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Januarblues

Lustlos zappte ich durchs Fernsehprogramm. Trotz der Masse an Sendern war nichts zu finden, was mich halbwegs interessierte und mich von diesem saumäßig blöden Gefühl ablenken könnte, das sich tief in mir festgesetzt hatte. Am liebsten hätte ich die Fernbedienung in die Glotze geworfen. Schade nur, dass das Flachbildding nicht so schön wie eine alte Röhre splittern würde.
Ja, es war mal wieder Januar. Der Erste. Neues Jahr, neue Hoffnung und alter Scheiß. Ich hasste diese Zeit abgrundtief. Das familiäre Gefühl und das Bild einer heilen Welt, das die Weihnachtszeit heraufbeschworen hatte, war mit den Silvesterraketen im regenverhangenen Nachthimmel verpufft. Typisch. Alle Welt lag sich in den Armen, schob sich demonstrativ gegenseitig die Zunge in den Hals. Nur ich stand wie der einsame Trottel, der ich war, zwischen den Pärchen. Martin, der Außenseiter im Gruppenknutschen.
Nein, Hoffnungen darauf, dass das Jahr mal anders als die bisherigen beginnen könnte, hatte ich mir gar nicht gemacht, hatte es mir selbst versagt.
»Dein Partner muss erst noch gebacken werden!«, hatte meine Mutter am Weihnachtsabend lächelnd gemeint. Wir standen in der Küche, hörten durch die offene Tür das Toben der Kids meiner Schwester und als ich mich etwas vorlehnte, konnte ich meinen Vater am Stubentisch sehen. Er bereitete gerade die Feuerzangenbowle vor, um sie anzuzünden. Mein Schwager zerrte zum x-ten Mal seine lachende Frau in Richtung des Mistelzweigs, der von der Stubenlampe hing. Unter dem freudigen Gejohle und Gekicher ihrer Kinder küsste er sie mal wieder.
Es war wirklich lieb von meiner Mutter, mir nicht die Hoffnung nehmen zu wollen, dass ich irgendwo »meiner großen Liebe« über den Weg rennen würde, oder dass irgendwo ein Bäcker einen Kerl - sanft gebräunt, mit Schokoladenaugen und Sahnefüllung - aus dem Ofen ziehen würde. Bei meinem Glück wäre es nur ein verhutzelter Keks mit verkohlten Rosinenaugen, da er so lange in der Röhre zugebracht hatte, dass er von der Hitze spröde und bitter geworden war. So ein Kerl wäre das Ergebnis meiner eigenen Traumprinzenbackmischung.
War ich sarkastisch? Neee, nur realistisch.
Die Wirklichkeit schlägt dir oft genug in den Nacken, sodass du kaum noch den Kopf hoch bekommst. Da wäre ein solcher Krümel eigentlich ideal, da man dann nicht den Kopf heben müsste, um dem Gegenüber in die Augen zu blicken. Man wäre schlichtweg nicht enttäuscht, wenn der Bäcker vergessen hätte, den Kekskopf aus dem Backofen zu ziehen und dich anstatt Schokolade Schweinsäuglein ansahen.
Ja, das war mein Problem: Bisher war ich immer nur an die falschen Typen geraten. Alt, ausgelutscht, verbittert. Oh, Mann! Das klang verflucht nach »Mimimi!« Aber egal. Ich durfte jammern so viel ich wollte. War doch sowieso niemand da, der sich darüber hätte beschweren können.
Das Einzige, das ich in dem Moment wollte, war, in meinem Selbstmitleid zu ersaufen. Ich wollte mich in ihm suhlen, mich darin baden und bis über die Ohren darin versinken.
Erst im Oktober hatte ich meinen 25. Geburtstag gefeiert und dabei feststellen müssen, dass ich bisher noch nichts aus meinem Leben gemacht hatte. Halt, ich formuliere es mal anders: Ich war nicht in der Lage, etwas aus meinem Leben zu machen. Ja, so ist es. Zu einer Beziehung, die länger als sechs Monate hielt, hatte ich es bisher nicht gebracht. Von Frühling bis über den Sommer, dann war Schluss, nicht länger. Keine Ahnung, warum es so war. Es war einfach so.
Das war in den vergangen drei Jahren so gelaufen. Also eine gute Voraussetzung, dass es auch in diesem Jahr wieder so laufen würde. War halt nur die Frage, was ich bis dahin tun sollte. Absitzen und warten? Ganz sicher nicht. Zu öde.
Zu meiner Schande musste ich feststellen, dass ich gerade das tat: Ich saß die Zeit ab und wartete und bemitleidete mich selbst. Auch wenn es gerade mal der erste Tag des neuen Jahres war. Der ideale Tag, um sich eine Liste anzulegen, was man sich für die restlichen Tage vornehmen könnte.
»Sich verlieben!«
Punkt 1 meiner ein-Punkte-To-do-Liste. Aber wie? Wo? Wer?
Da war dieser süße Kurierfahrer. Blonde kurze Haare, Bürstenschnitt, nicht gerade auf den Mund gefallen, und so wie er auf seiner Tour durch den Firmenflur zur Poststelle flitzte, unter Garantie auch nicht gerade von der … Ach, nein, der hatte Kinder und Frau. Das hatte er mal erzählt, als er auf ein Paket warten musste, das noch bestückt wurde.
Aber süß war er trotzdem.
Das war halt meine Schwäche: Immer die falschen Typen zu finden. Und schon war ich wieder bei meinem Mimimi angelangt.
Ich bräuchte eigentlich nur einen gewaltigen Arschtritt, der mich aus meiner Komfortzone katapultierte. Wie sonst sollte ich einen Kerl treffen, der zu mir passte? Nein. Da saß ich lieber zu Hause auf dem Sofa, eine Flasche Bier in der Hand, zappte mich durchs öde Neujahrsprogramm und im Bad rumpelte die Waschmaschine. Ja, sehr häuslich.
Das Läuten der Türglocke riss mich aus meiner Trübsal. »Wird bestimmt der langersehnte Traumtyp sein«, sagte ich mir brummig.
Mit einem Seufzen, das jedem anwesenden Mitmenschen verdeutlichen würde, wie ungern ich mich bewegen wollte, stellte ich die Bierflasche auf dem Couchtisch ab und trollte mich in den Flur. Ein Blick durch den Spion sagte mir, dass irgendein großer dunkler Schatten im Hausflur stand. In dem Moment hämmerte es gegen die Tür. Erschrocken zuckte ich zurück, weil es sich anfühlte, als hätte mir jemand direkt gegen die Stirn gedroschen.
»Welcher Giftzwerg hat dir ins Hirn geschissen, dass du meine Wohnung unter Wasser setzen musst?« Die Worte wurden mir entgegengeschleudert, sobald ich die Tür öffnete. »Das ist ein supergeiler Start in das neue Jahr!« Sarkasmus pur.
Fassungslos blickte ich den Kerl an, der vor meiner Wohnungstür stand und gegen mein Flurlicht anblinzelte. »Wasser?«, fragte ich und begriff überhaupt nichts.
»Stell das verdammte Wasser ab, Döskopp!«, erklärte mir mein … was? Besucher? »Das Zeug fließt inzwischen die Wand im Bad runter und sammelt sich auf meinem Fußboden.«
Ja, so langsam sickerte bei mir auch was durch: Ich hatte gar nicht die Waschmaschine angemacht!
In einer verzweifelten Aktion, die mehr auf der Hoffnung beruhte, dass alles nur Einbildung wäre und das Rauschen von der Maschine kam, die fleißig Wasser zog, trat ich an die Badtür und stieß sie auf. Eine kleine klare Welle lief über den Fliesenboden, brach sich an der Ecke der Duschkabine und lief direkt auf mich zurück.
Fassungslos folgte ich ihrer Bewegung mit den Augen, während Wasser in einer hohen Fontäne hinter der unglückseligen Maschine hervorschoss und geradezu anmutig herabregnete.
Ruppig schob sich der Kerl an mir vorbei, griff hinter diese verfluchte Maschine. »Unfähigkeit müsste bestraft werden!«, glaubte ich ihn murmeln zu hören, während die Fontäne versiegte. Zum Schluss war nur noch ein Tröpfeln zu hören, das von den klitschnassen Handtüchern neben dem Waschbecken herrührte, die auch ihren Teil vom Wasser abbekommen hatten.
»Ich hoffe sehr, dass du versichert bist«, wurde mir verkündet. Ich nickte langsam und kam mir dabei so unglaublich bescheuert vor, weil mein Hirn noch immer anderweitig beschäftigt war. Musste wohl der Schock gewesen sein.
»Selbstverständlich bin ich versichert!«, stieß ich schließlich aufgebracht hervor, sobald meine Gehirnwindungen endlich den Rückstand aufgeholt hatten. Zum einen war ich angepisst, weil mir dieser Kerl etwas unterstellte, ohne mich zu kennen und zum anderen, weil er mich aus meiner Frustzone herausgerissen hatte. Darüber hatte sich meine Unzufriedenheit in Verärgerung transformiert.
Die konzentrierte sich gerade auf den Mann, der mitten in meinem überschwemmten Bad stand und ein Wet-T-Shirt-Contest veranstaltete. Das dunkle Haar klebte ihm in nassen Strähnen am Kopf, die Augen blitzten wütend und die Fäuste hatte er in die Seiten gestemmt. Unter normalen Umständen würde ich den Anblick genießen, der sich mir bot und auch jetzt hatte ich Schwierigkeiten, meinen Blick von den Konturen zu lösen, die sich deutlich unter dem Shirt abzeichneten. Nein, nur nicht weiter nach unten gucken! Ich wollte gar nicht wissen, wie seine Jeans saß.
Der Kerl war heiß, keine Frage. Und das war gerade das Problem, mit dem ich und mein eigener Körper zu kämpfen hatte. Seine Wut wischte meine Verärgerung fort, ließ sie regelrecht verpuffen. »Echt super, Martin! Kriegst nen Steifen, während dir jemand am liebsten die Eingeweide rausreißen würde«, gratulierte ich mir selbst. Ich hab echt nen Knall.
»Dann mal her mit deiner Nummer«, knurrte der Kerl mich an, wischte sich eine Strähne aus der Stirn.
Jetzt? Klar, warum nicht? Aber … »Jetzt gleich? Sofort? Hier?«
»Ja, selbstverständlich!« Im nächsten Moment zogen sich die schön geschnittenen Augenbrauen zusammen, bis sie fast eine Einheit bildeten. Sein Blick war von meinem Gesicht abgerutscht und hing irgendwo in Höhe meines Bauches, vermutlich dort, wo meine Finger am Band meiner Jogginghose zupften. Röte schoss ihm in die Wangen, ließ sogar seine Ohren glühen. »Ahm … Was soll das werden?«
»Du wolltest doch …« Heiße Erkenntnis schoss mit Macht in mein Hirn. »Oh – die Versicherungsnummer.« Meine Verlegenheit überspielend zerrte ich aus dem schmalen Badschrank einen Stapel Handtücher, verteilte sie auf dem Fußboden und verfluchte mich im Stillen für meine Beschränktheit. »Geht gleich los«, setzte ich geschäftig hinzu und befasste mich damit, die Handtücher an strategisch guten Stellen zu verteilen, damit sie das Wasser aufsaugen konnten. Aber anstatt mich dem zu widmen, wäre ich am liebsten mit dem Kopf gegen die nächste Wand gerannt.

***

»Na, versinkst du mal wieder im Januarblues?« Es war Samstagabend, als sich Ben einfach durch die halb offene Tür schob. Er drängelte sich an mir vorbei in den Flur, wo er sich die Schuhe von den Füßen trat. In den Händen hielt er ein Sechserpack. »Zum leichten Vorglühen«, sagte er und wandte sich dem Wohnzimmer zu. Ja, er war schon häufiger hier gewesen, kannte sich bestens aus. »Die anderen fragen sich schon, wo du abgeblieben bist«, erzählte er über die Schulter weiter. »Ohne dich lassen sie mich heute nicht in den Club.«
Ich verdrehte die Augen, schloss sie für einen Moment. »Lasst mich doch einfach in Ruhe«, murmelte ich, während ich die Wohnungstür ins Schloss drückte. »Ich bin nicht in Stimmung für eure Spielchen.«
»Oha! Da hat es aber jemanden schwer erwischt!« Ben hatte das Pack auf dem Couchtisch abgestellt und riss gerade eine Flasche aus der Folie, hielt sie mir auffordernd entgegen. »Das wird sich ändern. Wir holen dich in Nullkommanix aus dem Bluesloch«, versprach er und zwinkerte mir zu. »Es trifft jeden irgendwann mal und wie du weißt, haben wir umfassende Erfahrungen, sämtliche Deprilöcher aufzufüllen.«
Ja, das haben meine Freunde wirklich und das war gerade das, was mir Sorgen bereitete.
»Also, erzähl mal«, forderte Ben mich auf und ließ sich aufs Sofa fallen. Mir zuprostend hob er eine Flasche an seine Lippen.
Ich setzte mich ihm gegenüber in den Sessel, drehte die Plasteflasche unschlüssig zwischen meinen Fingern, bevor ich den Verschluss löste. »Gibt nichts zu erzählen.«
Bennis Augenbrauen rutschten nach oben, verschwanden fast hinter dem fransig geschnittenen Pony. »Wer’s glaubt!«, erklärt er mit einem Schnalzen. »Je älter du wirst, umso tiefer wird das Loch, in das du nach den Feiertagen rutschst und daher auch immer schwieriger, dich dort wieder herauszuholen. Also beweg endlich deinen breiten Arsch, schwing ihn in eine knackige Jeans und sieh zu, dass du jemanden aufreißt, der dir die Trübsal aus dem Hirn fickt.« Eindringlich blickte er mich an. »Ich habe keinen Scherz gemacht, als ich sagte, dass ich ohne dich nicht im ›Chaos‹ aufkreuzen darf. Henni würde mir die Hölle heiß machen.«
Mit einem schweren Seufzen stellte ich die Flasche auf den Tisch. »Deine Überredungskünste sind echt das Letzte«, erklärte ich meinem Kumpel und gab beim Aufstehen aus dem Sessel ein langgezogenes Stöhnen wie ein Siebzigjähriger mit schwerer Arthritis von mir.
»Beweg dich nur nicht zu schnell«, murmelte Ben. »Du könntest sonst noch über die Teppichkante stürzen und dir den Hals brechen.«
Freunde, wie ich sie liebte.

***

Knapp eine Stunde später standen wir vor dem »Chaos«. Von unseren Freunden war keine Spur zu sehen. Geradezu panisch tippte Ben auf seinem Handy herum. »Diese Mistkrücken sind schon drin!«, erklärte er mir verärgert und deutete anklagend auf den Eingang zum »Chaos«, vor dem sich eine bunte Traube an Partysüchtigen angestaut hatte. Bunt schillernd, manche wie Paradiesvögel. Viele hatten ein Zugeständnis an das Winterwetter gemacht und sich einen Mantel oder eine dicke Jacke übergezogen. Andere wirkten, als würde sie die Kälte überhaupt nicht interessieren, hatten aber bereits bläulich angelaufene Lippen. Oder es war schlichtweg Lippenstift. Das wäre natürlich auch möglich.
»Schöne Freunde haben wir!«, grollte Ben. Im nächsten Moment spürte ich, wie er mich am Arm vorwärts zerrte, direkt in die Traube der Kanarienvögel, Schnepfen und Reiher hinein. Ja, von denen war mindestens einer bereits anwesend, stand an der Wand etwas abseits gelehnt, machte seinem Namen alle Ehre und das nicht gerade leise. »Ich hoffe nur, dass sie einen Tisch freigehalten haben«, motzte Bennilein weiter.
Ich ließ sein Gemecker still über mich ergehen. So richtig in Stimmung war ich noch immer nicht und zu den Partylöwen gehörte ich sowieso nicht, außer, wenn ich siebenachtel im Tee hatte. Und den hatte ich im Moment unter Garantie nicht. Meine Laune war miserabel und sank noch tiefer, nachdem ich von jemanden einen Ellbogenrempler in die Seite bekommen hatte und so eine aufgehübschte Zicke mir mit ihren Highheels auf den Fuß treten musste. Ich fragte mich sowieso, wie die mit diesen Stöcken tanzen können.
Ben zerrte mich immer weiter vorwärts, bis er vor dem Eingang stand. An seinem Rücken vorbei blickte ich direkt in das Dunkel hinter einer rot-weißen Kordel, die elegant den Durchgang versperrte. »Wir werden erwartet«, hörte ich ihn zu irgendjemanden sagen, konnte nicht sehen, zu wem, da mir mal wieder jemand in den Hacken latschen musste. Müssen die Leute eigentlich ständig anderen so dicht auf die Pelle rücken? Ist ja fast wie in der U-Bahn bei Feierabend!
Schon zog Benni wieder an meinem Arm, aber so heftig, dass er mich damit zum Stolpern brachte. Zum Glück verhinderte eine Wand, dass ich stürzte.
»Der bleibt draußen!«, erklang nur Augenblicke später eine harsche Stimme dicht neben mir.
Sprachlos blickte ich mich um, sah in Bens überraschtes Gesicht, Augen und Mund in fassungslosem Erstaunen aufgerissen, unfähig nach den richtigen Worten zu suchen, während ich noch immer zu begreifen versuchte, wem der Zugang zu den geheiligten Hallen des »Chaos« verwehrt werden sollte. Mir etwa? Nach Bennis Reaktion zu urteilen, musste es wohl so sein.
Ich!? Ich sollte nicht den Club betreten dürfen? Welcher Arsch wollte es mir verbieten?
Nun war ich ehrlich angepisst. Nein, ich hatte nicht vorgehabt, heute irgendwo hinzugehen, ich bin dazu gezwungen worden. Man hatte mich aus meiner Wohlfühldepriphase herausgerissen wegen einem simplen Clubbesuch. Und nun …
»Der bekommt keinen Zutritt«, wurde Ben noch einmal mit sachlicher Stimme erklärt. »Mit dem habe ich noch etwas zu klären.«
»Nun hör mir mal gut zu«, zischte ich den Typen im schwarzen Securityoutfit mit drohend erhobenen Zeigefinger an. »Du …«
Es verschlug mir die Sprache, als ich in dunkle Augen blickte, die mir irgendwie bekannt vorkamen. Dunkelblonde Haare, leicht gewellt, schöne Lippen, die sich nun zu einem Grinsen verzogen. Erkennen tröpfelte in mein Hirn. Der Wasserschaden. Samuel Huber war sein Name, wie ich aus den Unterlagen wusste, die mir meine Versicherung hatte zukommen lassen. Erstaunlich schnell war sie ja gewesen.
Er nickte seinem Kollegen zu, der im Hintergrund gestanden und von dort aus die Masse am Eingang überblickt hatte. Nun trat er vor und ich wurde zugleich am Absperrband vorbei durch den Eingang geschoben. Über die Schulter hinweg warf ich Ben einen kurzen Blick zu, der uns perplex hinterher sah.
Samuel schob eine Tür auf, die hinter einem Vorhang im Eingangsbereich verborgen war und in einen Raum führte, der mehr eine Abstellkammer war. Eimer und Besen standen hier sowie ein Regal mit irgendwelchen Putzmitteln.
»Also, was wolltest du noch mit mir klären?«, verlangte ich zu wissen. Inzwischen ging es mir gehörig auf die angeschlagenen und überstrapazierten Nerven, von einer Ecke der Stadt in die andere geschoben zu werden und nun ging es hier noch weiter. Gleiches Procedere, neue Leute.
Herausfordernd blickte ich den Hünen vor mir an. War er vor … wann war das gewesen? Zwei Wochen? … auch schon so groß gewesen oder war er noch gewachsen, weil er im Wasser stand? Gut gedüngt. Und die Muskeln hat er dabei auch noch aufgepumpt. »Stimmt etwas mit der Versicherung nicht?«, fragte ich mit trockenen Lippen.
Mit einer Hand kämmte sich Samuel das Haar aus der Stirn und prompt fiel ihm wieder eine Strähne hinein. Vorwitziges Ding.
»Nein, mit der ist alles in Ordnung«, sagte der riesige Kerl leise, wirkte irgendwie unsicher, verzagt, nicht wie der Typ, der andere Leute zu Kleinholz verarbeiten könnte. »Ich hoffe, dass du mein Auftreten nicht in den falschen Hals bekommen hast.«
Okay. Irgendetwas läuft hier gerade verkehrt. Aber mächtig gewaltig. »Ich weiß nicht was du meinst«, erwiderte ich, mich dumm stellend, weil das einzige, dass mir gerade in den Sinn kam, war, dass ich vor ihm die Hosen hatte fallen lassen wollen. »Ich bin der Meinung, dass wir die Sache einfach vergessen sollten.« Ja, das sollten wir. Eine solche Peinlichkeit sollte vergessen werden. Nicht wieder dran erinnern!
»Einfach so?«, fragte er.
Ja, wie denn sonst? »Sobald Farbe drüber ist, sieht man doch eh nichts mehr.« Aus den Augen, aus dem Sinn.
Samuel zog die Augenbrauen zusammen, bis sie fast wieder eine Einheit bildeten und irgendwie wirkte er unzufrieden. Trotzdem nickte er zustimmend. »Okay. Schwamm drüber.« Im nächsten Moment riss er in einer ruppigen Bewegung die Tür auf. Noch etwas stärker und er hätte die Klinke in der Hand gehabt. Mir egal, war nicht meine Tür.
Vor der Garderobe hielt ich Ausschau nach Ben, entdeckte ihn schließlich an der Treppe, die zur Bar hinaufführte. »Was wollte der denn von dir?«, fragte er auch sofort nach, als ich bei ihm eintraf. »Ist einer von den neuen Securityleuten, die der Betreiber eingestellt hatte«, erklärte er weiter, ohne auf meine Antwort zu warten. Die wäre sowieso nur ein unbestimmtes Achselzucken gewesen. Trotzdem blickte er mich abwartend an.
»Ich hatte am Neujahrstag eine Überschwemmung im Bad«, erzählte ich. »Und er wohnt direkt unter mir. Nur eine Versicherungssache.«
Bens Blick wirkte geradezu enttäuscht über meine banale Erklärung. Hätte ich mir vielleicht eine Geschichte aus den Fingern saugen sollen? Wahrscheinlich. Etwas Spektakuläres. So etwas in der Art wie: Schwuler bekommt unverhofften Besuch von einem Nachbarn und wird von ihm noch im Flur flachgelegt. Schön wär’s. Mit dem Typen auf jeden Fall.
In der Bar wurden wir von Musik empfangen, die nur gedämpft vom Floor her zu hören war und von einer aufgekratzten Henrietta. Freudestrahlend tanzte sie um uns herum. »Martin, mein Lieber!«, flötete sie mir ins Ohr, während sie mich umarmte. »Ich wusste, dass Ben es schafft, dich herzuschleppen.«
»Er hatte einige hieb- und stichfeste Argumente«, sagte ich grinsend, erwiderte die Umarmung und wandte mich dann Sven zu, der hinter seiner Frau stand und ihre Überdrehtheit belächelte. Mit einem Handschlag begrüßten wir uns, machten nicht viele Worte.
»Was war los?«, fragte er, als er sich neben mir auf die Bank schob, wo ich auch Karen und Janus begrüßte. »Winterblues mal wieder?«
Unbestimmt zuckte ich mit den Schultern. »Nun bin ich ja hier«, sagte ich grinsend statt einer direkten Antwort und griff zur Cocktailkarte. »Lasst uns feiern.« Manchmal ließ sich das Leben nur im Suff ertragen. Zum Glück waren meine Freunde der gleichen Meinung, zumindest an diesem Abend, und keine Viertelstunde später hoben wir unsere Gläser, prosteten uns zu.
Das »Chaos« war eigentlich nicht mehr, als ein größerer Tanzschuppen mit nur einem Floor und einer darüberliegenden gemütlichen Bar. Die Musik richtete sich nach den aktuellen Songs, die noch halbwegs tanzbar waren, den Vorschlägen und Wünschen der Gäste sowie der Laune des DJs. Das Publikum war bunt gemischt, wild durcheinander gewürfelt. Hier hatten sich Henni und Sven getroffen, aber auch Janus hatte seine Karen im Club gefunden. Ben war noch auf der Suche nach seiner »holden Maid«, wie er sie immer lachend nannte, ebenso wie ich nach meinem Mann.
Eine genaue Vorstellung, wie er sein sollte, hatte ich nicht, brauchte ich nicht, weil ich inzwischen der Meinung war, dass das Aussehen nicht alles sein konnte. Vielleicht war ich in den vergangenen Jahren zu oft auf die Fresse gefallen, weil ich zu sehr darauf geachtet hatte? Möglich wäre es. Mit zwanzig ist halt das Aussehen und das, was geboten wird wichtiger, als die »inneren Werte«, wie man so schön sagte.
Ich ließ mich gerade von der Musik treiben, machte die Tanzfläche unsicher. Dabei beobachtete ich die Masse sich bewegender Körper und hielt nach jemandem Ausschau, der mich interessieren könnte. Davon waren eigentlich ausreichend vorhanden, doch leider viel zu häufig in weiblicher Begleitung. Das machte das »Chaos« für mich schwierig. Wie sollte man an diesem Ort einen Kerl finden, der nicht auf Titten stand? Auf der Stirn hatte es keiner tätowiert.
Frust machte sich mal wieder in mir breit und ich erwog für einen Moment, nach Hause zu fahren. Es hatte doch keinen Sinn, den Abend hier noch weiter abzuhängen.
»Na, kein Glück?« Sven hatte sich von hinten an mich herangetanzt. Mit dem Kinn deutete er zum Rand der Tanzfläche hin. »Henni schickt mich, dich von deinen unfähigen Bemühungen zu erlösen.«
»Ihr seid echt liebe Freunde«, murmelte ich nicht gerade erfreut darüber, dass mir dieses unter die Nase gerieben wurde.
»Wir bauen auf – und reißen nieder!«, erklärte Sven grinsend, legte mir kumpelhaft einen Arm um die Schultern und zog mich zu seiner Frau hin. Am Tisch wurde mir von ihr schon ein Bier zugeschoben, das ich dankbar annahm.
»Ist heute nicht mein Tag«, sagte ich entschuldigend.
Henni zuckte nur mit einer Schulter. »Geht jedem so.« Damit war das Thema für sie erledigt. Schweigend beobachteten wir die Tänzer, über die Lichter zuckten und die Bewegungen verzerrten.
Ein leichtes Zupfen an meinem Ärmel erregte meine Aufmerksamkeit. Karen hatte sich zwischen mich und ihren Janus geschoben. »Wer ist das?«, fragte sie, als ich mich ihr zugewandt hatte und deutete mit einem Nicken in Richtung des Einganges.
»Samuel«, erwiderte ich, als ich die hochgewachsene Gestalt erkannte. Gut sichtbar stand er dort und überblickte die tanzende Masse. Die Arme hatte er vor der Brust verschränkt und wirkte wie ein Schrank. »Wohnt in der Wohnung unter mir.« Prüfend sah ich noch einmal zu ihm hinüber. »Warum fragst du? Interessiert? Ich könnte so lieb sein und euch miteinander bekanntmachen«, schlug ich ihr mit einem Zwinkern vor.
»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich einen anderen Mann angucke, seit ich Janus habe«, lehnte sie mein Angebot lachend ab.
Nein, das glaubte ich tatsächlich nicht.
»Er beobachtet dich.«
Hatte ich Karens Worte gerade richtig verstanden? »Wer?«
»Na, er«, sagte sie. Zur Unterstreichung ihrer Worte deutete sie ein weiteres Mal in die Richtung des Einganges und schien erstaunt über meine Begriffsstutzigkeit.
Skeptisch rutschte eine Augenbraue nach oben und ein »Pffff!« teilte ihr meine Meinung zu diesem Thema mit. »Warum sollte er mich beobachten? Ich denke eher, dass er befürchtet, dass er das Geld von der Versicherung nicht bekommen und auf dem Schaden sitzenbleiben könnte.«
»Wie kommst du darauf?«
Unbestimmt zuckte ich mit den Schultern. Unwillkürlich kam mir der kurze Wortwechsel in den Sinn, den seltsamen, mit dem ich nichts anzufangen wusste. »Ich denke nicht, dass er schwul ist, wenn es das ist, worauf deine Fragerunde abzielt.«
Nun war es an Karens Augenbraue hochzurutschen.
»Interessiert er dich?« Die Frage kam aus einer unerwarteten Ecke, von Ben.
Nein, kein Interesse, nicht mein Typ.
Warum sagte ich es nicht einfach? Stattdessen sah ich ein weiteres Mal zum Eingang, wo sich Samuel gerade mit einem zierlichen Mädchen unterhielt. Den Kopf hatte er leicht zur Seite geneigt, wohl um ihre Worte besser verstehen zu können, während sie mit den Händen in den Saal deutete und ihm etwas zu erklären schien.
Vielleicht.
Ich wüsste nicht, wann ich zum letzten Mal einen Mann kennengelernt hatte, mit dem man sich so intensiv unterhalten konnte, dem man Dinge erklären konnte, ohne dass man gleich besserwisserisch zurechtgewiesen wurde? Kein Großkotz, keine Arschgeige.
»Nicht mein Typ«, erklärte ich meinen Freunden schließlich doch, die sich leicht vorgeneigt hatten und geradezu sehnsüchtig auf meine Antwort warteten.
»Woher willst du das wissen?«
Ich verdrehte die Augen, als ich Hennis Frage hörte. War ja eigentlich klar, dass die kommen musste.
»Ich werde es doch wohl am besten wissen«, erklärte ich brummig und nahm einen tiefen Schluck aus meiner Flasche. Damit war das Thema für mich erledigt. Nur leider waren meine Freunde anderer Meinung, blickten mich unzufrieden an und Karen wirkte sogar schmollig. Erst als Janus sie auf die Tanzfläche zog, wurde sie wieder versöhnlich und lachte.
»Du wirst auch noch jemanden finden«, versprach Henni, die sich zu mir über den schmalen Tisch gelehnt und nach meiner Hand gegriffen hatte. Zuversichtlich drückte sie sie und ich hoffte, dass es tatsächlich so sein könnte.

***

Es schneite und ich wollte überhaupt nicht aus dem Bett. Der kurze Blick zum Fenster hatte mir schon gereicht. Aber leider bestand meine Blase auf einen Gang ins Bad und Kaffeedurst quälte mich auch noch.
Sobald ich die Bettdecke zur Seite geschlagen hatte, verfluchte ich meine Blase und den Durst gleichzeitig und auch denjenigen, der gestern das Fenster in der Stube über Nacht angekippt hatte.
Eilig schloss ich es, bevor ich mich ins Bad und dann in die Küche trollte, wo ich die Kaffeemaschine zum Leben erweckte. Überall drehte ich die Heizkörper auf, damit die Wohnung schnell durchgeheizt wurde und verkrümelte mich bibbernd zurück ins Bett, zog mir die Decke bis an die Nase. So eingepackt war ich doch noch einmal eingeschlafen und erst das Geräusch der Türglocke weckte mich.
Schneeflocken rieselten nicht mehr am Fenster vorbei, doch hatte sich am Grau des Himmels nichts geändert. Eisgrau. Dreizehn Uhr verriet mir mein Wecker. Eigentlich müsste ich ausgeschlafen sein, stattdessen fühlte ich mich eher wie durch den Fleischwolf gedreht. Wieder schrillte die Türglocke, ließ mich gequält aufstöhnen. Warum hat man noch nicht einmal an einem Sonntag seine Ruhe?
Trotzdem hievte ich mich aus dem Bett, schlüpfte eilig in meine Jogginghose und wunderte mich über die Kälte im Schlafzimmer. Eigentlich war ich der Meinung, dass ich die Heizung auch hier angestellt hätte. Hatte ich wohl doch nicht. Wegen dem eisigen Schauer, der mir über die Haut ran, zog ich mir auf dem Weg zur Wohnungstür noch einen Pullover über, der nicht so recht wollte, wie ich es verlangte. So hing ich noch mit einem Arm im Strickärmel, während ich mit der freien Hand bereits die Klinke betätigte.
Samuel stand vor der Tür und unwillkürlich neigte ich den Kopf zur Seite, horchte, ob ungewöhnliche Geräusche zu hören seien. Doch bis auf das Summen des Kühlschrankes und das Knacken der Heizplatte, auf der die Kaffeekanne noch immer warm gehalten wurde, unterbrach nichts die Stille.
»Gibt es wieder Probleme?«, fragte ich und ärgerte mich zugleich über meinen herausfordernden Ton. Kein »Hallo« oder kleines »Hi!«, sondern nur eine ruppige Frage. »Magst du einen Kaffee? Der ist gerade fertig.« Zum Glück arbeitete noch mein Hirn, das der Unhöflichkeit den Stachel nahm und meinem unerwarteten Besucher das Friedensangebot unterbreitete. Dass das Gesöff schon seit gut zwei Stunden auf der Platte stand, musste ich ihm ja nicht auf die Nase binden.
»Gern«, sagte Samuel und trat an mir vorbei in den Flur. »Ich wusste nicht, wen ich sonst noch fragen könnte«, erzählte er, während ich die Tür schloss und ihm deutete voran in die Küche zu gehen. »Die Heizung scheint nicht zu funktionieren.«
Bei seinen Worten sah ich meinen Besucher erstaunt an. Nein, nicht wegen der Heizung, sondern eher, weil er sich angeblich nicht getraute, irgendeinen anderen Nachbarn darauf anzusprechen. Für einen zurückhaltenden Mann hatte ich ihn nicht gehalten. Eher im Gegenteil.
In der Küche trat ich an den Heizkörper. Eisigkalt, obwohl der Regler voll aufgedreht war. »Tja, bei mir auch«, sagte ich zu Samuel und wandte mich um, um den angebotenen Kaffee in Tassen zu füllen. »Wir könnten jetzt nur den Notdienst anrufen und hoffen, dass er sich schnellstmöglich darum kümmert.«
Mein Nachbar nickte zustimmend und griff nach der Tasse, die ich ihm reichte. In seiner Hand wirkte sie eher wie eine Espressotasse. Unwillkürlich sah ich auf meine Finger hinab. Größenvergleich der anderen Art. Oh nein, Martin. Wir waren bei Heizkörpern …
Für einen Moment schloss ich die Augen, musste wieder einmal die Bilder verarbeiten, die sich in meinem Hirn abspulten wie ein Stummfilm. Erstaunlich, wie man auf Assoziationen Assoziationen erzeugte. Ein einziger Kreislauf, zu dem ich nur etwas hilflos lächeln konnte und es hinter meiner Tasse versteckte.
Unschlüssig blickte mich Samuel über seinen Kaffee hinweg an. Entweder überlegte er, ob er mir meinen schlechten Kaffee vorhalten sollte oder er gedachte, mich auf mein Grinsen anzusprechen. Am Ende war es nichts von beidem.
»Du könntest hier bleiben, bis das mit der Heizung in Ordnung gebracht ist«, bot ich an, hirnlos, bevor er auch nur den Mund aufmachen konnte. »Wir machen es uns auf dem Sofa bequem, gucken fern oder zocken an der Konsole.« Wer hatte mir ins Hirn geschissen, dass ich ihm einen solchen Vorschlag machte?
Tatsächlich sah mich Samuel auch gerade so an. »Bei dir ist es genauso kalt, wie bei mir.«
Grinsend warf ich meinen Trumpf aus. »Ich habe einen Radiator.« Ich hatte echt ne Macke. Angeber.
Nachdenklich blickte Samuel in seinen Kaffee, als müsste er im Satz lesen. »Okay«, sagte er schließlich und ich glaubte, Widerstreben herauszuhören. »Ich habe nur noch etwas zu erledigen.«
»Und ich ruf beim Notdienst an«, erklärte ich, nickte bekräftigend.

***

Stunden später lag ich im Bett. Unzufrieden wälzte ich mich von einer Seite auf die andere, fand einfach keinen Schlaf. Vielleicht lag es daran, dass mein Hirn immer wieder einen Film vom Nachmittag abspielte. Ich durchlebte regelrecht die Zeit, die ich mit Samuel verbracht hatte, ein weiteres Mal.
Wir hatten es uns in meiner Wohnstube bequem gemacht, hockten auf dem Sofa, während der Radiator eine angenehme Wärme verbreitete. Zusätzlich heizte uns auch noch das Spiel an der Konsole ein und der Glühwein, den Samuel mitgebracht hatte. Oder es war, weil ich ihn gerade an die Wand spielte, nachdem er mich nackig gemacht hatte. Natürlich nur im Spiel.
Sein Lachen hatte durch die Stube gedröhnt und mehr als einmal war ich versucht gewesen, ihm in die Seite zu knuffen, wenn er sich mal wieder über einen besonders gelungenen Zug amüsierte. Nein, er war in keiner Weise schadenfroh, man sah es ihm einfach an, dass er seinen Spaß hatte. Und außerdem mochte ich sein Lachen, das herzlich und ehrlich klang und in seinen Augen wiederzufinden war.
In einer Spielpause hatte er erzählt, dass er auf dem Bau arbeitet und 26 wäre. Den Job bei der Security hätte er nur angenommen, weil gerade Winterpause auf den Baustellen sei. Von mir erzählte ich nichts, wollte nicht, obwohl Samuel versuchte, etwas aus mir herauszuholen. Oder sollte ich ihm etwa auf die Nase binden, dass er vor einigen Tagen in meinen größten und tiefsten Januarblues aller Zeiten hereingeplatzt war? Nein, die Blöße würde ich mir nicht geben. Nie.
Aber irgendwie hatte ich den Eindruck, dass er diese Emotion kannte. Ob er auch diese Leere spüren würde, die sich manchmal zu einer unbestimmten Sehnsucht auswuchs? Am schlimmsten war dann immer das Gefühl, nie diese Verbundenheit erleben zu dürfen, die zum Beispiel, meine Eltern hatten, wenn man sich mit einem Blick verstand.
Ich musste zugeben, dass ich immer ein Zweifler gewesen war, jemand, der Gefühle als unecht hinstellen wollte. Aber wie konnte ich das, wenn ich gerade in der familiären Zeit um Weihnachten herum in diesen versank? Dies, und die Hoffnung, dass es sich ändern könnte, dass es sich für mich ändern könnte. Vorzugsweise am Silvesterabend. Das i-Tüpfelchen. Neues Jahr, neues Glück, neue Zukunft, ganz neues Leben.
Tja, Pustekuchen. Es war das gleiche Spiel wie immer: Ich lag in meinem Bett. Allein. Keine Wärme von einem anderen Körper, der sich gegen mich lehnte, keine Haut, über die meine Finger streichen konnten, so oft ich es wollte. Kein Gemecker über Haare im Abfluss oder eine offene Zahnpastatube. Niemand, der morgens die Kaffeemaschine anstellte.
Wieder eine halbe Drehung auf die andere Seite.
Alles Mist, alles Scheiße. Einsamkeit schmerzt. Aber noch schlimmer und schrecklicher wäre es wahrscheinlich, wenn man jemanden an seiner Seite hätte und trotzdem einsam wäre. Okay, also hat Singledasein doch etwas Gutes und gut war, wenn ich mir so etwas schönreden konnte.
Aber die Zeit mit Samuel war … gut. Nein, nicht »schön«. Das wäre das falsche Wort. Das würde schon eher auf ihn selbst zutreffen. Ja. Er ist schön.
Wieder auf die andere Seite zurückwälzen und dabei grummeln und meckern, um das Grinsen bei der Erinnerung an ihn von meinem Gesicht zu wischen.
Wem machte ich eigentlich etwas vor? Mir selbst. Ich belog mich selbst. Egal was ich Karen gesagt hatte: Samuel war der Typ Mann, auf den ich abfuhr.
»Das ist nur wieder deine Depriphase«, erklärte ich der Dunkelheit, vergrub das Gesicht in den Kissen. »Da kommst du wieder raus.« Ja, irgendwann.

***

»Wochenende war super gewesen!«
Erschrocken zuckte ich zusammen, als ich so unerwartet angesprochen wurde. Ich war soeben von der Arbeit gekommen und sah in den Briefkasten, in dem natürlich mal wieder nur Werbung war.
Samuel war neben mich getreten und öffnete gerade seinen Briefkasten. »Müssen wir unbedingt wiederholen«, erzählte er weiter, während er irgendeine bunte Zeitschrift und Briefe durchsah, die er herausgenommen hatte.
Als ob ich darüber lange überlegen müsste! Jederzeit gerne, am besten sofort! »Ja, warum nicht?«, murmelte ich zögerlich. Nur nicht zu viel Begeisterung zeigen.
»Heute?«, schlug Samuel vor.
Ablehnend schüttelte ich den Kopf. »Nee, muss wochentags immer früh raus«, und schlug meinerseits Freitag vor. Mhhh … Zocken bis spät in die Nacht und am nächsten Morgen lange ausschlafen. Klang gut. Saugut, vor allem auch die Bilder, die ich in dem Moment vor Augen hatte.
Nun war es an Samuel, betrübt aus der Wäsche zu gucken. »Schicht im Club«, erklärte er mit einem entschuldigenden Schulterzucken.
»Sieht so aus, als könnten wir es mit unserer Arbeit nicht auf die Reihe bekommen«, sagte ich. »Dann bleibt wohl nur noch der Sonntag.«
Im ersten Moment glaubte ich Enttäuschung auf Samuels Gesicht zu entdecken, doch war es nur für einen Wimpernschlag, bevor ein Lächeln sein Gesicht erhellte. »Okay, abgemacht. Dann sehen wir uns am Sonntag – oder schon früher im Club?« Fragend zog er die schönen Augenbrauen nach oben.
»Vielleicht«, erwiderte ich. Nur nicht zu euphorisch sein! »Ich weiß noch nicht genau, ob wir dieses Wochenende wieder im ›Chaos‹ sein werden.«
»Okay«, sagte Samuel ein weiteres Mal. »Dann: Vielleicht.« Grüßend hob er die Hand und wandte sich zum Gehen.
Und ich schloss die Augen. Alles sperrte sich in mir, ihn einfach so gehen zu lassen und bis zum Wochenende … Einsame, eisige Leere fühlte ich. Sie schwappte in mir hoch wie eine Welle.
»Warte!« Geradezu erschrocken sah ich auf und spürte noch immer das Wort auf meinen Lippen. Mit erstauntem Blick sah Samuel zu mir zurück. Interesse war in seinen Augen zu erkennen und auch darin, wie er den Kopf hielt. Reine Neugierde.
Ja, ich war auch neugierig, und zwar darauf, weswegen ich Samuel aufgehalten hatte. »Ich muss nur etwas essen, dann können wir …« Spielen. »Zocken.«
Samuels Freude über meine Zusage fuhr mir direkt in den Bauch, ließ Schmetterlinge flattern und Elche röhren. Innerlich verdrehte ich die Augen und fragte mich, warum ich ständig auf solche lausigen Vergleiche kam.
Mit wenigen Schritten war er wieder bei mir, tippte mir mit seiner Zeitschrift gegen die Brust. »Ich habe einen Vorschlag: Du springst unter die Dusche«, erklärte er. »Und ich bring für dich das Abendessen mit.«
Ahhhh!, konnte ich nur denken. »Mein persönlicher Lieferdienst«, brachte ich schließlich doch noch mit einem schiefen Grinsen hervor. »Das ist etwas, woran ich mich ganz schnell gewöhnen könnte.«
Die Wohnungstür lehnte ich nur an, überlegte aber, ob ich die Badtür verriegeln sollte. Nur zur Sicherheit. Schließlich ließ ich sie doch aufgesperrt. Was wäre, wenn?
Die Bilder, die mein Gedankenkarussell bei dieser Frage erschuf, erforderten eine bibbereisigkalte Dusche. Unter dieser stand ich noch immer, als ich Samuel in meiner Küche werkeln hörte.
Die Vorstellung, dass er mir das Essen machte, hatte irgendwie etwas heimeliges und warmes. Es klang nach Gemütlichkeit und wie ein Nachhausekommen und erzeugte tief in mir die Hoffnung, dass daraus mehr werden könnte. Mehr als nur eine Hausbekanntschaft oder Freunde.
Bei dem Gedanken verharrte ich für einen Moment mit dem Abtrocknen. Mehr als nur Freunde. Die Idee war ja irgendwie … lustig. Um nicht zu sagen hirnrissig. Der Kerl ist hetero und versteckte sich wahrscheinlich nur bei mir, weil er sich vor den Tussen in Sicherheit bringen wollte, die ihm die Bude einrannten. Ja, so musste es sein.
Aber wie kam ich auf die Idee, dass er eine Hete war? Weil es die meisten Männer sind? Weil es immer die Männer waren, die man geil fand? Weil es ein ungeschriebenes Gesetz des Universums war?
Samuel füllte gerade irgendetwas Nudeliges mit Tomatensoße aus einer Plastikdose auf einen Teller, als ich in die Küche kam. »Essen ist fast fertig!«, erklärte er grinsend und schob den Teller in die Mikrowelle. »Aber Kaffee ist schon fertig.«
»An einen solchen Service könnte ich mich gewöhnen.«
Mit der Hüfte lehnte ich mich gegen die Küchenzeile neben Samuel, der den sich drehenden Teller im Gerät beobachtete. Die Hände hatte ich um die warme Tasse gelegt und blies in die schwarze Brühe, während ich ihn über den Rand hinweg ansah. Das Shirt saß für meinen Geschmack viel zu locker. Ich mochte es eher körperbetont. Trotzdem schaffte er es, dass mir das Wasser im Mund zusammenlief. »Heiß!«, murmelte ich.
»Das hat frisch gebrühter Kaffee nun mal so an sich«, erklärte Samuel.
»Wer sagt, dass ich vom Kaffee rede?«, fragte ich leise, mich vorsichtig vortastend, obwohl ich bereits mit dieser Äußerung das Gefühl hatte, mit der Tür ins Haus zu fallen. Mein atemloses Warten verbarg ich hinter einem Schluck aus der Tasse und beobachtete Samuel zugleich weiterhin über deren Rand hinweg. Dessen Wangen nahmen eine sanfte Rottönung an.
»Ich …«, begann er, den Blick noch immer auf dieses dämliche Gerät gerichtet.
»Schon gut«, unterbrach ich ihn, verärgert über meine eigene Bemerkung. In einer ruppigen Bewegung stellte ich die Tasse auf dem Küchenschrank ab. Dass mir dabei Kaffee über die Hand schwappte, nahm ich kaum zur Kenntnis. »Vergiss, was ich gesagt habe.«
»Ich will nicht ständig irgendetwas vergessen«, sagte Samuel und wandte sich mir zu. »Nicht wenn es mit dir zu tun hat.«
Sprachlos blickte ich ihn an. Fragen formten sich in meinem Kopf. »Wie?«, brachte ich krächzend hervor, räusperte den Frosch aus meinem Hals heraus. »Wie meinst du das?«
»Ist das nicht offensichtlich?«, murmelte er. Im nächsten Moment spürte ich, wie Finger nach meiner Hand griffen, etwas Weiches wischte die Feuchtigkeit fort, während ich keinen Blick von Samuels Gesicht nehmen konnte.
Statt weiter zu erzählen, was so glasklar sein sollte, hatte er wieder die Augenbrauen zusammengezogen, was er meiner Meinung nach viel zu häufig machte.
»Was ist so offensichtlich?«, hakte ich nach. »Ich sehe es nicht. Oder muss ich dir alles aus der Nase ziehen? Schließlich bin ich kein Hellseher!«
Die schönen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, bevor sich sein Blick hob. »Ich mag dich«, sagte er leise, fast schon ein Flüstern. »Irgendwie.«
»Irgendwie.« Reichlich sinnfrei wiederholte ich sein letztes Wort. Die anderen versuchten wohl noch immer, einen Weg in mein Hirn zu finden. Schließlich hatten sie es doch geschafft. »Du bist nicht schwul«, erklärte ich Samuel, der von meiner Erklärung amüsiert schien.
»Wie kommst du darauf?«, verlangte er doch tatsächlich belustigt zu wissen, während er noch immer meine Hand hielt. Nun jedoch strich sein Daumen über meinen Handballen, sandte ein warmes Summen durch meinen Körper. Erstaunlich, was so eine simple Berührung auslösen konnte. Dass irgendwo ein »Pling!« die Stimmung zu zerstören versuchte, ignorierte ich gekonnt. Stattdessen wollte ich mich in den Moment fallen lassen, das Streicheln genießen. Doch dummerweise blickte ich in Samuels dunkle Augen, um welche Lachfältchen zu tanzen schienen. Spott glaubte ich darin zu erkennen.
»Wie kommst du darauf, dass ich nicht schwul bin?«, wollte er ein weiteres Mal wissen, nun drängend, doch keineswegs herausfordernd, eher sanft, was mich unsinnigerweise schmerzte. Mit Verärgerung hätte ich in dem Moment umgehen können, aber nicht mit der Sanftheit, die dieser große Kerl ausstrahlte.
»Weil Typen wie du grundsätzlich immer hetero sind!«, hielt ich ihm entgegen und fragte mich, ob ich das gerade wirklich gesagt hatte? Ja, hatte ich. Noch nach Sekunden glaubte ich, die Worte im Raum nachklingen zu hören. Wie ein fernes Echo, das von Samuels Lachen übertönt wurde. Das Lachen, das ich so an ihm liebte.
Ich schloss die Lider, weil mir sinnloserweise die Augen brannten. Etwas versuchte, mir das Herz zu zerreißen, machte mir das Atmen schwer. Doch musste ich feststellen, dass es Arme waren, die sich um mich geschlungen hatten, mir die Luft raubten und mich an einen festen Körper zogen. Noch immer dröhnte das Lachen in der Küche, doch inzwischen spürte ich es sogar tief in mir drin. Es reizte mich dazu, einzustimmen. Nur mühsam konnte ich ein belustigtes Glucksen unterdrücken.
»Du hast echt ne Meise«, erklärte ich Samuel kichernd, weil ich dem Drang nicht mehr widerstehen konnte. Ich hob den Kopf von seiner Schulter, gegen die er gepresst worden war und blickte in sein lachendes Gesicht. Die schönen Lippen sah ich und blickte in die dunklen Augen. Einen Moment später spürte ich eine Hand, die sich an meine Wange schmiegte. Finger strichen über meine Schläfe, ein Daumen berührte meine Lippen, glitt über sie hinweg.
Verwundert sah ich zu Samuel auf und erkannte das gleiche Erstaunen in seiner Miene, wie ich es ebenfalls empfand. Die anfängliche Belustigung war einer Ernsthaftigkeit gewichen, die mich erschütterte. Sie ließ mich erbeben und ein heißer Schauer rann meinen Rücken hinab. Es zog und zerrte in den Eingeweiden, bis sich der Knoten aus angestauter Sehnsucht in Wohlgefallen und Milliarden Schmetterlinge auflöste.
»Und du bist süß«, murmelte Samuel, strich ein weiteres Mal mit dem Daumen über meine Unterlippe.
Und Augenblicke später fielen meine Lider zu, als ein unglaublich warmer Mund den Platz der Finger einnahm. Weiche Lippen bewegten sich gegen meine. Und die Zunge … und die Hände … und der Geschmack … und das Streicheln …
Ich konnte nur noch seufzen und stöhnen und mich in Samuels Shirt krallen, ihn dicht an mich heranziehen, während ich meinen Körper gegen seinen presste, er seinen gegen meinen bewegte, wir regelrecht aneinander klebten. Es war berauschend und verwirrend.
Ich atmete seinen Duft ein, vergrub die Nase in seiner Halsbeuge. Die Arme hatte ich um Samuels Körper geschlungen, glaubte seinen Herzschlag an meiner Brust spüren zu können und etwas, was sich hart gegen meine Hüfte drängte. Am liebsten hätte ich mich wie eine rollige Katze an ihm gerieben - oder wie ein rolliger Kater, wenn sie sich an etwas reiben würden …
»Ich denke, dass das Essen warm ist«, murmelte Samuel. Ich konnte seinen Atem auf meiner Wange spüren, als dieser beim Sprechen darüber strich und eine Bewegung verriet mir, dass sich Samuel von mir lösen wollte. Sofort verstärkte ich meinen Griff und drückte ihm einen Kuss auf den Hals.
»Ich will dich noch nicht gehen lassen«, flüsterte ich.
Samuels leises Lachen vibrierte in meiner Brust und Hände umschlossen mein Gesicht, hoben es sanft an. »Noch gehe ich nicht«, erwiderte er, berührte einmal mehr meine Lippen, bevor er sich aus meinen Armen wand und dabei wollte ich nichts anderes, als ihn festhalten, die Kälte in meinem Inneren mit seiner Wärme füllen.
Mist, verdammter! Ich kannte den Kerl gerade mal seit Anfang des Jahres - nicht mal einen ganzen Monat, genauer gesagt: Drei lausige kurze Wochen – und er hatte mich schon so schwer beeindruckt, meine Gefühlswelt auf den Kopf gestellt, dass in meinem Hirn das blanke Chaos bei der Vorstellung ausbrach, dass er durch die Tür verschwinden und sich nie mehr blicken lassen würde. Wie tief musste man sinken, wenn man sich praktisch von einer Sekunde auf die andere an einen anderen Menschen krallte? Auf Gedeih und Verderb. Aber seine Gegenwart, seine Wärme und seine Sorge wischten all diese verdrehten Gedanken wieder weg, rückten sie gerade. Und doch blieb ein Stück der altbekannten Skepsis, die ich einfach nicht loswerden konnte – weder jetzt, in gerade diesem Augenblick, in dem ich in Samuels Augen versinken wollte, noch zukünftig, wenn der Sommer in den Herbst überging und die unvermeidliche Trennung bevorstand.
»Du wirst jetzt etwas essen und danach zocken wir eine Runde«, erklärte er, nahm den Teller aus der Mikrowelle und hielt ihn mir unter die Nase.
»Und danach?«, verlangte ich zu wissen, herausfordernd sah ich Samuel an, ignorierte den Teller mit den Nudeln und der Tomatensoße. Ich wusste, was ich wollte. Nach der Kostprobe wollte ich das gesamte Menü. Mein Körper summte vor Verlangen, Hitze machte das Denken schwer, Gedanken sickerten zäh wie Honig durch mein Hirn und nur die Vorstellung, was ich mit ihm alles machen würde, war glasklar.
Statt einer Antwort stellte er den Nudelteller auf dem kleinen Küchentisch ab. »Erst essen«, sagte er. »Ich will nicht, dass du vor Hunger schlapp machst.«
Och, schlapp nicht! Am liebsten würde ich es ihm sofort beweisen, doch nickte ich nur zustimmend. Irgendwie brachte er mich so durcheinander, dass ich nicht mehr klar denken konnte und mich mehr wie ein durchgeknallter Teenie benahm, als ein erwachsener Mann.
»Überleg dir schon, welches Game wir zocken könnten«, sagte ich, ganz der erwachsene Kerl, der ich war und ich war in dem Augenblick so unglaublich stolz auf mich selbst, da ich Samuel liebend gern wieder an mich gezogen hätte.

***

Der Handywecker weckte mich mit seiner herrlich nervtötenden Melodie, zerrte mich aus einem Traum, in dem Hitze eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hatte. Am liebsten würde ich wieder in dem Traum versinken wollen. Stattdessen zog ich mir die Bettdecke bis über die Ohren, nur für einen Moment die Augen schließen und die Wärme unter ihr genießen. Wo sollte man sie sonst herbekommen, wenn sich kein heißer Körper anschmiegte …
Ich spürte regelrecht, wie sich meine Gedanken zerfaserten, auflösten, bis nur noch blanke Kälte mein Denken bestimmte. Die Bettdecke zurückwerfend, wirbelte ich im Bett herum. Meine Hand tastete blind nach dem Schalter der Nachttischlampe, während meine Augen auf das Bett neben mir geheftet waren, dort, wo Samuel gelegen hatte. Er hatte die Nacht hier verbracht, hatte hier geschlafen. Wir hatten miteinander geschlafen.
Und als das Licht aufflammte, verfluchte ich meine Ahnung.
Decke und Laken waren zerwühlt, doch kein Körper war zu sehen. Nichts.
Aus irgendwelchem sinnlosen Grund legte ich die Hand auf die Stelle, wo er gelegen hatte. Kalt, keine Restwärme, die mir verraten hätte, dass er erst vor wenigen Minuten aufgestanden wäre. Enttäuscht zog ich die Hand zurück.
»Ich hab’s geahnt«, erklärte ich mir selbst und hoffte zugleich, in mir Verärgerung und Zorn schüren zu können, die die Enttäuschung übertünchen würde. »Haut einfach mitten in der Nacht ab!« Ja, er hätte bis zum Morgen bleiben können, um mir … was? Das Herz aus der Brust zu reißen und darauf Tango zu tanzen? Martin, du hast echt einen Dachschaden! »Aber war ja nicht anderes zu erwarten gewesen«, sagte ich mir und ließ dabei offen, was ich damit meinte.
Mit einer ruppigen Bewegung rollte ich mich aus dem Bett, spürte dabei die Nachwehen der Nacht, und trat prompt auf etwas, was nicht hier her gehörte. Oder doch, zumindest zeitweise. Ein benutztes Kondom. Dummerweise hatte sich der Knoten gelöst, den Samuel gemacht hatte.
Nach dieser Schweinerei war ich endgültig munter und bereit, Samuel in den Arsch zu treten. In den festen, perfekt geformten Arsch … Mit einem Seufzen fuhr ich mir mit den Händen übers Gesicht, wollte die Erinnerungen wegwischen und schaffte es doch nicht. Wie denn auch? Aber zum Glück war es nur eine einzige Nacht gewesen. Nicht mehr und wenn er sich schon dann verpisste, konnte er bleiben, wo der Pfeffer wächst. Außerdem hatte er gelogen, mich belogen. »Ich mag dich«, hatte er gesagt und wie süß ich wäre und einen schönen Körper hätte, genau sein Typ. Süßholzraspler. Sobald er nur das Maul aufriss, trieften ihm schon die Lügen aus der Fresse. Und zur krönenden Erinnerung hatte ich nun auch noch diesen Spermafleck auf dem Teppichboden!
Ich war auf Hundertachtzig, so dass die Tür der Duschkabine fast aus der Führung sprang, als ich sie schloss. Noch etwas, was ich dem Arsch ankreiden konnte.
Beim Kaffeemachen hätte ich um ein Haar die Glaskanne zerdeppert. Eine Tasse ging tatsächlich zu Bruch und selbstverständlich war ich in eine Scherbe getreten. Nur ein kleiner Schnitt, aber an dem war Samuel gleichfalls Schuld.
So Scheiße wie der Tag begonnen hatte, so war er im Großen und Ganzen durchgehend. Ab der Mittagszeit schielte ich nur noch sehnsüchtig auf die Uhr und wünschte mir den Feierabend herbei. Außerdem schmerzten mein Arsch und der Fuß. Kompliziert, wenn man weder vernünftig sitzen noch stehen oder laufen konnte. In Gedanken machte ich das erste Kreuz, als ich die Haustür aufschloss. Die beiden anderen wollte ich setzen, sobald ich die Treppe überwunden und in meiner Wohnung stehen würde.
»Ich habe auf dich gewartet.«
»Ach«, sagte ich nur und stapfte an Samuel vorbei, der auf dem mittleren Treppenabsatz saß und den ich leider Gottes erst entdeckte, als es zu spät war. Außerdem hätte ich sowieso nirgendwo hingehen können. Ich bemühte mich, ihn nicht zu beachten, was gar nicht so einfach war. Seinem Blick auszuweichen war kaum möglich, auch wenn ich mich auf die Stufen konzentrierte. Nur nicht stürzen! Sich nur nicht die Blöße geben, wie sehr seine Anwesenheit, seine Nähe mich durcheinanderbrachte.
Ich spürte seinen Blick fast körperlich und glaubte aus den Augenwinkeln zu erkennen, wie er eine Hand hob, um mich aufzuhalten. Was würde ich tun, wenn?
Doch die Frage war sinnlos, da nichts geschah. Keine Berührung, kein Ergreifen. Typisch! Erst die Hosen runterlassen und sich dann wundern, wenn nichts mehr in der Hose zu finden ist. Am liebsten hätte ich über den zynischen Gedankengang laut aufgelacht, ließ es dann doch sein und presste stattdessen nur die Lippen aufeinander.
»Martin!« Erstaunlich, dass er noch meinen Namen wusste.
Ja, ich war bissig. Mir tat der Fuß weh und von seiner Liebe schmerzte mir der Arsch. Er hatte sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, mir wenigstens einen Zettel auf den Küchentisch zu legen oder am Spiegel im Bad etwas mit Lippenstift … Halt, nein, falsch. Hatte ich ja gar nicht, oder doch: Henni hatte einen vergessen, nach der Einweihungsfeier. Seit dem lag das Ding in der Holzschale auf dem Flurschrank.
»Was willst du?«, fragte ich ihn aus sicherer Entfernung, blickte von oben auf ihn herab.
Ich sah, wie er sich die Lippen leckte, als wären sie spröde und trocken. »Verzeih mir«, brachte er schließlich leise hervor.
»Was verzeihen?«, wollte ich wissen, spürte wieder die Verärgerung, den Zorn und den Frust, die die Leere in mir zu füllen drohten. Und dabei wollte ich alles wieder von mir schieben, nicht an mich heranlassen. Ebenso wenig, wie ich Samuel an mich hätte heranlassen dürfen.
Etwas umständlich erhob er sich von den Stufen, wandte sich zu mir um. Hoffnung glaubte ich in seinen schönen Augen zu erkennen.
»Können wir reden?«, fragte er. »Ich bring Essen mit und wir reden.«
Liebe geht durch den Magen. Wie kam ich gerade jetzt auf diesen alten Spruch? Aber anscheinend glaubte Samuel daran, zumindest seufzte er erleichtert, als ich zögernd meine Zustimmung gab. Ich hoffte nur, dass er sich nicht zu viele Hoffnungen machte, die ich ihm wieder nehmen musste.
Für einen Moment blieb ich noch stehen, sah ihm nach, wie er die Stufen zu seiner Wohnung hinabsprang und die Tür aufstieß, die wohl nur angelehnt war. Kurz warf er mir über die Schulter einen Blick zu, lächelte.
Schnell wandte ich mich ab, weil seine Freude wieder etwas mit mir anstellte, was ich nicht wollte. Es ließ mein Herz hämmern und fast hätte ich ihn ebenfalls angelächelt. Aber nur fast.
Dieses Mal ließ ich nicht die Tür für Samuel angelehnt, sondern schob sie nachdrücklich ins Schloss. Nachdem ich mich aus dem Mantel geschält hatte und auch die Schuhe ordentlich unter der Garderobe standen, zog ich mich im Bad um, schlüpfte wieder in Jogginghose und in ein schlichtes Shirt, in denen ich mich noch immer am wohlsten fühlte. Auf Socken tappte ich humpelnd in die Küche, füllte mir eine Tasse mit  Kaffee vom Morgen und stellte ihn zum Aufwärmen in die Mikrowelle.
Gerade nahm ich die Tasse aus dem Gerät, als es an der Tür läutete.
»Dein Essen«, verkündete Samuel sobald ich die Tür geöffnet hatte. »Schnitzel und Kartoffelpüree.« Mmhhh … Mir kam der Verdacht, dass er tatsächlich versuchte, mich mit dem Essen zu versöhnen, zu ködern, und es war wirklich lecker.
»Wo hast du kochen gelernt?«, fragte ich zwischen den Bissen. Samuel hatte es sich auf dem Küchenstuhl mir gegenüber bequem gemacht, soweit es auf einem Stuhl möglich war und hielt eine Tasse mit dem aufgewärmten Kaffee in der Hand.
»Von meiner Mutter«, sagte er nur und nahm einen Schluck. Angewidert verzog er das Gesicht.
Schließlich schob ich den Teller von mir, griff ebenfalls nach meiner Tasse, in welcher der Kaffee bereits wieder ausgekühlt war. Aber egal. Es verhinderte, dass ich meine Finger nervös ineinander verschlang. »Du wolltest reden.«
Samuel lehnte sich vor, stellte seine Tasse ab und stützte die Arme auf der Tischplatte ab. Er war mir nahe.
Prüfend sah er mich an, um dann seinen Blick auf meine Hände zu senken. »Ich mag dich. Wirklich«, begann er zögernd und ich wartete auf das »Aber«, das unweigerlich kommen musste. »Als ich dich vergangene Nacht im Arm gehalten hatte, hatte ich dich beobachtet, dich betrachtet. Und plötzlich hatte ich Angst, dass ich dir nicht gerecht werden könnte. Ich meine …« In einer verzweifelt wirkenden Geste riss er die Arme hoch, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, so dass sie wirr nach allen Seiten abstanden. Süß wirkte er mit den zerzausten Strähnen, durch die ich mit den Fingern fahren wollte. »Ich war mitten im Winterblues und du hast mich dort so einfach herausgeholt. Es war, als wäre er nie gewesen.« Er neigte sich wieder vor, dichter als zuvor, während ich noch immer seine Worte zu verarbeiten versuchte: Er hatte ein Tief, eine Depriphase – genau wie ich. »Ich will nicht nur jemanden, der mich durch die Tiefs im Januar bringt. Ich will einen Mann an meiner Seite, mit dem ich auch die Hochs danach erleben kann. Und dieses Gefühl hatte mir Angst gemacht. So vollkommen an jemanden gebunden sein zu können, dass man ohne ihn nicht mehr sein möchte hatte mir die Luft genommen.«
Ich schloss für einen Moment die Augen. »Deswegen bist du gegangen?«, fragte ich schließlich leise.
»Ja, nur deswegen.« Ein leichtes Lächeln huschte um seine Lippen, entschuldigend. »Ich wusste mir nicht mehr zu helfen.«
»Interessant, dass du die Flucht ergreifst, wenn es ernst zu werden scheint.«
Samuel hob eine Hand, legte sie an mein Gesicht und am liebsten hätte ich meine Wange in sie geschmiegt. »Es ist ernst«, hörte ich ihn flüstern. »Sehr ernst.«
Im nächsten Moment fühlte ich Lippen, die irgendwie fragend und abwartend über meine strichen. Doch ich zog mich zurück, brachte Abstand zwischen uns, auch wenn er nur aus dem schmalen Küchentisch bestand, unter dem unsere Knie bei jeder Bewegung gegeneinanderstießen, und sich alles in mir danach sehnte, den Kuss zu vertiefen.
»Mir ist es auch ernst«, erwiderte ich. »Ich brauch keinen Kerl, der beim kleinsten Problem den Schwanz einzieht und die Flucht ergreift. Ich will mich auf ihn verlassen können. Ich will mich auf dich verlassen können.«
Samuel griff nach meiner Hand, umschloss sie mit seinen beiden. Schon dachte ich, dass er »Nein, das werde ich nicht« beteuert, stattdessen zwinkerte er mir frech zu. »Ich werde definitiv nicht den Schwanz einziehen.«
Unwillkürlich musste ich auf seine Bemerkung hin leise lachen. »Du Arsch!«, sagte ich grinsend und langte mit der freien Hand nach ihm. Im Nacken bekam ich ihn zu greifen und zog ihn zu mir. Ich wollte nicht mehr reden, sondern nur noch fühlen. Ich wollte ihn schmecken, mich in seinen Berührungen und seiner Hitze fallen lassen. Ich wollte so viel mehr und Samuel ging darauf ein.
Ob aus uns tatsächlich mehr werden könnte, würde die Zukunft zeigen. Nach dem Sommer. An eine längerfristige Beziehung wollte ich in dem Moment nicht denken. Das würde nur zu viele Hoffnungen schüren. Aber die Zeit mit Samuel, die wollte ich genießen.




Epilog

 Inzwischen ist ein ganzes Jahr vergangen. Ein ereignisreiches Jahr, mit vielen Tiefs, in dem aber die Hochs überwogen. Was dieses Jahr so bemerkenswert machte, war, dass ich es mit Samuel zusammen erleben durfte. Er war stets an meiner Seite, wenn ich ihn brauchte. Er fing mich auf, so wie ich ihn auffing.
So ging der Sommer in den Herbst über und schließlich in den Winter und Samuel war noch immer an meiner Seite.
Am Weihnachtstag hatte ich ihn unter den Mistelstrauß gezerrt und ihn geküsst, während mein Vater die Feuerzangenbowle vorbereitete, die Kinder kicherten und mein Schwager darauf wartete, dass wir endlich den Platz freigaben. Ja, das Fleckchen direkt unter dem Zweig war in diesem Jahr ein hochfrequentierter Ort.
Dann kam Silvester mit eisigkaltem Wind und klarem Sternenhimmel. Wir hatten im Club gefeiert und um Mitternacht stießen wir mit viel zu warmen Sekt an. Doch das war mir egal, da ich den Mann an meiner Seite küsste und wusste, dass das neue Jahr noch besser sein wird, als das vergangene. Sobald die Raketen in den Himmel stiegen und überall Funken sprühten, machten wir uns bereits auf den Heimweg und begrüßten das Jahr auf unsere eigene Art. Wir trieben uns den Januarblues gegenseitig aus. Winterfrust hatte keine Chance, sollte sie nicht mehr haben.
Hatte ich erwähnt, dass ich einen kleinen Zettel in meiner Brieftasche mit mir herumschleppte? Nein? Seit einer gefühlten Ewigkeit hatte ich ihn im hintersten Fach, hatte ihn sogar zeitweise vergessen. Meine To-do-Liste.
Heute hatte ich ihn hervorgeholt. Noch immer stand nur ein Punkt auf der Liste. Mehr waren es nicht geworden und ich denke, dass es auch nicht mehr werden.
Sich verlieben!
Eigentlich habe ich den Punkt bereits abgehakt, zumindest in Gedanken. Nun muss ich nur noch nach dem Stift greifen und es tatsächlich tun. Sichtbar, für mich sichtbar.
»Was machst du?«, höre ich Samuel fragen. Er steht in der Küchentür, nur ein Handtuch um die Hüften geschlungen und aus seinen feuchten Haaren rinnen Tropfen seinen Hals und die Brust hinab.
Bei dem Anblick wird mir mal wieder ganz warm, mein Herz hämmert. »Nichts«, erwidere ich. »Ich habe nur eine alte Liste überprüft.«
Eilig setze ich den Haken, lasse den Zettel auf dem Tisch liegen und trete an Samuel heran. »Ich bin hier fertig. Alles ist erledigt«, erkläre ich ihm. Obwohl es mir in den Fingerspitzen kribbelt, die feuchten Spuren der Wassertropfen nachzuziehen, mache ich es nicht, sehe nur zu meinem Mann auf. »Ich liebe dich«, flüstere ich in die Stille zwischen uns.
Für einen Moment wirkt Samuel überrascht. Dann tanzt ein Lächeln um seine schönen Lippen, bevor er sich vorneigt und sie leicht über meine streichen. »Ich dich auch.«

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Images: pixabay.com/ niklback_
Publication Date: 01-13-2018

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