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„Sollen wir nicht zum Arzt fahren?“, meinte Mum im Auto. Wie Antonio prophezeit hatte, war sie nach genau 19 Minuten an der Schule aufgekreuzt. Wir fuhren mit Mum’s alten, schwarzblauen Polo gerade die Hauptstraße entlang, Richtung Stadtende. Unser Haus lag außerhalb der Stadt, in einem kleinen Dorf. Antonio wohnte im gleichen Dorf, deswegen kannte ich ihn auch schon ewig. „Nein, schon okay. Frau Kuhn meint, wir sollten zum Arzt, wenn das öfter passiert. War aber erst einmal. Sie denkt es sei der Blutdruck.“, meinte ich. Mein Kopf dröhnte immer noch, aber es wurde langsam besser. Übel war mir nicht mehr, auch nicht mehr schwindlig. Aber vielleicht lag mein dröhnender Kopf daran, dass ich mit ihm aufs Pflaster geknallt war? Aber wieso hatte ich dann keine Wunde am Kopf? Ich beschloss, Mimi zu fragen. „Naja, wenn du meinst…“, seufzte Mum und fuhr aus der Stadt heraus. Im Radio lief ein altes Lied, und meine Mutter summte begeistert mit. Ihre dunkelbraunen Haare wippten fröhlich hin und her. Ich sah aus dem Fenster. Es war Mitte November und schrecklich kalt draußen. Einer dieser dummen Tage, an denen zwar kein Schnee lag, es aber meistens schneeregnete, und der Himmel trostlos grau war. Um die Berge herum war es ziemlich neblig, sodass man nur schlecht etwas erkennen konnte. Mein Geburtstag war genau zwölf Tage später. Ich hasste es, im November Geburtstag zu haben. Jedes Jahr war schreckliches Wetter. Wir fuhren die Straße entlang, die ich vermutlich schon am häufigsten in meinem Leben gefahren bin – von der Stadt in unser Dorf, die Hauptstraße entlang, dann nach rechts, wieder rechts und dann links. Unser Haus sah von außen sehr alt aus, da es schon meinen Urgroßeltern gehört hatte. Meine Großeltern, die Eltern meines Vaters, hatten später auch darin gelebt und nun wohnten wir darin. Mein Opa war sieben Jahre vor meiner Geburt gestorben, denn er hatte Krebs. Meine Oma wohnte noch mit uns im Haus, also waren wir zu sechst. Ich, meine Eltern, meine kleine Schwester, mein kleiner Bruder und meine Oma. Ich streifte meine dicken Stiefel ab und hängte Mantel und Schal an den Kleiderhaken. Langsam trottete ich die Treppe in den ersten Stock und in mein Zimmer hinauf. Ich zog mich nicht mal um, sondern legte mich einfach mit meinen Alltagsklamotten ins Bett und schlief sofort ein.
An meinem Geburtstag war das Wetter immer noch grau und trüb. Es hatte einmal geschneit, aber der Schnee war in den letzten Tagen schon wieder einfach fast grau geworden, und sowieso fast weggeschmolzen. Mein Geburtstag war am letzten Novembertag, in diesem Jahr ein Montag und der Tag nach dem ersten Advent. Deswegen war unser Haus schon weihnachtlich geschmückt: Ein Adventskranz mit lila Kerzen auf dem Tisch, Nüsse, Vanillegeruch, Lichterketten, das übliche eben. Aber nicht nur unser Haus, auch die anderen Häuser in unserem Dorf oder in der Stadt waren natürlich mit Lichterketten und Weihnachtsmännern behängt. Richtig weihnachtliche Stimmung kam allerdings nicht auf, als ich mit Toni die Straße zu unserer Bushaltestelle herunterging. Meine Mum hatte mit Sara – meiner kleinen Schwester - einen Nusskuchen gebacken. Mit fünfzehn Kerzen. Außer dass meine Familie mich zusammen aufgeweckt hatte und es Kuchen gab, war alles wie immer. Ich war verschlafen, zog mich an, frühstückte, ging ins Bad und wartete dann auf Toni. Geschenke gab es erst nachmittags, da ich um 15. 46 Uhr geboren war. Für mich machte das keinen wirklichen Sinn, aber meine Mutter bestand darauf, dass mir Geschenke erst ab Viertel vor Vier gegeben wurden. Damit war ich allerdings besser dran als David, der bekam seine Geschenke erst um halb acht abends. Von Toni bekam ich immer das erste Geschenk an meinem Geburtstag, auch wenn meine Mutter ihm das schon immer zu verbieten versucht hatte. „Es war so ein Porzellanschwein in rosa. Ich liebte diese Schweinchen. „Ich hasse Montage.“, murmelte ich, als wir um die Ecke bogen. Es war noch dunkel, und die Straße konnte man nur wegen den Straßenlaternen erkennen, aber auch nicht sehr viel weiter als fünf Meter, denn wie es hier morgens immer war, gab es dichten Nebel. Die Berge konnte man auch fast überhaupt nicht mehr erkennen, und eiskalt war es auch, trotz meinem Mantel fror ich. „Aber du hast heute Geburtstag.“, meinte Toni. „Aber ich hasse Montage.“ „Du hast recht. Ich auch.“ Schweigend gingen wir weiter. Normalerweise waren wir immer sehr gesprächig, außer montagmorgens. Montags war unser Hasstag, wir waren beide müde, sauer, dass das Wochenende vorbei war und überhaupt. Und Wintermontage waren die allerschlimmsten, weil es da auch noch kalt war, und Schnee, oder diese Schneeüberreste, Nebel und grauer Himmel ziemlich deprimierend sein können, und am Morgen wenn wir zum Bus gingen war es eben auch noch immer so dunkel. Montagmorgens im Winter ist also so ziemlich das Deprimierendste, das es gab. Also gingen wir schweigend weiter zu unserer Bushaltestelle. Als der Bus aus dem Nebel auftauchte und anhielt, drängten die Kleineren natürlich sofort rein, um noch einen Sitzplatz zu bekommen. Eigentlich müssten doch sogar sie schon gelernt haben, dass sie hier, an der letzten Haltestelle vor der Endstation, nie mehr einen Platz bekommen. Ich und Antonio stiegen als letzte ein, und stellten uns wie immer vor die Tür. Der Bus fuhr weiter aus unserem Dorf heraus und in Richtung Stadt. In unserem winzigen Dorf gab es nur eine einzige Haltestelle ganz in der Dorfmitte. Und außer den Schülern aus unserem Dorf fuhren auch noch alle Schüler aus den zwei nächsten Dörfern mit, also war der Bus immer dementsprechend voll. Wie immer montags im Bus war die Stimmung irgendwie angespannt, nicht viele redeten, da sie auch wie wir deprimiert vom Anfang der neuen Woche waren. Und die, die redeten waren entweder die Grundschüler oder Fünftklässler, die noch gerne zur Schule gingen oder die „Happy People“, die immer, auch montags gut drauf waren. Ich hasste diese „Happy People“, wie ich und Toni sie nannten. Wie kann man nur jeden Tag so dermaßen gut drauf sein? Lisa, die mit mir in der Grundschule war, im Dorf vor uns wohnte, und deswegen auch im gleichen Bus war, drängelte sich irgendwann zwischen unserem Dorf und der Stadt durch die ganzen Menschen und versuchte, sich wenn möglich immer festzuhalten, da man den Fahrkünsten unseres Busfahrers nicht trauen konnte. Unser Busfahrer hatte nämlich gar keine Fahrkünste. Meistens gab er immer plötzlich Gas und hielt dann wieder schnell an, sodass alle im Bus zum Schreien anfingen und umkippten. Lisa also drängelte sich schließlich erfolgreich zu uns durch ohne um zu fallen und kreischte: „Happy Birthday, Cara!“ Und umarmte mich. Lisa war eine von den „Happy People“ und dafür hasste ich sie. „Auch endlich 15!“, lachte sie, was mich ziemlich ankotzte, und erzählte mir was von ihrem 15. Geburtstag vor zwei Monaten. Ich war montags nicht leicht zu begeistern, und von Happy People schon gar nicht. Das sah man mir natürlich an, und wer erzählt Menschen, die ziemlich gelangweilt aussehen schon gerne was? Als Lisa das auffiel, meinte sie noch: „Feier noch schön!“ und ich: „Jaja.“ Und weg war sie wieder bei ihrem anderen Happy People Freunden. Ich stöhnte. „Und ich hasse diese Happy People!“ Toni grinste. Schließlich fuhr der Bus endlich an die Endhaltestelle, die ca. 100 Meter von unserer Schule entfernt lag, an, und ich und Toni schleppten uns zur Schule. Es war dreiviertel Acht als wir in der Schule ankamen und erst da fanden wir unsere Sprache wieder, als Mimi auf mich zugerannt kam, mich umarmte und mir „Alles Gute!“ wünschte. Zwar war Mimi kein Happy People Mensch, aber sie war immer ziemlich begeisterungsfähig. Aber außer das ich Geburtstag hatte, war in der Schule alles wie immer. Lange Schulstunden und zu kurze Pausen, bis wir um eins endlich in die Freiheit entlassen wurden.
Als ich nach Hause kam war es halb zwei, das hieß etwas mehr als zwei Stunde bevor ich meine Geschenke öffnen durfte. Deswegen war ich sehr erstaunt, als neben meinem Teller auf dem Tisch schon ein Päckchen lag. Allerdings war es unverpackt, einfach nur ein kleines Paketpäckchen. Als ich meine Mutter fragend ansah, meinte sie nur: „Lag vorher draußen vor der Haustür. Ohne Absender. Nur dein Name steht drauf.“ Schwarz und klein in einer Ecke und in einer altmodischen, geschwungenen Schrift stand er da. Cara Krämer. Mehr stand da nicht. Ich bekam normalerweise nie Päckchen. Vielleicht war das Päckchen von irgendeiner Großtante, die ich nicht wirklich kannte, aber die mir was zum Geburtstag schenkte. Das Jahr davor hatte ich auch durch Päckchen erfahren, dass ich eine Großtante Hilda und eine Urgroßtante Marianne hatte. Doch als ich nach dem Essen das Päckchen öffnete, lag nur ein weißer Stein da, der etwa halb so groß wie meine Handfläche war. „Was ist das denn?“, fragte Sara, die neben mir am Tisch saß und sich wohl mehr als nur einen Stein erhofft hatte. Sie drehte ihn in ihrer Hand herum und gab ihn mir schließlich gelangweilt zurück. Ich drehte ihn in meiner Hand herum und überlegte, wieso ich ein Päckchen ohne Absender bekommen hatte, mit nur einem Stein darin. Bevor ich allerdings zu einer Lösung kam, stellte meine Mutter den Topf mit Spagetti auf den Tisch, also steckte ich den Stein einfach in meine Hosentasche. Nach dem Essen holte ich den Stein wieder heraus und betrachtete ihn erneut. Wahrscheinlich wollte mir nur jemand einen Streich spielen, ich sollte nicht so viel darüber nachdenken, dachte ich. Ich warf ihn ein paar Mal in die Luft und fing ihn wieder auf, dann hielt ich ihn in meiner Faust fest und wollte nach oben gehen, da hörte ich die Stimme meiner Mutter. „Ach verdammt, Sybille kommt ja heute auch noch. Auf die hab ich ja überhaupt keine Lust. Wahrscheinlich meckert sie nur wieder über meine Klamotten oder über das Haus. Die kann ruhig zuhause bleiben!“ Tante Sybille? Bis jetzt hat es meiner Mutter noch nie etwas ausgemacht, wenn ihre kleine Schwester zu Besuch kam und über ihre Kleidung herzog. Sie hatten sich noch nie wirklich gut verstanden, was wohl auch daran lag, dass Sybille ein ziemliches Modepüppchen war, und immer recht arrogant herum stolzierte, ganz im Gegensatz zu meiner Mutter. „Seit wann interessiert dich, was Tante Sybille sagt?“, wollte ich also überrascht wissen. „Was?“, fragte meine Mutter irritiert zurück. „Du hast doch gemeint, dass du keine Lust auf Tante Sybille hast, weil sie immer rummeckert. Bis jetzt hat dich das doch auch nicht gestört.“ „Was? Das hab ich doch gar nicht gesagt!“ „Natürlich hast du das.“ Meine Mutter sah nun ziemlich überrascht, und gleichzeitig auch geschockt aus. „Das hab ich nicht gesagt, Cara.“ Ich war mir hundertprozentig sicher. Ich hatte es doch laut und deutlich gehört. „Vielleicht habe ich laut gedacht, ohne es zu merken? Komisch.“, meinte Mum. „Wahrscheinlich hast du das.“, sagte ich und wollte nach oben gehen. „Was habe ich?“, wollte Mum wissen. „Laut gedacht! Mann, Mama. Langsam wirst du wirklich vergesslich.“, grinste ich. „Cara, ich hab das nicht gesagt!“, Mum hängte ihr Handtuch über den Ofen und sah mich an. „Bin ich wirklich schon so alt, dass ich nicht mehr merke, was ich sage oder was ich nur denke?“ Ich konnte Mums Stimme hören. Laut und deutlich. Das komische war nur, dass ich sie dabei direkt ansah – und ihr Mund sich nicht bewegte. Ich hörte sie genau das sagen, aber ihr Mund blieb zu. Das war verdammt nochmal gruselig. „Ich… geh dann mal nach oben…“, meinte ich verstört. Das wurde mir gerade alles zu seltsam. Als ich oben war, betrachtete ich den Stein noch einmal. Ich hatte mich sicher nur getäuscht, ich war sowieso wieder total müde, schließlich war es Montag.

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Publication Date: 07-19-2011

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