschoben gewesen. Besser er brachte sie sofort hinter sich. Also nahm er seinen ganzen Mut zusammen und betrat sein bisheriges Zuhause. Schon als er den Schlüssel ins Schloss steckte, hörte er dahinter Maiks Stimme seinen Namen rufen.
„Steve, bist du es?“
„Ja.“ antwortete er knapp und schob die Tür auf. Maik stand ihm gegenüber, mit schuldbewusstem Gesicht und einem weißen Stützpflaster über der gebrochenen Nase.
„Ich hab mir Sorgen gemacht. Ich…“ er brach ab und hob hilflos die Hände. „Es tut mir leid!“
Steve wartete darauf, das Wut oder Trauer in ihm aufstiegen, aber er fühlte gar nichts. Er ging an Maik vorbei Richtung Wohnzimmer, doch Maik hielt ihn fest.
„Warte, geh da nicht rein!“ bat er flehentlich. Verwirrt sah Steve ihn an, dann machte ers ich los und öffnete die Tür. Sie saß auf dem Sofa! Jetzt fühlte er doch etwas – Zorn!
„Sie ist hier?? IN UNSEREM WOHNZIMMER?“ zuletzt schrie er Maik an, der ihn wieder bei den Handgelenken ergriffen hatte.
„Bitte lass mich erklären.“ Begann er. Seine Freundin war aufgesprungen und hatte sich hinter das Sofa zurück gezogen, als fürchte sie, dass Steve sie angreifen würde.
„Das musst du nicht. Ich hab genug gesehen! Wie lange schon?“
„Seit der Weihnachtsfeier!“ rief die Frau schrill, mit triumphierendem Unterton, als Maik nicht direkt antwortete. Steve vermied es, sie anzusehen.
„Steve, bitte. Ich weiß nicht wie, aber … ich liebe sie. Es tut mir leid!“
Mehr musste er nicht hören. Er machte sich los und ging ins Schlafzimmer. Hastig riss er seine Sporttasche unter dem Bett hervor und warf wahllos seine Kleider hinein.
„Steve…“ versuchte Maik erneut ihn anzusprechen, doch er ignorierte ihn. Aus der Kommode holte er noch Unterwäsche und ein paar andere persönliche Dinge, dann nahm er die Tasche und ging wortlos an Maik vorbei zur Wohnungstür. Als er im Flur stand, drehte er sich nochmal um.
„Ich komme am Wochenende meine restlichen Sachen holen. Ich würde es begrüßen, keinen von euch hier anzutreffen. Mr Fluff nehme ich dann auch mit. Du hast dich ja eh nie um ihn gekümmert!“ dann drehte er sich um, ohne eine Erwiderung abzuwarten und ging.
Als er wieder im Auto saß und zu Laura zurück fuhr, suchte er erneut nach Gefühlen wie Trauer oder Wut, doch er war nur enttäuscht.


Eine Woche war vergangen, seit er seine Sachen bei Maik abgeholt hatte. Wie gewünscht war er nicht zu Hause gewesen und mit der Hilfe seiner Freunde hatte Steve seine Besitztümer und die Schildkröte Mr Fluff abgeholt. Yassins Garage diente als Depot für die diversen Kartons, bis Steve sich eine eigene Wohnung gesucht haben würde. Auf der einen Seite war Steve froh, dass noch Sommerferien waren, so musste er nicht in die Schule, auf der anderen Seite hätte es ihm von seiner Situation abgelenkt, wenn er Unterricht vorbereiten oder Aufsätze korrigieren konnte. Jetzt saß er allein in Lauras Wohnung und starrte auf den Fernseher, wo zum x-ten Mal die Wiederholung von M*A*S*H lief. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus, seiner Lieblingsserie nicht wirklich folgen zu können und er schaltete das Gerät ab. Dann fiel sein Blick auf den Stapel mit den „Leihklamotten“ von Thomas Hinzmann. An der Pinnwand neben dem Telefon hing der Zettel mit seiner Nummer. Ohne groß nach zu denken, wählte Steve die Nummer und wartete. Nach einigen Klingelzeichen wurde das Gespräch angenommen und die Stimme einer jungen Frau meldete sich.
„Ja bitte?“ Steves Magen zog sich zusammen. Zwar hatte er gesehen, dass Hinzmann einmal verheiratet, also hetero war und er wusste auch nicht wirklich, warum es ihm jetzt so zu schaffen machte, aber jetzt wo er mit der Nase drauf gestoßen wurde.
„Hallo, ist da jemand?“ erklang die Stimme erneut. Steve riss sich zusammen:
„Ja, ähm hallo. Mein Name ist Steve Tanner. Ich ähm… ist Herr Hinzmann zu sprechen?“ stammelte er.
„Nein, das tut mir leid. Er hat sein Handy heut Morgen vergessen. Donnerstags ist er immer in Hagen in der Akademie und gibt Unterricht.“
„Oh, ich dachte er wäre Polizist…“ Steve war verwirrt. Die junge Frau am anderen Ende der Leitung war gerade zu auskunftsfreudig.
„Ja, das stimmt auch. Aber er unterrichtet nur noch an der Akademie. In Teilzeit, damit er sich um seine Oma kümmern kann.“
„Ah ok. Können Sie ihrem Mann ausrichten, dass ich angerufen habe?“ Lachen auf der anderen Seite.
„Ich bin nicht seine Frau. Ich bin Oma Gretas Pflegerin. Tommi ist seit drei Jahren geschieden.“ Sie gab viel zu viele Informationen an einen Fremden aus. Steve freute sich auf der einen Seite, doch auf der anderen Seite fühlte er sich peinlich berührt. Er beschloss das Gespräch schnell zu beenden.
„Wann kann ich ihn denn zu Hause erreichen?“
„Normal kommt er nachmittags ab vier Uhr heim. Manchmal etwas später. Kommt drauf an, ob er noch joggen geht. Er geht gern am Biggesee joggen, wissen Sie?“ Viel zu viele Infos für einen Fremden.
„Äh, ja danke. Ich versuche es später dann noch mal. Auf Wiederhören!“

Erst am nächsten Abend fand Steve genug Mut, um einen weiteren Anruf zu wagen. Dieses Mal wurde das Gespräch gleich beim ersten Klingeln angenommen, und dieses Mal war es Thomas Hinzmann selbst.
„Hallo Herr Hinzmann, Steve Tanner hier. Entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe. Ich habe noch ihre Sachen. Ich weiss, Sie haben gesagt, dass die Sachen weg sollen, aber… naja, es erschien mir nicht richtig.“ Plapperte er drauf los. Er konnte an der anderen Leitung das Grinsen förmlich hören.
„Alles ok, ich freu mich von Ihnen zu hören, Steve. Geht es Ihnen gut?“
„Ja, danke. Es geht mir gut.“ Jetzt war es ihm peinlich. Er wusste mit einem Mal nicht, warum er angerufen hatte. Als das Schweigen seltsam wurde, übernahm Thomas die Unterhaltung.
„Schön, ich hatte befürchtet, dass Sie sich vielleicht erkältet hätten. So nass, wie Sie geworden sind.“
„Ach, nein. So schnell werde ich nicht krank. Meine Mutter sagte immer ich hätte eine Konstitution wie ein Hengst!“ und schon wurde er knallrot. Wie konnte er nur so was bescheuertes sagen? Wieder war das tonlose Lachen am anderen Ende der Leitung fast greifbar.
„Also, das ist schön zu hören. Sagen Sie, Sie hätten nicht Lust, vielleicht am Wochenende mit mir zum Joggen zu gehen?“
Steve glaubte einen Moment, sich verhört zu haben, doch dann fasste er sich schnell wieder.
„Öh, ja klar, gern. Warum nicht? Wann denn genau?“
„Sonntag? Vielleicht so um zehn Uhr?“
„Ja, passt prima.“ Steve versuchte krampfhaft, nicht zu euphorisch und vor allem nicht zu schwul zu klingen. Hinzmann sollte nicht abspringen, weil er merkte, dass er auf Kerle stand.
„Super, dann treffen wir uns Sonntag am See!“

Steve konnte es kaum erwarten, dass endlich Sonntag war. Sonntag ließ er sich von Laura zum See fahren und wartete aufgeregt, dass Thomas ankommen würde. Um sich die Wartezeit zu verkürzen, machte er schon einige Dehnübungen. Als plötzlich ein Schatten von hinten auf ihn fiel, drehte er sich freudestrahlend um und… sein Lächeln fror ein. Vor ihm stand Maik mit seiner neuen Freundin.
„Hi Steve.“ Sagte Maik etwas unsicher. „Wie geht es dir?“
„Bis gerade ging es mir gut.“ Antwortete er finster und verlor jede Lust zu joggen. Während es der Frau offenbar eine diebische Freude machte, ihm zu präsentieren, dass sein Freund jetzt ihr gehörte, war es Maik ganz deutlich unangenehmer.
„Ja also, tut mir leid. Wir wollten etwas spazieren gehen…“
„Und da müsst ihr ausgerechnet hier her?“ fauchte Steve, auch wenn er wusste, wie dumm das klang. Woher hätte Maik wissen sollen, dass er gerade heute hier sein würde.
„Mensch Steve, das war doch keine Absicht…“
„Alles ok hier?“ erklang plötzlich hinter Steve die Stimme von Thomas Hinzmann. Steve fuhr herum und seine Wut milderte sich gleich ab, als er in die warmen braunen Augen blickte.
„Oh Thomas, hi. Ja äh, alles klar. Wollen wir los?“ antwortete er hastig, um von den beiden schnell weg zu kommen. Thomas beäugte Maik noch einmal kritisch, dann lächelte er Steve an und sie liefen gemeinsam los.
Eine Weile liefen sie schweigend vor sich hin und Steve genoss das Gefühl Thomas neben sich zu spüren.
„Darf ich fragen, wer das vorhin war?“ fragte dieser auf einem Mal und blickte ihn von der Seite an.
Steve überlegte eine Weile, dann wurde ihm klar, dass eine Lüge ihm nicht helfen würde etwas zu erlangen, was er sowieso nicht bekommen konnte. Und wenn Thomas den Kontakt zu ihm abbrechen würde, weil er schwul ist, dann sollte es halt so sein. Eine Freundschaft war nur dann etwas wert, wenn sie ehrlich war.
„Es war mein Exfreund.“ Sagte er schlicht und wartete ab, wie er reagierte.
„Das habe ich mir schon gedacht.“ War die einfache Antwort, die er von Thomas bekam. Verblüfft blieb Steve stehen.
„Du… du wusstest, dass ich… das ich…“
„Das du schwul bist? Das wusste ich schon, als du tropfnass in meinem Wohnzimmer gestanden hast.“ Thomas grinste. Sie waren ganz selbstverständlich zum DU übergegangen.
„Aber… wie? Ich mein… komm ich so schwul rüber?“ Thomas lachte herzlich auf.
„Nein, gar nicht. Ich kanns nicht erklären, ich wusste es einfach. Nenn es Radar. Aber offenbar sende ich nicht so eindeutige Signale aus. Ich bin etwas unbeholfen, was das Flirten angeht.“ Jetzt färbten sich Thomas´ Wangen etwas rot.
„Du hast mit mir geflirtet?“
„Der Kaffee, Kuchen, die Dusche… ich hatte gehofft, dass du dadurch etwas länger bleibst… Als du später nicht angerufen hast, dachte ich, ich hätte mich geirrt, oder ich wäre dir zu gruselig rüber gekommen…“ Steve deutete auf eine Bank und sie setzten sich gemeinsam hin.
„Nein, ich… Ich stecke gerade in der Trennung, oder hab sie gerade durchgezogen. An dem Abend habe ich meinen Ex mit seiner Freundin überrascht. Ich wusste nicht, dass er mich mit einer Frau betrog. Darum bin ich in der Nacht herum geirrt.“
„Und darum hatte ich Glück, dass es dich an meine Tür verschlagen hat!“ Thomas lächelte ihn unglaublich herzlich an und Steve nahm seine Hand.
„Ja. Es war wohl ein Glück, dass ich mich verlaufen habe.“ Sie lachten beide. Und plötzlich beugte Thomas sich zu Steve herüber und gab ihm einen unglaublich sanften Kuss. Mit geschlossenen Augen erwiderte Steve diesen Kuss und wünschte sich, er möge nie enden.
Ein plötzliches Scheppern riss sie aus dem magischen Moment, ein Radfahrer hatte sie wohl beim Küssen beobachtet und nicht mehr auf den Weg geschaut, so dass er gegen den Mülleimer am Wegrand gefahren war. Mit hochrotem Kopf beeilte er sich davon zu radeln, während die beiden auf der Bank herzhaft lachten.
„Wollen wir weiter laufen, oder magst du vielleicht mit zu mir kommen, zu einem späten Frühstück?“
„Frühstück klingt toll!“

Als sie Thomas´ Haus betraten, blickte Steve sich um. „Ist die Pflegerin deiner Großmutter nicht da?“ Er wunderte sich, denn Thomas würde die alte Frau ja sicher nicht allein lassen. Doch Thomas grinste spitzbübisch.
„Ich hab die beiden auf einen Tagesausflug geschickt. Meine Oma liebt es bei schönem Wetter spazieren zu fahren und wir haben Verwandte im Hochsauerland Kreis. Da ist sie jetzt zu Besuch. Wir haben das Haus also für uns.“ Er zwinkerte verführerisch. Plötzlich war Steve das Frühstück absolut unwichtig. Er trat auf Thomas zu, zog ihn zu sich herunter und küsste ihn fordernd. Auch Thomas war jetzt alles andere egal. Er schlang seine starken Arme um Steve und hob ihn hoch. Fast spielend trug er ihn zum Sofa hinüber und lies sich mit ihm darauf fallen. Umständlich begannen sie sich gegenseitig auszuziehen, während sie sich immer weiter küssten. Mit einem Mal hielt Thomas inne und blickte ihn besorgt an.
„Bin ich dir auch nicht zu schnell?“ Als Antwort zog Steve ihn wieder auf sich und verschloss seinen Mund mit einem leidenschaftlichen Kuss…

Später waren sie ins Schlafzimmer hoch gewechselt, hatten sich etwas Obst und Käse mit genommen und fütterten sich gegenseitig, während sie engumschlungen im Bett lagen.
„Darf ich dich was fragen?“ setzte Steve an und wartete auf Thomas´ Reaktion.
„Was immer du möchtest.“ Steve setzte sich auf und blickte Thomas direkt an.
„Du warst verheiratet. Warst du damals nicht schwul?“ Jetzt setzte sich auch Thomas auf und sah ihn ernst an.
„Doch, damals hab ich auch schon Männer geliebt. Aber ich hatte Angst, dass es jemand herausfinden würde. Ich habe es auch mir selbst nicht eingestehen wollen. Ich habe Corinna geheiratet, damit niemand glauben sollte, ich sei nicht „normal“. Aber man kann sich nicht für immer verstellen. Es hat nur fünf Jahre gehalten, dann ist sie dahinter gekommen und hat die Scheidung eingereicht.“
Steve nahm mitfühlend Thomas´ Hand.
„Wir sind heute noch Freunde, weißt du. Sie hat es mir zum Glück nie übel genommen.“
„Aber warum hast du dich so verstellt?“
„Ich wollte Polizist werden. Homosexualität und Polizei gehen nicht zusammen, auch heute nicht. Es ist ein Macho Verein. Schon Frauen haben es deutlich schwerer akzeptiert zu werden. Und auch wenn niemand offen etwas gegen Schwule sagen würde, die unterschwellige Diskriminierung ist immer anwesend. Auch nach der Scheidung habe ich mich nicht geoutet.“
„Das heißt, deine Kollegen wissen nicht, dass du schwul bist?“ Steve rückte etwas ab.
„Nein, mittlerweile weiß es jeder.“ Thomas blickte traurig aus dem Fenster. „Vor drei Jahren wurde ich von ein paar Kollegen, die in einer Schwulenbar in Dortmund ermittelten entdeckt. Es dauerte nicht mal einen Tag, dann wussten alle Kollegen Bescheid. Es sagte zwar niemand etwas direkt, aber es gab versteckte Andeutungen. Mein Partner ließ sich plötzlich neu einteilen. Angeblich passten die Schichtzeiten nicht mehr. Immer wieder gab es demütigende Streiche, blöde Witze die hinter meinem Rücken aber in Hörweite gerissen wurden. Nie etwas, dass ich vor der Mobbing Kommission vor legen hätte können, aber es bestimmte meinen Arbeitsalltag. Ich bekam Depressionen und stand kurz davor Schluss zu machen.“ Er machte eine Pause um durch zu atmen. Steve kniete sich dicht hinter ihn und legte ihm die Arme um die Schultern.
„Du wolltest kündigen?“
„Nein, ich wollte ganz Schluss machen. Mit allem. Aber dann hatte meine Oma den Schlaganfall. Ich konnte sie nicht allein zurück lassen. Wir haben sonst keine Verwandten mehr. Ich bat um eine Stelle in der Ausbildung in Teilzeit, so dass ich mich um sie kümmern konnte. Und das mache ich jetzt seit zwei Jahren.“ Er wandte Steve das Gewicht wieder zu und lächelte. „Und dabei bin ich zufrieden. Und seit ein paar Stunden bin ich wahnsinnig glücklich!“ Und dann zog er Steve fest in seine Arme und küsste ihn.

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Publication Date: 05-13-2020

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