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Die Püppis



Im ehemaligen Schloss wohnten diverse Familien, alleinstehende alte Frauen, auch Flüchtlinge. Alle die kein eigenes Haus hatten oder im sogenannten Neubau keine Wohnung abbekamen, wurden hier einquartiert. Die gräfliche Familie war ja geflüchtet, enteignet, vertrieben. Ob das rechtens war, interessierte keinen. Die Zimmer im Schloss wurden an arme Menschen vergeben, die für geringe Miete dort nun ein Zuhause fanden.

So auch eine Familie, die mit Zwillingen und einem halbwüchsigen Sohn von Sonstwoher kamen, um hier endlich Arbeit und Ruhe zum Leben zu finden. Die Zwillinge waren zwei bezopfte kleine Mädchen mit ewig heraus-
hängenden, grünlichen Schnodderglocken. Alle waren rothaarig.

Die kleine Lehrertochter, deren Eltern aus Berlin zugezogen waren, hat sich immer ein bißchen vor diesen Püppis deswegen geekelt.
„Habt ihr keen Taschentuch?“, fragte sie einmal. Die Püppis nickten eifrig und holten beide ein sauberes, geplättetes Taschentuch aus der Tasche. „Dann wüscht euch endlich die eklige Rotze ab!“ befahl sie. Die Mädchen sahen sich um und wischten sich dann mit den Ärmeln die Nasen sauber, denn das Taschentuch mussten sie zum Vorzeigen sauber halten.

Der Vater der Zwillinge war im Ort ein angesehener Handwerker. Die Mutter eine fleißige Hausfrau, die sich hin und wieder mit Waschen und Plätten, auch Putzen in anderen Haushalten, beim Pastor zum Beispiel aber auch bei einigen der Lehrer und dem Gutsdirektor, gelegentlich ein paar Mark dazu verdiente. Sie schuftete von früh bis spät, doch den Hauptverdienst brachte der Vater heim. Er war der Verdiener, der Ernährer. Frau und Kinder waren ihm verpflichtet, mehr noch, sie waren ihm und seiner selbstherrlichen Willkür ausgeliefert. Das war nichts Besonderes. Es war schlicht normal.

Der Vater gehörte den „blauen Dragonern“ an. Das war eine Gruppe von Männern, die in ihrer Freizeit nichts anderes taten als sich ganz unheimlich zu besaufen und zwar nicht den üblichen selbst gemachten Obstwein, den fast jede Familie ballonweise im Keller aufbewahrte, sondern irgendwelchen hochprozentigen, heimlich selbst gebrannten Fusel. Offiziell hieß es, sie würden zu einer Arbeitsbesprechung gehen. Eine Kneipe gab es im Dorf merkwürdigerweise nicht. Die Sauferei fand an geheimen Orten statt. Die Ehefrauen wussten allerdings genau, wo das war und dass es ganz sicher keine Arbeitsbesprech-
ungen waren. Aber sie sagten nichts.

Übrigens jegliche „geheime Zusammenkunft“, auch die zwischen Männlein und Weiblein außerhalb der ehelichen Gemeinschaft, wurde als Arbeitsbesprechung getarnt. Die Kinder munkelten und versuchten die Geheimnisse, die in den Arbeitsbesprechungen abliefen, zu lüften. In der Regel wusste nämlich jeder im Dorf irgendwann alles, was geschah, alles kam raus, doch man machte daraus kein Riesentamtam. Es wurde hinter der vorgehaltenen Hand getratscht. Jeder gab sein „Wissen“ dazu, um zur Wahrheit zu finden. Das war alles.

Am Tage verrichteten diese Männer untadelig ihre Arbeit. Offensichtlich ließen die Trinkgelage das noch zu. Wie lange das im Einzelnen möglich war, ist nicht bekannt.
Die Püppis waren ein wenig verschüchtert, fielen nicht groß auf bis ruchbar wurde, dass sie am Sonntagabend ihrem Vater die Füße waschen mussten. Das kleine Berliner Kind wollte es nicht glauben. „Kann sich euer Papa nicht ordentlich bücken? Hat er einen schlimmen Rücken?“, fragte sie erstaunt als sie die Püppis, die meist Hand in Hand gingen, einmal alleine traf. Die Zwillinge schüttelten den Kopf, dass die Zöpfe flogen. Nein, er wäre sehr stark und gesund, meinten sie. Nach einigem Hin und Her erklärten sie sich bereit, die Zeremonie des Füßewaschens näher zu beschreiben.

Nach der sonntäglichen Arbeitsbesprechung, die schon nach dem Frühstück stattfand und bis zum späten Nach-
mittag oder auch bis zum Abend währte, musste die Familie in der Küche versammelt sein. Der Vater saß dann auf einem Küchenstuhl und die Mutter stellte eine große, weiße, emaillierte Schüssel vor ihm nieder, während die Püppis ihm die Schuhe und Strümpfe auszuziehen hatten. Dann wurde vom älteren Bruder ein Kessel mit vorberei-
tetem heißen Wasser in der Schüssel vorsichtig geleert, kaltes Wasser hinzugefügt, bis die Mutter prüfte, ob die Temperatur zumutbar war. Dann begann der eigentliche Akt. Die Püppis mussten sodann, jeder einen Fuß, mit guter Seife und einer Wurzelbürste bearbeiten. Nicht zu sanft aber auch bloß nicht zu heftig! Wenn sie es nicht gut genug machten, dann gab’s schon mal eine Kopfnuss, während der Bruder und die Mutter daneben standen, bereit das Handtuch zu reichen oder bei Bedarf heißes Wasser nachzugießen. Letzteres war sehr gefährlich, denn das eventuell zu heiße Wasser konnte den Fuß des Vaters verbrennen. Aber dann war Alarm! Der Junge musste versuchen dem Vater zu entkommen, der sprang nämlich in dem Fall aus der Schüssel, um dem Sohn eine runter zu hauen. Einmal flog er dabei in der Küche der Länge nach hin, erzählten die Püppis und sie grinsten dabei sogar. Der arme Bruder erhielt mit dem Riemen später eine saftige Tracht Prügel. Die Mutter stand hilflos daneben, während die Püppis sich in ihren Betten die Ohren zu hielten.

Tja, das sind Sitten! Das kleine Mädchen war schwer beeindruckt und schenkte den Püppis ersteinmal je ein kleines Taschentuch zum Benutzen. Das eigene würden sie ja vorzeigen können, wenn es verlangt wurde.
Sie konnte aber die Sache mit dem Füßewaschen nicht vergessen. „Ob Papa, so etwas etwa auch haben will?“, fragte sie sich. Sie beschloss, ihren Vater danach zu befragen aber der wies so ein Angebot entrüstet von sich. „Bist du noch bei Trost“, sagte er. „ Sie zu, dass du deine eigenen jeden Tag wäschst.“ Er schüttelte den Kopf. „Wie kommst du überhaupt auf so eine Idee?“, wollte er nun doch noch wissen. Das kleine Mädchen erzählte, was sie gehört hatte. „Unglaublich“, meinte er nur. „Man kann den Kerlen solche Allüren kaum austreiben. Die armen Kinder.“, hörte man ihn noch brummen.

Was Allüren sind, ahnte das Mädchen nun und sie würde sich etwas einfallen lassen, um ihm diese doch auszutrei-
ben. „Versuch macht klug!“, sagte die Mutter manchmal. So entschloss sie sich kurzerhand, einen Brief zu schreiben.

Auf dem Umschlag stand:

Für den Pappa der Püppis persönlich. Persönlich doppelt unterstrichen!

Lieber Herr Püddelkow,

Alle Leute im Dorf wissen es. Sie können sich nicht alleine ihre Füße waschen. Warum nicht? Ich bin noch nicht groß, aber ich kann das schon lange.
Ich finde, Männer müssen das erst recht können. Nur kleine Babies und ganz alte Omas kriegen ihre Füße von anderen Menschen gewaschen. Männer dürfen solche Allüren nicht haben.



Und sie unterschrieb mit vollem Namen. Sie hatte sich überlegt, dass dieses komische Wort „Allüren“ bestimmt Eindruck machen würde. Vermutlich schämte der Alte sich, nachdem er den Brief gelesen hatte, und die Püppis müssten ihm nie wieder seine dreckigen Quanten schrub-
ben oder dafür noch Kopfnüsse ernten, dachte das kleine Mädchen. Nun, das wusste man nicht so genau, aber es kam nichts nach. Die Leute lachten, tuschelten und manche strichen dem Mädchen über den Kopf, wenn es sich ergab. Die Kleine mochte das nicht, denn sie war doch kein Kindergartenkind.

Ein halbes Jahr später ist die Familie mit den Püppis aus dem Dorf weggezogen. Es hieß, Frau Püddelkow wäre schwermütig und müsse behandelt werden. Die Püppis würden nun bei den alten Großeltern leben. Der Bruder war ausgebüchst. Man wird ihn schon wieder einfangen, sagten die Leute, der wäre aber schwer erziehbar. Doch das ist eine ganz andere Geschichte…

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Publication Date: 01-04-2011

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