Cover

Er - Versuch eines Nachrufs


  

Er – Versuch eines Nachrufs

Vieles an ihm war eine Idee zu grob und zu groß - seine Hände, die wie lederne Handschuhe wirkten, seine kräftige, indianisch gebogene Nase, seine Ohren. Dabei war er keineswegs übergewichtig oder gar athletisch. Im Gegenteil. Sein Rumpf wirkte sogar zierlich. Seine Augen hatten immer etwas von Strenge, was sich erst verlor, als man ihm nach einer Augenoperation eine Starbrille zupasste. Jetzt blickten sie - noch durch die dickwandigen Gläser unnatürlich vergrößert - eher erschreckt.

   Als er Anfang 80 war, konnte man kaum Falten in seinem Gesicht ausmachen. Man nimmt heute an, weil er sich niemals schädlichem Stress aussetzte. Er nahm alles genau und gründlich, ging mit Fleiß und Ausdauer an jede Sache heran. Niemals jedoch sah man ihn fahrig, oberflächlich oder gar hektisch, wenn man ihm auch eine Portion Ungeduld nicht absprechen konnte. Letzteren Eindruck hatte man besonders, wenn er beim Gehen mit dem linken Arm leichte Ruderbewegungen vollführte, so, als eile sein Geist ständig seinem unzulänglichen Körper voraus.

   Seine Lebensphilosophie war einfach und praktisch zugleich. Wer ihn gekannt hat, hört ihn noch sagen: "Lass dich nicht melken!" Und: "Alle wollen dein Geld!" Seine Lebenserfahrung, auf diesen kurzen Nenner gebracht, gab er völlig unverbindlich und kostenlos weiter. Seine besondere Beziehung zum Geld hatte ihm im Laufe seines langen Lebens ein klar umrissenes Menschenbild vermittelt.

   Die Welt bevölkerte nach seiner Vorstellung mehrheitlich Halunken, Halsabschneider, Diebe und Schnorrer. Oder - wie man in seiner ostpreußischen Heimat zu sagen pflegte - Scharuken, Lachodder, Wenktiner und Kräthen aller Art. Natürlich waren da auch noch ein paar anständige Menschen, wie er sich mit vorsichtigem Misstrauen eingestand, aber auf diese wenigen wollte er sein Leben nicht einrichten. Also hielt er sich vorsichtshalber alle vom Leibe.

   Seine besondere Beziehung zum Geld muss erklärt werden. Er war keineswegs geizig oder überbetont materialistisch eingestellt. Was ihn von vielen seiner Zeitgenossen unterschied, war sein durch Erfahrung geprägtes Wissen um die Macht und die Zauberkraft es Geldes.
Für ihn existierten weder Preisentwicklungen noch Teuerungsraten. Er lehnte es ab, sich dem Preisdiktat einer anonymen Macht zu beugen. "Bargeld lacht!" hatte er herausgefunden, und Bares hatte er deshalb für alle Fälle immer ausreichend bei sich.

   Wenn er ein Bekleidungsgeschäft betrat, um sich beispielsweise einen Mantel zu kaufen, dann ignorierte er von vornherein die Preisschilder, verzog allenfalls spöttisch den Mund, wenn sein Blick auf Preisauszeichnungen fiel, die durch mehrfach herabgesetzte und rot durchkreuzte Beträge ins Auge stachen. Ihn interessierten in erster Linie die Größe des Kleidungsstücks und natürlich die Qualität. Und um die zu prüfen, hatte er ein besonderes System entwickelt.

   Er nahm zunächst beispielsweise diesen Mantel vom Bügel und wog ihn in der Hand. Wenn in diesem Stadium der Vorprüfung schon ein beflissener Verkäufer auf ihn zustürzte, um nach seinen Wünschen zu fragen, stand schon der erste Krach ins Haus. Er verstand es meisterhaft, selbst die renommiertesten Fachgeschäfte vor den Augen des erschrockenen Personals und des neugierigen Publikums der Lächerlichkeit und Peinlichkeit preiszugeben. Das endete dann immer mit dem verzweifelten Ruf nach dem Geschäftsführer, der in der Regel seinen Preisvorstellungen nachgab. Das Vorgeplänkel mit dem völlig überforderten Verkäufer hörte sich dann so an:
Verkäufer: "Kann ich ihnen helfen?"


   Er: "Nein, ich will nur feststellen, was der Mantel kostet."


   Verkäufer: "Der Preis steht auf dem Schild da..."


   Er: "Das ist Ihr Preis. Meinen werden Sie gleich erfahren."


   In der Regel verdrückte sich der entnervte Verkäufer dann schleunigst und tuschelte dann irgendwo im Hintergrund mit seinen Kollegen. Der ganze Laden beobachtete Ihn dann, wie er seinem System folgend den Wert des Mantels ermittelte. Er befühlte den Stoff, roch daran, hielt ihn gegen das Licht und wog immer wieder mit ausgestreckten Armen. Dann nickte er gewöhnlich, meist mit einem Anflug von Gleichgültigkeit und Desinteresse, dem Verkäufer zu.


   Verkäufer: "Solls der sein?"


   Er: "Was wollen Sie dafür haben?" Das klang gewöhnlich sehr gelangweilt, während er auf die Uhr schaute, als wolle er noch andere Geschäfte inspizieren.


   Verkäufer: "Aber der Preis steht doch..."


   Er: "Ich gebe Ihnen dafür höchstens die Hälfte..."


   Verkäufer: "Das kann ich nicht entscheiden. Wir haben Festpreise..."


  "Das sieht man", unterbrach er ihn dann gewöhnlich und deutete auf die mehrfach herabgesetzten und rot durchkreuzten Summen.  


   "Wer kann denn hier entscheiden, wenn nicht Sie?" appellierte er an die Kompetenz und Verantwortlichkeit des armen Verkäufers. Angesichts der belustigten Blicke des immer näher rückenden Umstehenden, wurde die Sache sehr schnell aus der Welt geschafft. Der Rest lief nach einem erprobten Ritual ab: Geschäftsführer, kurzes Handeln, verbindliche Worte und der Hinweis, dass dies nur eine Ausnahme sei, die sich das Haus nur ihm gegenüber und nur einmalig leiste. Wenig später verließ er den Laden mit einem stattlichen Mantel zu einem - wie er meinte - angemessenen Preis.

   Er wusste genau zwischen Großzügigkeit und Verschwendung zu unterscheiden. Bevor jedoch darauf näher eingegangen wird, müssen wir zunächst noch mehr über seine Person erfahren.

   Er gehörte zu den Menschen, denen die Sonnenseite des Lebens nicht vergönnt war. Das erklärt, warum er ständig auf der Hut war. Aus seiner ostpreußischen Heimat vertrieben, nach über einem Jahrzehnt Militärdienst, Gefangenschaft, Hunger und Krankheit, stand er mit seiner fünfköpfigen Familie vor dem Nichts. Der ehemalige selbständige Landwirt mit vielen hundert Hektar Land, Wald, Moor, Pferden, Kühen, Schweinen und vieles mehr, war jetzt Hilfsarbeiter auf einer kleinen Schiffswerft am Rande des Emsländer Moors. Er bekam seinen Wochenlohn in einer kleinen Lohntüte mit noch kleinerem Inhalt. Es kann nur vermutet werden, dass er diesen unwürdigen Zustand als Ungelernter zwischen Rost und Eisen schnell zu überwinden trachtete.

   Er begann zu lernen. Nur war es eine ganz andere Art des Lernens als auf seinem Hof. Dort hatte er uraltes überliefertes Wissen anzuwenden und durch seine persönlichen Erfahrungen zu bereichern. Hier aber galt es, abstrakte Theorien zu verarbeiten. Er meldete sich zu den Schweißern, Drehern, Nietern usw. bis er seine Anerkennung als Facharbeiter, als so genannter Schiffsbauer, in der Tasche hatte.

   Als er schließlich mit seiner Familie ein eigenes Häuschen im abgelegenen Moor bewohnte, galt es, das tägliche Pendeln zu seiner Schiffswerft und zurück auf möglichst preiswerte Weise zu bewerkstelligen.

   Sein erstes und einziges Kraftrad, das er in seinem Leben besaß, war eine NSU Quickly. Sie war sein ganzer Stolz, und er hütete und pflegte sie wie eine Geliebte. Störend war nur, dass beim Erwerb von Benzin so gar kein Platz für seine eigenen Preisvorstellungen blieb. Die Automaten der Zapfsäulen machten eine individuelle Einigung unmöglich. Hätte er vor dem Zapfen zum Tankwart eilen und einen Preis aushandeln sollen? Kurz - er litt geradezu körperlich darunter, wenn er auf dem knatternden Moped saß und spürte, wie sein kurzfristig in Benzin angelegtes Kapital in Form von Verbrennungsgasen verpuffte.

   Arbeiten war für ihn so selbstverständlich wie das Essen und Trinken. Dabei war die Arbeit nach Feierabend und am Wochenende sogar gleichgewichtig - manchmal sogar höherwertig - neben seiner Schiffsbauerei. Die kleine Moorscholle mit immerhin zwei Hektar Land forderte sein zweites Ich, das er in Ostpreußen schon begraben zu haben glaubte. Er nahm eine trächtige Kuh ins Haus, ließ von Schweinen, Hühnern, Gänsen, Hund und Katze den Hof bevölkern - alles wie drüben im Osten, nur sehr viel kleiner und bescheidener. Es wurde gepflügt und geeggt, gesät und geerntet, natürlich vieles auch mit Hilfe der umliegenden Bauern, die sich mit ihren Gespannen gern ein paar Mark dazuverdienten.

   "Die da oben" verkündeten zu jener Zeit, sie seien wieder wer. Und auch er hatte das Gefühl, die Schatten der Vergangenheit langsam überwunden zu haben. Die Häuschen mit dem landwirtschaftlichen Nebenerwerb wuchsen ringsum. Es entstand eine kleine Dorfgemeinde, die sich zum großen Teil aus einheimischen Katholiken, zum kleineren Teil aus vertriebenen Protestanten zusammensetzte.

   Die einheimischen Ostfriesen, die "Emsköppe", wie er sie nannte, genoss er mit äußerster Vorsicht. Was auch immer er am Arbeitsplatz und im täglichen Umgang mit ihnen an Erfahrungen gesammelt haben musste, sein Gesamturteil fiel in der Regel alles andere als positiv aus. Dabei räumte er ein, dass der Ostfriesen platter Verstand nicht zwangsläufig von der fliehenden Stirn herrührte, dass ihre großen abstehenden Ohren nicht unbedingt eine Folge ihres Hangs, andere zu bespitzeln und zu belauschen, sein mussten. Auch genehmigte er ihnen die rostroten Haare und ihren jaulend bellenden plattdeutschen Dialekt. Was er ihnen nicht verzieh, war ihre fanatische Hörigkeit, ihre naive Kindgläubigkeit an die Kanzelpolitik. Was der Pfarrer in der Frühmesse verkündete, wurde am Nachmittag gewählt. Das konnte nach seiner Meinung nur gelingen, wenn die Schäfchen mit gut sitzenden Scheuklappen ausgestattet waren. Das wiederum führte er auf ihre extrem eng beieinander stehenden Augen zurück, die dem Außendruck der Scheuklappen immer mehr nachgegeben haben mussten.

   Die Kanzelhörigkeit der Ostfriesen ließ ihn aber auch noch aus einem anderen Grund nicht los. Hatten die engstirnigen Torfbewohner hier vielleicht etwas durcheinander gebracht und aus der Wortverwandtschaft zwischen "Kanzel" und "Kanzler" für sich eine praktische politische Lösung geschneidert? Vielleicht ahnten die Kleingläubigen in ihren düsteren Bauerndielen, dass ihr Geist für ein umfassendes Demokratieverständnis nicht ausreichte, dass es für sie bequemer und sicherer war, den Kanzler von ihrer Kirchenkanzel aus vorwählen zu lassen. So sinnierte er manche Nacht, wenn er nicht schlafen konnte oder auch mal zu früh aufwachte.

Natürlich hatte die kleine Dorfgemeinde auch eine evangelische Kirche, genau vis-a-vis ihrer übermächtigen Konkurrentin. Die Glocken der ungleichen Kapellen lieferten sich um die 18. Stunde, wenn der Feierabend eingeläutet wurde, einen erbitterten Streit. "Seine" Glocke klang etwas höher als die "katholische", war deshalb auch nicht so weittragend und wurde bisweilen, besonders, wenn der Wind ungünstig stand, von ihrer Rivalin übertönt oder ganz in die Bedeutungslosigkeit verwiesen. Was ihn natürlich maßlos wurmte.

   Irgendwann einmal war die Zeit gekommen, wo er mit seiner Frau die Rolle der schweigenden Minderheit abstreifte und sich mit offenem Visier dem feindlichen Lager gegenüberstellte. Es geschah mit Hilfe von Porträts zugkräftiger SPD-Wahllokomotiven wie Willy Brandt, Helmut Schmidt, Herbert Wehner, Karl Schiller und anderen, viele erstanden in der Elbmetropole, wo seine Kinder zu der Zeit lebten. Es bleibt dahingestellt, ob alles ein raffiniert ausgeklügelter, strategischer Plan oder reiner Zufall war.

   Die Porträts hingen plötzlich fein säuberlich gerahmt an den Wänden der guten Stube - wie liebe Familienangehörige. Und dort hätten sie auch ruhig hängen können, denn die so genannte gute Stube wurde außer zu Weihnachten kaum genutzt. Hier aber sorgte er bzw. sein sozialdemokratisch gesinntes Weib für jene berühmte Ausnahme, die jede Regel bestätigt. Das Wohnzimmer war wieder offen für jeden x-beliebigen Besuch. War es Metaphysik oder einfach so, dass Skandale die Menschen anziehen wie Kot die Schmeißfliegen? Sie kamen, seine katholischen "Freunde" von der CDU, auch jene, mit denen er nie gerechnet hatte. Und er genoss das Befremden in ihren Gesichtern, das beklemmende Schweigen, das Knistern und Raunen und schließlich die zaghaften Entladungen bis hin zur großen Explosion.

Es ist nicht überliefert, mit welchen Argumenten er seinen Standpunkt behauptete. Sein Hang zur Vereinfachung, was seine gleichaltrige Ehefrau ebenfalls auszeichnete, hatte wohl viele "Christen" vor den Kopf gestoßen oder gar stumm gemacht. So pflegte er auf dem Höhepunkt des Tumults um Ostverträge, Ausverkauf deutscher Interessen und Vaterlandsverrat zu fragen: "Würdest du von Barzel einen Gebrauchtwagen kaufen?" Sie blickten ihn dann immer irritiert an und beeilten sich, das Thema zu wechseln. Er hatte ein viel zu hohes Ansehen im Dorf, als dass die "Freunde" nach solchen Besuchen weggeblieben wären.

   Seine politische Gesinnung war sicherlich in seiner Jugend nicht so gefestigt. Wie viele war auch er zu jener Zeit ein Suchender, empfänglich für jede Verführung. Immerhin war er kurz in der Reiter-SA. Aktives Parteimitglied der NSDAP ist er wohl nie gewesen. Wenn er aber über jenes Regime sprach, insbesondere über die straffe Organisation der Wehrmacht, war ein bewunderndes Aufblitzen in seinen Augen nicht zu übersehen.

   Aber das gehörte alles der Vergangenheit an und jetzt regierte Kohl, ein für seinen Geschmack viel zu dickfelliger und dickleibiger Mann. "Ein Kanzler muss sich auch mal quälen", forderte er in Richtung Fernseher. Zu seinem Verdruss quälte Kohl sich niemals. "Torfstechen sollte er ", empfahl er via Bildschirm. Aber Kohl wollte nichts davon wissen. Stattdessen mischte dieser sich in alles und jedes ein. Auch in SPD-Angelegenheiten. "Das geht dich gar nichts an!" grollte er dann und bedauerte zugleich, dass er diesem Kohl unbedacht die Ehre des "Du" erwiesen hatte.
Solche Streitgespräche mit dem Kanzler am Bildschirm erlebte, zuerst sehr irritiert, dann völlig einverstanden, auch seine ihm zugewiesene Haushälterin. Nach dem Tod seiner Frau stand für ihn fest: Ein Weib kommt mir nicht ins Haus. Was er über Frauen wusste, war wenig angetan, um ihn auch nur im Geringsten umzustimmen. Und überhaupt: An sein "Liebchen", das ihm über 40 Jahre angetraut und anvertraut war, reichte sowieso keine andere heran. Er wusste von Frauen zu berichten, die nervig in den Ohren lagen, herumkommandierten und zeterten. Über die Vorzüge des Frauenkörpers wusste er mehr die praktische Seite zu würdigen. Frauen mit spitzen Brüsten konnten nach seinen Studien gut gegen Wind laufen. Apropos Brüste: Früher, da waren die Frauen mit Brüsten ausgestattet -man konnte glatt eine Laus drauf knacken. Und ging es zur Sache - "dreimal rum, da war man müde". "Heute nur ein Korbgeflecht, ach, wie sind die Zeiten schlecht", vollendete er seine Erkenntnisse über diesen Körperteil der Frau. Wenn überhaupt, dann schätzte er mehr die stämmigen Weiber, an denen man sich so richtig "abturnen" konnte.

   In seinem Ein-Mann-Haushalt wurde immer mehr eine ordnende weibliche Hand erforderlich. Als einmal der Hausdoktor - und vom ihm hatte er das am allerwenigsten erwartet - ihm riet: "Krankheit hin, Krankheit her - Sie sollten sich wieder eine Frau nehmen!" überschlug sich seine Empörung. "Um Himmels Willen, Herr Doktor, ich werde mir doch nicht Aids ins Haus holen..."

   Sie kam ins Haus: Eine noch recht junge, gut gebaute Stundenfrau, und er wehrte sich gar nicht mehr. Sie drückte ein Auge zu, wenn er sich selber heimlich die Unterhosen wusch und bügelte und sie lächelte, wenn er ihr im Vorbeigehen einen anerkennenden Klaps auf den Hintern gab. Sie mochte ihn, verzieh ihm seine zweideutigen, halb anzüglichen Redensarten und vergoss echte Tränen, als sie vor seinem Grab stand.

   Es war für alle völlig unerwartet gekommen. Man fand ihn an einem Morgen in seinem Fernsehsessel. Seine geöffneten Augen blickten skeptisch über den Rand der verrutschten schweren Starbrille hinweg, so, als sei er nicht einverstanden mit dem Dargebotenen. Der Bildschirm des Fernsehers flimmerte noch, aber es war natürlich nicht mehr auszumachen, welches Programm er sich zugemutet hatte, Wim Thoelke oder etwas Politisches mit Kohl. Wahrscheinlich letzteres.

   Kriminalbeamte, die in solchen Fällen zur Stelle sind, um Fremdeinwirkung oder Selbstmord auszuschließen, fanden schnell heraus, mit wem sie es zu tun hatten. Nein, dieser Mann war kein Selbstmörder. Dafür war er viel zu sehr auf die Verteidigung seiner Person bedacht. Den Beweis für diese Theorie fanden sie im Schlafzimmer. Da hing in Reichweite seiner Schlafstatt am Fenster das großkaliberige altmodische Gewehr, mit dem er in früheren Jahren die Spatzen aus dem Kirschbaum vertrieben hatte. Ein fachmännischer Blick der Beamten genügte: Die Waffe war mit einer Riesenpatrone geladen und entsichert. Als zweites fanden sie unter seinem Kopfkissen einen Gummiknüppel, ein selbstgebauter Schlagstock von furchterregender Größe. Und auf dem Nachttisch schließlich noch für den schnellen Zugriff ein etwas kleineres Exemplar.

   Die Beamten rätselten noch, in welcher Reihenfolge der Entschlafene wohl im Ernstfall vorgegangen wäre. Während der jüngere Beamte anerkennend den kleinen handlichen Knüppel in seiner Hand wog, sich probeweise aufs Bett setzte und den Abstand zur Tür schätzte, schüttelte der ältere Kollege, die langläufige Feuerwaffe in dem engen Schlafzimmer hochhaltend, sinnend den Kopf. Schließlich einigte man sich auf eine Strategie, die sich folgerichtig aus der Stationierung der Waffen und den örtlichen Gegebenheiten ergab.

   Zunächst, so analysierten sie, wird der Eindringling mit einem gezielten Schuss von den Beinen geholt. Dann folgt der obligatorische Schlag auf den Hinterkopf - natürlich mit dem für den Distanzkampf geeigneten langen Kopfkissen-Knüppel. "So - und wenn er dann noch zuckt", schloss der jüngere Beamte und sprang begeistert vom Bett auf, "bekommt er hiermit den Rest!" Dabei vollführte er mit dem handlichen Schlagwerkzeug einige gezielte Hiebe in die Luft.


   Man sah den Beamten jedoch an, dass sie mit ihrer Analyse nicht ganz zufrieden waren. Was hatte dieser Mensch wohl für eine Strategie, wenn er vom Fenster, also in unmittelbarer Bettnähe überrascht wurde. Das musste ein unüberwindliches Problem dargestellt haben, denn die Gesichter der Beamten verfinsterten sich. Es war der ältere Beamte, der die Situation rettete. Plötzlich hellte sich seine Miene auf. "Natürlich, ganz einfach. So, wie ich ihn einschätze, ging er dann in umgekehrter Reihenfolge vor..."


  Für die drei erbenden Kinder gab es dann noch eine Überraschung im Keller. Tief vergraben unter keimenden Kartoffeln traten die Schätze zu tage, von denen er zu Lebzeiten nur unter vorgehaltener Hand vage berichtet hatte. Es waren daumendicke Geldbündel, mit Gummibändern verschnürt, in Weckgläsern vakuumverpackt, genug, um alles Erforderliche bar zu regeln. Nicht nur für den Verstorbenen, auch für die Finder. Bargeld lachte eben, auch nach seinem Tod.

 

Imprint

Text: Copyright by Felix H. Bendig
Publication Date: 02-04-2013

All Rights Reserved

Dedication:
der guten Ruth

Next Page
Page 1 /