Es war ein schlimmer Winter, ein schneereicher. Sabine Sümmchen hatte aber ein warmes Büro und wusste sich zu beschäftigen. Die Routinearbeit war schnell getan. Es gab viel Leerlauf, aber sie hatte, wie man so schön sagt, ein reiches Innenleben. Natürlich musste auch archiviert werden. Das gehörte zu den Aufgaben. Also rein in den Akten-
keller zum Ausmisten. Die Firma hatte keinen Aktenvernichter, so mussten die Bankordner per Hand aufgelöst werden, das heißt jeder Beleg war streichholzschachtelgroß zu zerreißen. Das war richtig viel Arbeit und das Papier war 10 Jahre alt, zum Teil schon vergilbt und reichlich staubig. Dreck zu ertragen ist nicht schlimm, auch die Arbeit an sich nicht, aber der Raum war kalt, eisekalt, denn hier wurde nie geheizt.
Sabine Sümmchen stand also in Mantel und Stiefeln stundenlang und zerfetzte mit sinkender Begei-
sterung tonnenweise dreckiges Papier. Im Sommer wäre das angenehmer, aber da hatte man für derlei „Späßchen“ keine Zeit. Als die Arbeit nach einer Woche getan war, wurde ein Container geordert und die schweren Kisten mit den anderen Ordnern, die großen Papiersäcke (Papier ist sehr schwer) waren hinaus zu tragen. Sabine Sümmchen mühte sich redlich und schleppte wie blöde diese bescheuerten Kisten zum Container, um sie dann hoch zu hieven und rein zu schmeißen. Der Rücken schmerzte und was viel schlimmer war, sie hatte sich wohl kräftig verkühlt: Blase und Nieren spielten verrückt.
War nicht mehr witzig, aber die Arbeit war geschafft. „Nun noch die Lohnrechnung. Schließlich will ja jeder pünktlich seinen Lohn erhalten“, dachte unser fleißiges Sümmchen und quälte sich noch ein paar Tage, verdokterte sich selber so gut es ging. Es ging aber nun wirklich nicht mehr. Sie hatte eigent-
lich auch fast alles erledigt bis auf zwei, drei Schrei-
ben, die noch unerledigt im Kasten lagen. Sie wagte sich also zum Gartenführer, diesmal ungebeten, um darum zu bitten, nach Hause gehen zu dürfen. Es war ihr peinlich, denn sie musste ja sagen, dass sie nicht mehr konnte. Man sah es ihr an.
Der Chef sagte: Also gut, wenn alles abgearbeitet ist, dann gehen sie halt.“
Ja, es wäre soweit alles erledigt. Die Löhne wären überwiesen und die Beantwortung der Schreiben im Kasten „unerledigt“ hätten sicher noch ein wenig Zeit. Sümmchen trat von einem Bein auf das andere, sie musste jetzt unbedingt hier raus. Die Blase war nicht zu bremsen, ihr tat alles weh und sie fühlte sich sehr fiebrig. Außerdem muckerte der Rücken wie blöde. Sie drehte sich also um und wollte schnell das Chefbüro verlassen. Der rief ihr hinter-
her, dass man sie doch sicher anrufen könne, wenn etwas zu klären sei. Ja, natürlich könne man das. Unsere Buchhalterin hatte jetzt aber wirklich andere Sorgen und verschwand schnell noch einmal hinter der Klotür.
Furchtbar, dieser Mensch. Er hätte doch wenigstens „Gute Besserung, oder werden sie rasch wieder gesund“ sagen können. Sabine Sümmchen fuhr schnell nach Hause, um im Bett zu verschwinden. Ihr ging es wirklich grottenschlecht und der Haus-
arzt, der gerade die Mutter behandelte, schaute gleich auch einmal, was zu tun sei. Es gab Spritzen, Pillen und strenge Bettruhe. Eine Blasenentzündung und ein Hexenschuss, oder so was Ähnliches ist nicht zum Lachen. Geduld, Pillen und die Wärme im Bett helfen, aber die Sache war leider auch verschleppt und ein wenig selbst verschuldet. Es dauerte länger als nötig. Der Doktor, meinte, dass sie nicht zu früh zur Arbeit gehen solle. Man müsse das unbedingt auskurieren, sonst käme es womöglich noch ärger.
Also gut, Sümmchen dachte, dass sie sich das leisten könne. Es war Winter und die Arbeit war auf dem Laufenden. Was sollte also dagegen sprechen, eine Krankheit auszuliegen? Nichts würde pas-
sieren. Der Chef rief tatsächlich nach drei Tagen an, fragte allerdings nicht wie es ihr ginge, sondern nur, wann sie wieder zur Arbeit kommen würde und ob er eine Vertretung organisieren müsse. Sabine Sümmchen meinte, dass sie es noch nicht genau wüsste, aber dass es sicher noch eine Woche brauchen werde bis zu ihrer Gesundschreibung. „Entscheiden sie das bitte selbst, ich kenne ja die laufende Post nicht.“
Er schwieg. „Ja, muss ich dann mal sehen, vielleicht kommt ja ihre Vorgängerin stundenweise.“ Er legte auf.
Unsere kranke Biene stöhnte. Der Gartenmeier nervte. Schon seine dämliche Stimme mit diesem vorwurfsvollen Ton war ihr ein Gräuel. Ihr tat noch alles weh und die schmerzhafte ununterbrochene Pinkelei (immer nur drei Tropfen), das kleine Sterben auf dem Lokus mit der Hexe im Rücken, reichten ihr schon zu genüge. Dieses Arschloch von Chef konnte sie jetzt überhaupt nicht verknusen. Ihretwegen sollte doch die dienstliche Post samt Archiv mit allen bekackten Ordnern verrotten. Sümmchen schluckte eine Pille und führte sich ein Zäpfchen ein, vielleicht hilft das Zeug jetzt endlich einmal. Sie wollte schlafen, nur schlafen. Bloß in welcher Lage? Sie versuchte sich langsam zu drehen. Nein, so ging es nicht. Andere Seite. Die erst recht nicht. Vielleicht auf dem Bauche liegend? Um Gottes Willen, bis dahin konnte sie sich schon gar nicht wenden. Also, ein Kissen stopfte sie sich ins Kreuz, eines unter die Beine und das Schweizer Spezialkopfkissen in den Nacken.
Jetzt nicht bewegen, dann müsste es gehen. Wenn das Telefon bimmelt, dann gehe ich nicht ran, sagte sie leise. Ich werde einfach nie mehr ran gehen, denn es könne ja der buchhalterlose Gartenführer sein. „Soll doch seine Alte den Scheiß machen, sie kann ja immer alles so perfekt. Aber wahrscheinlich kann sie es gar nicht, sondern kann nur meckern und boshafte Zettelchen schreiben, andere Leute madig machen, ehrliche Menschen beschuldigen.“ …
Plötzlich sah sie, wie der Gartenmeier, seine Frau auf den Armen tragend, die Böschung zu Sümm-
chens Haus hinauf kam. Sie standen nun schon auf der Terrasse.
„Bloß gut, dass die Terrassentüren geschlossen sind“, dachte Sümmchen zu Tode erschrocken.
„Was wollen die von mir, ich bin doch krank und hier ist meine Wohnung?“
Sie hörte nun ein Geräusch. Der Chef saß an Sümmchens Computer und tippte etwas ein, Frau Gartenmeier saß in ihrem Rollstuhl draußen auf der Terrasse und rief etwas mit wutverzerrtem Gesicht.
Der Chef sagte mit Grabesstimme: “Du bleibst draußen, die Leute laufen weg, wenn du nicht gleich Ruhe gibst.“ Und tippte weiter.
„Treib es nicht zu weit, treib es nicht zu weit!“ keifte sie.
Sabine Sümmchen öffnete schweißgebadet die Augen. Im Zimmer war es dunkel, keiner war da. Der Computer war ausgeschaltet. Der Büro-
drehstuhl stand aber ganz woanders. Sie hätte schwören können, dass er vorher direkt vor dem Computertisch stand. Die Mutter kam zur Tür herein und fragte, ob sie etwas zum Abendbrot bringen solle. Nein, nein, sagte Sümmchen, sie hätte keinen Hunger. Die Mutter solle bitte bloß einmal nach den Terrassentüren sehen, ob die auch gut verschlossen seien. Eine der Türen war angekippt.
„Mach sie zu. Die Türen müssen unbedingt geschlossen werden“, sagte sie.
„Hier gibt es keine Einbrecher und Luft muss ja auch ins Zimmer“, erwiderte die Mutter kopf-
schüttelnd, schloss aber die große Terrassentür wie ihr geheißen.
„Jetzt habe ich schon Albträume von und wegen dieser Brut“, dachte Sabine Sümmchen empört. Sie beschloss, nicht einen Tag eher als notwendig am Arbeitsplatz aufzutauchen.
Unsere Buchhalterin dehnte ihr Kranksein nicht über Gebühr aus, nein sie fuhr zur Arbeit als sie sich so einigermaßen fühlte, schließlich war da das verdammte Verantwortungsbewusstsein. Eine Vertretung würde auch nur das Allernotwendigste erledigen. Es bliebe also Vieles liegen und dann gäbe es Hektik. Sabine Sümmchen mochte keine Hektik. Sie betrat am Montagmorgen ihr Büro und bemerkte auf allen Tischen Berge von Post und kaum hatte sie ihren Mantel ausgezogen, klingelte schon ihr Telefon. Ein Blick aufs Display: es war der Chef! Schrecklich!
„Kommen sie doch gleich mal rüber“, sagte der mürrisch. Unsere Buchhalterin nahm also einen Kugelschreiber und ihr Arbeitsbuch, um sich in die bedrückende Höhle des frommen Gartenführers zu begeben.
FORTSETZUNG FOLGT
Publication Date: 11-30-2011
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