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Kapitel 1

 

Jake Forrester erwachte in völliger Dunkelheit. Der Hauch eines scharfen Geruchs lag in der Luft. Und Summen. Fernes Summen. Auch schien der Boden zu vibrieren. Wie auf einem Schiff. Nur höher, schriller.

Verwirrt richtete er sich im Bett auf.

Die Stimme des Expeditionsführers kam ihm wieder ins Gedächtnis. ›Geh nicht so weit an die Kante! Da geht es mindestens eine halbe Meile runter.‹ Dann hatte es einen Knall gegeben und das Eis brach. Rutschen, Panik, verzweifeltes Klammern, blutige Finger, Fallen … Die unzähligen Eisbrocken um ihn herum schienen zu schweben, während die schäumende Meeresoberfläche rasend schnell näher kam. Der Schmerz splitternder Knochen. Dann war es dunkel geworden. Dunkel und still.

Ein Wunder, dass er noch lebte. Vorsichtig rollte er die Schultern und bewegte die Finger. Kein Problem, auch keine Schmerzen. Sein ganzer Körper fühlte sich unversehrt an. Die Ärzte in diesem Krankenhaus hatten ihn offensichtlich sehr gut zusammengeflickt.

Jake ließ sich erleichtert in die Kissen sinken. Der Bezug fühlte sich merkwürdig an … wie menschliche Haut. Jake fuhr hoch und betastete misstrauisch den Stoff. Der war warm und weich, wie der Bauch einer Frau. Verwirrt strich er darüber – nur ein Kissen. Eine neue Microfaser. Beruhigt legte er sich wieder hin und starrte in die Finsternis.

›Du bist der verrückteste Vogel, der mir je begegnet ist!‹ Jake hatte nicht auf Paul gehört, hatte sich gegen den eisigen Wind gestemmt. Der ambitionierte wissenschaftliche Mitarbeiter war nur neidisch. Schon als Kind hatte Jake ein Gefühl dafür gehabt, was richtig war. Auch wenn sie ihn verlachten, er hatte den siebten Sinn. Und da vorne war etwas … es rief ihn förmlich. Jake konnte es spüren, fast hören. Das musste es sein, der Beweis, auf den er sein ganzes Streben gerichtet hatte, das seine Karriere, sein Leben verändern würde. Diesmal würden sie ihm glauben müssen, ihm, dem verspotteten Utopisten. Er griff den Karabinerhaken, klinkte sich aus der Seilschaft aus und lief auf den Gletscherrand zu.

Jake stöhnte und wälzte sich auf die andere Seite des Betts. Noch nie zuvor hatte ihn seine Intuition im Stich gelassen. Und nun das.

Die Dunkelheit umschloss ihn wie ein Sarg. Plötzlich schoss Hitze durch seinen Körper. War er durch den Sturz erblindet? Er atmete stoßartig ein und betastete seine Augen. Sie fühlten sich unverletzt an. Aber vielleicht war der Sehnerv geschädigt – oder das Gehirn? Schweiß trat aus allen Poren. Und warum vibrierte dieses Krankenhaus?

Irgendwo fiel eine metallene Tür ins Schloss. Jake horchte auf. Und dann ertönten Schritte. Harte Sohlen auf Stahl. Sie kamen näher. Das wird die Nachtschwester sein. Jakes Linke krallte sich am Bettrahmen fest.

Die Schrittgeräusche endeten ganz in der Nähe, gleichzeitig begann gedämpftes Licht aus der Decke zu leuchten, lilafarben und milchig. Jake zwinkerte mehrmals, aber der Eindruck blieb. Er nahm einen tiefen Atemzug. Zumindest konnte er sehen.

Über seinem Bett bemerkte er einen metallischen Schirm, der einer Operationslampe ähnelte. Langsam richtete er sich auf. Dabei rutschte ihm die Decke auf den Schenkel. Er war nackt. Jake erschrak. Sollte er jetzt operiert werden? Hatte die Narkose nicht gewirkt? Entsetzt starrte er auf die fugenlose, silbrigschimmernde Wand vor ihm.

Ein leises Zischen wie von einer Bustür ließ ihn zusammenzucken. Ein Teil der Wand glitt zur Seite. In der Öffnung erschien eine rundliche Frau. Mittleres Alter. Ihr weiter, violetter Kittel und die helle Haube, die ihr Haar vollständig bedeckte, gaben ihr das Aussehen einer OP-Schwester. Aber dann doch wieder nicht. Irgendetwas war anders. »Wo bin ich?«

Die Frau lächelte, dabei schienen ihre Augen irgendwie leer zu sein, abwesend. Sie schritt auf Jake zu. Ihre Bewegungen wirkten mechanisch. Jake beobachtete sie. Sie kam herbei und hielt ihm einen Kittel entgegen. Jake streckte die Hand aus. Er erstarrte, denn im Türrahmen erschienen zwei Roboter. Sie schwebten.

Jake vergaß alles um sich herum. Verwundert betrachtete er die Maschinen – technische Wunderwerke, wie er sie noch nie gesehen hatte! Verspiegelte Halbkugeln saßen auf silberglänzenden, elliptischen Körpern, die rundum mit Armen bestückt waren. Im Gegensatz zu den Marsrobotern, für die er im Rahmen eines Forschungsprojektes Algorithmen zur Erzeugung künstlicher Intelligenz entwickelt hatte, wirkten diese hier utopisch und – bedrohlich.

Jakes Nackenmuskeln spannten sich. In was für ein merkwürdiges Krankenhaus war er gebracht worden?

Er versuchte, sich zu beruhigen, aber beim Anblick der blitzenden Werkzeuge am Ende der mechanischen Arme zog es seine Eingeweide mit eisiger Kälte zusammen. Das waren doch nicht etwa Operationsroboter?

Entsetzt starrte er die Maschinen an. Die Krankenschwester hielt ihm immer noch wortlos den Kittel entgegen. Die Geste war eindeutig. Er sollte sich anziehen. Erleichtert griff er nach dem Kleidungsstück, doch da schwebten die Roboter heran. Jake blickte von einem zum anderen.

Die Maschinen bauten sich in Augenhöhe vor seinem Bett auf und begannen, abwechselnd sirrende Töne auszusenden. Jake schien es, als glotzten sie ihn an und unterhielten sich dabei. Er schüttelte unwillkürlich den Kopf. Seine Fantasie ging mit ihm durch.

»Die Adjutoren beurteilen Sie als genesen, Herr Doktor Jake Dexter Forrester«, sagte die Krankenschwester mit mildem Lächeln und monotoner Stimme.

Jake runzelte die Stirn. »Reden Sie von den Dingern?«

»Würden Sie das bitte anziehen.«

»Gerne. Könnten Sie mir bitte sagen, wo wir sind?«

»Wenn Sie mir in Ihr Quartier folgen wollen.«

»Ma’am, würden Sie bitte meine Fragen beantworten?«

Wortlos wendete sich die Frau ab und verschwand durch die Tür. Jake starrte ihr hinterher. Auf Höflichkeit schien hier kein Wert gelegt zu werden. Aus dem Augenwinkel sah er einen Roboterarm zucken. Er fuhr herum. Lichtchen blitzten auf der Oberfläche der Maschine. Jakes Haut kribbelte, als ob er in ein Feld von Starkstrom geraten sei. Die Roboter steuerten langsam auf ihn zu. Jake spürte Panik in sich aufsteigen. Hastig streifte er den Kittel über und lief über den kalten, glatten Boden der Schwester hinterher.

Der schmale Gang, der sich hinter der Tür auftat, erinnerte Jake an ein U-Boot. Metallisch glänzende Rohre und rotschimmernde Leitungen zogen sich an den Wänden entlang. Ventile, Lampen und hydraulische Geräte spickten die Decke. Er war also auf einem Schiff! Mit den Robotern an Bord konnte er von keinem gewöhnlichen Kahn aufgefischt worden sein. Vielleicht ein Forschungsschiff? Welchem Staat gehörte es? Die Schwester sprach mit Akzent, aber das musste nichts heißen.

Das Zischen kam unerwartet. Nervös schaute er sich um. Die beiden Roboter folgten ihm auf dem Fuß und versperrten den engen Korridor. Jake beschleunigte seinen Schritt. Hinter einer Sicherheitsschleuse wartete die Krankenschwester an einer geöffneten Tür. »Hier hinein, bitte.« Ihr abwesendes Lächeln befremdete Jake und das feine Sirren der Roboter schien durch den Hinterkopf direkt in seinen Schädel zu dringen. Er warf einen flüchtigen Blick in die silbergraue Kabine jenseits der Tür, die ihm wie eine Rattenfalle vorkam. »Wenn es möglich ist, würde ich gerne zuerst mit dem Arzt sprechen.«

Als Antwort traf ihn ein Stoß wie aus einer gigantischen Pressluftpistole und katapultierte ihn vorwärts. Jake stolperte in die Kabine. Empört rappelte er sich auf, doch bevor er die Tür erreichte, fiel sie ins Schloss. Er drückte dagegen, er schob. Das Ding war wie zugeschweißt! Jake tastete den Türrahmen und die glatte Wand nach einem Öffnungsmechanismus ab. Nichts. Seine Hände begannen zu zittern. Ihm wurde heiß und ein Druck baute sich in seinem Inneren auf. »Machen Sie auf!«, schrie er und schlug mit der flachen Hand gegen die Tür. »Warum sperren Sie mich ein?«

»Du sollst dich entspannen!«, ertönte eine sanfte Stimme hinter ihm. Er fuhr herum. Auf dem einzigen Bett lag eine brünette Frau mit mädchenhaftem Gesicht.

Jake starrte sie an. Sie war mit einem dünnen Laken spärlich bedeckt und ließ ihre blauen Augen interessiert über seinen Körper wandern.

»Wer sind Sie?«

Sie richtete sich ein wenig auf, wobei die langen Haare ihre nackten Schultern freigaben.

»Ich werde dir die Reise so angenehm wie möglich machen.« Ihre Stimme war melodisch und sie sah ihn unter langen, dunklen Wimpern einladend an.

Jake zog die Brauen hoch. Das war absurd! Sein Blick glitt, wie von einer magischen Kraft gelenkt, über ihre schlanken Formen, die sich reliefhaft unter der dünnen Decke hervorhoben. Wohlgeformte Brüste und spitze Brustwarzen zeichneten sich deutlich ab. Sie mochte etwas jünger als er sein. Und sie war schön. Sein Interesse regte sich, doch kochte gleichzeitig sein Ärger hoch. »Warum werde ich eingesperrt?«

Ihre Augen leuchteten. »Weil du noch wild bist.«

Jake starrte sie entgeistert an. Was sie sagte, ergab keinen Sinn. Er straffte die Schultern. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich hier herausließen! Ich möchte den Kapitän sprechen«, sagte er mit fester Stimme.

Die Frau wich zurück. Für einen Moment schien sie ratlos. Nervös wanderte ihr Blick über Jakes Gesicht, versuchte darin zu lesen.

Jake stemmte die Hände in die Hüften. »Rufen Sie bitte nach der Schwester!«

»Das kann ich nicht. Das steht mir nicht zu.« Die junge Frau fasste sich wieder und versuchte ein kleines Lächeln. »Warum entspannst du dich nicht? Es ist doch alles in Ordnung.«

Jake musterte sie. Er sah ein, dass es keinen Sinn hatte zu argumentieren. Frustriert ließ er die Schultern hängen. Das war verrückt! Eingesperrt! Mit einer Frau, die wohl so etwas wie ein Lockmittel sein sollte. Er wandte sich ab und hämmerte wieder auf die Tür ein. »Lasst mich raus!«

Niemand kam. Keine Schritte im Gang. Nur das ferne Ächzen der Schiffshülle und das Stampfen von Kolben waren zu hören, überlagert vom hohen Sirren irgendwelcher Maschinen.

Jake ließ die Arme sinken. Die Wände der Kabine schienen näher zu rücken. Er konnte sich nicht vorstellen, was die Leute von ihm wollten. Er besaß doch nichts, was so einen Aufwand wert wäre. Oder waren sie scharf auf sein Wissen? Jake stieg das Blut in den Kopf. Er hatte Gerüchte gehört: Menschen verschwanden und tauchten nie wieder auf, oder sie hatten unerklärliche Unfälle.

Jake ging auf und ab. Nein. Das Militär war es nicht, sonst würde die Schwester eine Uniform tragen. Es musste jemand anderes dahinterstecken. Jake wandte sich ruckartig zu der Frau um. Sie hatte die Decke bis unters Kinn gezogen. Ihr Atem ging schnell und flach und sie taxierte ihn, als ob sie ihre Fluchtmöglichkeiten ausloten wollte. Jetzt sah sie gar nicht mehr wie eine berechnende Verführerin aus. Jake sah sie betroffen an. Sie schien Angst zu haben. Angst vor ihm. Ihm kam der Verdacht, dass sie ihre Show nicht aus freien Stücken abzog, vielleicht wurde sie gezwungen.

Beschwichtigend hob er die Hände.

Ihre Augen folgten jeder Bewegung.

Er senkte die Stimme und wechselte zu einem vertraulichen Ton. »Du brauchst dich nicht zu fürchten. Ich werde dir nichts tun.«

Sie zog die Decke noch etwas höher. »So einen wilden Mann wie dich habe ich noch nie gesehen.«

Jake betrachtete ihr seidiges, volles Haar, das in goldbraunen Wellen über ihre Schultern fiel. Eine leidvolle Erinnerung stieg in ihm auf und er musste einen Moment wegsehen, um die aufkeimende Trauer zu unterdrücken.

Er nahm einen tiefen Atemzug. »Ich wollte dich nicht ängstigen. Wie heißt du?«

Die junge Frau warf ihm wieder einen forschenden Blick zu. »Myriam«, sagte sie dann leise.

»Das ist ein schöner Name. Ich bin Jake.«

Mit behutsamen Bewegungen nahm er auf einer metallisch wirkenden Sitzbank an der rechten Wand Platz. Statt stählerner Kälte erwartete ihn angenehm warmes, überraschend nachgiebiges Material. Er nahm einen tiefen Atemzug und lehnte sich zurück. »Kannst du mir sagen, wohin sie mich bringen?«

»Beruhige dich doch erst einmal«, sagte sie, ohne ihre defensive Haltung aufzugeben.

Jake schüttelte den Kopf. Statt gerettet zu werden, war er entführt worden. Sie brachten ihm irgendwohin, mit hoher Wahrscheinlichkeit aber nicht in die Vereinigten Staaten. Sie schien nicht zu verstehen, was das für ihn bedeutete, schien sich keine Gedanken darüber zu machen. Aber das Ziel der Reise musste sie doch kennen. Er dämpfte seine Stimme. »Ich bin doch schon wieder ganz ruhig. Weißt du, wohin wir fahren?«

»Nach Njamingloh.«

Jake legte die Stirn in Falten. Davon hatte er noch nie etwas gehört. Dem Klang nach konnte es eine Ortschaft in Afrika sein. Oder vielleicht in China. Allerdings sah Myriam europäisch aus. Und sie sprach seine Sprache, mit einem leichten, fremdländischen Akzent zwar, aber fließend. Genau wie die Krankenschwester. »Wo liegt das?«, fragte er.

Ihr Blick schweifte in die Ferne. »Es ist ein reiches Land, wo es allen gut geht. Es wird dir gefallen.«

Das klang auswendig gelernt. Und sie beantwortete seine Frage nicht. Warum wich sie ihm aus? Jakes Kiefermuskeln spannten sich. Vielleicht machte sie das hier nicht freiwillig, vielleicht hatten die Entführer sie indoktriniert – oder unter Drogen gesetzt. Angst und Ärger kämpften in seinem Inneren, doch ihre ebenmäßigen Gesichtszüge nahmen ihn gefangen, besänftigten seine Gefühle. Wie bezaubernd sie aussah, mit den feinen Linien ihrer Nase und dem verträumten Blick. Und wie reizend der blaue Stein in ihrem silbernen Ohrring ihre Augen betonte.

»Ist es schön in Namiklo?«, fragte er.

»Njamingloh«, verbesserte sie. »Meine Eltern wohnen dort. Und meine Geschwister.« Ihre Züge entspannten sich und ihre Augen bekamen wieder diesen fernen Blick. »Da ist der endlose Strand, wo Kinder spielen und die langen Blätter der Bäume in der warmen Seebrise wiegen.«

»Du hast eine sehr poetische Art, dich auszudrücken. Es muss wunderschön in deiner Heimat sein.«

Sie sah ihn an. Ein schiefes Lächeln spielte über ihr Gesicht. »Das schon, aber ich empfand das Leben als eintönig und wollte etwas erleben.« Ihr Blick entfernte sich wieder. »Vielleicht bin ich wirklich ein zu wildes Kind.«

Die Idylle in Jakes Kopf zerbarst in tausend Splitter. »Was willst du damit sagen? Haben sie dich deshalb auf diesem Schiff eingesperrt?«

Myriam sah ihn erstaunt an. »Niemand wird eingesperrt. Und es ist doch schön hier. Magst du mich denn nicht?«

Jake blieb der Mund offen stehen. So eine Antwort hatte er nicht erwartet. Sie steckte doch mit drin. Er setzte sich kerzengerade auf und sah ihr direkt in die Augen. »Was willst du von mir?«

Myriam richtete sich auf und schmunzelte. »Jake, ich möchte, dass Du dich wohlfühlst. Dass du dich entspannst. Es ist meine Aufgabe, dir dabei zu helfen.« Und mit einem kecken Zwinkern fügte sie hinzu: »Du gefällst mir sehr. Auch wenn du etwas zu wild bist.« Mit diesen Worten ließ sie ihre Decke heruntergleiten. Sie war nackt. Und wunderschön. Ihre weichen Rundungen ließen sein Verlangen steigen. Verdammt! Er riss sich zusammen. Sie war der Köder in irgendeiner Falle. »Zieh das wieder hoch«, erwiderte er.

Verblüfft sah sie ihn an. »Bin ich nicht hübsch genug?«

Das klang so unschuldig. Jake wurde aus ihr nicht schlau.

Myriam senkte die Augen. »Ich habe mich schon die ganze Zeit darauf gefreut.«

Jake schoss von seinem Sitz hoch. »Was?«

Sie hob den Kopf und sah ihn mit leuchtenden Augen an. »Sie haben gesagt, ich bekomme einen Mann. Einen ganz Besonderen. Einen Wilden eben. Nicht solche, wie bei uns.«

Jake verstand überhaupt nichts mehr. Wilde Männer, zahme Männer. Seine Phantasie ließ Bilder von grell bemalten, muskelbepackten Eingeborenen entstehen, denen gefügige, hühnerbrüstige Weichlinge gegenüberstanden. Er musste lachen, als er sich Myriam vorstellte, die hüftschwingend zwischen diesen Kerlen hin- und herspazierte. Sie schaute ihn fragend an und Jake fühlte sich plötzlich sehr beschämt. Diese junge Frau, wer auch immer sie war und was auch immer ihr Job in dieser Kabine sein sollte – sie sah nicht nur blendend aus, sie war auch von entwaffnender Natürlichkeit und Offenheit und sicher weder dumm noch naiv. Ein einfaches Landmädchen, das man mit dem Versprechen auf einen Ehemann aus ihrem Dorf gelockt hatte, wäre anders aufgetreten.

»Es tut mir leid«, sagt Jake.

»Was tut dir leid?«, fragte sie zurück.

»Dass ich nicht so bin, wie sie es dir versprochen haben.« Jake stand auf und begann wieder, in der Kabine auf- und abzugehen. Was hatten sie mit ihm vor? Er war Astrophysiker, Forscher. Die unglaublichen Ergebnisse seiner letzten wissenschaftlichen Experimente kamen ihm in den Sinn.

Spionage!

Sein Blick schweifte auf der Suche nach versteckten Mikrophonen und Mikrokameras über Decke und Wände. Irgendjemand hatte Wind von seiner Forschung bekommen und nahm sie ernster als sein Chef. Na klar! Ein Element ohne Masse, das er in einer Meteoritenprobe am Massachusetts Institute of Technology entdeckt hatte, würde die gesamte Wissenschaft revolutionieren – und die Rüstungsindustrie. Jakes Magen zog sich zusammen. Er blieb stehen. Ja, das musste es sein! Die Expedition zum jüngsten Meteoriteneinschlagsort hatte ihm zum Petermann-Gletscher nach Grönland geführt. Dort war bestimmt schon jemand vor ihnen gewesen und hatte das Gleiche gesucht. Nun wollten sie ihn mundtot machen oder sein Wissen nutzen. Oder beides.

Ein leises Zischen an der Tür schreckte Jake auf. Zwei Roboter schauten durch eine Luke herein. Als ob sie in einen Karnickelstall glotzten! Jake hielt nach der Schwester Ausschau. Sie war nirgends zu sehen. Die Bewegung eines der mechanischen Arme ließ Jake zusammenzucken, aber es schwebte nur ein mit Schalen und Gläsern beladenes Tablett herein. Wie von selbst löste sich eine tischgroße Platte aus einer Wandnische.

Jake sprang zur Seite. Ein Tisch ohne Beine!

Das Servierbrett senkte sich langsam darauf. Jake beobachtete jede Bewegung. Er war beeindruckt und seine Neugier biss sich an dem Schwebeeffekt fest, wollte wissen, wie er funktionierte. Elektromagnetische Felder? Jake registrierte, dass er sich schon wieder mit den Fingern durchs Haar fuhr. Vielleicht sollte er sich wirklich erstmal entspannen. Jedenfalls verfügten die Entführer über eine erstaunliche Technologie. Das setzte Macht und Intelligenz voraus. Und mit intelligenten Leuten könnte er verhandeln.

»Essen!«, rief Myriam freudig, sprang aus dem Bett und zog den Tisch zu sich, sodass er zwischen Sitzbank und Bett schwebte. Dabei fiel ihr die Decke herunter, die sie achtlos liegen ließ. Jakes Blicke wurden unwiderstehlich von ihren straffen Brüsten angezogen. Ihm wurde heiß. Wenn Myriam ständig nackt herumlief, würde er der Versuchung nicht lange widerstehen können. »Hast du nichts anzuziehen?« Der innere Kampf zwischen Wollen und Nichtwollen ließ seinen Ton unwillkürlich schroff ausfallen.

Für einen Moment schaute ihn Myriam verdutzt an, aber dann stahl sich ein befriedigtes Lächeln über ihr Gesicht. Jake ärgerte sich darüber. So einfach würde er sich nicht manipulieren lassen! Sie schien seinen Groll zu spüren. Mit hängenden Schultern wandte sie sich einer Wandöffnung neben dem Bett zu und zog daraus ein Tuch hervor. Das schlang sie wie einen Sari um ihren Körper.

Jake setzte sich. Er ließ den Rücken gegen die Wand sinken. Was passierte mit ihm? Er war Wissenschaftler, ein rationaler Mensch. Doch hier fühlte er sich von seinen Instinkten getrieben. Er musste seinen Verstand bewahren, sonst gewannen die Entführer.

Der Duft von Gebratenem und exotischen Früchten zog ihm in die Nase. Sein Magen knurrte wie ein Kettenhund. Soweit er sich erinnern konnte, hatte er das letzte Mal im Camp auf dem Gletscher gegessen. Das war eine Ewigkeit her. Oder erst gestern? Jake schüttelte kaum merklich den Kopf und fasste die Mahlzeit ins Auge.

Auf dem Tablett lagen die verschiedensten Häppchen auf muschelförmigen Schälchen. Fleisch, Fisch, Gemüse, garniert mit Salatblättern, Kräutern und bunten Blüten. Der Geruch von Curry und Thymian stieg ihm in die Nase, darunter andere Gewürze, die er nicht benennen konnte. Eine Anzahl diverser Getränke komplettierte das Angebot. Neben einem Weinkelch stand ein Glas, gefüllt mit einer lilafarbenen Flüssigkeit. Jake beäugte das Arrangement misstrauisch. Drogen?

Myriam griff bedenkenlos zu und begann genüsslich zu kauen. Vielleicht war sie resistent? Jake angelte sich ein Schälchen mit Rindfleisch im Bratensaft und hielt es unter seine Nase. Es roch warm und würzig. Unverdächtig genug. Langsam und bedächtig zerkaute er das zarte Fleisch … Rosmarin, Salz, Pfeffer … er war kein Gourmet mit feiner Zunge. Sie konnten alles Mögliche beimischen, ohne dass er es bemerken würde. Er nahm einen tiefen Atemzug. Was nützte die Vorsicht? Ohne Essen würde er nicht lange durchhalten. Und wenn sie ihn umbringen wollten, hätten sie es schon früher tun können. Also bediente er sich.

Bei der Wahl des Getränks machte er sich keine großen Gedanken. Er tat es Myriam gleich und trank diesen lilafarbenen Saft. Der schmeckte süß wie die Sünde und wirkte belebend. Mit einem befriedigten Seufzer lehnte er sich zurück.

Myriam, die ihn während des Essens beobachtet hatte, machte ein zufriedenes Gesicht.

Jake musterte sie argwöhnisch. »Bin ich euch in die Falle getappt?«

Abrupt stand sie auf. »Du stellst seltsame Fragen. Ich verstehe dich einfach nicht.« Sie schob den Tisch zurück in die Nische. Das Tablett ließ sie in einer Öffnung darüber verschwinden. »Zeit zum Schlafen«, verkündete sie und wickelte sich mit verschmitztem Lächeln aus ihrem Gewand.

Jake konnte seine Blicke nicht von ihr reißen. Sein Körper war bereit und seine Sinne wollten nur eins. Aber genau das ärgerte ihn. Er war doch nicht völlig seinen Trieben ausgeliefert. Selbst wenn sie ihm ein Aphrodisiakum in sein Getränk gemischt haben sollten, wollte er die Kontrolle durch seinen Verstand nicht verlieren! So schnell sollten die ihn nicht bekommen! Und wenn er eigens auf der Sitzbank schlafen musste! Er ließ sich von Myriam eine zweite Decke geben.

Kaum hatte er sich auf dem unbequemen Möbel ausgestreckt, ging das Licht aus. Nur ein fahles Orientierungslämpchen wies den Weg zum Sanitärraum. Es war lange still in der dunklen Zelle. Doch bevor Jake einschlief, hörte er Myriam leise in ihr Kissen schluchzen. Sie tat ihm leid, und er schalt sich selbst einen unfreundlichen, groben Klotz. Aber Small Talk hatte er noch nie beherrscht und bei aller Faszination – er wollte kein Risiko eingehen. Je nachhaltiger er sich von ihr fernhielt, desto besser.

 

Die Zwei an den Beobachtungsmonitoren entspannten sich.

»Der Fang …« Der Eine warf dem Anderen einen nachdenklichen Blick zu. »Hat es schon eine Registriernummer?«

»5830254M«

»Es verhält sich nicht normal. Soweit ich mich entsinne, lösen Weibchen triebhaftes Paarungsverhalten aus und danach beruhigen sich die Männchen ganz schnell. Aber bei dem scheint es nicht zu funktionieren. Was sagen Sie als Spezialist dazu?«

»Ich finde es höchst interessant. Mich dünkt, es verfügt über eine höhere Intelligenz, als die bisher eingefangenen Exemplare.«

»Das ist nicht gut, mein Bester. Es könnte gefährlich werden. Sollen wir es lieber einschläfern?«

»Davon rate ich vorerst ab. Was kann es hier denn anstellen? Wir sollten es erst einmal mit einem anderen Weibchen probieren. Manche dieser Böcke zeigen eine erstaunliche Selektivität. Er wird sich schon noch beruhigen.«

Kapitel 2


Mitten in der Nacht erwachte Jake schweißgebadet aus unruhigem Schlaf. Sein Rücken schmerzte, der linke Arm war taub und der rechte Oberschenkel verkrampft. Eine Folterbank konnte nicht schlimmer sein. Jake setzte sich und streckte sein Kreuz. Unter höllischem Kribbeln kam das Blut in den Arm zurück. Jake schlenkerte ihn, bis sich auch das Gefühl wieder einstellte. Auf die Bank wollte er sich nicht mehr legen. Resigniert ließ er sich auf den harten Boden nieder.

Doch auch dort fand er keinen Schlaf. Die Gedanken überschlugen sich. Rastlos wälzte er sich hin und her. Er musste mit seinen Entführern sprechen, musste herausbekommen, welche Bedingungen sie für seine Freilassung stellten. Immerhin hatten sie ihn bisher nicht misshandelt. Ganz im Gegenteil. Sie lockten ihn, schienen an seiner Kooperation interessiert. Die Frau im Bett war Beweis genug. Sie brauchten ihn also. Und das war seine Lebensgarantie. Hoffentlich konnte er einen Vorteil daraus ziehen. Er grübelte, bis ihn endlich der Schlaf übermannte.


Licht weckte ihn. Eine Bewegung zog seine Aufmerksamkeit an. Dunkle Mandelaugen lugten über die Bettkante zu ihm hinab. Schwarze, glatte Haare fielen um ein rundes Gesicht. Jake wischte sich über die verschlafenen Augen. »Wer bist du? Wo ist Myriam?«

Ohne zu antworten, glitt die Frau herunter zu ihm und schlüpfte pudelnackt unter seine Decke. Empört hielt er sie zurück. »Was soll das?«

»Ich bin besser als Myriam!«, schnaufte sie und stürzte sich auf ihn. Jakes Blut geriet in Wallung. »Halt!«, rief er aufgebracht, »Ich will das nicht!«

»Aber ich habe doch noch gar nicht richtig angefangen«, stieß sie unbeirrt hervor.

Hitze schoss ihm in die Adern. Was fiel diesen verdammten Kerlen ein, diese Frauen in seine Kabine zu schicken? Er sprang auf. »Hör auf damit!«

»Ich bin besser! Ich werde der Meduse zeigen, dass ich die Beste bin.« Sie packte ihn mit beiden Händen. Jake fühlte sich zwischen Lust und Zorn hin- und hergerissen. Der Zorn gewann und pulsierte wie Feuer durch seinen Körper. Mit Mühe riss er sich zusammen. »Holt diese Wahnsinnige hier raus!«, rief er zur Tür hin. Augenblicklich öffnete sie sich. Die Krankenschwester und ihre beiden Roboter standen im Gang, als ob sie darauf gewartet hätten. Verblüfft sprang Jake zurück.

»Es wäre mir lieber, ihr sagtet, was ihr von mir wollt, anstatt mir diese Frauen auf den Hals zu hetzen.« Die Schwester schaute ihn gar nicht an, sondern blickte mit ausdruckslosem Gesicht an ihm vorbei auf die Frau.

»Komm mit!«, befahl sie und schnipste mit dem Finger. Wie ein geprügelter Hund kroch die Schwarzhaarige zu ihr.

»Lasst mich hier raus!«, forderte Jake und sprang zur Tür. Doch bevor er sie erreichte, schlug ihm etwas Unsichtbares an den Kopf, dass er rücklings in die Zelle fiel. Benommen blickte er auf, nur um zu sehen, wie sich das Frühstückstablett auf den Tisch senkte und die Tür zischend zuglitt.

Erschöpft setzte er sich auf die Pritsche. Was, zum Teufel, passierte hier mit ihm? Er atmete schwer. Die wollten ihn mürbemachen! Wenigstens war er jetzt allein. Er musste einen Weg zur Flucht finden. Dazu brauchte er einen klaren Kopf. Und seine körperliche Kraft. Er musste essen, auch wenn sein Magen rebellierte. Zum Frühstück hatten sie ihm fladenähnliches Brot und Obst gebracht. Es waren auch einige sonderbare Früchte in dem Sortiment. Die rührte er nicht an.

Nach dem Essen untersuchte Jake noch einmal den Eingang. Das Material fühlte sich ungewohnt an, glatt und warm. Wenn es auch auf den ersten Blick so aussah, Metall war es nicht. Auch saß die Tür so eng im Rahmen, dass der Spalt kaum zu sehen war. Saubere Maßarbeit. Nicht einmal die Klinge des Früchtemessers konnte er dazwischen schieben. Es hätte auch nicht viel genutzt, denn es war aus Kunststoff. Er legte es auf den Tisch und suchte sein Quartier nach einem Gegenstand ab, den er als Werkzeug gebrauchen könnte. Alles war fest angebracht. Nahtlos verschweißt. Kein einziger Schraubenkopf, als wäre der ganze Raum aus einem Stück gegossen. Die Chancen aus eigener Kraft daraus zu entfliehen, waren gleich null.

Jake ließ sich auf die Sitzbank fallen. Er überlegte, ob er die Krankenschwester überwältigen konnte. Mit seiner langjährigen Taekwondo-Erfahrung sollte sie kein großes Problem sein. Sie nicht, aber die Roboter.

Er brauchte eine Waffe. Noch einmal sah er sich gründlich um. Der einzige Gegenstand, den er dazu benutzen konnte, war der Tisch. Besser als nichts. Jake wollte ihn anheben, aber er schaffte es nicht. Als ob das Ding tausend Kilo wog. Das war sonderbar, denn schieben ließ er sich mit einem Finger in jede beliebige Richtung. Jake fuhr sich durchs Haar. Wie sie das machten, konnte er sich nicht erklären, jedenfalls war auch der Tisch als Waffe unbrauchbar. Aber vielleicht könnte er ihn gegen die Schwester kicken. Das schien im Moment der einzig durchführbare Plan zu sein. Also hieß es warten und harmlos tun. Jake nahm auf der Bank Platz und verschränkte die Arme hinter seinem Nacken. Die Füße legte er auf den Tisch und schloss die Augen.

Endlich hörte er Schritte. Er blinzelte unter den Lidern hervor zur Tür. Seine Muskeln spannten sich. Als sich die Tür öffnete, gab Jake dem Tisch einen gewaltigen Tritt und sprang mit einem tigerhaften Satz hinterher. Augenblicklich prallte er an ein unsichtbares Hindernis, flexibel wie eine Gummimatte. Dann schob ihn etwas unaufhaltsam bis in die Mitte der Kabine zurück. Während er sich dagegenstemmte, fiel sein Blick auf die Krankenschwester im Gang. Sie führte eine Frau an der Hand. Jake verließ die Kraft. Er ahnte, was nun kommen würde. Die Neue betrat seine Zelle. Die unsichtbare Wand verschwand, als sich die Tür wieder schloss.

Jake blieb stehen, wo er war und musterte die Frau. Sie erschien älter als die beiden vorigen. Blonde, kurze Locken rahmten ihr volles, gutmütiges Gesicht. Ihre Hautfarbe wirkte dunkler – sonnengebräunt, hätte er unter normalen Lichtverhältnissen vermutet. Ein beigefarbenes Wickelgewand bedeckte ihre üppigen Formen. Sie sah nicht unbedingt wie eine Kurtisane aus, eher so, wie er sich seine Tante vorgestellte, hätte er eine gehabt. Eine neue Taktik der Kidnapper?

Die Frau sah Jake einen Moment lang abwägend an, dann setzte sie ein mütterliches Lächeln auf und ließ sich auf der Sitzbank nieder. »Ich bin Manulana. Setz dich doch.«

Das war zumindest eine zivilisierte Anrede. Auch machte sie keine Anstalten, Jake sofort an die Wäsche zu gehen. Ohne sie aus den Augen zu lassen, setze er sich ihr gegenüber auf das Bett. »Jake Forrester. Was möchten Sie von mir?«

»Ich soll dir Gesellschaft leisten.« Sie blieb ruhig sitzen und sah ihn aus schokoladenbraunen Augen offen an.

»Das ist sehr nett von Ihnen«, antwortete er höflich und fragte sich, was sie wirklich wollte. »Warum hält man mich gefangen?«

Sie lächelte. »Weil du dich noch nicht eingewöhnt hast.«

Jake zog die Stirn kraus. »Ich verstehe nicht, was Sie wollen. Können Sie dem Kapitän ausrichten, dass ich ihn gerne sprechen möchte?«

Sie machte ein besorgtes Gesicht. »Es soll dir doch gut gehen, bis wir zuhause sind.«

Jake deutete auf die verschlossene Tür. »Eingesperrt in diese enge Zelle?«

Sie hob beruhigend die Hände. »Du musst doch nicht die ganze Reise hier verbringen. Später darfst du in die Messe.«

Jake warf ihr einen ungläubigen Blick zu. »Sie lassen mich frei? Was ist der Zielhafen?«

»Nelantis.« Manulana machte sich auf der Sitzbank breit und lächelte Jake an. »Aber bis wir ankommen, dauert es noch eine Weile und ich werde dir helfen, die Zeit zu vertreiben. Weißt du, meine Großtante war auch einmal Eskorbine auf einem Schiff. Als sie noch jung war. Sie erzählt immer noch davon. Ununterbrochen, wenn man es genau nimmt. Eigentlich will keiner mehr zuhören. Aber mich haben ihre Erzählungen fasziniert. Es klang so aufregend, auf Reisen zu gehen. Ihren Erstgeborenen, den Anselm, hat sie nach seinem Vater benannt, der war nämlich ein Wildfang. Ich habe ihn nicht mehr kennengelernt. Da war er schon verschollen. Er hat in den Minen …«

»Wo, bitte, ist Nelantis?«, unterbrach Jake ihren Monolog.

»In Njamingloh. Das habe ich als Kind in der Schule gelernt. Ich war Klassenbeste. Nur in Hydrotechnologie hat Rinsana mich übertrumpft. Das hat mich gewurmt, obwohl sie meine beste Freundin war. Jetzt ist sie Mutter und muss sich um ihre Kinder kümmern. Sie hat eine Menge Arbeit mit ihnen. Gerade der Kleinste. Aber vielleicht hat sie schon wieder eins …«

Ihr Geschwätz begann Jake auf die Nerven zu gehen, auch wenn er es nur noch als Hintergrundgeräusch wahrnahm.

»… auf der Werft verunglückt. Wir haben schon gedacht, es ist aus mit ihm, aber sie nahmen ihn mit …«

Jake begann sich zu wundern, ob sie jemals den Mund hielt.

»… noch nicht einmal eine Narbe hat man sehen können …«

Jakes Gedankenstrom schien sich zu verlangsamen und sein Körper wurde schwer. Das Gerede zog ihn unaufhaltsam in ein schwarzes Loch. Tiefer und tiefer.

Mit Mühe fokussierte er seine Gedanken. »Halt!«, rief er.

Manulana schwieg betroffen und sah ihn an.

»Wenn es möglich wäre, hätte ich gerne für einen Moment meine Ruhe.«

Sie atmete hörbar aus. »Aber das ist doch kein Problem, Jake. Ich kannte mal einen – Korleinz. Ja. Korleinz war sein Name. Mit blauen Augen und kantigem Schädel. Ich kann mich noch ganz genau erinnern. Er war etwas behäbig und anfangs habe ich gedacht, er sei stumm …«

Jake nahm einen tiefen Atemzug. »Ich möchte Sie nicht beleidigen, aber mir wäre es lieber, Sie würden gehen!«

Sie sah Jake erschrocken an. »Aber du kannst doch nicht allein bleiben! Wer für sich bleibt, wird verrückt.«

»Ich werde verrückt, wenn Sie hierbleiben! Bitte gehen Sie.«

Jake deutete zur Tür. Die öffnete sich, als sei sie durch seine Geste aktiviert worden. Wieder stand die Krankenschwester, flankiert von den zwei Robotern, wartend im Gang. Manulana erhob sich langsam von der Sitzbank und schlich nach draußen.

Jake wusste nun, dass er beobachtet wurde, sonst wären die Bewacher nicht so schnell zur Stelle gewesen. Er spürte ihre Augen förmlich im Nacken. Die Mikrophone und Kameras zu finden, war aussichtslos. Es gab inzwischen so kleine, dass man sie unter einem Fingernagel verstecken konnte. Auch kam ihm die Andeutung, ihn freizulassen, wie eine wohlplatzierte Finte vor. Sie wollten ihn in Sicherheit wiegen.

Jake warf sich frustriert aufs Bett und versuchte sich zu entspannen, da spürte er etwas Hartes im Rücken. Zwischen den Laken fand er einen silbernen Ohrring. Sein Herz klopfte. Der gehörte Myriam. Er nahm das Schmuckstück in die Hand. Kleine, goldfarbene Einsprengsel in dem tiefblauen Stein ließen ein Bild in ihm aufsteigen. Der Lapislazuli, der in der Antike die Wände der Königspaläste geziert hatte. Unwillkürlich musste er lächeln. Myriam, dieses zarte, kleine Wesen, hatte wirklich etwas von einer Prinzessin. Jake atmete tief. Sinnlose Gefühlsduselei! Er schaute sich nach einem Platz um, wo er den Ohrring aufbewahren konnte. Schließlich steckte er ihn in die Tasche seines Kittels.


An den Überwachungsmonitoren herrschte gespannte Stimmung. »Wenn er seinen Widerstand nicht aufgibt, wird er unbrauchbar sein. Sie wissen, was das bedeutet?«

Der Andere schaltete sein Gerät auf eine stärkere Vergrößerung. »Nun gedulden Sie sich doch, mein Verehrtester. Ich habe noch ein paar probate Tricks auf Lager!«

Kapitel 3


Sie kamen nur noch, um Essen zu bringen – Roboter. Die Schwester ließ sich nicht mehr sehen, auch keine Frauen. Jake war allein. Wie von selbst tastete seine Hand nach dem Ohrring in seiner Tasche, und wie jedes Mal, wenn er das Schmuckstück berührte, erschien Myriams liebreizendes Gesicht vor seinem inneren Auge. Wo war sie geblieben? Er ertappte sich dabei, dass er sich Sorgen um sie machte. Er verdrängte die Vision. Sie konnte letztlich nur ein Mädchen sein, das man angewiesen hatte, ihn zu verführen. Jake zog die Hand aus der Tasche. Er musste hier raus, bevor er wahnsinnig wurde! Er sprang auf und zum hundertsten Mal tastete er die Wände ab – nach Ritzen, lockeren Paneelen, spröden Stellen im Material, Leitungen … irgendetwas!

Nichts. Es gab noch nicht einmal Steckdosen, um einen Kurzschluss zu verursachen. Die Verschalungen der Lampen ließen sich nicht abnehmen. Nichts, aber auch gar nichts konnte er abmontieren oder als Waffe benutzen.

Frustriert warf er sich auf das Bett in seiner Zelle und starrte die kahle Decke an. Kein Ausweg. Noch nie hatte er sich so hilflos gefühlt.

Erinnerungen stiegen in ihm auf. ›Na, jetzt wirf schon!‹ Jakes Sandkastenfreund Joey von nebenan war kaum größer als der Baseballschläger, den er schlagbereit mit beiden Händen umklammerte und dabei Jake auffordernd ansah. Sie hatten sich heimlich Dads Sachen geliehen. Seines Vaters Kappe hing Jake über die Ohren bis in den Nacken. Er presste seine Hand um den harten Ball, holte aus und warf mit aller Kraft. Joey schwang den Schläger in weitem Bogen und traf den Ball mit einem satten Plopp. Mit offenem Mund folgte Jake der Flugbahn, bis der Ball jenseits der Thujahecke verschwand. Das Klirren einer Scheibe im Nachbarhaus ließ ihn erstarren.

Mom sperrte Jake in seinem Zimmer ein. ›Warte, bis Dad kommt!‹ Jake hatte auf seinem Bett gelegen, unerträgliche Angst schnürte seine Eingeweide zusammen … und die Ungewissheit, was kommen mochte. Bei seinem Vater wusste er nie. ›Bitte, lieber Gott, lass Dad nicht betrunken sein.‹

Jake zwang sich zur Ruhe und versuchte seine Gedanken wieder in die Gegenwart zu bringen. Mit Gewalt konnte er aus seiner Zelle nicht entkommen. Er könnte es höchstens mit List probieren. Aber dazu müsste er seine Kidnapper zum Verhandeln bewegen.

Entschlossen stand er auf. Wahrscheinlich gab es mehrere Kameras, die ihn permanent beobachteten. Er wandte sich zur Tür, so hatte er wenigstens das Gefühl, nicht völlig ins Leere hinein zu sprechen. Er atmete noch einmal tief durch: »Ich möchte mich hiermit an meine Entführer wenden. Ich bin bereit zu verhandeln und wünsche mit Ihnen in Kontakt zu treten, sodass wir diese Situation so schnell wie möglich zum beiderseitigen Vorteil beenden können.«

Dann setzte er sich erwartungsvoll auf die Bank. Wenn sie ihn gehört hatten, sollten sie bald reagieren. Sein Magen flatterte.

Er lauschte angespannt in die Tiefe des Schiffs, doch nur ein fernes Knacken drang an sein Ohr.

Jakes Magen knotete sich mit jeder Minute weiter zusammen. Er konnte nicht mehr still sitzen, stand auf und lief in der Zelle auf und ab. Keine Reaktion. Das hatte Methode. Fünf Schritte vor, Wenden, fünf Schritte zurück, Wenden. Wie schon zuvor wurde er einfach ignoriert. Er kam sich vor wie ein Stück Vieh!

Jake beschleunigte seinen Gang.

Endlich vernahm er Schritte. Er blieb stehen und legte lauschend den Kopf schräg. Richtig. Jemand näherte sich. In seinem Magen begannen tausend Ameisen zu krabbeln. Er holte tief Luft und stellte sich erwartungsvoll an die Tür.

Wenig später öffnete sie sich und gab den Blick auf die Krankenschwester frei. Ohne ein Wort bedeutete sie Jake, ihr zu folgen.

Jake gab sich einen Ruck und trat in den Gang. Rechts blockierten zwei Roboter den Weg. Die Schwester wendete sich nach links, führte ihn durch zwei Schleusen und bog in einen Seitengang. Er versuchte sich vorzustellen, wer seine Entführer waren. Jakes Hände wurden feucht. Vielleicht schlitzäugige Gesichter mit streng geschnittenen Uniformen oder ein hartgesichtiger Kerl im schwarzen Rollkragenpullover? Alternativ entstand vor seinem inneren Auge das Bild eines aalglatten Businesstyps im Designeranzug und im Hintergrund Bodyguards mit anschlagbereiten Maschinenpistolen.

Jake atmete schwer. Er hatte das Gefühl, auf einen Abgrund zuzulaufen, ja, dahin getrieben zu werden. Er spürte die Roboter hinter sich und zog den Kopf zwischen die Schultern.

Vor einem offenen Schott blieb die Schwester stehen und forderte Jake mit einer Handbewegung auf, hindurchzugehen.

Jake holte noch einmal tief Luft und trat steifbeinig hindurch. »Such dir eine aus«, rief sie ihm nach. Zischend schloss sich der Ausgang hinter ihm.

Vor ihm lag eine Halle, dessen linke Hälfte an die Turnhalle seiner Schule erinnerte. Bunte Linien und Markierungen verzierten den Boden. Klettergerüste überzogen die Wand und eine Nische beherbergte Sportgeräte. Der andere Teil sah aus wie das extravagant angelegte Tropenhaus in einem botanischen Garten, oder wie ein exklusives Erlebnisbad mit Schwimmteich, exotischen Pflanzen und Strandbar. Verwirrt blieb er stehen und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Jake glaubte, nicht richtig zu sehen: Um die Tische an der Bar schnatterte eine Horde – Frauen! Gute zwei Dutzend. Alle waren in Wickelgewänder gehüllt, in leuchtenden Farben, dünn wie ein Lufthauch. Gelegentlich nippten sie an langstieligen Gläsern, deren Inhalt ebenso bunt war wie ihre Garderobe.

Zu seinem Erstaunen wirkte die Atmosphäre völlig entspannt. Der schwere Duft von Parfüm in der Luft ließ ihn zu nur einem Schluss kommen: schon wieder Amüsierdamen!

Die Mädchen wurden plötzlich still und richteten ihre Blicke taxierend auf Jake.

Er gab sich einen Ruck und ging weiter. Keine Frau glich der anderen. Er musste lachen, als er an den Spruch seiner Mutter dachte: Jedes Töpfchen findet sein Deckelchen. Eine lange, vollbusige Blondine lehnte lässig an der Bar und verfolgte ihn mit ihren hellblauen Augen. Daneben erkannte er Manulana, die eher skeptisch dreinsah, wogegen die Wilde mit dem runden Gesicht bereit schien, sich wieder auf ihn zu stürzen.

Jake konnte nirgendwo Männer entdecken. Es war, als konzentrierten sich alle Frauen nur auf ihn. Aber keine machte Anstalten, auf ihn zuzugehen. Dennoch konnte Jake ihren stummen Lockruf spüren: Komm zu mir! Eine Stimme in seinem Inneren flüsterte, sich einfach gehen zu lassen, die Sorgen abzuwerfen und zu genießen. Es wäre hilfreicher, die Frauen auszufragen, hielt eine andere dagegen. Jake schlenderte auf sie zu. Die Blonde bewegte sich als Erste. »Darf ich dir einen Drink servieren?« Sie blickte Jake in die Augen und senkte langsam ihre Lider.

Sie wirkte … professionell. Jake räusperte sich und schaute sich nach den anderen Mädchen um. Er entdeckte ein schwarzes Augenpaar in einem dunklen Gesicht. Diese Frau schien ihn weniger einladend anzusehen. Er war nicht ihr Typ und sie war nicht versiert genug, es zu verbergen. Aus ihr konnte er vielleicht etwas herausbekommen. Kurz entschlossen ging er auf sie zu. »Hallo.«

Sie warf ihm einen Blick zu, der Bände sprach. »Möchtest du etwas trinken?«, fragte sie zögernd.

»Wenn Ihr Bier hättet?«

»Gerne«, sagte sie mechanisch. »Ich hole es dir. Wo möchtest du dich hinsetzen?«

Jake sah sich nach einem Platz um, wo sie ungestört wären. »Vielleicht dort am Teich?«

Sie senkte den Kopf in Andeutung eines Nickens. »Ich werde gleich zu dir kommen.«

Jake ließ sich auf einem geflochtenen Sessel unter einer Palme nieder. Kurze Zeit später brachte sie zwei Gläser und stellte sie auf den Beistelltisch.

Jake lächelte sie freundlich an. »Nimm doch Platz. Wie heißt du?«

Sie schlug ein Bein über und schob den Saum ihres leuchtend gelben Gewands über ihr Knie. »Ungasili.«

»Weißt du, wo wir hinfahren?«

Sie zuckte die Achseln. »Zurück nach Nelantis.«

Jake ließ den Blick durch den Saal schweifen. »Ich frage mich, wer der Chef von dem ganzen ist?«

Sie legte den Kopf schief und sah ihn befremdet an.

Was ging in ihr vor? Hatte er zu offensiv gefragt? Er nahm sein Glas. »Trink doch erst mal.«

Mit angewidertem Blick nahm sie einen Schluck.

Jake stutzte. »Du magst kein Bier?«

Sie zuckte leicht zusammen.

»Warum hast du dir nicht etwas anderes mitgebracht?«

Sie senkte den Blick. »Es ist höflich, zu trinken, was der Mann wählt.«

Er runzelte die Stirn. »Auch wenn es dir nicht schmeckt?«

Sie presste die Lippen zusammen. »Es ist der Wille der Meduse.«

Jake horchte auf. »Ist das euer Leiter?«

Sie hob das Kinn. »Es ist die Göttin.«

Jake blickte sie verdutzt an.

Sie spielte nervös mit ihren Fingern. »Willst du mich nun mitnehmen?«

Jake schaute auf. »Wohin? Ich kann hier nicht weg.«

»Zu dir«, sagte sie mit hölzernem Gesichtsausdruck.

Jake schüttelte den Kopf.

Ungasili schien verwirrt. »Warum hast du mich dann gewählt?«

»Ich wollte mit dir reden«, antwortete er wahrheitsgemäß.

Sie schaute ihn verständnislos an. Aber auch erleichtert.

Anscheinend waren die Frauen an der Bar dem Verlauf der Unterhaltung gefolgt, denn nun schoben sie sich heran.

»Du solltest eine von uns wählen«, sagte eine grazile Rothaarige, die sich geschickt vor die anderen schlängelte und ihn aufreizend von oben bis unten musterte.

Jake schüttelte ungläubig den Kopf. Wer wählte hier eigentlich wen? Unter den Frauen schien es eine Art Wettbewerb zu geben. Nicht sie standen, wie es die Schwester noch angedeutet hatte, zur Wahl – es sah ganz so aus, als ob er für die meisten von ihnen die Trophäe war. Sein Blick sprang von einer Frau zur anderen, bis er plötzlich an einem vertrauten Gesicht hängen blieb. Myriam saß verloren an einem Tisch in der hintersten Ecke. Ein Gefühl der Wärme breitete sich in ihm aus.

Sie schaute nicht herüber, betrachtete nur still ihre Hände. Sie wirkte traurig. Unwillkürlich glitt seine Hand in die Tasche seines Kittels, suchte nach dem zierlichen Ohrring. Dann stutzte er. Warum hatte sie sich isoliert? Mochte sie ihn etwa nicht? Vor ein paar Tagen hatte er in der Kabine einen völlig anderen Eindruck gewonnen. Und er hatte sich von ihr, ganz im Gegensatz zu den übrigen Frauen, respektiert gefühlt. Ob er sie verprellt hatte? Dabei war er sich auf einmal sicher, dass er sich mit ihr arrangieren konnte. Überrascht stellte er fest, dass ihn der Gedanke sogar erfreute.

Jake ging langsam zu Myriam hinüber und setzte sich ihr gegenüber. Sie blickte auf. Ein kleines Lächeln erhellte ihr Gesicht, ihre zierlichen Augenbrauen zogen sich fragend ein wenig nach oben, aber sie schwieg. Jake sah sie lange an. Dann zog er den Ohrring hervor und legte ihn auf den Tisch.

Sie begann zu strahlen. »Da ist er ja! Oh, ich hab schon alles wie verrückt nach ihm abgesucht. Paps hat ihn mir geschenkt.«

Sie legte ihre Hand auf seine und Jake spürte eine ebenso tiefe wie ungewohnte Vertrautheit. Myriam war tatsächlich der einzige Mensch auf diesem verdammten Schiff, der Herzenswärme ausstrahlte. Ihre Nähe fühlte sich so gut an. Er konnte den Blick nicht von ihr wenden.

»Danke, danke, danke!«, flüsterte sie. Ihre Augen leuchteten und Jake wäre in diesem Moment am liebsten darin versunken.

»Ich hab ihn in der Kabine gefunden«, sagte er und es irritierte ihn, dass seine Stimme heiser klang.

Myriam beugte sich über den Tisch und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich bin so froh, Jake. Dieser Ohrring ist etwas ganz Besonderes für mich. Ich hätte ihn nie ersetzen können.«

Jake räusperte sich. »Ich war nicht sehr nett zu dir, Myriam, es tut mir leid. Mir ging es nicht besonders gut.«

»Das habe ich mir schon gedacht«, antwortete sie. »Es macht nichts.«

Jake nahm ihre Hand. »Ehrlich gesagt, es wäre schön, wenn du mir Gesellschaft leisten würdest. Magst du mit mir kommen?«

Jake hätte schwören können, einen Anflug von Erleichterung in ihrem Gesicht zu sehen, als sie lächelte und nickte.


In der Kabine schickte sich Myriam an, ihre Kleider fallen zu lassen. Jake nahm sie bei den Händen. »Ich möchte, dass wir eine Vereinbarung treffen. Wir wollen Freunde sein, mehr nicht. Zumindest jetzt nicht. Ist das in Ordnung für dich?«

Myriam schaute ihm in die Augen, als hätte sie ein rätselhaftes Buch vor sich. Dann lief ein leises Lächeln über ihr Gesicht. »Ich glaube, ich verstehe.«

»Gut«, Jake machte es sich für die Nacht auf der Sitzbank bequem. Während er in den Schlaf sackte, spürte er ihren Blick, der ihn wie eine zärtliche Hand berührte.

Aber seine Träume waren bewegt: Um ihn herum erhoben sich schneebedeckte Gipfel. Die Gondel steckte fest und schaukelte im Wind. Dann stürzte sie. Jemand schrie. Schweißnass wachte er auf – aber das Gefühl des Fallens endete nicht. Ein Schwindelgefühl überkam ihn und die Pritsche schien sich unter ihm wegzudrehen. Dann presste es seinen Körper in die Polster. Erschrocken öffnete er die Augen. Die Zelle schien zu steigen, verharrte und kippte seitlich weg, sein Magen kribbelte. Dann wurde sein Körper schwer und es ging in einem Höllentempo nach oben. Irgendwo krachte es metallisch. Das Schiff stöhnte. Unregelmäßiges Sirren drang an sein Ohr, unterbrochen von statischem Rauschen.

Sturm.

Das musste ein mächtiger Orkan sein, dass er ein großes Schiff dermaßen beutelte. Jake krallte sich an der Pritsche fest und warf einen besorgten Blick auf das Bett neben ihm: Es war immer noch Myriam, die darin lag. Keine andere. Er atmete auf. Aber sie sah hundeelend aus. Sie hatte die Augen angstvoll aufgerissen und zitterte am ganzen Körper. Sie erinnerte ihn an ein Kaninchen, das der Fuchs in die Enge getrieben hatte.

Kurz entschlossen wartete Jake auf den nächsten Wellenberg. In dem kurzen Augenblick des Schwebens sprang er zu ihr und nahm sie in die Arme. »Es ist nur ein Sturm«, flüsterte er ihr beruhigend ins Ohr, so nah, dass seine Lippen die filigrane Silberfassung ihres Ohrrings berührten. »Er wird vergehen.«

So lagen sie, bis der Sturm abflaute, und sich ihr Zittern verlor.

»Solche Angst hatte ich noch nie«, gestand Myriam. Sie war blass und wirkte fahrig. »Bisher war die Fahrt so ruhig gewesen. Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich nicht mitgekommen.«

Jake spürte die Wärme ihres Körpers. Sie erregte ihn. Doch so weit wollte er es nicht kommen lasen. Er setzte sich im Bett auf. »Ist das deine erste Reise?«, fragte er sanft.

Sie nickte und sah so aus, als ob es auch ihre Letzte sein würde. Jake strich ihr tröstend übers Haar. Er sog ihren süßen Duft ein und plötzlich spürte er ihre zarten Hände auf seiner Haut. Pass auf, was du tust, warnte eine Stimme in ihm, doch er wollte nicht hinhören.

Das Zischen der Tür ließ ihn zusammenzucken. Erschrocken schaute er auf und erblickte die Krankenschwester mit ihren Robotern. »Alles in Ordnung?«

Die Ernüchterung traf Jake wie eine kalte Dusche. Er sprang aus dem Bett und lief auf die Schwester zu. »Ich möchte …« Das neuerliche Zischen der Tür, die sich direkt vor seiner Nase schloss, ließ ihn verstummen.

Er schlug frustriert gegen die Wand.

»Die Dienerinnen kümmern sich immer um uns«, sagte Myriam beschwichtigend. »Damit wir wissen, dass uns die Meduse nicht verlassen hat. Sie beschützt ihre Kinder.«

Schon wieder diese Meduse. Jake drehte sich herum. »Eure Göttin?«

Sie nickte.

Eine Ordensschwester also. Das erklärte wohl auch das kleine Abzeichen an der Schulter ihres Kittels, das ihn an die Silhouette eines Tintenfischs erinnerte. Sein Verdacht verdichtete sich. Hinter seiner Entführung steckte eine Sekte, die ihre Anhänger psychisch versklavte. Er schaute Myriam an. »Wie bist du nur auf dieses Schiff geraten?«

Sie lächelte. »Zu Hause war es mir langweilig geworden. Ich wollte etwas erleben. Anfangs versuchte mein Vater mich davon abzuhalten, aber schließlich hat er nachgegeben.«

Jake ging zu ihr und schlüpfte wieder unter die Decke. »Willst du mir nicht ein bisschen mehr über deinen Vater erzählen?«

Sie legte den Kopf schief und kicherte. »Weißt du, dass du meinem Paps ähnlich bist, Jake? Er ist anders, als die anderen Männer. Er kann im Handumdrehen zornig werden und wie der Donner grollen, aber bald verziehen sich die Wolken und die Sonne strahlt wieder aus seinen hellblauen Augen.«

»Er ist wohl sehr nett, dein Vater.«

»Oh ja! Und er erzählt immer seltsame Geschichten, die sich anhören, als kämen sie aus einer anderen Welt. Sie ließen mir schon als Kind keine Ruhe. ›Das wird noch einmal schlimm enden mit dir‹, hat mir meine Mutter prophezeit.«

Jake richtete sich auf dem Ellenbogen auf und sah ihr in die Augen. »So weit lag sie wohl nicht daneben.«

Myriam schmiegte sich an. »Ach was! Was soll ich mit den langweiligen Kerlen, die sie mir schickten? Kinder gebären? Ich hatte das Gefühl, etwas zu verpassen, ich wollte raus. Also meldete ich mich bei den Schiffen. Zuerst musste ich zur Ausbildung zu den Kleristen. Die waren sehr streng und vieles verwirrte mich, aber ich lernte fleißig und machte alle Tests. Schließlich bestand ich als Jüngste auch die Prüfungen.«

Jake spitzte die Ohren. Er fragte sich, was diese Kleristen ihr beigebracht hatten und was das für Tests waren. »Mussten die anderen Frauen auch eine Ausbildung machen?«

Sie nickte.

Ihre Erzählung warf eine Reihe Fragen auf. Jake fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Aber gleichgültig, ob er es nun mit einer Sekte oder Menschenhändlern zu tun hatte, er war sich sicher, dass Myriam nichts von deren miesen Geschäften wusste. Vielmehr musste er befürchten, dass die Entführer Myriam etwas antun würden, wenn sie sich zu unbedachten Antworten verleiten ließ. Er atmete schwer und beschloss, sie nicht weiter auszufragen.

»Das hast du großartig gemacht! Sicher sind deine Eltern sehr stolz auf dich.«

Myriams Augen begannen zu strahlen. »Ja, ich glaube schon.«


Auf den Überwachungsmonitoren war kaum eine Bewegung zu sehen. Die beiden Beobachter streckten sich auf ihren Sitzen. »Es scheint so, als hätte es sich hinreichend beruhigt«, stellte der eine fest.

»Ich traue ihm nicht. Wenn Sie mich fragen, verstellt es sich, um uns aus der Reserve zu locken.«

»Genau das finde ich ja so spannend, mein Bester. Dieses Männchen ist sehr intelligent. Es fasziniert mich, ihm zuzuschauen. Lassen Sie uns sehen, wie er auf den zweiten Teil des Programms reagiert.«

Kapitel 4


Mittags öffnete sich unerwartet die Zellentür. Myriam fuhr freudig auf: »Wir haben Ausgang.«

Jake hob ungläubig den Blick. Der Gang blieb leer. Vermutlich hatte sich seine gute Führung schon bezahlt gemacht. Neugierig stand er auf und schaute in den Korridor. Es war niemand zu sehen. Jakes Herz pochte. Während Myriam den Weg nach links einschlug, wandte er sich in die andere Richtung.

»Hier geht es entlang«, rief sie.

»Gleich«, antwortete er und lief weiter.

Er kam nicht weit. Die nächste Schleuse war verschlossen. Sackgasse. Ende. Jake unterdrückte einen Fluch. Die Entführer ließen nur einen Weg offen und der endete in der bekannten Halle. Zelle mit Freilauf.

Neben der Strandbar war diesmal ein Buffet aufgebaut. Die Frauen drehten sich um und musterten Jake. Instinktiv nahm er Myriams Hand. Der Effekt verblüffte ihn: Die Mädchen wendeten sich augenblicklich den Speisen zu und schenkten ihm keine weitere Beachtung.

Am Buffet fand er zu seiner Überraschung unter all den fremdartigen Nahrungsmitteln Ribeye-Steak, gekochte Maiskolben und gebackene Kartoffeln mit Sour Cream. Es weckte Bilder aus seiner Jugendzeit: Zum vierten Juli, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, war seine Familie immer zu Onkel Will nach Minnesota gefahren. Jake konnte ihn noch vor sich sehen, wie er die mächtigen Fleischstücke auf dem Grill wendete und heißes Fett in der glühenden Holzkohle zischend verdampfte.

Hitze stieg in Jake hoch. Sein Lieblingsessen hier zu finden, konnte kein Zufall sein. Man hatte ihn wohl vorher schon ausspioniert. Jake stellte seinen Teller ab. Sogleich hielt ihm Myriam eine Frucht hin, die wie eine warzige Melone aussah. Das Fruchtfleisch glich einem blauen Schwamm.

»Wamlomar«, erläuterte sie.

Das Ding sah aus wie die Kreuzung aus einem überdimensionalen Pockenvirus und einem Psychopharmakon. Jake schüttelte den Kopf.

»Etwas Süßeres gibt es in ganz Njamingloh nicht«, lockte sie.

Er sah sie zärtlich an. »Doch, dich.«

Myriam lachte und ehe er sich versah, schob sie ihm ein Stück zwischen die Zähne, dabei sah sie ihn mit kindlicher Erwartung an.

Jake seufzte und begann zu kauen. Das Fruchtfleisch prickelte auf der Zunge wie Brausepulver und schmeckte nach Marzipan.

In der Nacht hielt er es dann kaum noch aus. Mit aller Macht drängte es ihn, zu Myriam unter die Decke zu schlüpfen. Doch ein Gedanke törnte ihn ab, wie eine kalte Dusche: Wie viele Männer würden an den Monitoren der Überwachungskameras sitzen und zusehen?


Ein Roboter brachte Frühstück. Es schien Jake, als musterte er ihn einen Augenblick, bevor sich die Tür wieder schloss. Myriam erzählte von zuhause. Über Kinder, endlose Strände, Berge und die Stadt. Es schien keine Gewalt zu geben und die Göttin strahlte über einer friedlichen Kolonie. Er aber fragte sich, was wirklich in diesem Njamingloh los war. Gehirnwäsche? Massenmanipulation? Jake bekam feuchte Hände. Er würde es bald herausfinden.


Am Mittag, als er von der Halle zurückkam, die von Myriam die Messe genannt wurde, stand in seiner Zelle ein zweites Bett. Jake starrte darauf, als sei es eine Fata Morgana. Dann schlug er sich vor Freude auf die Schenkel: Das war ein Triumph über seine Entführer! Sie hatten eingesehen, dass sie ihn durch ihre Masche nicht kleinkriegen konnten! Er war standhaft geblieben! Im Überschwang riss er die überraschte Myriam in die Arme und wirbelte sie einmal fröhlich im Kreis herum.


In der Beobachtungskanzel wurden die Geräte auf Nachtlichtverstärkung gestellt. »Das hat ja hervorragend geklappt! Es hat den Köder geschluckt.«

»Exzellent! Dann können wir Phase drei einleiten.«

Der Andere wirkte alarmiert. »So früh? Sie wissen, dass das seine Gefahren birgt?«

»Ich denke, ich werde es riskieren.«

Kapitel 5


Die Zellentür öffnete sich früher als sonst. Jake suchte den Auslauf. In der Messe war das Buffet noch nicht aufgebaut, einige der Frauen schwammen nackt im Teich. Doch das war es nicht, was Jakes Aufmerksamkeit anzog: An einer Drückbank in der Mitte der Halle schwitzte ein muskelbepackter Südländer unter mächtigen Hanteln.

Jake blieb wie angewurzelt stehen. Er war also nicht der einzige Gefangene.

Mit klirrendem Scheppern ließ der Mann die Gewichte in die Halterung fallen. Ohne aufzusehen, rief er mit schwerem südamerikanischen Akzent: »Kannst du mir noch zwei Kilo auflegen?«

Jake sah sich um und wunderte sich, mit wem der Fremde redete.

Der hob den Kopf und entdeckte Jake. »Oh, ein Mann.« Grinsend setzte er sich auf. »Pedro. Pedro Gonzales.«

Jake runzelte die Stirn. »Angenehm. Jake Forrester.« Er schüttelte flüchtig die dargebotene, riesige Hand. »Gehören Sie hier dazu?«

Behände sprang Pedro auf. Er reichte Jake bis zum Kinn, war aber doppelt so breit wie er. »Das ist aber schön, Jake. Lass uns einen trinken.« Auf dem Weg zur Bar kam er am Teich vorbei, wo er geschwind sein Gewand abstreifte und zu den Frauen ins Wasser sprang.

Verwundert sah Jake ihm nach, wie er eine Bahn schwamm, dabei eine Frau am Kinn kraulte und eine andere neckisch am Haar zupfte. War er vielleicht ihr Bewacher? Mit seiner unbefangenen Art und seinem herzlichen Lachen passte er allerdings nicht zu dem Bild, das Jake von Mädchenhändlern hatte.

Pedro stieg wieder aus dem Becken und sogleich kam eine Frau und reichte ihm ganz selbstverständlich einen Kittel. Er warf ihn über, packte Jake am Arm und schob ihn zur Bar. »Trinkst du Tequila?« Ohne eine Antwort abzuwarten, schnipste Pedro mit dem Finger. Eine der Frauen beeilte sich, seinem Wunsch nachzukommen. Der Mann war jedenfalls der Macker hier.

Jake ließ sich auf einem Barhocker nieder und fixierte Pedro. Der kämmte sich sein nasses schwarzes Haar mit den Fingern zurück, wandte ihm sein rundes Gesicht zu und lächelte gutmütig. »Wie kommst du hier her, Jake? Americano?«

Die Frage warf Jake aus dem Konzept. Ein Entführer würde so etwas nicht fragen. »Ja, ich bin Amerikaner«, sagte er verhalten.

»Ah, bueno.« Pedro grinste und griff in eine Schale, die neben ihm auf dem Tresen stand, ließ etwas Salz daraus auf seinen Handrücken rieseln und leckte mit spitzer Zunge daran. Jake erinnerte sich an das Trinkritual, das seine Kommilitonen auf dem College gepflegt hatten. Und auch an die fette Mottenlarve, die, als Qualitätsbeweis für den Inhalt, in der Tequilaflasche schwamm. Ihm wurde flau im Magen. Pedro leerte sein Glas in einem Zug und biss genussvoll in einen Zitronenschnitz. Jake zog es die Schleimhäute zusammen. »Ich glaube, ich hätte besser einen Manhattan bestellen sollen.«

»Ja, mein Freund, sag’s der Kleinen!« Pedro nickte zu einer Frau hinüber, die sich hinter der Theke unübersehbar langweilte. »Die sorgt dafür, dass dein Heimweh weggeht.« Seine Pranke landete auf Jakes Schulter. »Und das hast du nötig, du siehst traurig aus.«

Jake schaute ihm forschend in die Augen. »Um deine Frage zu beantworten – wie ich hierher gekommen bin, weiß ich nicht. Ich bin von einem Gletscher abgestürzt, ansonsten habe ich keine Erinnerung.«

Pedro pfiff durch die Zähne: »Ja, die Gletscher sind gefährlich! Bei uns holen sie manchmal auch Eis aus den Anden herunter. Einige überleben das nicht.«

»Ich hole kein Eis«, grinste Jake. »Ich bin Astrophysiker und suche auf den Gletschern nach Meteoritenspuren.«

Pedro nickte und ließ den Blick langsam an ihm auf- und abgleiten. »Un cientifico. Dachte mir schon, dass du lieber mit dem Kopf arbeitest.«

Jake verspürte ein leises Ziehen im Magen, schluckte aber seinen aufkommenden Zorn hinunter. Er wusste, dass er in diesem Punkt etwas empfindlich war. Und Pedro schien eher zu der groben Sorte zu gehören, die es aber im Grunde gut meinte.

Er nippte an seinem Cocktail. »Wissen Sie, wo wir sind?«

Pedro winkte nach der Frau für einen zweiten Drink.

»Auf einem Schiff, denke ich. Erst hab ich gedacht, ich bin tot. Und dann kamen die Frauen. Madre Mia! Dann hab ich gedacht, ich muss versehentlich bei den Moslems im Himmel gelandet sein. Doch jetzt glaube ich, dass es nach Amerika geht. Ja, Jake, du bist sicher bald wieder zuhause.«

»Kommt es Ihnen denn hier nicht komisch vor?«, hakte Jake nach.

»Komisch? Nein! Kolumbien ist komisch. Kein Geld. Keine Arbeit. Ich bin Fischer. ›Jetzt reicht’s‹, hab ich mir gesagt und bin abgehauen mit Wasser und Proviant. Dann kam der Sturm. Boot futsch, ich untergegangen. Ende. Bin dann hier wieder aufgewacht.«

Ein einfacher Mensch. Das Ganze wurde noch rätselhafter. Jake hatte bisher angenommen, wegen seiner besonderen Kenntnisse entführt worden zu sein. Und jetzt sah es so aus, als ob man auch einen schlichten Fischer eingefangen hatte – einen, der sicherlich über kein Geheimwissen verfügte. »Warum glauben Sie, dass es nach Amerika geht?«

»Ah. Roboter und schöne Señoritas!« Er zwinkerte.

Das war also das Image Amerikas im Ausland. Fortschrittliche Technologie und heiße Girls. »Wenn das Schiff nun nach China oder sonst wohin fährt?«

»Egal, alles besser als Kolumbien!« Grinsend klopfte Pedro Jake auf die Schulter. »Sie können von mir aus zum Mars fahren. Solange ich genug zu essen und Señoritas habe, ist es mir gleich.«

Brot und Spiele. Jake schüttelte den Kopf. Pedro hatten sie schon in der Hand.

»He, Americano. Warum lachst du eigentlich nie? Gefällt es dir hier nicht?«

Was sollte Jake ihm sagen? Der Mann würde es doch nicht verstehen. »Ich habe Angst, dass ich nicht mehr nachhause komme.«

Aus mitfühlenden Bernhardineraugen sah Pedro ihn an. »Hast du Familia?«

Jake starrte ins Leere. Zwei Jahre war es her. Cape Cod. Die Sonne brannte vom Nachmittagshimmel auf das windschiefe Strandvolleyballnetz. Liljas glänzendes, goldbraunes Haar flatterte wie ein Banner, als sie nach dem Ball hechtete, traf und sich abrollte. Trockener Sand heftete sich an ihre schwitzende Haut, dass sie wie ein paniertes Hühnchen aussah. Lachend sprang Jake auf sie zu, versuchte sie zu greifen. Sie warf ihm Sand entgegen und stellte ihm ein Bein. Kichernd rangen sie wie kleine Kinder. Sie waren erst wenige Wochen verheiratet.

Jake ließ den Atem gehen und schüttelte langsam den Kopf. »Nein, ich habe keine Familie. Aber ich habe ein ungutes Gefühl.«

Schon lachte Pedro wieder. »Du bist Americano und hast Geld. Genieße die Reise, egal wohin sie führt. Dann kaufst du dir eine Rückfahrkarte.«


Jake fand seine Zellentür unverriegelt. Er schien jetzt Freigänger zu sein, und als hätte dieses winzige Stückchen Freiheit ein Tor aufgestoßen, fluteten Erinnerungen von Zuhause sein Bewusstsein. Der Nachbarsjunge Ron tauchte vor seinem inneren Auge auf. Jake spürte einen Stich im Herzen. Wer würde ihm nun die Matheaufgaben nachsehen? Jake schüttelte den Kopf. Ronny käme allein zurecht, aber es wurde Jake schlagartig klar, dass er die unendlich vielen Fragen des Jungen vermisste. Er seufzte wehmütig und seine Gedanken schweiften zu der pummeligen Sekretärin Sherry, der Mutter des Forschungsinstituts. Sie machte sich sicher große Sorgen. Rivale Paul hingegen würde dem Institutsleiter Prof. Charles E. Ditherberry, III. in den Ohren liegen, um die Finger an Jakes Projekt zu bekommen. Jake knirschte mit den Zähnen. Dabei war er so kurz vor dem Durchbruch zu revolutionären Erkenntnissen gewesen! Die durften nicht in die falschen Hände geraten. Jake warf einen Blick auf die unversperrte Zellentür. Sie kam ihm wie eine Einladung vor, eine Chance zur Flucht.

Noch in derselben Nacht stand er leise auf und zog sich im Dunklen an. In den Gängen warf die dämmrige Nachtbeleuchtung lange Schatten. Jake tastete sich vorwärts, die Sinne angespannt. Nur der Weg zur Messe stand offen.

Im milchigen Licht der Funzeln wirkte der Raum nebelig, die Konturen der Einrichtungen verschwommen. In den ersten unverschlossenen Gang schlich er hinein. Er war noch nicht weit gekommen, da ließ ihn ein jähes Knacken zusammenfahren. Begleitet von leisem Zischen schob sich eine Kabinentür auf. Jake drückte sich an die kalte Wand. Gegen das blendende Licht zeichnete sich eine vollbusige Figur mit Wespentaille ab. Die Blonde aus der Messe.

Jake atmete auf.

Sie lehnte sich an den Rahmen und brachte ihr Profil zur Geltung. »Hast du endlich genug von der Kleinen?«, hauchte sie. »Komm rein.«

Dazu war er nicht gekommen. Aber Erklärungen wollte er auch nicht abgeben. »Ich suche Ungasili«, log er.

»Zu ihr kannst du nachher noch gehen. Die Nacht ist lang.«

»Du willst doch nicht, dass ich sie enttäusche? Sag mir lieber, welches ihre Kabine ist.«

»Ich zeige es dir«, sagte sie und ließ ihr Gewand heruntergleiten. »Danach.«

Jake musste an Myriam denken und wandte den Blick ab. »Ich werde es selber finden. Pass du lieber auf, dass du dich nicht erkältest.«

Sie schnurrte wie eine Katze. »Etwas Wärme könnte mir jetzt guttun.«

»Dann mach die Tür zu. Du stehst im Zug.«

Die Haare flogen, als sie ihren Kopf herumwarf und in der Kabine verschwand.

Jake wartete noch einen Moment, dann schlich er weiter, fand aber die Schleusen verschlossen. Auch hier gab es keinen Weg nach draußen.

Enttäuscht ging er zurück zur Messe und ließ sich in einen Sessel fallen. Da kam ihm eine Idee.


Am Morgen wandte er sich an Myriam. »Glaubst du, sie haben etwas dagegen, wenn ich in der Messe schlafe?«

Sie verzog das Gesicht. »Soll ich in meine eigene Kabine zurückgehen?«

Jake wollte Myriam nicht kränken. Aber er konnte ihr seinen Plan nicht unterbreiten, ohne dass es abgehört wurde. Er entschied sich für eine Notlüge. »Ich schlafe so gerne am Wasser.«

Ein freudiges Lächeln flog über Myriams Gesicht. »Ich auch! Oh, das ist schön! Da komme ich mit.«

Jake nahm sie in die Arme. Wie gut sie sich anfühlte. Mit ihr zusammen würde es mehr Spaß machen, gewisse Gewohnheiten auszuspionieren. Obendrein verschleierte ihre Gesellschaft seine Absicht.

Die Übernachtungen am Pool sprachen sich schnell herum. Andere Frauen gesellten sich zu ihnen. Myriam war begeistert und organisierte regelmäßige Beach-Partys. Die Frauen kicherten und giggelten die halbe Nacht, bis es Jake auf die Nerven ging. Was er wissen wollte, hatte er nach wenigen Tagen herausbekommen. Nun fehlte ihm nur noch eine günstige Gelegenheit.

Er wartete.


Die Tage wurden zur Woche. Die Schwester arrangierte Ballspiele und Sportwettkämpfe. Abends führten die Frauen Tanz- und Theaterstücke auf. Die waren meist erotischer Natur und nagten schmerzlich an Jakes Widerstand. Pedro hatte keine Probleme. Jeden Abend kam eine andere Frau zu ihm. Das schien niemanden zu stören. Ganz im Gegenteil. Neue Frauen kamen in die Messe, dafür vermisste Jake andere.

»Warum kommen sie nicht mehr?«, fragte er Myriam eines Abends.

»Sie sind mit Kind«, antwortete sie und lächelte.

»Nehmen sie denn keine Verhütungsmittel?«

Myriam runzelte die Stirn. »Was ist denn das?«

»Na, damit eine Frau nicht schwanger wird.«

Myriam sah ihn verständnislos an. »Wozu soll das gut sein?«

Es verschlug Jake die Sprache. Das war absurd. Zugegebenermaßen konnte es ja auch bei Amüsierdamen immer mal einen ›Unfall‹ geben. Aber es fehlte mindestens ein halbes Dutzend der Frauen. »Nimmst du auch nichts, um eine Schwangerschaft zu verhindern?«

»Warum?«

»Na, ich dachte, du willst, dass ich …«

Sie lächelte.

»Und wenn du dann ein Kind von mir bekommst?«

Sie schaute auf und sah Jake in die Augen. Die Antwort konnte ein Idiot lesen.

Jake strich ihr sanft übers Haar. Mit einem Kind wäre er gebunden. Es war höchste Zeit, seinen Fluchtplan in die Tat umzusetzen. Jake grübelte, wie er Myriam mitnehmen könnte. Die Sache war riskant. Und er wollte sie auf keinen Fall gefährden. Schweren Herzens entschied er sich, allein loszuschlagen.


Am Abend warf Jake während der Poolparty immer wieder verstohlene Blicke zur Schleuse. Bald würde die Schwester ihren Rundgang machen. Jake zog sich demonstrativ gähnend von der Gruppe am Teich zurück. Auf einem Liegestuhl in der Nähe der Schleuse stellte er sich schlafend. Sein Plan war unausgegoren, dessen war er sich bewusst. Er könnte auf Wachen treffen oder durch eine verriegelte Tür aufgehalten werden. Aber eine Vision brannte sich in seine Gedanken und ließ sich nicht vertreiben: die Rettungsboote. Vielleicht hatte es keinen Zweck, aber die waren seine einzige Chance.

Er musste nicht lange warten, bis auf der anderen Seite der Schleuse Schritte ertönten. Alle Sinne erwachten. Seine Muskeln spannten sich. Beim ersten Zischen ließ er sich vom Stuhl rollen und spurtete los. Noch bevor sich die Tür vollständig geöffnet hatte, schlüpfte er hindurch. In seinem Schwung stieß er die Schwester zur Seite und hechtete in den Korridor. Er bog in einen Seitengang ab und rannte. Noch einmal fand er einen Quergang. Der endete an einer Wand aus Glas, dahinter befand sich Wasser. Sackgasse. Zurück!

Weit kam er nicht.

Seine Nerven begannen zu brennen. Er schlug der Länge nach auf den Boden. Unfähig sich zu rühren, lag er auf dem feuchten Metall. Wie im Nebel sah er die Schwester mit den zwei Robotern auf sich zukommen. Sie stießen ihn den Gang zurück wie einen Sack Kartoffeln. Meter um Meter. Jeder Stoß nahm ihm fast die Besinnung.

Endlich lag Jake wieder in der Messe. Sie ließen ihn mit seinen Schmerzen allein. Seine Glieder zuckten und wollten nicht gehorchen. Jake übergab sich.

Erst gegen Morgen gelang es ihm, in seine Zelle zu kriechen. Mit Mühe erklomm er sein Bett. Dort blieb er erschöpft liegen. Er spürte, wie jemand eine Decke über ihn zog, und ein warmer Körper sich an ihn schmiegte. Ganz langsam tauchte sein Hirn aus dem Meer von Schmerzen. Elektroschocks, dachte er. Dann wurde es schwarz um ihn herum.

Er erwachte mit immer noch schmerzendem Schädel. Es würgte ihn, aber er hatte schon alles von sich gegeben. Keuchend öffnete er die Augen und blickte in Myriams bleiches Gesicht. Jake erschrak. »Was ist denn los, Kleines?« Sein Rachen war rau wie Sandpapier.

»Das darfst du nicht machen.«

Jake ließ den Kopf wieder in die Kissen sinken. Sie sorgte sich um ihn. Das fühlte sich so gut an, dass er ein schiefes Lächeln zustande brachte. »Ich wollte doch nur einmal sehen, was dahinter liegt«, antwortete er matt.

»Dabei kannst du verschollen gehen«, sagte Myriam mit bebender Stimme.

Jake sah sie verständnislos an.

»Verschollene kommen nicht mehr zurück«, flüsterte sie.

»Aber ich bin doch hier.«

Sie klammerte sich fest an ihn und drückte ihr Gesicht an seine Brust: »Versprich mir, dass du das nie wieder tust.«

Jake war gerührt.


Die Beobachtungsmonitore wurden abgeschaltet. »Das war eine absolute Meisterleistung von Ihnen!«

»Vielen Dank für das Lob. Jahrelange Erfahrung. Am Ende werden sie immer zahm.«

Kapitel 6


Jake befürchtete, den Rest der Reise als Strafe für seinen Ausbruchsversuch in seiner winzigen Zelle eingesperrt verbringen zu müssen. Wider Erwarten ließ sich die Tür öffnen. Statt Erleichterung keimte Misstrauen in ihm auf. Lastende Ungewissheit trieb ihn in die Messe.

Dort saß Pedro an einem der Tische. »Amigo, was war denn das für ein Manöver gestern Nacht! Du wolltest wohl ausreißen?«

Jake knirschte mit den Zähnen. »Sie haben mich erwischt.«

Pedro leerte seinen Tequila. »Du bist verrückt, Gringo.«

»Stört es dich gar nicht, eingesperrt zu sein?«

»Wenn wir an Land sind, lassen sie uns raus. Wirst sehen. Aber warum soll ich raus? Ich muss hier nicht arbeiten, muss nichts bezahlen.« Er schnipste mit dem Finger und hielt sein leeres Glas hoch. Sofort brachte eine der Frauen ein Volles. Sie bückte sich über den Tisch und gewährte tiefe Einblicke in ihr Dekolleté. Pedro genoss es und machte sich keine Gedanken darüber. Ein glücklicher Mensch. Jake beneidete ihn.

»Macht dich das nicht stutzig? Nichts ist umsonst.«

Pedro zuckte die Achseln. »Ich werde arbeiten. Hart arbeiten. Es macht mir nichts aus. Solange sie zahlen.«

»Aber gerade hast du gesagt, dass du froh bist, nicht arbeiten zu müssen!«

»Du machst alles so kompliziert! Siesta gut. Arbeit auch gut. Alles, wenn es kommt.«

Jake seufzte. So ein Gemüt hätte er auch gerne. »Lass uns ein bisschen ringen«, schlug er vor. Dabei kam er immer auf andere Gedanken. Pedro war zwar viel stärker, aber Jake hatte den dritten Dan in Taekwondo und war flinker. Meist endeten ihre Kämpfe unentschieden.

Als Jake am Abend in seine Kabine trat, bemerkte er Myriams traurigen Blick. »Was ist los, Kleines?«

»Wir werden bald zuhause sein.«

»Freust du dich denn nicht darauf?«

Sie nickte matt.

»Würdest du denn lieber auf dem Schiff bleiben?«

Sie schüttelte den Kopf, aber ihre Augen hingen an ihm und darin war tiefe Sehnsucht zu lesen.

Jake nahm sie sanft in den Arm. Aber die drohende Ungewissheit, die vor ihm lag, zehrte an seinen Nerven. »Du hast doch deine Eltern und Geschwister. Freust du dich nicht, sie wiederzusehen?«

Sie bedachte ihn mit einem Blick, der alles sagte.

Er seufzte. »Wenn sie mich lassen, kann ich dich ja besuchen.«

Sie sah ihm tief in die Augen und was sie darin fand, schien ihr zu gefallen. Ihre Laune hellte sich sichtbar auf. »Wenn du kommst, zeige ich dir unseren schönsten Strand.« Sie lächelte verschmitzt. »Wir gehen schwimmen und danach stelle ich dich meinen Eltern vor.«


Eines Tages änderte sich das Hintergrundgeräusch. Erst nahm Jake es gar nicht wahr, so sehr hatte er sich an den Maschinenlärm gewöhnt. Zuerst vermeinte er eine merkwürdige Leere zu spüren, bis ihm bewusst wurde, dass das Sirren fehlte. Dafür stellte sich ein tiefes Brummen ein. Jake vermutete, dass die Antriebsleistung verändert worden war. Sie waren bestimmt in der Nähe des Hafens. Aufregung packte ihn – und Furcht.

Aber die übliche Routine ging weiter und er glaubte schon, sich geirrt zu haben. Doch am dritten Tag kam die Schwester mit vier Robotern nach dem Mittagessen in die Messe.

»Alle in ihre Quartiere«, befahl sie. »Du auch!« Dabei deutete sie mit spitzem Finger auf Myriam.

Wie eine Herde Schafe sammelten sich die Frauen und strebten in den Gang zu ihren Kabinen. Myriam ging als letzte und schaute Jake fragend an.

»Was ist los?«, fragte Jake die Schwester.

»Sicherheitsvorkehrungen für das Anlegemanöver. Ich bitte Sie, sich auf Ihrer Koje auszustrecken.«

Jake hob eine Braue. »Ist das nicht ein wenig übertrieben?«

»So sind die Bestimmungen. Gehen Sie unverzüglich in Ihre Kabine.«

Als ob die Roboter ihren Worten Nachdruck verleihen wollten, drängten sie Jake und Pedro bis zu ihren Zellen.

»Hinlegen«, schnarrte eine Maschine und deutete mit einem Robotarm auf das Bett.

»Du Blechdose kannst reden? Kannst du mir auch erklären, was hier vor sich geht?«

»Hinlegen«, schnarrte der Roboter noch einmal und hob einen zweiten Arm. Jake spürte eine unsichtbare Kraft, die sich wie eine Faust um ihn legte und aufs Bett drückte. Instinktiv stemmte er sich dagegen. »Was soll das, du verdammte Konserve?«

Unbeeindruckt zog sich der Roboter zurück, die Tür glitt zu. Jake lag wie in Acryl eingegossen. Er versuchte sich freizuwinden, aber dann fing das Ruckeln an. Die Schiffshülle ächzte und stöhnte, als wollte sie auseinanderbrechen. Irgendetwas lief schief. Jake stemmte sich erneut gegen die unsichtbaren Fesseln. Sein Herz raste. Die Stöße wurden zu Sprüngen. Jake wurde bewusst, dass er ohne die merkwürdige Fesselung wie ein Spielball in der Kabine herumgeschleudert worden wäre. Der Atem wurde ihm aus den Lungen gepresst und ein Gefühl des Fallens ließ ihn schwindeln. Unvermutet riss es das Schiff wieder in die Höhe wie ein Flugzeug in schweren Turbulenzen. Jake wollte es den Magen umdrehen. Nur ein einziges Mal in seinem Leben hatte es ihn so durchgeschüttelt: auf jenem denkwürdigen Flug mit seiner kleinen Cessna von Boston zum Brookhaven National Laboratoy auf Long Island. Damals hatte er sich gewünscht, nie den Pilotenschein gemacht zu haben. Als er endlich angekommen war, wollten ihn seine Beine kaum noch tragen und alles, sogar die Handschuhe, waren klatschnass geschwitzt.

Aber das hier war schlimmer.

Endlich ließ das Bocken nach, reduzierte sich zum Rütteln und ging langsam in ruhige Bewegungen über, bis auch diese aufhörten. Dann fuhren alle Geräusche runter. Die Maschinen und Aggregate erstarben. Es wurde still. Jake atmete durch. War das verdammte Schiff durch eine Monsterwelle gefahren? Jedenfalls hatten sie gewusst, dass es rau werden würde, und hatten ihn angeschnallt. Jake stemmte sich erneut gegen die unsichtbare Kraft und endlich gab sie nach, zäh zwar, als ob die Luft um ihn herum die Konsistenz von Gummi hatte, aber es gelang ihm, sich aufzusetzen.

Draußen wurden Schritte laut. Die Tür öffnete sich und die Schwester erschien, flankiert von zwei Robotern.

»Wir sind angekommen«, sagte sie und trat zur Seite.

Ein Roboter blockierte hinter ihr den Gang zur Messe. Der andere schwebte nach rechts. Mit einer Geste wies sie Jake an, diesem zu folgen. Eine Mischung aus Angst und Neugier erfasste Jake, als er hinter der Maschine durch Gänge, Schleusen und über Treppen lief. Türen öffneten sich vor dem Roboter und schlossen sich hinter ihnen.

Jake blickte sich nach Myriam und den Frauen um, konnte sie aber nirgends entdecken. Sie würden hier doch auch von Bord gehen? Oder hatten sie einen anderen Zielhafen? Auch von Pedro war nichts zu sehen. Ungewissheit legte sich wie eine Schlinge um Jakes Brust.

Frische Luft strömte herein und trug den typischen Geruch von Seeluft mit sich. Feucht, warm und salzig. Tropisch bis subtropisch, vermutete Jake. Er versuchte sich vorzustellen, wo der Hafen liegen könnte – und auf welchem Kontinent. Wellenrauschen drang an sein Ohr, lange Wellen, die sich an Pier und Schiffswand brachen.

Durch eine offene Luke stieg er auf eine metallene Gangway. Lila Licht blendete ihn, dass er die Augen schließen musste. Benommen blieb er stehen. Ihm schwindelte. Instinktiv hielt er sich mit einer Hand am Geländer fest, es fühlte sich an wie Kunststoff, schien aber schwer wie Eisen.

»Weiter!«, forderte ihn die Schwester auf. Ihre Stimme war fest, aber nicht unfreundlich.

Blinzelnd öffnete Jake die Augen und sah eine riesige Hafenanlage im Abendlicht vor sich liegen. Zumindest hatte das Licht die Farbe des Abends. Doch die Schatten waren kurz, wie am Mittag. Verwundert blickte er zum Himmel. Bevor er erneut die Augen geblendet schließen musste, erkannte er zwei Sonnen im Zenit. Eine rot, die andere blau.

Kapitel 7


»Welcher von ihnen ist es, Schwester Arunda?« Gura Limka schritt energisch neben der jungen Kleristina durch den langen Korridor.

»Novize Barthelm, Gura«, antwortete diese mit maskenhafter Miene. »Er lässt sich nicht fallen.«

»Hat er das volle Programm absolviert?«

»Bis zum Ende.«

»Ist er ansprechbar?«

»Ich denke, er hat sich so weit erholt. Zelle 6AL2Z. Wir sind da.«

Die Sensoren erkannten Gura Limka und entsperrten den Verschlussmechanismus der Tür.

»Danke, Schwester. Warten Sie draußen.«

Gura Limka trat in die düstere Novizenkammer. Zwei Schritte breit, vier Schritte tief. Auf dem Bett kauerte Barthelm in seiner weißen Novizenkutte und schaukelte seinen Körper vor und zurück. Vor und zurück. Rote Striemen überzogen Arme und Beine und Gura Limka wusste, dass der Rest seines Körpers mit den gleichen Zeichen der Strafe der Meduse gekennzeichnet war. Mit stumpfen Augen starrte er vor sich hin. Er blickte auch nicht auf, als sie eintrat und sich auf den einzigen Hocker am Fußende des Bettes setzte.

»Barthelm«, sprach sie ihn sanft an.

Der presste beide Fäuste an die Schläfen. »Ich kann es nicht. Ich kann es nicht«, wimmerte er und schaukelte stärker als zuvor.

»Barthelm, was ist es, dass du die Meduse nicht einlassen willst?«

»Ich will doch. Mit all meiner Kraft.«

»Irgendetwas in dir stellt sich gegen sie. Sag es mir Barthelm. Ich will dir doch helfen.«

»Ich kann nicht«, schluchzte er.

»Du musst es offenbaren. Nur so kannst du geläutert werden. Barthelm, vertraue mir.«

Barthelm schaukelte weiter. Stierte in die Leere. Endlich flüsterte er: »Es ist so widerlich. Wie schleimige Finger schlängelt sich etwas in meinen Kopf und will mich daraus vertreiben. Ich kann nicht.«

»Mach dir keine Sorgen, Barthelm. Wir haben noch ein letztes Programm für dich, dann hast du es geschafft. Es wird noch nicht einmal weh tun.« Ein Grübchen zeigte sich auf ihrer Wange, als sie ihn anlächelte.

Der junge Mann schaute auf. Hoffnung schimmerte in seinen geröteten Augen. »Wirklich?«

»Vertraue mir.« Gura Limka stand auf »Entspann dich, Barthelm. Alles wird gut«, versicherte sie ihm, verließ die Zelle und schloss die Tür.

Draußen wendete sie sich an sie Schwester. »Eliminieren Sie 6AL2Z.«

»Wie die Meduse wünscht«, antwortete diese mechanisch.

Kapitel 8


Jake traute seinen Augen nicht. Noch einmal blinzelte er zum Himmel. Zwei Sonnen. Unmöglich.

Alle Kraft verließ ihn. Er krallte sich an der Reling fest. Sein Herz hämmerte wie verrückt in seiner Brust.

»Wo sind wir?«, stöhnte er gepresst.

»In Njamingloh. Gehen Sie weiter«, drängte die Schwester.

Jakes Beine zitterten. Nervös wischte er sich mit der Hand über den Mund und versuchte, sich zu sammeln. Er war Wissenschaftler, verdammt noch mal! Sein Gehirn war es gewohnt, Fakten zu sammeln, zu analysieren.

Verzweifelt schüttelte er den Kopf. Ein fremder Planet? Sein Verstand weigerte sich, diesen Gedanken weiterzudenken. Unmöglich. Seine Sinne spielten ihm Streiche. Hatten sie ihm doch Drogen ins Essen gemischt?

Wie benommen tastete er sich die Gangway hinunter, auf die das Geländer unscharfe, rotblaue Doppelschatten warf. Eine Doppelsonne würde solche Schatten erklären.

Wie ein Automat spuckte seine Erinnerung die gelernten Daten in sein Bewusstsein: roter Zwerg, Spektralklasse M, Leuchtkraftklasse V. Und ein Blauer. Spektralklasse O oder A, viel kleiner als die typischen Vertreter. Jakes Magen verkrampfte sich.

»Weiter«, drängte die Schwester.

Jake biss die Zähne zusammen und lief schneller. Er roch die typische Mischung aus Salzwasser und Tang. Vögel kreischten in der Luft – aber es waren keine Möwen. Statt Federn hatten sie eine lederartige Haut. Flugechsen. Jake wischte sich fahrig über die Augen.

Wie durch einen Nebel nahm er vor sich eine riesige Hafenanlage wahr. Alles wirkte wie ausgestorben.

Hinter dem Hafen ragten im zartlila Licht der Doppelsonne die Wolkenkratzer einer Stadt wie Bleistifte aus Glas und Metall in den Himmel. In der Ferne erstreckte sich ein zerklüftetes Gebirge, dessen Gipfel flache Wolkenschichten durchstießen. Njamingloh. Es sah aus wie die Illustration in einem utopischen Sciencefictionbuch.

Fremdartig geformte Schiffe lagen im Hafenbecken. Glatt, glänzend, fensterlos. Auf dem Meer glitten einige wie überdimensionale Pfeilspitzen durchs Wasser, groß wie Ozeanriesen. Dazwischen flitzten Kleinere. Am seltsamsten erschienen die langen Düsen, die aus ihrer Basis wuchsen. Schiffe. Aber wo war der Raumhafen? Jake verstand gar nichts mehr.

Aus einer Seitenstraße zwischen den quaderförmigen Gebäuden einer Anlage, die wie eine Werft aussah, löste sich ein silbernes Gefährt, groß wie ein Autobus, und näherte sich dem Schiff. Auf seinem Dach tanzten die Spiegelungen der zwei Sonnen. Jake starrte es an – es besaß keine Räder – es schwebte eine Handbreit über dem Boden. Wenige Schritte vor ihm hielt es an.

»Steigen Sie ins Matro!«, sagte die Schwester. Ihre Stimme drang wie aus weiter Ferne in sein Bewusstsein. Die Tür des Gefährts öffnete sich wie die Klappe einer Falle. Adrenalin schoss in seine Adern. Rechts zog sich ein Strand bis an den Horizont. Einem Impuls folgend, rannte er los. Aber er kam nicht weit. Nach wenigen Schritten stieß er wieder auf diese unsichtbare Barriere. Das hätte er sich denken können.

»Zum Matro.« Die monotone Stimme der Schwester drang an sein Ohr. Jake atmete tief durch. Es würden sich sicher bessere Gelegenheiten zur Flucht ergeben.

Am anderen Ende der Anlegestelle sah Jake die Frauen das Schiff verließen. Er reckte den Hals und suchte Myriam. Er fand ihre Augen, bevor sie in einem zweiten Matro verschwand. Die Tür schloss sich und das Fahrzeug schwebte davon. Jake fühlte sich plötzlich alleingelassen, ein Run-away-Stern, der in den extrastellaren Raum stürzte. Er brachte seine Gefühle unter Kontrolle.

»Zum Matro«, wiederholte die Schwester monoton.

Von links näherte sich Pedro in Begleitung zweier Roboter. Er warf nervöse Blicke auf die Sonnen. Seine Augen wirkten starr, das Gesicht blass. »Wo sind wir?«

»Einsteigen«, befahl die Schwester.

Hinter ihnen schloss sich die Tür wie der Deckel eines bleiernen Sargs. Sie waren allein. Jakes Herz raste. Er versuchte einen Blick nach draußen zu werfen, konnte aber in den verblendeten Fenstern nur sein eigenes Gesicht sehen, das in dem milchig-dämmrigen Licht der Innenbeleuchtung wie das eines Gespenstes aussah.

Pedro ließ sich schwerfällig auf einer der silbrigglänzenden Bänke nieder. Sie wirkten funktional und steril. Beklommen sank Jake auf den Platz gegenüber. Er spürte einen Stich im Magen, als sich das Fahrzeug in Bewegung setzte. Wie auf Luftkissen glitt es davon. Jakes Atem ging schwer. Pedro tastete nervös die Taschen seines Kittels ab. »Ich habe meinen Pass verloren«, stöhnte er leise.

»Den wirst du nicht brauchen«, murmelte Jake und starrte auf den Boden. Alles in ihm wehrte sich gegen die Vorstellung, auf einen fremden Planeten verschleppt worden zu sein. Er atmete problemlos die Luft, die Temperatur war angenehm. Er konnte sich ganz normal bewegen, die Gravitation war die gleiche wie auf der Erde. Könnte das ganze nicht auch eine ungeheuer clever gemachte Kulisse sein? Jake dachte an die beiden Sonnen und sein Hoffnungsschimmer erlosch in Sekundenbruchteilen. In diesem Ausmaß war das auf der Erde nicht möglich. Er krallte sich an seiner Sitzbank fest, als ob ihn seine Gefühlsachterbahn herausschleudern könnte. Aber noch war er nicht am Ende. Er rückte nahe an Pedro heran und flüsterte ihm ins Ohr: »Wir müssen sie überwältigen, wenn der Bus anhält.«

Pedro rührte sich nicht.

»Wir schnappen uns die Schwester. Solange sie in unserer Gewalt ist, werden sie uns nichts tun«, wisperte Jake.

Pedro wurde blass. »Aber …«

»Pssst!« Jake legte ihm die Hand auf den Unterarm und sah sich verstohlen um. »Du setzt dich links an die Tür, ich gehe nach rechts.«

Pedro nickte kaum merklich.

Jake gab ihm einen auffordernden Stoß, nahm seine eigene Position ein und wartete.

Schließlich hielt das Fahrzeug mit einem leichten Ruck. Die Tür öffnete sich.

Jake spannte die Muskeln.

Licht und Lärm strömten herein – Stimmengewirr, wie aus einem vollbesetzten Fußballstadion.

Jake wartete.

Aber die Schwester kam nicht. Auch keine Roboter. Jakes Puls pochte in den Schläfen. Was hatte das zu bedeuten? Pedro warf ihm einen unsicheren Blick zu.

Jake zuckte mit den Achseln, trat einen Schritt vor und schaute zur Tür hinaus.

Hunderttausende Gesichter jeden Alters starrten ihm neugierig entgegen. Jake prallte zurück. Was wollten die hier? Oder besser, was sollte er hier?

Draußen wurde es still. Jake ließ den Blick über die Leute schweifen. In ihren lockeren, bunten Gewändern sahen die Menschen indisch oder orientalisch aus. Die Frauen hatten sich in grellfarbige Stoffbahnen gehüllt, Brüste und Hüften betonend. Die Kleidung der Männer erinnerte an eine Tunika. Sie rührten sich nicht und hielten einen Abstand von etwa dreißig Schritten zum Fahrzeug. Jake glaubte, Furcht in den Gesichtern der Vorderen sehen zu können. Ansonsten wirkten sie friedlich, ja gutmütig. Aber wovor hatten sie Angst? Jake steckte den Kopf weiter hinaus.

Vor ihm breitete sich ein riesiger Platz aus, der von mehrstöckigen Häusern mit goldglänzenden Kuppeldächern begrenzt wurde. Linker Hand streckten sich die gigantischen Wolkenkratzer glänzend in den lila Himmel, die er schon vom Hafen aus gesehen hatte. Rechts zischten die Fontänen eines Springbrunnens wie sich ineinander windende Schlangen zig Meter in die Höhe und brachen das Licht der Sonnen in tausend schillernde Farben. An der Peripherie winkten fiedrige Blätter von den Köpfen bambusartig segmentierter Stämme ihr Willkommen. Sie wirkten exotisch, fremd.

Jake ließ den Blick noch einmal über die Menschenmenge schweifen. Keine Roboter, keine Bewaffneten. Waren das also seine Entführer? Jake ballte die Fäuste und stieg aus. Pedro folgte auf dem Fuß.

Die Menschen wichen zurück. Jake blieb verblüfft stehen. Sie hatten Angst vor ihm! Das Zischen der Bustür ließ ihn herumwirbeln – das Matro fuhr ab. Kahlgeschorene Männer in roten Pluderhosen schlossen die Gasse. Sie wirkten kampfbereit.

»Darf ich die hochverehrten Herren um ihre Aufmerksamkeit bitten«, ertönte eine vornehme, aber gebrechliche Stimme hinter Jake.

Er fuhr herum und sah einen alten Mann mit weißen, kurzgeschorenen Haaren stolz auf sich zuschreiten. Die krumme Nase, die wohl mehrfach gebrochen gewesen war, passte nicht so recht zu dem freundlichen Lächeln, das die ledrige Gesichtshaut in tiefe Falten zwang. Bekleidet war der Mann mit einer leuchtend roten Robe, die mit goldenen Symbolen oder Schriftzeichen versehen war. Mit einem Schritt Abstand folgten zwei muskulöse Männer mittleren Alters. Beide waren kahlgeschoren, trugen glänzende Ohrringe, goldbestickte, ärmellose Westen und weite dunkelrote Hosen. Der eine hatte eine Narbe quer über der linken Wange. Die mächtigen Fäuste an ihrer Seite geballt, beobachteten sie Jake und Pedro mit wachsamen Augen.

»Willkommen in Njamingloh«, sagte der Herr, während er Jake seine knochige Hand entgegenstreckte.

Jake sah ihn an. Er war offensichtlich der Ranghöchste hier. »Warum haben Sie uns …?« Er stockte, als die Menschen hinter dem Würdenträger mit demütig gesenkten Köpfen vor einem herannahenden Paar zurückwichen. Ein Mann und eine Frau mittleren Alters, in leuchtendem Rot gekleidet und von asketischer Statur. Wie eine einsame Insel in einem Meer glänzender Haut spross seitlich auf ihren kahlen Schädeln ein rundes Haarbüschel. Die Frau trug ein Kleid aus hauchdünnem Gewebe, der Mann eine Pluderhose und ein weites Jackett. Auf der Brust leuchtete in hellem Weiß ein kreisförmiges Emblem, von dem wellenförmige Fortsätze nach allen Seiten gingen. Ihre Gesichter wirkten entspannt, die Blicke schienen in weiter Ferne zu weilen. Sie blieben in respektvollem Abstand hinter dem alten Mann stehen und verharrten schweigend, die Hände unter ihren weiten Ärmeln verschränkt.

Jake maß sie mit den Augen. Ihre Selbstinszenierung beeindruckte die Leute. Waren sie die Drahtzieher oder dieser Stammesälteste?

»Zwei Kleristen wollen Sie auch willkommen heißen«, erläuterte der alte Mann ohne sich umzusehen.

Pedro bekreuzigte sich und senkte den Kopf. Sicher war er katholisch erzogen und erkannte in den beiden die Präsenz einer einflussreichen Kirche. Jake schüttelte unmerklich den Kopf. Er hielt sich lieber an den Würdenträger und ergriff die dargebotene Hand. »Doktor Jake Forrester. Ich würde gerne erfahren, warum Sie uns gegen unseren Willen hierhergebracht haben.«

»Ich bin Patu Zimtobwe. Ich werde Ihnen alles erklären. Aber heute ist ein Feiertag und so bitte ich, die Angelegenheit bis nach dem Fest ruhen zu lassen.«

»Wir haben eine lange Reise hinter uns. Ich möchte nicht noch länger in Ungewissheit gehalten werden.«

»Ich nehme an, Sie sind hungrig und durstig. Wir haben uns erlaubt, für Sie ein Freudenmahl vorzubereiten. Doch möchte ich Sie vorher ihren Mitmenschen vorstellen.«

Jake wollte Einspruch erheben, aber Patu Zimtobwe hob die Arme und drehte sich einmal im Kreise. Er ließ seinen Blick über die Leute gleiten und rief: »Wir begrüßen Doktor Jake Dexter Forrester und Pedro Antonio Gonzales als unsere neuen Brüder.« Seine Stimme dröhnte über den Platz, als wäre sie von hunderten von Lautsprechern verstärkt worden.

Jake tippte dem Mann auf die Schulter. »Mein Herr, das ist ja alles schön und gut, aber es würde mich viel mehr interessieren, wann Sie und wieder zur Erde bringen werden?«

Seine Worte gingen im wilden Jubel der Leute unter.

Er schaute in die Menschenmenge. Man hatte ihn und Pedro tatsächlich erwartet. Die Entführung war offensichtlich von langer Hand geplant worden. Wozu? Warum ausgerechnet er und Pedro?

Die Leute kamen in Bewegung und rollten wie ein Tsunami auf Jake und Pedro zu. Auf ihren Gesichtern zeigte sich eine Art Euphorie, die Angst schien wie weggeblasen. Jake biss die Zähne zusammen und wappnete sich für den Zusammenstoß. Aber er kam nicht. Sanft strich die Flut an ihm vorbei. Ein gehauchter Kuss auf die Wange, ein zärtliches Berühren an Arm oder Schulter. Stocksteif stand er da, nahm kaum wahr, wie sich die Menschen mit unschuldigen, naiven Gesten in seine Seele schlichen. Sie badeten ihn in einer endlosen Welle von Menschlichkeit und jeder, der ihn berührte, nahm ein kleines Stück Anspannung von ihm. Die ganze Atmosphäre hatte etwas Hypnotisches. Am Ende war sein Geist völlig leer. Er wusste nicht mehr, was er fühlte und er wusste nicht mehr, was er gewollt hatte. Ja, er spürte noch nicht einmal Widerstand gegen die führende Hand des alten Mannes.

Der schob ihn tiefer in die Woge menschlicher Leiber, die sich auf die silberne Silhouette der Stadt zubewegte. Es gab kein Drängen, nur stetiges, buntes Wuseln. Und Kinder. Ganze Scharen fröhlicher Kinder. Scharen, die sich veränderten, ausbreiteten, streckten und wieder in Individuen zerfielen, bis Jake vom Hinsehen schwindelig wurde. Er spürte keinerlei Aggression in der Menge, nur Hingabe. Er konnte nicht mehr klar denken und noch immer führte ihn der alte Mann an der Hand. Hinter sich wusste Jake die zwei Kleristen, die mit stoischen Gesichtern folgten. Er kämpfte, bis sein Bewusstsein wieder Oberhand gewann.

Hirnwäsche!

Der Gedanke brachte sein Blut in Wallung. »Empfangen Sie so ihre Gäste?«

Der alte Mann sah Jake verständnislos an. »Aber wir gehen doch nur zum Festsaal im Metrodom.«

Jake warf dem Alten einen durchdringen Blick zu. War er naiv oder spielte er den Harmlosen?

Patu Zimtobwe nickte bedächtig und schob ihn wortlos weiter.

Jake entzog sich der Berührung. Wie sollte er den Patu bewegen, irgendetwas für ihn zu tun? Zwingen konnte er ihn nicht. Rechte hatte er wohl auch keine. Er stand allein gegen eine ganze Gesellschaft. Jake blickte auf die metallisch spiegelnden Häusertürme vor sich, die mit jedem Schritt weiter in den blasslila Himmel wuchsen. Kalt und unbezwingbar.

Schließlich traten sie in den Schatten eines gigantischen Wolkenkratzers. Jake fröstelte. Aber Pedro grinste glücklich vor sich hin. Jake gab ihm einen Stoß in die Rippen.

Pedro schien es nicht zu spüren.

»Was ist los, Mann?«

»Hier ist es so viel schöner als in Kolumbien!«

»Wach auf! Du weißt nicht, was du sagst.«

Pedro deutete auf das riesige Bauwerk vor ihnen, das seitlich aus einem aufstrebenden Hochhauskomplex herauswuchs. Sein muschelförmiges Glasdach ruhte auf kristallenen Säulen, die die Seiten offen ließen und ein gigantisches Amphitheater bildeten.

Auch Jake konnte sich der imposanten Ästhetik nicht verschließen. »Das ist kein Grund, sich einlullen zu lassen«, murmelte er.

Das Metrodom. Die Menschen strebten darauf zu und verschwanden darin wie in einer überdimensionalen Auster. Der Patu führte Jake zu einem Tisch auf dem Podium am Rande einer Arena. Dort wies er Jake den rechten und Pedro den linken Platz neben sich zu. Es sollte wohl eine besondere Ehre sein. Jake lächelte. Jedenfalls konnte der Mann nun seinen Fragen nicht mehr entkommen. Jakes Zuversicht bekam einen Dämpfer, als sich die Leibwächter hinter ihm aufbauten. Er fühlte ihre Blicke im Nacken. Doch weit unangenehmer empfand er die Kleristen. Ihre Augen schienen stumpf, und doch hatte Jake das Gefühl, sie bohrten sich wie spitze Nadeln in seine Seele.

Er räusperte sich und wandte sich an den Patu. »Was haben Sie mit uns vor? Ich meine, es hat doch einen Grund, warum Sie uns hierher gebracht haben.«

»Wir wollen Sie begrüßen. Damit Sie sich bei uns wohlfühlen.«

Wieder wich er der Frage aus. Das ärgerte Jake, gleichzeitig regte sich seine Neugier. Die Chance, einen fremden Planeten zu erforschen bekam nicht jeder. Doch was war der Preis? »Sagen Sie mir wenigstens, wann Sie uns wieder zurückbringen.«

»Greifen Sie zu«, lud der Patu ein und winkte eine Schwester mit beladenem Tablett herbei. Ribeye-Steak, Maiskolben, Maismuffins, gebackene Kartoffeln und Sour Cream waren darauf nicht zu übersehen. Daneben gab es Hamburger. Jake warf einen Blick zu Pedro und bemerkte, dass er Enchiladas serviert bekam, gefüllte Maisfladen, sein Leibgericht.

In Jake regte sich ein Verdacht. »Sie wollen uns überhaupt nicht zurück zur Erde bringen lassen?«

Hinter sich hörte er einen der Bodyguards mit dem Fuß scharren. Unwillkürlich spannten sich seine Nackenmuskeln.

Der alte Mann zog sein Gesicht zu einem freundlichen Lächeln, aber seine Blicke flogen unruhig hin und her. »Ich bin der Älteste von Njamingloh, daher trage ich den Titel Patu. Nun ist es das Privileg des Patu, die Neuen zu begrüßen.«

»Und wie ist das mit Zurückfliegen? Ich möchte gelegentlich wieder nachhause.«

Der Patu machte ein betretenes Gesicht. »Sehen Sie, ich weiß nicht, welchen Ort Sie Ihr Zuhause nennen. Ich bin nie von hier fortgekommen.«

Jake fasste den Mann ins Auge. »Wollen Sie mir einreden, dass Sie nichts wissen?«

Patu Zimtobwe zuckte zusammen und warf einen unsicheren Blick auf die Kleristen. »Manchmal bringen sie uns Neue. Brüder, wie sie sagen. Wir sollen sie bei uns aufnehmen und gut behandeln, wie es die Gebote der Meduse verlangen.«

Schon wieder diese verdammte Meduse. Diese Leute schienen etwas einfältig zu sein. Schlagartig wurde ihm klar: Der Patu hatte offensichtlich nicht viel zu melden. Die Drahtzieher saßen woanders und Pedro und er waren offensichtlich nicht die einzigen Entführten.

»Wo sind diese Neuen jetzt?«

»Verschollen«, sagte der Würdenträger unsicher und fasste sich an seine schiefe Nase.

Jake sah ihn durchdringend an.

»Wir wissen nicht, wo sie sind«, fuhr der alte Mann fort und wich Jakes Blicken aus. »Wir haben die meisten von ihnen nicht mehr gesehen.«

Jake starrte den Patu entsetzt an. Das konnte doch nur heißen, dass sie eingesperrt oder ermordet worden waren. Von wem? Den Kleristen? Oder steckte noch wer anderes dahinter?

Von der Arena drang das Klappern von Tellern und Geschirr herauf. Schwestern räumten das Buffet ab und machten einen Platz vor dem Podest frei, auf dem sich eine Gruppe Leute mit merkwürdigen Instrumenten sammelte. Zuschauer scharten sich um sie. Gleichzeitig begannen sich die Emporen zu füllen, die an den Wänden in endlosen Zeilen bis unter die Kuppel liefen.

Eine Galerie im unteren Drittel fiel auf. Sie war vollständig mit verspiegeltem Glas verblendet. Dahinter, für die Menschen im Saal unsichtbar, saßen die eigentlich Mächtigen des Landes, vermutete Jake. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er, den Sichtschutz zu durchdringen. In diesem Moment registrierte er merkwürdige Gedankenfetzen im Strom seiner eigenen Gedanken. Sie wirkten fremdartig, kalt, als wären sie von außen in seinen Geist eingedrungen. Jake erschrak. So etwas war ihm noch nie passiert. Instinktiv legte er die Hände auf die Schläfen. Der Anfall endete so unerwartet, wie er gekommen war. Jake warf einen misstrauischen Blick auf sein Getränk und dann auf den alten Mann. Der betrachtete mit kindlicher Erwartung die Vorbereitungen der Musiker. Er war nur ein Strohmann, vermutete Jake.

Das Konzert begann. Ätherische Melodien schwebten durch das Metrodom, verträumt, sanft und in einer Qualität, als ob Instrumente aus hauchdünnem Glas sie hervorbrachten. Das Publikum lauschte still und andächtig den harmonischen Klängen. Jakes Lungen nahmen den Rhythmus auf, atmeten tief und gleichmäßig. Sein Gedankenstrom wurde ruhiger, träger, zufriedener. Die Musik trug ihn auf leichten Wogen in eine bunte Welt der Phantasie, eine schöne Welt, eine glückliche Welt.

Ein tiefes Seufzen brachte Jake zurück in die Gegenwart. Er warf einen Blick auf Pedro, der mit verklärter Miene der Darbietung folgte. Der Anblick traf Jake wie eine Ohrfeige: Irgendwer betrieb tatsächlich Gehirnwäsche und er konnte sich nur mit Mühe dagegen wehren! Er musste höllisch aufpassen. Jake straffte die Schultern und nahm einen tiefen Atemzug. »Wer sitzt dort hinter den Scheiben?«, flüsterte er dem in der Musik versunkenen Patu zu.

»Wir sollen schweigend zuhören«, wisperte der Alte.

»Ich möchte wissen, wer sich dort verbirgt!«, insistierte Jake.

Einige Zuschauer wandten die Köpfe.

»Werter Herr Jake. Seien sie doch bitte nicht so laut!«

»Ich wurde entführt, weiß nicht, wo ich bin und was man mit mir vorhat. Und da soll ich mir in Ruhe ein Konzert anhören?«

Der Patu warf Jake einen irritierten Blick zu. »Die Musik wird ihre Seele beflügeln.«

Jake platzte der Kragen. »Verdammt nochmal! Ich will endlich wissen, was hier vorgeht!«

Alle Augen richteten sich auf Jake. Mit einem langgezogenen, dissonanten Akkord brach die Musik ab.

Die Leibwache schob sich näher heran.

Jakes Rücken spannte sich. Bewusst langsam atmete er ein und wieder aus und sprach den Patu erneut an, wobei er sich um einen ruhigeren Tonfall bemühte: »Ich wünsche Erklärungen!«

»Genießen Sie doch einfach.«

Jakes Augen verengten sich.

Der Patu stockte. Hilfesuchend wandte er sich zu den Kleristen um. Die setzten sich sofort in Bewegung. Mit steinernen Mienen schritten sie auf Jake zu. Schulter an Schulter, die Hände immer noch in ihren Ärmeln verschränkt. Die Stille im Metrodom begann zu knistern. Wie eine Schlinge legte sie sich um Jakes Hals. Er schluckte.

»Sie sind sehr erregt«, sprach die Kleristina mit singender Stimme ohne die Miene zu verziehen. »Wir verstehen ihre Anspannung und möchten Ihnen gerne helfen.«

»Vielen Dank. Ich möchte gerne mit einem Verantwortlichen sprechen.«

»Sie können sich immer an uns wenden – zum persönlichen Gespräch in privater Atmosphäre.«

»Wollen Sie mich zur Beichte einladen?«

»Wenn es Ihnen Recht ist, kommen Sie doch morgen in das Kathedom und wir stellen Ihnen ein Programm zusammen, das all Ihre Fragen beantworten wird. Bis dahin könnten Sie das Fest genießen, auf das sich die Leute schon so gefreut haben. Sie wollen es Ihnen doch nicht verderben?«, sagte die Kleristina zuckersüß, ihr Gesicht blieb unbewegt, wie das einer Porzellanpuppe.

Fassungslos starrte Jake sie an.

Honigsüß fuhr sie fort: »Werden Sie sich morgen bei uns melden? Fragen Sie nach Gura Limka! Kann das Fest nun weitergehen?«

»Ich bin es leid, ständig vertröstet zu werden«, knurrte Jake.

»Sie sind sehr inquisitiv«, stellte sie freundlich und gelassen fest. »Und sehr ungeduldig.«

Jake fühlte das Pochen in seiner Halsschlagader, Hitze stieg unaufhaltsam in seinen Kopf. »Sie haben mich lange genug auf dem Schiff eingesperrt, haben mich als Gefangenen hierher gebracht.« Er stand auf. »Was soll das alles?«

Unverzüglich erwachte ein Roboter zum Leben und schwebte zielstrebig herbei. Emotionslos, kalt, effizient. Lichtreflexe spiegelten sich auf seiner glatten Oberfläche. Die Menschen wichen zurück.

Jake erstarrte.

Der Roboter baute sich neben den Kleristen auf, winkelte einen Arm an und richtete ein spitzes Instrument auf Jake.

»Kommen Sie augenblicklich mit«, sagte der Klerist kalt.

Jakes Atem stockte. Entsetzt starrte er auf die fremdartige Waffe.

»Jake!«, brach da eine vertraute Stimme durch die Stille im Metrodom. »Jake! Jake!«

Alle wandten sich um. In der Arena fegte etwas wie ein kleiner Tornado durch die Menschenmenge. Dann erreichte sie das Podest und warf sich in Jakes Arme: Myriam.

»Ich bin so froh, dass ich dich gefunden habe!« Sie presste ihren zierlichen Körper gegen seinen. »Ich hatte solche Angst um dich.«

Jake fühlte sich wie im freien Fall. Alles um ihn herum war so unwirklich, so absurd, so bedrohlich. Und jetzt war sie da. Plötzlich, wie aus dem Nichts erschienen. Ganz real. Die unerträgliche Last verschwand. Er drückte Myriam an sich, spürte ihre weiche Haut, die Wärme ihres Körpers. »Ich bin so froh, dass du hier bist«, flüsterte er und vergrub das Gesicht in ihren Haaren, die nach Sonne und Meer dufteten. Er schloss die Augen und diese ganze verrückte Welt um ihn herum schien sich aufzulösen. Alles, bis auf Myriam.

Nach einer Weile löste sie sich aus der Umarmung und wandte sich an den Kleristen: »Darf ich ihm heute mein Quartier anbieten?«

Der musterte Jake mit teilnahmslosem Gesichtsausdruck.

»Wenn du willst, natürlich«, flüsterte sie Jake zu.

Er schaute ihr zärtlich in die Augen und nickte.

Der Klerist starrte eine Weile vor sich hin. Schließlich wandte er sich an Myriam. »Antrag angenommen«, sagte er mechanisch. »Und sorgen Sie dafür, dass er morgen bei Gura Limka erscheint!«

Myriam presste die Lippen zusammen und nickte knapp. Dann wandte sie sich Jake zu. Ihr Gesicht hellte sich auf. »Wollen wir uns die Show ansehen?«

Jake schüttelte den Kopf. »Ich muss hier raus.«

Sie ließ die Schultern hängen. »Wo willst du denn hin?«

Ihre Enttäuschung war nicht zu übersehen. Wahrscheinlich gab es solche Feste nicht oft in Njamingloh. Aber er musste in Ruhe nachdenken. »Wo keine Leute sind.«

Über Myriams Gesicht legte sich ein verschmitztes Lächeln. »Dann gehen wir an den Strand.«

»Und Pedro?«

»Der sieht nicht so aus, als ob er hier weg wollte«, antwortete sie.

Jake blieb keine Zeit, sich über ihren Gesichtsausdruck zu wundern, denn der Patu erhob sich, nahm seine Hand und schüttelte sie enthusiastisch. »Ich wünsche dem Herrn einen angenehmen Nachmittag.«

Er war sichtlich froh, Jake und seine Fragen loszuwerden.

Myriam erwischte Jakes Ärmel. »Komm schon!«, sagte sie und leitete ihn zum nächsten Ausgang.

Ihre Schritte hallten über den leeren Platz. Wenn Myriam ihn da nicht rausgehauen hätte! Jake fühlte sich schwindelig. Das ungewohnte Licht der Doppelsonne machte es nicht besser. Es ließ alles unscharf erscheinen.

Im Metrodom begann die Musik erneut zu spielen. Leise drang sie heraus. Myriam wiegte ihren schlanken Körper beim Gehen sanft im Rhythmus der Melodie. Sie schien glücklich zu sein. Sie gehörte hierher. Jake sah sie gedankenverloren an, sie war für ihn eine Insel in einer sturmgepeitschten See – einer fremden See.

»Kannst du mir helfen, hier wegzukommen?«, fragte er.

»Sicher! Wir nehmen einen Gleiter.«

»Ich meine, ganz weg.«

Ihr Lächeln erstarb. »So etwas darfst du nicht sagen.« Verhalten sah sie sich um: »Die Meduse hört alles. Und wenn sie deinen Wunsch erfüllt, sehe ich dich nie wieder.«

Jake blieb wie angewuzelt stehen. Sie wurden also auch hier überwacht.

Myriam sah ihm in die Augen und über ihr Gesicht huschte ein Ausdruck der Befriedigung. Sie fühlte sich wahrscheinlich erleichtert, weil sie annahm, er wollte bei ihr bleiben. Mit einem Lächeln wandte sie sich ab und rief »Gleiter« in die Leere des Nachmittags. Augenblicke später schoss ein tropfenförmiges Gefährt von der Größe eines Sportwagens herbei, blieb stehen und öffnete die Türen. Leise sirrend schwebte es wartend eine Handbreit über dem Boden.

Jake starrte den Gleiter an. »Sind die hier alle so?«

»Sicher.« Myriam stieg ein und sah Jake auffordernd an.

Der schritt bewundernd um das Gefährt herum und strich mit der Hand über die glatte Oberfläche. Ein Maserati war ein Dreck dagegen. Und wieder ohne Räder, genau wie dieses Matro. Jake versuchte, ob er das Fahrzeug bewegen konnte, aber es stand fest wie ein Felsen. Neugierig bückte er sich und fuhr mit der Hand darunter. Er spürte nur den Nachmittagswind.

»Komm schon rein!«, rief Myriam ungeduldig. »Ich habe heute noch etwas vor.«

Ihren spitzbübischen Gesichtsausdruck nahm Jake nur am Rande wahr. »Das ist hier alles sehr merkwürdig.« Er schlüpfte auf den weichen Sitz neben ihr. Im Inneren sah es aus wie in der Gondel einer Bergbahn. Es gab weder Lenkrad oder Pedale noch Armaturen. »Wie willst du das Ding bedienen?«

Myriam warf ihm einen verständnislosen Blick zu. »Wakaluru-Strand«, sagte sie dem Fahrzeug. Das schloss die Türen und düste los. Niemand steuerte. Keine Lämpchen, keine Anzeigen, kein Motorengeräusch.

»Wie funktioniert das alles?«

Myriam zuckte die Achseln.

Jake ließ sich in die weiche Polsterung sinken. Sie wusste selten Antworten auf diese Art von Fragen.

Im Handumdrehen verließ das Fahrzeug die Stadt und fuhr durch parkähnliche Landschaften und Haine. Jake sah zum Fenster hinaus und ließ die fremdartigen Eindrücke an sich vorbeiziehen. Bäume und Sträucher waren von seltsamer Form, manche mächtig wie Affenbrotbäume, andere schlank und gertenartig mit Blattwerk, filigran wie geklöppelte Spitze. Jake kam es vor wie ein Traum – unwirklich, phantastisch.

Sachte strich Myriam mit ihren Fingerspitzen über seinen Arm. »Es ist schön hier, nicht wahr.« Ihre Augen suchten die seinen.

Jake zögerte einen Moment.« Wie schaffst du das eigentlich?«

»Was schaffe ich?«

»Ich bin in der beschissensten Situation meines Lebens, aber wenn du mich so ansiehst, dann ist es, als ob sich dieser ganze Druck in mir einfach in ein Nichts auflöst.« Sein Atem ging unwillkürlich tiefer.

Ihre Nasenflügel weiteten sich ganz leicht und sie öffnete die Lippen zu einem schelmischen Lächeln. »Ich habe dir doch gesagt, du wirst dich entspannen.«

Er hustete verlegen. »Es ist schön mit dir, Myriam.«

Gelegentlich huschten einzelne Häuser mit Flach- oder Kuppeldächern an ihnen vorbei. Dann flitzten sie durch eine Ansiedlung. Jake konnte keinen einzigen Menschen entdecken. Die ganze Gegend wirkte wie ausgestorben. Dennoch war die Landschaft gepflegt, die Ortschaften sauber und aufgeräumt.

»Die Leute sind in Nelantis«, erläuterte Myriam. »Es ist ein Festtag.«

Jake machte ein fragendes Gesicht.

»In der Stadt«, fügte sie hinzu und deutete zurück.


Als sie den Strand erreichten, neigten sich die Sonnen dem Horizont zu. Die blendend Blaue würde vor der Blutroten untergehen. Trotz des exotischen Anblicks war da etwas Vertrautes. Jake brauchte einen Moment, bis er darauf kam: Der Sonnenbogen verlief im Uhrzeigersinn.

»Ist das nicht wunderschön!«, sagte Myriam und kletterte aus dem Gleiter. Mit einer kleinen Handbewegung forderte sie Jake auf, ihr zu einer der buntgemusterten Matratzen zu folgen, die in Kniehöhe über dem Sand schwebten. Eine leichte Brise bewegte die fiedrigen Blätter der Bäume. Jake hätte sie für Palmen halten können, aber ihre Stämme waren glatt und biegsam.

Er stapfte nachdenklich durch feinen Sand hinter Myriam her. Schwebende Fahrzeuge, schwebende Liegestühle. Misstrauisch betastete er das weiche Polster. Es federte ein wenig, als er sich neben ihr niederließ. Sie streckte sich genüsslich aus.

Jake beobachtete die beiden Sonnen, sah zu, wie sie sanken, spürte ihre Strahlen auf seinem Gesicht. Obwohl noch immer Hunderte von Ameisen in seinem Bauch herumzukrabbeln schienen, ordneten sich langsam seine Sinne und Gedanken. Sein Atem ging schwer. Er befand sich auf einem fremden Planeten. Das Unvorstellbare war tatsächlich passiert.

Myriam seufzte leise. »Der Blaue ist Aro und die Rote ist Irm. Sie umtanzen sich, wie zwei ewig Verliebte.«

Jake fühlte sich unendlich müde. Jetzt erst sackte das Ungeheuerliche aus seinem Kopf in seinen Körper. Verzweiflung fraß sich wie ein Feuer durch seine Eingeweide: So schön das hier alles war, aber um zurück zur Erde zu kommen, brauchte er ein Raumschiff!

Myriam richtete sich auf. Eine sanfte Brise fuhr ihr durchs Haar, das im Licht der Doppelsonne lilafarben schimmerte. Jake kam es auf einmal vor, als sähe er sie zum ersten Mal. Sie war eine Bewohnerin dieses Planeten. Eine Außerirdische, ein Alien.

Sein Blick wanderte über die Konturen ihres Gesichts, es war ebenmäßig und schön, die zierliche Nase, der feine Mund mit den geschwungenen Lippen. Myriam war ein Mensch, kein Monster, wie die Filmindustrie Aliens so gerne darstellte. Er schüttelte kaum merklich den Kopf.

Sie suchte mit ihren Blicken seine Augen und strich ihm sanft über den Handrücken. »Hier kannst du dich nun wirklich entspannen«, flüsterte sie ihm ins Ohr.

Jake krallte die Finger um den Rand der Matte. Wie sollte er das? Um nachhause zu kommen, musste er ein Raumschiff finden. Sein Kopf fiel schwer in das Kissen.

»Was hast du, Jake?«

Ihm war schlecht. Einerseits spürte er die bohrende Angst, andererseits faszinierte ihn der Gedanke, auf einem fernen Planeten zu sein.

Myriam beobachtete ihn besorgt.

Aro versank im Meer. Nur die rote Sonne stand noch eine Handbreit über dem Horizont und zauberte feuerrote Reflexe in Myriams Haar. Sie deutete landeinwärts zu den schwarzen Silhouetten der Berge. »Marlo geht auf.«

Jake drehte sich langsam auf die andere Seite und sah einen pockennarbigen Mond von bräunlicher Farbe aus dem Gebirge steigen. Der wirkte so nah, fast bedrohlich. »Der ist ja riesig.«

»Astro und Lanlo sind kleiner. Sie gehen heute später auf.«

Jake konnte seinen Blick nicht von dem Spektakel nehmen.

Sie sah ihn alarmiert an. »Jake, was hast du?«

»Da, wo ich herkomme, gibt es nur einen Mond«, sagte er geistesabwesend. »Und eine Sonne.«

Sie richtete sich ruckartig auf: »Eine gelbe?«

Jake fuhr hoch und ließ seine Blicke fragend über ihr Gesicht wandern. »Ja. Eine gelbe.«

»Und Gleiter mit Rädern? Und Matros mit Rädern?«, fragte sie aufgeregt. »Und man muss sie selber lenken?« Sie sah ihn mit glänzenden Augen an.

Jake setzte sich kerzengerade auf. »Woher weißt du das?«

»Und Matros, die hoch in der Luft fliegen?«

Jake musterte sie eindringlich. »Flugzeuge. Sicher.«

Sie zog die Stirn kraus. »Paps erzählt immer wunderliche Geschichten. Er behauptet, er hätte alles mit eigenen Augen gesehen.«

Jakes Herz begann wild zu pochen. Es gab hier doch noch andere Entführte. Er war nicht allein! »Wo ist dein Vater?«

Myriam kniete sich vor ihn. Ihre Augen leuchteten. »Dann ist es also wahr? Er hat sich das nicht einfach so ausgedacht?« Sie rutschte ein Stück näher. »Wie ist es dort? Ich würde das so gerne einmal selbst erleben!«

Jake fühlte eine vage Freude in sich aufsteigen. Er ließ sich von der schwebenden Matte in den warmen Sand rollen. Das Gefühl der feinen Sandkörner unter seinem Körper hatte etwas Vertrautes. Er starrte in den dämmrigen Himmel, wo der erste Stern blinkte. Mit einem Verbündeten könnte er es schaffen. Verdammt, er würde es schaffen! »Wie heißt er denn? Kannst du mich zu ihm bringen?«

Sie beugte sich zu ihm herab. »Ich bring dich, wohin du willst«, flüsterte sie und biss ihm zärtlich ins Ohrläppchen. »Aber mein Vater ist gerade das Letzte, an das ich denke.« Er spürte ihren warmen Atem weiter wandern, über seine Wange zu seinem Mund, den sie mit ihren Lippen sanft streifte, nur um dann die empfindsamen Stellen seines Halses zu erkunden.

Jake seufzte, schloss die Augen und genoss für einen Moment das Gefühl absoluter Nähe. Wie lange hatte er so etwas schon vermisst? Es tat gut, so verdammt gut. Myriam … der Strand, das Meer … Und doch gehörte er nicht hierher, verdammt! Er öffnete die Augen. Blasse Sterne erschienen am Firmament. Jake wurde sich bewusst, wie weit er in diesem Augenblick von allem entfernt war, das er kannte. Er wusste noch nicht einmal, in welcher Richtung die Erde lag.

»Was ist los?«, fragte Myriam. Besorgnis schwang in ihrer Stimme. Sie setzte sich neben ihn und strich sanft über sein Haar.

»Myriam«, er stöhnte. Wie sollte er ihr begreiflich machen, was in ihm vorging? »Sie haben mich entführt, verstehst du? Ich bin an diesem Ort gegen meinen Willen. Alles ist so anders hier«, er unterbrach sich und warf ihr einen ratlosen Blick zu. »Fast alles. Ich will hier wieder weg, irgendwann, zurück nach Hause. Aber jetzt bist du da« er ballte eine Faust und bohrte sie in den Sand, dass es knirschte.

Myriam rollte sich zur Seite, stützte sich auf einen Ellenbogen und ließ Sand durch ihre Finger rieseln. »Ich bin oft hier«, wisperte sie. »Aber mit dir fühlt es sich anders an. Irgendwie«, sie unterbrach sich, als suchte nach dem richtigen Wort. »Ja«, sie lächelte und nickte. »Es fühlt sich wirklicher an. Ist das nicht komisch?«

Jake blickte ihr in die Augen. Seit er in diesem Schiff aufgewacht war, war ihm alles wie ein böser Traum vorgekommen. Nur Myriam nicht. Sie war – er musste nach einem Wort suchen – vertraut. Wie ein Stück Heimat.

»Nein«, antwortete er heiser, »das ist es ganz und gar nicht.«

Sie legte einen Arm um ihn und senkte ihre Wange auf seine Schulter. »Dann wird alles gut werden, Jake. Vertrau mir. Wir stehen das gemeinsam durch.« Sie hob ihren Kopf und sah ihm fest in die Augen.

Jake spürte den festen Willen in der zarten Frau. Die Anspannung fiel von ihm ab, dafür füllte eine Wärme sein Inneres und breitete sich mehr und mehr aus. Auf dem Schiff waren sie Kameraden gewesen, aber jetzt?

Er richtete sich auf. Ein sanfter Windhauch fuhr durch Myriams braunes, langes Haar und ließ einige Strähnen im Rhythmus der Wellen tanzen. Jake wollte es anfassen, wollte wissen, ob es sich genauso weich anfühlte, wie es aussah. Er schob sich näher an sie heran, suchte mit seinem Mund den ihren. Sie schien überrascht, denn es dauerte eine Sekunde, ehe sie den Kuss stürmisch erwiderte.


Als die Wellen der Leidenschaft nachließen, rollte er zur Seite. Sie schmiegte sich an ihn und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Das Meer rauschte ruhig. Jake streichelte über ihren Rücken, fühlte den feinen Sand auf ihrer Haut, ihre Haare an seiner Wange und sog ihren süßen Duft ein. Er spürte die zarte Haut ihres Schenkels auf seinem ruhen. Warm und weich. Er zog sie enger an sich, schlang seine Arme noch fester um sie und wäre am liebsten mit ihr verschmolzen. Nichts anderes zählte, als Myriam in seinen Armen. Jetzt gehörten sie zusammen.

Kapitel 9


Noch immer lagen Myriam und Jake eng umschlungen im warmen Sand. Lanlo war inzwischen am schwarzlila Nachthimmel aufgegangen. Er sah aus wie eine blauschimmernde Billardkugel, die durch das funkelnde Sternenmeer hinter Marlo herzog. Die unbekannten Muster und Sternbilder faszinierten und erschreckten Jake. Irgendwo dort oben musste sich die Sonne befinden. Unendlich weit, unerreichbar. Behutsam löste er sich aus der Umarmung. Dabei knirschte der Sand leise unter seinem Rücken.

»Was hast du?«, fragte Myriam, die ihn besorgt betrachtete.

Jake fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Ich kann es immer noch nicht fassen.«

»Ach so!«, sie lachte, gab ihm einen Kuss und sprang auf. »Schau, ob du mich fangen kannst!«, rief sie und rannte leichtfüßig zum Meer. Jake sah ihr hinterher und seine düsteren Gedanken verflogen.

»Du kriegst mich nicht!«, lockte sie.

Jake spürte ihre ansteckende Leichtigkeit, ihre Freude. Geschwind rappelte er sich auf und spurtete über den Sand. Kühles Wasser schlug über ihm zusammen und nach ein paar kräftigen Stößen holte er sie ein. Sie spritze vergnügt und versuchte, ihn in der dunklen Flut unterzutauchen. Er schnappte sie und drückte ihr einen leidenschaftlichen Kuss auf die Lippen. Dabei sanken sie und küssten sich, bis ihnen die Luft ausging. Prustend tauchten sie auf und lachten.

»Schau!« Myriam deutete nach Osten, wo sich der dritte Mond mit lila Schein über die ferne Bergkette hob.

Drei Monde am Himmel, und jeder erstrahlte in einem anderen Licht. Die Schönheit und Fremdartigkeit überwältigte Jake. Das übertraf alles, was er in seinem Leben bisher erlebt hatte. Übermütig packte er Myriam und zog sie zu sich heran. »Bist du glücklich?«

Statt einer Antwort biss sie ihm neckisch ins Ohr, lachte und schwamm davon.

»Na, warte!« Jake tauchte ab und folgte ihr unter Wasser. Doch schon nach wenigen Stößen hielt er inne. Da waren seltsame Geräusche in der schweren Stille der Unterwasserwelt: quietschender Singsang wie von Walen, metallisches Hämmern, fernes Gluckern und Brodeln. Und dort in der Tiefe des Meeres, wo es schwarz sein sollte, erblickte er einen diffusen, violetten Lichtschimmer. Jake wurde die Luft knapp und er stieg auf.

»Was machst du?« Myriams Stimme klang besorgt.

»Da ist etwas!« Jake tauchte wieder ab und ließ sich in die Tiefe sinken. Die Geräusche wurden lauter, aber das Licht blieb schwach. Er konnte es nicht klar sehen. Er wünschte sich eine Taucherbrille, um besser erkennen zu können, was dort unten war. Lauschend schwebte er in einiger Tiefe und versuchte sich vorzustellen, was die Töne erzeugte. Sie hatten eine merkwürdige Qualität.

Jake brauchte einen Moment, bis er es bemerkte: Fremde Gedanken formten sich direkt in seinem Kopf – körperlose Stimmen. Erschrocken blickte er umher. Das war nun schon das zweite Mal. Diesmal hatte ihm mit Sicherheit keiner Drogen verabreicht. War war los mit ihm? Verlor er den Verstand? Jake kämpfte gegen die aufkeimende Panik. Aber er konnte es ganz deutlich in seinem Kopf hören. Nicht einzelne Stimmen, eher ein Gemurmel wie in einem vollbesetzten Stadion. Von irgendwoher musste es kommen. Wenn nicht aus seinem Kopf, dann von etwas, das er nicht sehen konnte. Sein Puls beschleunigte sich. Jake kam sich auf einmal wie ein Würmchen im Teich vor, in dem irgendwo ein hungriger Fisch lauerte. Zeit zum Umkehren. Er paddelte eilig nach oben und fragte sich, wie tief er abgetaucht war. Die Luft in seinen Lungen wurde bereits knapp. Etwas streifte ihn. Jake zuckte zurück und schwamm aus Leibeskräften aufwärts. Dann schlang sich irgendetwas Kaltes um seinen Knöchel. Angewidert trat er danach. Gleichzeitig ruderte er wie verrückt mit den Armen. Vergeblich. Es hielt ihn fest. Seine Lungen schrien nach Luft. Ihm wurde schwindlig. Sauerstoff …

Der ist sehr dumm!, sagte eine Stimme in seinem Kopf. Panik übermannte ihn. Ihm wurde schwarz vor Augen.

Einen Moment später löste sich der Griff. Wie ein Korken stieg Jake auf. Dann durchbrach er die Wasseroberfläche. Sein Mund öffnete sich wie von selbst und pfeifend füllten sich seine Lungen mit Luft.

»Jake! Jake! Was hast du gemacht?« Myriams Stimme zitterte. »Dort unten ist das Reich der Meduse, da dürfen wir nicht hin!«

»Körperlose Stimmen«, japste er.

»Heilige! Warst du im Land der Schatten und Toten?« Myriam sah Jake entsetzt an. »Lass uns zum Strand schwimmen. Ich möchte nachhause.«

Sie zogen sich an und gingen Hand in Hand über Sand und dann durch Gras. Stimmen im Kopf waren kein gutes Zeichen. Er vergegenwärtigte sich die Messergebnisse seines letzten Experiments. Kein Problem. Das Gedächtnis schien noch zu funktionierten. Dann nahm er sich eine schwierige Kopfrechenaufgabe vor. Auch das klappte. Jake atmete auf. Wahrscheinlich litt er an Reizüberflutung. Bei dem Stress der letzten Wochen. Das würde sich mit etwas Schlaf kurieren lassen. Erleichtert streichelte er mit dem Daumen über Myriams Handrücken. Sie antwortete mit einem zärtlichen Händedruck.

Das Rauschen der Brandung nahm langsam ab, dafür füllte sich sein Ohr mit dem Säuseln der Blätter peitschenförmiger Bäume, deren dunkle Silhouetten sich sanft im Wind wiegten.

Bald würde er Myriams Eltern kennenlernen. Allerlei Gestalten huschten durch seinen Kopf, aber er konnte sich keine richtige Vorstellung von ihnen machen. »Kann man hier irgendwo Blumen bekommen?«

Myriam schnupperte. In den salzigen Seegeruch mischte sich die Schärfe von Ozon. Sie beschleunigte ihren Schritt.

»Ich möchte deinen Eltern etwas mitbringen. Worüber würden sie sich freuen?«

»Beeil dich lieber!«

Jake warf einen Blick über die Schulter. Mit rasender Geschwindigkeit zog über dem Meer eine trübe Schicht auf und verdeckte die Sterne. »Wie weit ist es noch?«

»Ich hätte besser aufpassen sollen!«

Kurze Zeit später tauchte ein dunkler Streifen vor ihnen auf. Büsche. Dazwischen schimmerte blasslila Licht.

»Da vorne ist Lundsiel«, sagte Myriam und warf einen besorgten Blick auf den Himmel. Wetterleuchtende Wolkentürme quollen bis zur Stratosphäre empor. Sie begann zu laufen. Jake trabte neben ihr her. Eine Böe fuhr ihm ins Gesicht und fegte raschelnd durch das Laub. Gleich darauf folgte eine stärkere, und dann noch eine. Innerhalb weniger Sekunden entwickelte sich ein Sturm. Mit tiefem Tosen fuhr er

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Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Text: Leo Aldan
Images: Fotos von Leo Aldan und iStockphoto
Cover: Leo Aldan
Publication Date: 11-24-2014
ISBN: 978-3-7368-5848-0

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