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Das Sonnenlicht, welches durch die dünnen Kieferzweige schien, weckte ihn aus seinem unruhigen Schlaf. Er richtete sich auf und schaute sich blinzelnd um. Morgentau hatte sich auf den Sträuchern und Gräsern rings um ihn niedergelassen und ließ den Waldboden im Sonnenlicht funkeln. Seine dünne Regenjacke hatte nur mittelmäßig ihren Zweck erfüllt und umhüllte seinen Körper wie ein glitschige Haut.

Die Erinnerungen an die Nacht glichen einem verwischtem Traum. Das Bergwerk, die Gruppe, die Flucht... alles schien so unwirklich zu sein. Erst gestern Morgen hatte er noch in seiner warmen Pritsche gelegen und sich auf die Frühstücksration gefreut. Was würde er jetzt nur für einen warmen Kaffee geben.

Er befingerte seinen Rucksack und kramte eine Packung Zwieback hervor. Wie sehr er ihn mittlerweile hasste, diesen trockenen bröseligen Geschmack. Noch zu gut wusste er, wie ein frisch gebackenenes Brot damals geschmeckt hatte. Das saftige und weiche Gefühl auf der Zunge, wenn man eine Scheibe, die mit frischer Butter bestrichen war, zerkaute. Wielange hatte er jetzt kein frisches Brot mehr gegessen? Sieben Jahre? Ob es noch irgentwo welches gab? Immer wieder gab es Geschichten von anderen aus der Gruppe, die erzählten, dass es weit im Süden Menschen gab, die Landwirtschaft betrieben und frische Lebensmittel produzierten. Geglaubt hatte er nie daran. Doch was wusste er schon... sechs Jahre seines Lebens hatte er in diesem Bergwerk dahin vegetiert, abhängig von den Rationen, welche diese verhasste Gruppe in ihren Minenschächten hortete. Doch jetzt nicht mehr, er war frei, konnte sich aussuchen, wann und wieviel er aß.

Genüsslich sog er die feuchte und kühle Morgenluft durch seine Nase und ließ sie in seine Lunge strömen. Doch im gleichem Moment musste er an die unsichtbaren Gefahren denken, die hier überall in der Luft lagen und ihn förmlich umzogen. Er blickte ängstlich auf die alte Gummigasmaske, die er noch aus Schulzeiten aufgehoben hatte. Die Erschöpfung der gestrigen Flucht hatte ihn sofort einschlafen lassen, ohne auch nur einen Gedanken an seinen Schutz zu verlieren. Doch er schien Glück zu haben, im Gegensatz zu der abgestandenen Luft im Bergwerk, schmeckte die Luft hier frisch und sauber.Theoretisch gab es im Bergwerk eine relativ gute Luftzufuhr, doch die vielen Menschen in den relativ engen Schächten verbrauchten sie ebenso schnell, wie sie hineinströmte. Dafür waren sie durch die vielen Filtersysteme geschützt vor den giftigen Substanzen die der Wind regelmäßig vorbeischickte. Auch wenn seine schulische Ausbildung schon lange zurücklag wusste er doch, dass es noch Jahrzehnte dauern würde bis sich dieses teuflische Cyclosarin und CVX in der Stratossphäre auflösen würden. Wer konnte auch ahnen das der Abschuss von chemischen Interkontinentalraketen in der oberen Atmosphäre mehr Verderben bringen würde als ihr tatsächlicher Einschlag. Tag für Tag ließen Regen und Wind die Nervengase, als todbringende Wolken gen Erde ziehen. Erst vor 2 Wochen war wieder ein Fremder von außen ins Bergwerk gekommen, der einem Cocktail aus Chlor- und Sarin-Gas eingeatmet hatte. Nur eine Kugel konnte ihn von den entsetzlichen Schmerzen befreien, die seinen Körper zerfraßen.

Kopfschüttelnd verdrängte er den Gedanken und zog sich die glitschige Gasmaske über sein Gesicht. Die trübe Sicht durch die beiden Augengläser hohlte ihn schnell in die Realität zurück. Wo verdammt war er überhaupt? Um ihn herum standen hohe Kiefernbäume. Der Waldboden war mit Sträuchern und Dickicht übersäht. Schon seit Jahren war hier kein Mensch mehr vorbeigekommen, um die Natur in ihre Schranken zu weisen. Überall hatte sie sich ungehindert ausgebreitet, wie eine grüne Seuche, die niemand einzudämmen vermochte. Er hatte die Nacht an der Wurzel eines umgestürzten Baumes verbracht, in dessen Schatten sich eine Knietiefe Grube gebildet hatte. Doch es gab keinen Bedarf sich länger in dieser notdürftigen Bleibe aufzuhalten. Doch wohin sollte er gehen? Schon seit einem Jahr hatte er sich darüber den Kopf zerbrochen. Erstmal war für ihn aber nur eines wichtig gewesen: Raus aus dem Bergwerk, Raus aus der Gruppe, Raus in die Freiheit. Nicht umsonst hatte er stundenlang den Geschichten der Späher gelauscht, wenn sie von ihren Wachgängen zurückkamen. Eigentlich hatte er sich gut vorbereitet. Neben Proviant für mindestens eine Woche und ein paar Wechselklamotten hatte er eine alte Karte und einen Kompass eingepackt, die zur Orientierung dienen sollten. Für seine Verteidigung hatte er sein Kampfmesser, welches er damals nach erfolgreicher Absolvierung des Überlebenstrainings erhalten hatte, sowie eine alte Browning im Gepäck. Die Pistole hatte er aus dem Vorratslager samt einer Schachtel Patronen mitgehen lassen.

Den schwer beladenen Rucksack über den Schultern machte er sich auf in Richtung Süden. Dort vermutete er am ehesten größere Siedlungen, falls es sowas überhaupt noch gab. In dieser lebensfeindlichen Umgebung lauerte der Tod überall. Egal ob durch Strahlung, Krankheit, Vergiftung oder gar durch die Kugel einer Waffe; der Krieg hatte seine Spuren hinterlassen, nicht nur am Antlitz der Welt sondern auch in den Köpfen der Überlebenden.

Er befand sich in einem großem Waldstück welchen südlich von der verlassenen Salzgrube lag, aus der er geflohen war. Auf der Karte konnte man erkennen, das circa 20 Kilometer südlich eine größere Straße durch den Wald verlief, beziehungsweise vor 10 Jahren mal dort entlang geführt hatte. Mithilfe des Kompasses orientierte er sich und marschierte los. Unter des Maske war es extrem stickig und es behinderte ein freies Atmen stark. Aber für ihn gab es keine andere Möglichkeit. Er hatte keine Gerätschaften die ihn vor einer herannahenden Gefahr hätten warnen können. Und sterben wollte er so schnell nicht. Also blieb ihn nichts anderes übrig als die stickige Beklemmung zu ertragen und sogut es ging weiterzuatmen.

Die Morgensonne, welche durch den diesigen Himmel strahlte, ließ ihn sehr schnell ins Schwitzen kommen. Mit der neuen Zeit waren auch neue Klimaveränderungen gekommen. Die vielen Spuren von Silberjodid, welche die sogenanntenn "Wetterwaffen" in die Atmosphäre gestreut hatten, sorgten für einen durchgehend bedeckten Himmel. Nur selten schaute die Sonne, sowie heute, durch den trüben Himmel hindurch. Auch regnete es fast jeden Tag und die Temperaturen im Mitteleuropäischen Raum stiegen fast nie über 20 Grad. Ebenso wurde es auch nicht mehr richtig kalt im Winter. Schnee hatte er schon seit Jahren nichtmehr gesehen. Alles in Allem konnte man sagen es herrschte durchgehend Herbst, der scheinbar nur an den Pflanzen spurenlos vorbeizugehen schien.

Plötzlich erschien ein schwarzer Fleck am Rande seines Sichtfeldes, welches sich deutlich aus dem grünbraun der Unterholzes hervorhob. Er hielt inne und musterte vorsichtig aus der Ferne das seltsame Objekt. Als er jedoch keine Bewegung feststellen konnte, näherte er sich langsam dem dunklen Schema. Auch als er direkt davor stand brauchte er einige Sekunden um zu erkennen was da vor ihm lag. Die leblosen Augen des Tieres blickten fahl in Richtung Himmel. Verhornungen über dem Kopf sollten wohl einst mal die Hörner dieses Tieres darstellen, doch nun, verursacht durch genetische Mutation, sahen sie eher nach einer abstrakter Skultur, als nach dem Teil eines Tieres aus. Das was vom ursprüngich braunem Fell noch übrig war, ließ darauf schließen, das es sich mal um ein Reh gehandelt hatte. Doch das Fell war vom schwarzen Flecken zerfressen, die sich bis tief unter die Hautoberfläche zogen. Diese Verätzungen gingen sogar so tief, dass an einigen Stelle schon die regenbogenfarbenen Eingeweide heraus schauten.

Angewiedert drehte er sich von dem Kadaver weg und stolperte weiter durch den Wald. Der zermaterte Körper des Rehes ging ihm nichtmehr aus dem Kopf. So etwas hatte er noch nie gesehen. Was genau war mit dem Tier passiert? Chemische Kampfstoffe, die Haut angriffen, wurden im europäischen Raum eigentlich so gut wie gar nicht verwendet. In Asien hingegen war der Kampf mit Senfgas und Phosgenoxim so weit verbreitet gewesen, dass noch heute der halbe Kontinent unbewohnbar war. Die Bilder in den Nachrichten aus dem Kampfregionen glichen einem Horrorfilm, dessen Anblick einem durch Mark und Bein ging. Damals war er auch erst zehn gewesen und die Bilder verfolgten ihn nächtelang. Damals hatte er noch daran geglaubt, das der Frieden wiederkommen würde... und er kam auch, nur nicht so, wie man sich ihn vorgestellt hatte.

Er war schon wieder so in sich gekehrt, dass er fast über die vor ihm plötzlich aufragende Böschung gestolpert wäre. Vorsichtig erklomm er den kleinen Wall und vor ihm ergoss sich ein schmales Bächlein, welches sich plätschernd seinen Weg durch den Kiefernwald bahnte. Die Böschung war gesäumt mit Birken und Büschen, sodass man kaum hindurchgehen konnte. Die feuchte Erde gab Laubbäumen die Chance, sich rings um den Fluss niederzulassen. Doch etwas war merkwürdig. Alle Pflanzen, die direkt am Flussufer standen, hatten bräunliche Flecken und sahen auch ingesamt nicht sehr gesund aus. Bei dem Gedanken musste er innerlich lachen: Was sah hier schon gesund aus, in dieser verrückten und verunstalten Welt. Das Bachwasser hingegen war klar und rein und zog seine trockene Kehle förmlich an. Doch bevor er in Gedanken vollkommen in Erinnerung an den frischen Wassergeschmack versinken konnte, fiel ihm ein weiterer zefressener Kadaver auf, welcher sich in den Ästen des Flussufers verfangen hatte und gespenstisch in den seichten Strömung vor sich hin zuckte. Er mochte kaum größer als eine Ratte sein, doch vom Fell oder sonst irgentetwas, womit man ein Tier hätte identifizieren können, fehlte jede Spur. Nun erkannte er was hier vor sich ging: Der Fluss musste irgentein chemischen Stoff mit sich führen, welcher jegliche organischen Oberflächen verätzte, die mit ihm in Berührung kamen. Wahrscheinlich war das verendete Reh beim Überqueren des Flusses mit dem Wasser in Berührung gekommen und hatte so sein Todesurteil unterschrieben.

Er starrte immer noch wie gebannt auf das in hypnotischer Ruhe fließende Wasser des Baches. Unvorstellbar wie dieses klare Wasser soviel Leid in sich tragen konnte. Doch er wusste nur allzu gut, dass die meisten Gefahren in dieser neuen Welt unsichtbar waren: Strahlung, Gifte und Bakterien konnte man nicht sehen. Und das machte sie umso gefährlicher. Das war das grausame Schreckgespenst des ABC-Krieges. Der Planet würde Jahrhunderte brauchen um sich von den Überresten der modernen Kriegsführung zu erhohlen. Jedoch war durch das Massensterben der Menschen neuer Platz für die Natur entstanden. Stück für Stück kämpfte sie sich die zerstörten und verstrahlten Städte zurück, die nach dem nuklearem Winter übrig geblieben waren. Das Gleichgewicht in der neuen Welt war völlig neu verteilt. Nur hatten sich andere Arten ihren Platz an der Spitze erkämpft. Er ahnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass die Pflanzen bei weitem noch die harmloseste Spezies in dieser lebenfeindlichen Welt waren.

Er beschloss dem Flussufer in östlicher Richtung zu folgen, bis sich eine Gelegenheit ergeben würde, den Bach gefahrlos zu überqueren. Das trübe Licht der Sonne verschwand nach und nach hinter den dunklen Wolken. Er konnte nur hoffen das es jetzt nicht anfangen würde zu regnen. Weit und breit war kein Unterstand zu sehen und die Möglichkeit bei einem Regen mit kontaminiert zu werden war sehr groß. Die Angst vor der Gefahr aus dem Himmel ließ ihn seinen Schritt beschleunigen, auch wenn ihm der schwere Rucksack und die enge Maske in seiner Geschwindigkeit behinderten. Mittlerweile hatte er eine gleichmäßiges Atemtechnik gefunden, welche eine zügige Atmung unter der engen Gasmaske zulies. Doch je schneller er versuchte zu laufen, umso mehr sackten seine Schnürstiefel im matschigen Boden der Uferböschung ein. Nun säumten saftig grüne Farne in weit ausladender Fläche das morastige Bachufer. Ein eindeutiges Indiz dafür, dass der Boden hier immer feuchter wurde. Vor Sümpfen musste man sich in acht nehmen. Nicht nur das man hier versinken und qualvoll ertrinken konnte, nein auch andere Erzählungen hatten sich im Bergwerk herumgesprochen. Auch wenn er nicht diesen Gruselgeschichten über mysteriöse Sumpfkreaturen glaubte, so verließ er doch die Böschung und ging wieder weiter in den Wald hinein, um das morastige Gebiet weiträumig zu umgehen.

Nach kurzer Zeit bemerkte er wie sich der Bach in der Ferne verbreiterte und in einen größeren Teich mündete. Büsche und Schilf säumten das Teichufer, doch trotzdem schien hier das Ufergebiet wieder fester und trockener geworden zu sein. Langsam und bedächtig näherte er sich dem zugewuchertem Ufer und fand einen vermoderten Baumstumpf ganz in der Nähe des Teiches. Die Sitzgelegenheit kam ihm grade recht und unter lautem Ächzen setzte er seinen Rucksack ab. Langsam ließ er sich auf dem feuchtem Stumpf nieder und entspannte zum erstem Mal an diesem Tag seine schmerzenden Muskeln. Die Anstrengung des Marsches machte ihm zu schaffen und das zusätzliche Gewicht brachte seine Glieder schnell zum schmerzen. Nach kurzem Ausruhen zog er sich die Gasmaske vom Kopf und atmete tief die frische Waldluft ein. Ein leicht modriger Geruch stieg ihm in die Nase, welcher vom Teich zu kommen schien. Wie gut es doch roch. Immer wieder brachten ihn die neuen Gerüche die er draußen fand zum staunen. Er suchte eine seiner Flaschen aus dem Rucksack und trank hastig das Wasser, welches er von der Quelle des Bergwerkes mitgenommen hatte. Das kühle Nass labte seine vertrocknete Kehle und ihm fiel es nur schwer, die Flasche wieder abzusetzten. Doch ein plötzliches Kitzeln in der Nase lies ihn so schnell und heftig nießen, dass er fast die Wasserflasche fallen gelassen hätte. Hastig schraubte er sie zu und steckte sie zurück in den Rucksack. Doch das kitzeln in der Nase nahm nicht ab und schwoll vielmehr zu einem Brennen an, welches sich bis tief in die Nasenhöhle und dann bis runter in die Kehle zog. Auch seine Augen fingen nun an zu tränen. Voller Panik sprang er auf und japste nach Luft. Seine Lunge fühlte sich mittlerweile an, als würde sie brennen und Schleim verstopfte seine Atemwege. Mit seinem beiden Händen rieb er sich sein mittlerweile komplett brennendes Gesicht, doch es wurde immer nur schlimmer und Verzweiflung stieg in ihm hoch als ihm die Atmung zu versagen schien. Er schnappte mit zugekniffenen Augen seinen Rucksack und sprintete zurück in Richtung Wald. Weg vom diesem teuflischen Teich, weg von diesem grässlichen Wasser. Erst als ihn ein umgestürzter Baum zu Fall brachte, stoppte er. Nachdem er sich mehrmals erbrochen hatte, gelang es ihm langsam wieder gleichmäßig zu atmen und den Schleim aus seinen Atenwegen zu spucken. Sein Gesicht brannte immer noch wie Feuer, als würde ihm jemand seine oberste hautschicht vom Gesicht schälen. Trotzdem fielen ihm noch die Anweisungen aus dem ABC-Schutz Unterricht ein: Er packte die halbvolle Flasche Wasser aus dem Rucksack und goss sich den kompletten Inhalt über das schmerzende Gesicht, während er mit der anderen Hand das Wasser über den ganzen Kopf verteilte. Langsam lies das Brennen auf der Haut und in den Augen nach. Der Schreck saß tief in ihm, sodass Atmung und Puls sich nur langsam wieder normalisierten. Ruckartig zog er einen Handschuh aus und befühlte vorsichtig sein Gesicht. Die komplette Haut war empfindlichst gereizt und brannte bei jeder Berührung. Die Augen waren immer noch so mit Tränen gefüllt, das er nicht klar sehen konnte. Wenigtens Atmen konnte er wieder normal und so fasste er sich wieder und setzte sich aufrecht hin. Langsam wurde ihm klar was es hieß in der neuen Welt alleine zu überleben. Jeder Fehler konnte sein letzter sein und auch wenn er sich Monate darauf vorbereitet hatte, hätte er nie das erwarten können, was er heute innerhalb weniger Stunden erlebt hatte.

Sein erster Versuch aufzustehen scheiterte sofort, da seine Knie noch unter seinem Gewicht nachgaben. Am liebsten wäre er liegengeblieben und hätte einfach versucht einzuschlafen und so dieser grässlichem Wirklichkeit zu entkommen. Doch er wusste das es Unsinn war und nach und nach schaffte er es seinen Körper wieder zum Stehen zu bringen, indem er sich an einer Kiefer abstützte. Als er langsam das Gleichgewicht wiedererlangt hatte schob er sich sofort wieder die Gasmaske über sein schmerzendes Gesicht. Am liebsten hätte er losgeschrien, so sehr brandte das feuchte Gummi der Maske auf seiner gereizten Haut. Doch er wusste, es half alles nichts, seine Lektion hatte er jedenfalls gelernt. Ihm war auch klar wie diese Verbrennungen entstanden waren. Die chemischen Reizstoffe im Wasser mussten durch Verdunstungen in die umliegende Luft gelang sein. Da er zuvor am ganzen Körper komplett bedeckt war, hatte er dies vorher nicht bemerken können. Über die Maske zog er die Kapuze seines Regencapes und schnürte sie so fest zu wie er nur konnte. Erst nachdem er sich versichert hatte das nirgentwo am Körper mehr freie Hautstellen zu finden waren, setzte er sich langsam in Bewegung. Vorerst blieb er dem Bach weiterhin fern, achtete aber darauf, das die Uferböschung immer in Sichtweite zu seiner Rechten lag. Die Feuchtigkeit auf seinem Gesicht führte dazu, das langsam die Gucklöcher der Gasmaske zu beschlagen anfingen. Ein klares Erkennen der Umgebung war nach kurzer Zeit sogut wie unmöglich, doch er wagte es nicht die Maske noch einmal abzusetzen, um die Scheiben von innen zu reinigen. Die Bäume verschwommen zu schmenenhaften Linien, die sich aus einem grünen Dunst von Pflanzen erhoben. Die Kompassnadel konnte er nur erkennen wenn er sie unmittelbar vor seine Augen hielt. Die eingeschränkte Sicht brachte ihn auf seinem Marsch häufig zu Fall, doch immer wieder raffte er sich auf und marschierte weiter durch das struppige Dickicht. Erst nach einiger Zeit traute er sich langsam zur Uferböschung zurück und stoppte erst, als er an dem höchsten Punkt des überwucherten Walls angelangt war. Durch die beschlagenen Scheiben sah der Bach nun wie eine schwarze Ader aus, die sich einen Weg durch das grüne Dickicht bahnte. Er überlegte wie er dieses giftige Gewässer überschreiten könnte. Der Bach war zwar nur circa zwei Meter breit, aber die Böschungen erhoben sich steil und wirkten allgemein sehr matschig und instabil. Bei dem Gedanken an die Tierkadaver und sein schmerzendes Gesicht, verging ihm die Lust einen beherzten Sprung über den Bach zu wagen. Nein ihm musste etwas anderes einfallen, um diesen Schrecken zu überwinden.

Nachdem er einige Zeit suchend dem Bach gefolgt war, sah er in unmittelbarer Entfernung eine Unterbrechung der schwarzen Linie durch gräuliche Streifen. Als er näher gekommen war, erkannte er ein Bündel aus Birken und dünneren Bäumen, welche quer über den Bachlauf platziert worden waren. Unverkennbar war diese Art Brücke von Menschen errichtet worden. Der Übergang war sogar so massiv, dass sich hinter ihm das Wasser leicht anstaute, ähnlich einem Staudamm. Auf der Wasseroberfläche vor dem Übergang konnte er viele weiße Flecken erkennen, die sich bei näherer Betrachtung als tote Fische entpuppten. Der Verwesungsgestank überwand sogar die Filter seiner Gasmaske und erstickte seinen aufkommendes Hungergefühl im Keim. Er unterdrückte die Überlkeit und ohne noch weiter zu zögern sprang er mit zwei großen Schritten über die behelfmäßig eingerichtete Brücke und ließ den Bach mit seinen Opfern schnell hinter sich.


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Nach einiger Zeit begannen immer mehr Birken und Laubbäume zwischen den Kiefern hervorzu sprießen und allgemein hatte er das Gefühl, dass der Wald hier noch dichter wurde. Erschwerend kam hinzu, dass sich seine Sicht immer noch nicht verbessert hatte und er so nur langsam durch das dichte Gestrüpp vorankam. Wenigstens hatte es noch nicht angefangen zu regnen. Trotzdem beschloss er sich einen sicheren Rastplatz zu suchen, bei dem er eine längere Pause einlegen konnte. Es musste bereits schon nach Mittag sein und sein Magen gab knurrend bekannt, dass ihm die zwei Scheiben Zwieback, die er am morgen gegessen hatte, nicht ausreichten. Auch wusste er noch nicht wo er seine schwindenen Wasservorräte würde auffüllen können. Der giftige Bach hatte ihm mit Schrecken klar gemacht, wie schwer es werden würde, seinen täglichen Flüssigkeitsbedarf hier draußen zu stillen. Doch seit er den Fluss verlassen hatte, bot sich keine passende Gelegenheit zur Rast und so zog er immer weiter in den dichter werdenden Wald hinein. Weit konnte es nichtmehr sein, bis er die ehemalige Straße erreichte und das nahe Ziel ließ ihn seine Schritte wieder beschleunigen.

Wie vom Blitz getroffen zuckte er zusammen, als in mittlerer Entfernung vor ihm eine Art Schuss ertönte. Noch bevor das Echo vollkommen in den Bäumen verklungen war, folgten auch schon drei weitere Schüsse in kurzem Abstand. Verschreckt hockte er sich auf den weichen Waldboden und zog hastig seine Pistole aus der Jackentasche. Wirklich benutzt hatte er sie noch nie, nur die Bedienung und Funktionsweise war ihm aus zahlreichen Lehrstunden bekannt. Mit zitternden Fingern entsicherte er die Waffe und hielt sie mit beiden Händen umklammert. Für einen kurzen Augenblick hielt er die Luft an und lauschte den Geräuschen. Vollkommende Stille. Die beschlagenen Sichtfenster der Maske machten es ihm unmöglich die Umgebung auch nur im geringsten genauer einzusehen. Er grübelte ob er es wagen sollte die Maske abzusetzen, um eine bessere Sicht in den Wald zu erreichen. Immerhin hatte es noch nicht geregnet und es gab auch ansonsten keinerlei Indizien, welche auf eine chemische Kontamination der Umgebung hinweisen würden. Mit einem beherztem Ruck zog er sich die Maske vom noch immer gereiztem Gesicht. Seine Haare waren plitschnass geschwitzt und der Schweiß perlte ihm in großen Tropfen von der Stirn. Er wischte sich kurz über die Augen, um klar sehen zu können, dann schaute er sich langsam um. Doch auch ohne die beschlagene Maske ließen die dicht gewachsenen Bäume und Büsche keine weite Sicht zu. Nur ganz langsam und mit fest umklammerter Pistole schlich er vorsichtig durch die Sträucher. Die Schüsse waren aus südwestlicher Richtung gekommen und er hielt es für ratsam sich in südöstlicher Richtung weiter zu bewegen, um unerfreuliche Zusammentreffen mit bewaffneten Bewohnern der neuen Welt zu vermeiden.

Wer war das? Und was machten die hier im Wald? Er wusste nicht viel über die Bewohner außerhalb des Salzbergwerkes. Nachdem Exodus war er für sechs Jahre in dem Bergwerk gelandet. In der Zeit hatte sich viel verändert. Es waren die ersten Jahre der neuen Welt, einer Welt ohne Regierungen, ohne Gesetze. Es schien mittlerweile mehr Verrückte und Extremisten als rationaldenkende Menschen auf der Welt zu geben, selbst innerhalb der Gruppe "Wolf", in der er die letzten Jahre verbracht hatte. Von Jahr zu Jahr konnte man zusehen wie sie erbarmungsloser und totalitärer wurden. Am Ende starben mehr Mitglieder durch Hinrichtungen als durch die sonstigen Gefahren. Aber wer konnte es ihnen verdenken... irgentwie hatte der Krieg bei jedem Überlebendem seine Spuren hinterlassen. Und nach dem apokalyptischem Ende des Krieges war keiner mehr so, wie er zu Kriegsbeginn einmal gewesen war. Die restlichen Menschen hatten sich in länderübergreifende Fraktionen aufgeteilt, die ihren extremistischen Ideologien und Ziele verfolgten. Über Funk hatte sie sich in ganz Europa koordiniert und da es keine Länder oder Regierungen mehr gab, waren sie die herrschenden Mächte in der neuen Welt. Entweder man schloss sich einer von ihnen an oder man war Freiwild zwischen den Fronten dieser Sekten. Eine gefährliche Mischung aus Religion und Fanatismus formte diese Gruppierungen zu neuen Gespenster in dieser zerfallenen Welt. Aber konnte es überhaupt noch schlimmer sein, als jene Verhaltensmuster, die zu diesem grässlichen Krieg führten? Es schien als sei die Menschheit befreit von Moral und Sozialität, wie Ketten, die ein gefräßiges Raubtier tausende Jahre lang im Zaum gehalten hatten.

Steinhart bohrte sich der stählerne Lauf in seinen Hinterkopf. Er war so in seinen Gedanken versunken gewesen, dass er nicht mehr wirklich aufmerksam gewesen war und seinen Rücken gänzlich missachtet hatte. "Lass die Waffe fallen!" , fauchte die Person hinter ihm. Der Stimme nach zu urteilen musste sie mitteljährigem Mann gehören. Sofort ließ er seine Pistole auf den weichen Waldboden plumpsen. Eine Hand tauchte neben ihm auf und zog die Pistole aus seinem Sichtfeld. "Dreh dich um!" Er stand gegenüber von einem großem breit gebautem Mann. Sein Körper war in einen langen grünbraunen Mantel gehüllt worüber er noch eine Art Schutzweste trug. Auf ihr befanden sich viele kleiner Taschen die gefüllt mit allen möglichen Werkzeugen und Gerätschaften waren. Über seinem Kopf hing eine fransige Kapuze, die sein Gesicht bis zu den Augen im Schatten verschwinden ließ. Bis zu seiner Nasenwurzel hatte er sich ein schwarzes Stofftuch ins Gesicht gezogen, sodass man nur seine Augen erkennen konnte. Den funkelnden Blick des Mannes verlängerte der Lauf einer Kalaschnikow, welcher erst kurz vor seinem Gesicht endete. Diese Waffe war eine handlichere Version der handelsüblichen Kalaschnikov, die häufig von Spähern oder Spezialtruppen getragen wurde. Der Lauf blickte ihn wie ein gähnendes Ungeheuer an und entfachte eine panische Angst in seinen Gliedern. "Wo kommst du her?" ,fragte er mürrisch. Bevor er überlegen konnte, was er ihm erzählen solltem schossen schon die Worte aus seinem Mund. Er stammelte ihm etwas von der Gruppe "Wolf" und dem Salzbergwerk vor; doch sein gegenüber kniff nur weiter die Augen zusammen: "Also bist du ein Späher!" Gleichsam bereute er schon soviel gesagt zu haben. Nach kurzem Schweigen begann er: "Nein! Ich bin... geflohen...ich wollte einfach weg, weil..." er verstummte als er bemerkte das sich die Augenzüge des Mannes entspannten und er sein Gewehr ein wenig sinken ließ: "Ein Streuner also... Gut ausgerüstet siehst du mir ja nicht aus. Dein Glück das du noch lebst!" Er redete in einem gebrochenem tschechischem Akzent und musste aus dem östlichem Teilen Europas stammen.

Bevor er weiter antworten konnte tauchte ein zweiter Mann zwischen den Bäumen auf. Er war ähnlich gekleidet wie der Andere und trug über seinen Schultern ein totes Wildschwein. "Wen hast du denn da gefunden, Tomas?", fragte er spöttisch und spuckte ihm unmittelbar vor die Füße. Auf einmal fühlte er sich vollkommen hilflos und verlassen. Jetzt bereute er endgültig seine Flucht. "Nur ein Streuner der sich verlaufen hat. Dachte er könnte mal ne kleine Abenteuerreise außerhalb seiner Gruppe machen..." er lachte dreckig mund stieß ihm das Gewehr zwischen die Rippen. Keuchend verkrampfte er sich und konnte sich nur knapp vor einem Sturz fangen. Als er wieder nach oben blickte schauten sie ihn beide belustigt an. Hass stieg in ihm auf und er spielte kurz mit dem Gedanken einfach sein Messer zu greifen und es zu beenden. Egal wie, danach war es aufjedenfall zu Ende, dieser furchtbare Alptraum. "Vielleicht hat er ja was wertvolles dabei! Ich schau mal in seinen Sachen nach, was zu fressen wird er ja wohl dabei haben, hm?" Er ließ das Wildschwein auf den Boden fallen und zog den Rucksack von seinen Schultern, während der Andere weiterhin auf ihn ziehlte. Tomas schaute ihn nur weiter misstrauisch an und schüttelte ungläubig den Kopf. Nach und nach sah er zu wie seine letzten Wasser und Nahrungsvorräte auf den moosigen Waldboden geräumt wurden. "Ah Proviant, das ist doch wenigstens etwas." "Verdammt... ", zischte er. Er konnte nicht mehr still dastehen und zusehen wie er ausgenommen wurde, wie ein geschlachtetes Kalb. "...was wollt ihr von mir?" Der Plünderer stoppte kurz das Durchwühlen und schaute ihn musternd an. "Pah! Normalerweise töten wir Streuner wie dich sofort und nehmen alles mit was von Wert sein könnte. Ich versteh sowieso nicht wieso Tomas dich noch nicht erschossen hat!" Er schaute Tomas fragend an. Der jedoch reagierte nicht auf seinen Blick und starrte weiterhin den Streuner an. "Was hattest du gehofft hier draußen zu finden? " Die Antwort auf diese Frage wusste er selbst nicht genau. Es waren viele Gründe, wieso er das sichere Bergwerk für diesen Alptraum verlassen hatte. Vielleicht war es aber auch nur die Freiheit, sein Leben und Sterben hier draußen selbst bestimmen zu können und nicht von den Launen und Lüsten verdorbener Individuen abhängig zu sein. Doch er schwieg und starrte weiter auf seine zerstreuten Sachen. "Wie lange warst du in diesem Loch bevor du abgehauen bist, hm?" Er richtet seinen Blick wieder in den immer bedrohlicher wirkenden Lauf der Kalaschnikow. Er schwieg. Er wollte es doch sagen, aber Wut und Angst schnürten ihm die Kehle zu. Die Gedanken an den biochemischen Exodus von damals ließen ihm einen Schauer über den Rücken laufen. Durch Rache und Vergeltung hochgewiegelt war in kurze Zeit die komplette Fläche der Erde mit einem tödlichen biochemischem Gemisch überzogen worden, welches für Menschen das Leben an der Oberfläche über Monate, wenn nicht gar Jahre lang unmöglich machte. Das war das Ende dieser tödlichen Spirale und Frieden überzog den Planeten wie ein weißes Leichentuch.

"Anton, wir nehmen ihn mit zum Lager. Vielleicht hat er ja noch ein paar nützliche Informationen über diese Verrückten aus dem Bergwerk im Norden." Scheinbar schien Tomas das Sagen zu haben, denn Anton nickte ohne Widerspruch und legte den mittlerweile wieder gefüllten Rucksack über seine Schultern. "Du trägst das Wildschwein!" schnauzte er während er ihm gleichzeitg einen eiskalten Blick zuwarf. Tomas stieß ihn erneut mit dem Gewehr und deutete ihm endlich loszugehen.

Er fasste neuen Mut und trat langsam an das tote Wildschwein heran. Die Hauer waren solang wie Säbel und der Kopf schien als wäre er einige Nummern zu groß geraten. An der Flanke klaffte ein großes Einschussloch, welchen von der doppelläufigen Schrotflinte zu kommen schien, die Anton bei sich trug. Drei weitere Einschusslöcher konnte man oberhalb der Augen ausmachen. Sie waren wesentlich kleiner und schienen von der Kalaschnikow zu kommen. Mühsam hiefte er den schweren blutigen Körper auf seine Schultern. Ein übler Gestank stieg ihm in die Nase und das borstige Fell stach wie Stecknadeln in seine geschundene Haut. Auf wackligen Beinen schritt er langsam voran, die beiden Männer dicht hinter ihm.

Wo es wohl hingehen würde? Langsam ließ das Adrenalin nach und ermöglichste ihm wieder klare Gedanken zu fassen. So sahen also die Menschen aus, die außerhalb lebten. Zerschunden und mitgenommen, kalt ohne jede Gnade. Doch vielmehr hätte er von den Bergwerkbewohnern auch nicht erwartet. Sie schienen eine Art Jäger zu sein, von ihnen hatte er schon öfters Geschichten gehört. Sie folgten keiner bestimmten Ideologie und hatten sich eher auf das Überleben in der Natur spezialisiert. Sie kamen auch manchmal zum Bergwerk und verkauften Fleisch und Felle. Vielleicht hätte es ihn wirklich schlimmer erwischen können, von den Wesen, die in dieser unwirtlichen Welt hausten, waren sie wahrscheinlich noch die menschlichsten. Was für einen Grund hatten sie ihn leben zu lassen? Moral? Ganz bestimmt nicht. Langsam stieg in ihm eine Übelkeit hoch. Oft hatte er sich mit seinem Tod auseinander gesetzt, doch nun, wo er so unmittelbar und scheinbar unabwendbar über ihm schwebte, fühlte er Panik. Mit einem hastigen Biss auf die Unterlippe versuchte er die aufkeimende Verzweiflung zu unterdrücken. Oft genug hatte er sich eingebläut, draußen überall und zu jederzeit höchste Aufmerksamkeit walten zu lassen. Doch die neue und ungewohnte Umgebung hatte ihn so einige seiner Grundsätze vergessen lassen, denen er sich im Bergwerk noch so sicher war.

Nachdem sie einige Zeit marschiert waren lichteten sich die Bäume und das Unterholz wurde wegsamer. Kurze Zeit später tauchte langsam zwischen den Bäumen ein alter Waldweg auf. Er schien aus Richtung der Straße zu kommen und endete weiter hinten bei einer Ruine, die früher mal ein zweistöckiges Haus gewesen sein mochte. Jedoch fehlte der Großteil des Obergeschosses und viele Löcher und Scharten säumten das Erdgeschoss. Moos und Efeu hatten bereits angefangen die Mauer zurückzuerobern. Es mag wohl früher ein Forsthaus oder etwas ähnliches gewesen sein, doch von seinem ursprünglichem Aussehen war nicht mehr viel übrig geblieben. "Halt!" ertönte es hinter ihm schroff und er blieb stehen. Tomas ging mehrere Meter voraus und hockte sich auf den Boden. Ein Pfiff, kurz gefolgt von zwei weiteren. Stille. Kurz darauf ertönte ein doppelter Pfiff kurz gefolgt von einem Einfachen aus Richtung der Ruine zurück. Sie setzten sich wieder in Bewegung und er konnte langsam erkennen, dass im oberen Stock ein weiterer Jäger mit einem Jagdgewehr saß. In seinem braungrünen Ölmantel war er kaum von der modrigen Mauer die um ihn herum stand zu unterscheiden. "Wer ist denn der Packesel den ihr da mitgebracht habt? Schlachtfleisch für die Anarchisten?" Er lachte schallend los. Sie brachten ihn samt seiner toten Last in das ehemalige Erdgeschoss und wiesen ihn an das Wildschwein auf einer Art Bank abzulegen. "Komm runter Sven, Anton löst dich ab." Murrend legte Anton die Rucksäcke und seine Schrotflinte in die Ecke und stieg die Leiter hinauf, welche zum Obergeschoss dieser modrigen Ruine führte. Das Erdgeschoss war mit Gerümpel übersäht, überall lagen zerstörte Möbel und vermoderter Abfall herum. Wahrscheinlich waren hier schon einige Plünderer und Tiere vorbeigekommen, jedenfalls hatte das Haus schonmal bessere Zeiten gesehen. Ein Teil des Erdgeschosses jedoch war vom Sperrmüll befreit und relativ ordentlich mit ein paar Möbeln und Schränken bestückt. In der Mitte Stand einer Tonne, in der ein kleines Feuer glühte. Drumherum standen zwei Stühle und ein zerfetzte Polstergarnitur, die in einem nur geringfügig das Gefühl von Gemütlichkeit aufkommen ließ. In der anderen Ecke stand eine Art Schlachtbank, auf der er auch das Wildschwein hatte fallen lassen. Daneben hingen diverse Messer und Beile an denen noch Reste von vertrocknetem Blut auszumachen waren.

Der dritte Jäger, der scheinbar Sven genannt wurde, stieg, nach einem kurzen Wortwechsel mit Anton, die Leiter zum Wohnraum hinab. Auch er hatte sein Gesicht fast vollkommen verhüllt. Nur die Kapuze hatte er sich in den Nacken gestreift. Er hatte wenige Haare, die seinen Kopf umsäumten. Einige Falten auf seiner Stirn ließen darauf schließen, dass er bereits über vierzig Jahre alt sein musste. Sein eines Auge war fahl und schien erblindet zu sein. Quer dadrüber zog sich eine breite Narbe die sich unter seinem Gesichtsschutz fortzusetzen schien. Sein Anblick wirkte sehr bedrohlich und es schien nicht, als könnte man von ihm Mitleid erwarten. Er schaute erst ihn dann Tomas fragend an. "Ein Streuner! Wir haben ihn im Wald aufgesammelt. Er erzählt, er gehöre zur Wolfs-Gruppe, diese Verrückten im nördlichen Bergwerk. Sei geflohen..." Sven schwieg eine Weile und schien über das Erfahrene nachzudenken, dann fragte er: "Wie alt bist du?" "Einundzwanzig!" entgegnete er entschlossen, obwohl er sich innerlich leer und verbraucht fühlte. Die beiden Jäger redeten nicht weiter und schienen zu überlegen, was sie wohl mit ihm anstellen sollten. Und wieder kam in ihm der Gedanke des nahendes Todes hervor. Er kniff die Augen zusammen und versuchte den Mienen der beiden Jäger etwas zu entnehmen, doch ihre vermummten Gesichtern waren finster und undurchsichtig. Sein Herz begann wieder schneller zu schlagen und panische Angst machte sich erneut in seiner Brust breit. Tomas griff plötzlich mit einen kräftigen Griff seinen Nacken und schob ihn aus der Tür hinaus ins Freie. Ein heftiger tritt in seine Magenhöhle ließ ihn zusammenbrechen und mit den Knien auf den matschigen Waldboden fallen. Damit hatte er nicht gerechnet. Also doch! Plötzlich waren all seine Gedanken wie weggweischt und eine Art Leere füllte seinen Kopf. Er wartete auf den endgültigen tödlichen Schmerz der gleich in seinem Rücken oder Schädel auftauchen würde. Er hoffte nur es würde schnell gehen. Schnell vorbei, ohne Qual. Die Sekunden quälten sich zu Minuten und er bemerkte wie die beiden Jäger hinter ihm flüsterten. "Bitte..." krächzte er hervor, doch sie schienen nicht darauf zu reagieren. Nach einer gefühlter Unendlichkeit des verzweifelten Warten auf den finalen Schlag, spürte er wie einer der Jäger von hinten an ihn herantrat. Neben ihm tauchten die schweren Stiefel des Jägers auf, die halb im feuchten Waldboden versanken. Er zuckte zusammen als man ihn plötzlich am Arm packte und mit einem heftigen Ruck hoch zog. Erst jetzt bemerkte er das Tränen über sein Gesicht rannen, gefolgt von Schleim, der aus seiner Nase ronn. Die Blicke der beiden verhießen nichts Gutes. Mit eisernem Griff zog er ihn um die Hausecke wo eine rostige Eisentür in den ehemaligen Keller der Ruine zu führen schien. Mit Mühe hob Sven die schwere Klappe auf und stieß ihn hinunter. Eine Stufe der Kellertreppe bohrte sich mit schmerzhafter Gewalt in sein Knie und er purzelte kopfüber ins Schwarz. Noch bevor er sich aufrappeln konnte, fiel die schwere Eisenklappe über ihm zu und er hörte wie ein rostiger Riegel davorgeschoben wurde.

Dunkelheit umfing ihn. Die Luft hier unten war feucht und schwer. Nur langsam konnte er die Umrisse des Gewölbes erkennen, die sich durch zwei kleine Fensteröffnungen beleuchtet, aus dem Dunkel schälten. Der Boden war uneben und bestand zum Großteil aus feuchtem Matsch der mit Gesteinsbrocken übersät war. In der Ecke konnte er eine umgestürzte Holzkiste ausmachen, die noch einen relativ stabilen Eindruck zu machen schien. Langsam humpelte er zu der Kiste und setzte sich vorsichtig auf den morschen Boden. Stöhnend lehnte seinen Rücken gegen das kühle und feuchte Gemäuer. Der Schmerz pochte in seinem Knie und er rieb sich die schmerzhafte Stelle. Doch einer Art Erleichterung schien in ihm aufzusteigen. Die kühle Luft legte sich wie ein beruhigender Mantel um ihn und umschlang seinen schmerzenden Körper. Die Zeit verging, ohne das er an was bestimmtes dachte oder etwas fühlte. Nur langsam realisierte er seine Lage und begann langsam wieder neuen Lebenswillen zu entwickeln. Ermutigt richtete er sich auf und schritt in Richtung der beiden kleinen Fensteröffnungen. Sie waren auf Kopfhöhe und so schmal, das grade eine Faust hindurch passte. Den freien Blick verdeckten Grashalme, die direkt vor der Öffnung aus dem Boden sprießten. Hinter ihnen konnte man die Baumkronen des Waldes erkennen, die in der Abenddämmerung in fahlem Licht erschienen. Er sog die frische Luft ein, die durch die Öffnung in des Kellergewölbe strömte. Die anfänglich noch erfrischende Feuchtigkeit im Raum kroch ihm langsam unter die Kleidung und er begann zu frösteln. Er zog seine Kapuze tief ins Gesicht hinein und kauerte sich wieder auf die gammlige Holzkiste. Die körperliche Erschöpfung und die geistigen Strapazen des Tages machten sich langsam bemerkbar und zum ersten Mal heute verspürte er starken Hunger. Er hatte nur am Morgen etwas gegessen und es sah nicht danach aus, dass er heute noch etwas zu Gesicht bekommen würde. Nahrung war zu einem der wertvollsten Besitztümer geworden, da es nur noch begrenzte Vorräte davon gab und kaum neue produziert wurden. Geld war in diesen Zeiten komplett wertlos geworden. Medizin, Nahrung und Munition waren die neue Währung und niemand... Noch mitten in den Gedanken erwischte in der Schlaf wie ein lautloser Killer und ließ ihn in eine düstere Traumwelt versinken.


3




„Das Risiko ist viel zu hoch, denk doch mal nach ihr Dummköpfe!“. Das Geschrei von Anton dem Jäger riss ihn jäh aus seinem unruhigem Schlaf. Um ihn herum war es stockfinster und er brauchte einige Zeit um sich wieder orientieren zu können. Es musste mitten in der Nacht sein, denn um ihn herum war es so finster, das er selbst seine eigene Hand vor Augen nicht erkennen konnte. Die Jäger diskutierten oben lautstark über irgendetwas. Angestrengt versuchte er der wilden Wortfetzen zu folgen und ihnen einen Sinn abzuerkennen. Nach einiger Zeit schien alles darauf hinzuweisen, das sie am nächsten morgen Kontakt mit seiner Gruppe aufnehmen wollten. Wahrscheinlich erhofften sie sich eine Belohnung für die Rückgabe des Flüchtigen zu erhalten. Jedoch schienen sie sich über das „Wie“ noch nicht ganz einig zu sein. Sven war dafür den Gefangenen erst noch nach nützlichen Informationen über die Gruppe auszufragen, Anton jedoch wollte ihn gleich morgen zum Bergwerk bringen, da er nicht zu glauben schien das der Gefangene ihnen irgentetwas Nützliches erzählen könnte. Nach einiger Zeit verstummten die Stimmen und Stille erfüllte erneut das dunkle Kellerverließ. Langsam stieg erneut Panik in ihm auf. Die Müdigkeit und Anstrengung vom Vortag war wie weggewischt und Adrenalin begann durch seine Adern zu strömen. Er durfte auf keinen Fall zurück. Die Regeln in Wolf waren klar: Jeder der die Gruppe einmal verlassen hatte, kam nur tot wieder ins Bergwerk zurück. Und die Hinrichtungen der Gruppe waren martialisch und brutal. Zu oft hatte er gesehen wie sie ihre Exempelexekutionen im Hauptschacht den anderen Mitgliedern vorführten. Nein, lieber starb er hier durch eine Kugel als so zu enden! Die anfängliche Panik verwandelte sich nun in Trotz und neue Kräfte begannen ihn zu durchströmen. Er musste hier raus, noch heute Nacht.

Langsam tastete er sich im finsteren Kellergewölbe an den Wänden entlang, entschlossen nach irgendetwas zu suchen, was ihm zur Flucht verhelfen könnte. Doch außer Moos und ein paar Wurzelgeflechten hatte die Wand nicht viel zu bieten und auch der Boden hielt nicht mehr als Schlamm und Schutt für ihn bereit. Oben hiehlt die Stille weiter an, schien so als wären die Jäger schlafen gegangen. Langsam untersuchte er die schwere Eisenluke, jedoch war sie fest verschlossen und von einem massiv gemauertem Steinrahmen begrenzt. Er ging die kleine Treppe wieder hinunter und stellte sich in die Mitte des Raumes. Er begann tief durchzuatmen und versuchte klare Gedanken für einen Plan zu fassen, wie er seinem traurigem Schicksal entrinnen konnte. Doch ihm wollte einfach nichts Hilfreiches einfallen. Das Gefühl machtlos zu sein war niederschmetternd und schmälerte seinen frisch entfachten Mut wieder. Trotz der Ernüchterung sammelte er sich noch einmal und ging zu dem Mauerstück an denen die Wurzeln heraus sprießten. Mit der Kraft der Verzweiflung rüttelte er mehrere Male kräftig an den Wurzelsträngen doch sie waren wie fest verschnürt mit dem modrigen Mauerwerk. Die feuchte Schale der Wurzeln schnitt sich in seine Hand und hinterließ schmerzhafte Striemen auf der Innenfläche. Wut erfasste ihn, und er begann gegen die Ziegeln der Wand zu hämmern, doch auch diese waren wie fest zementiert und bewegten sich kein Stück. Es musste doch einen Weg geben diese Steine zulockern! Selbst die Wurzeln hatten es geschafft diese Mauer zu durchdringen. Er streifte sich seinen Pullover ab und umwickelte sich damit seine schmerzenden Hände. Sein Regencape samt Handschuhen hatten sie ihm oben abgenommen. Nun konnte er fester zugreifen und packte das größte Stück Wurzel das er finden konnte. Mit seinem ganzem Gewicht lehnte er sich dagegen und zog es zu sich heran. Als es sich noch immer nicht rührte, drückte er sich noch mit seinen Füßen von der Ziegelwand ab. Ganz langsam schien die Wurzel mit wiederspenstigem Knacken nachzugeben. Doch bevor er sich über den Erfolg freuen konnte, riss die Wurzel und er krachte mit voller Gewalt auf den matschigen Kellerboden. Steine bohrten sich in seinen Rücken und er stöhnt vor Schmerz auf. Sein angeschlagenes Knie pulsierte nun auch wieder im schmerzhaften Takt. Er musste sich auf die Zähne beißen und rappelte sich wieder auf. Sein Unterhemd war durchnässt vom schlammigen Boden und kühle Feuchtigkeit sickerte in seine Hose. Er tastete erneut nach dem abgerissenen Wurzelstrang und fand rasch das restliche Stücke, welches noch aus der Wand ragte. Um die Wurzel herum schienen die Ziegel ein wenig locker geworden zu sein und nach mehrmaligen Rütteln begann sich ein Ziegl endgültig aus der Wand zu lösen. Mit einem dumpfen Knall fiel der Ziegel auf den dunklen Kellerboden. Wie erstarrt hielt er den Atem an und lauschte in die Finsternis. Erst nach einer Minute absoluter Stille wagte er es wieder die aufgebrochene Mauer zu betasten. Nun, wo ein Loch in der Wand war, konnte er mit bloßen Händen und ein wenig Muskelkraft die Steine nacheinander lockern und aus der Wand brechen.

Nach einer halben Stunde hatte er ein so großes Loch in der Wand, dass er locker hindurch gepasst hätte, wäre da nicht eine scheinbar undurchdringliche Erdwand, die durch ein feines Wurzelgeflecht, wie Stahlbeton zusammengehalten wurde. In scheinbar unendlich langsamen Tempo schaufelte er einige Zeit mit bloßen Händen die Erde zwischen den Wurzeln hervor, bis er schließlich vor Erschöpfung zusammensackte und sich auf den Boden fallen ließ. Die Erdstücke hatten sich unter seine Fingernägel gebohrt und verursachten brennenden Schmerz bei jeder Handbewegung. Vor ihm lag noch ein riesiges Stück Arbeit und er musste entkommen, bevor die Jäger wieder zu ihm hinunterkamen. Er rieb seine schmerzenden Handflächen und Müdigkeit überkam ihn wieder. Doch an Schlafen war jetzt nicht zu denken, er musste sich etwas einfallen lassen, um aus dieser ausweglosen Situation zu entkommen. Neben ihm türmten sich bereits die herausgebrochenen Steine zu einem Haufen. Er befühlte einige Ziegel die von der vielen Feuchtigkeit sehr spröde geworden waren. Ein paar lockere Schläge der Steine gegeneinander und sie zerbarsten in mehrere Stücke. Er lauschte ob der dumpfe Schlag Aufmerksamkeit erregt hatte, doch er konnte keine Veränderung ausmachen. Er tastete nach den Bruchstücken, einige davon waren relativ Spitz, sodass sie sich hervorragend zum Schneiden der Wurzelstränge im Erdboden gebrauchen ließen. Neue Kraft durchströmte ihn und er begann mit Hilfe eines scharfen Stück Ziegels und seinen Händen sich weiter ins finstere Erdreich vorzuarbeiten.

Endlose Zeit verging und der Fortschritt schien kaum merkbar. Immer wieder riss er sich zusammen und arbeitete sich mit seinen wunden Händen weiter durch das feuchtkalte Erdreich. Der Morgen graute langsam und der Fluchttunnel war nun fast bist zur Oberfläche durchgedrungen. Das krächzen von Tomas, der die anderen Jäger weckte, ließ ihn innehalten. Sollte so kurz vorm Ziel alles umsonst gewesen sein? Er ruschte zum Keller zurück und lauschte angestrengt in die kühle Morgenluft. Doch die Jäger schienen sich nur sehr leise zu unterhalten, sodass er nicht verstehen konnte was sie sagten. Langsam trottete er zurück und überlegte fieberhaft was er nun tun sollte. Er musste hier raus, koste es was es wolle. Als er oben Bewegung warnahm, schnappte er sich einen Ziegelstein und drückte sich in die Ecke neben der Eingangstreppe; fest entschlossen jedem der eintrat, den Schädel mit dem Ziegel einzuschlagen. Was hatte er schon zu verlieren? Schlimmer als durch eine Kugel zu sterben konnte es ihn im Moment nicht erwischen. Angespannte wartete er so einige Zeit hinter der Ecke, doch es rührte sich nichts. Die Müdigkeit verdrängte die Anspannung langsam wieder und er erwischte sich dabei wie er anfing zu gähnen. Doch plötzlich hörte er wieder Geräusche. Sie kamen von der anderen Seite des Kellers. Würden sie jetzt herunter kommen um ihn mitzunehmen? Er war bereit! Mit ganzer Kraft drückte er sich an die feuchte Wand und umklammerte den porösen Ziegel. Nun konnte er deutlich Stimmen auf der Fensterseite hören. Langsam schlich er sich zur Öffnung herüber und lauschte. Scheinbar schienen sich die Jäger entschlossen zu haben, erst mit seiner alten Gruppe Kontakt aufzunehmen. Durch das Fenster konnte er sehen, wie Tomas und Sven durch das fahle Morgenlicht im Wald verschwanden. Anton schien zurück beim Haus geblieben zu sein. Wahrscheinlich war er auf dem Posten im Obergeschoss und hielt Wache. Das war gut, denn nach hinten, dem Ausgangspunkt seines Fluchttunnels, war das obere Stockwerk mit einer zwei Meter hohen Mauer verdeckt. So konnte man nicht direkte die Rückseite des Hauses von oben einsehen. Behutsam kroch er zurück zum Tunnel und grub sich mit neuer Energie vorsichtig weiter durch den feuchten Boden.

Als seine Hand an die Oberfläche durchbrach spürte er sofort das vom Morgentau feuchte Gras zwischen seinen Fingern. Langsam lockerte er die Oberfläche auf, bis er sich mit seinem Körper durch die schmale Öffnung hindurchzwengen konnte. Die Erde hatte sich in jede Pore seines Körpers gewunden und seine Haare hingen ihm feucht und dreckig ins Gesicht. Mit letzter Kraft hiefte er sich aus der Öffnung und stolperte hastig dicht an die Rückwand des Hauses heran. Er gönnte sich drei tiefe Atemzüge und schmeckte die neu errungene Freiheit. Die Sonne blinzelte schon diesig durch die Baumwipfel und blendete ihn sogar ein wenig. Doch was sollte er nun tun? Der Weg in den Wald nach Süden war frei, doch ohne seine Ausrüstung und Nahrung war sein Todesurteil nur aufgeschoben. Er musste es irgendwie schaffen unbemerkt in das Haus hineinzukommen und seinen Rucksack zurück zu bekommen. Jedoch war das Risiko das Anton etwas hörte sehr groß. Sein Herz begann wieder schneller zu schlagen und eine Aufregung machte sich in ihm breit. Jedoch war es keine Panik oder Angst, vielmehr Tatendrang endlich seinem tödlichem Schicksal zu entrinnen. Ganz langsam schob er sich an der Mauer entlang bis er an eine der Fensteröffnungen gelangte. Vorsichtig lugte er um die Ecke. Drinnen war es ruhig. Niemand rührte sich und die Reste vom Feuer des Vorabends glühten in ihrer Tonne vor sich hin. Anscheinend war Anton wie angenommen auf dem Obergeschoss. Das war seine Chance unbemerkt hinein zu gelangen. Immerhin musste er auch zusehen rechtzeitig von hier weg zu kommen, bevor die beiden anderen Jäger wiederkamen. Er atmete noch einmal tief durch, dann schob er sich vorsichtig auf den mit Moosen bedeckten Fenstersims. Nun konnte er den ganzen Innenraum einsehen. Neben der Feuerstelle lagen Reste von dem erlegten Wildschwein. Daneben standen zwei leere Flaschen Wein. Hinter der Couch konnte er seinen Rucksack in der Ecke erkennen. Das Zimmer kam ihm im fahlem Sonnelicht ein wenig gemütlicher vor als am Vortag und er konnte noch Gerüche von gebratenem Fleisch ausmachen. Wie in Zeitlupe schob er langsam seine Beine in den Raum, gefolgt von seinem Körper. Angekommen blieb er einige Zeit in der Hocke sitzen und lauschte nach Geräuschen vom oberem Stockwerk. Doch sein Herzschlag übertönte alles und trommelte laut in seinen Ohren. Die Leiter nach oben war wenige Meter neben ihm und er konnte Zigarettenrauch riechen, der von oben herein zog. Er tastete sich weiter an der Rückwand entlang, bis er schließlich hinter der Couch angekommen war. Vorsichtig hob er seinen Rucksack an und schaute hinein. Die ganze Nahrung schien zu fehlen, ebenso seine Pistole und die Munition. Nur die Gasmaske, die Karte mit Kompass und sein rostiges Messer, sowie ein wenig Medizin und seine Klamotten waren noch darin. Er sah sich um. Wo hatten sie nur die ganzen Sachen hingebracht? Schräg gegenüber neben der Schlachtbank konnte er auf einem Regal mehrere Stücken Fleisch und ein wenig Brot ausmachen. Das war seine einzige Chance, er musste soviel Lebensmittel mitnehmen wie möglich, ansonsten war er dem Tod erneut ausgeliefert. Er kroch langsam in Richtung des Regals. Auf dem Fleisch hatte sich bereits ein Schwarm Fliegen niedergelassen und auch das Brot verzeichnete bereits einige Spuren von Schimmel. Nichts desto trotz packte er das Fleisch und das Brot und warf es schnell in seinen Rucksack. Es war nicht viel, aber es musste erstmal reichen. Wenn er sparsam war, konnte er sich davon zwei, vielleicht sogar drei Tage ernähren.

Plötzliche Bewegung im Obergeschoss ließ ihn herumfahren und er starrte gebannt in Richtung der Leiter, die sich am anderen Ende des Raumes befand. Sein Herz stockte, als er plötzlich einen schmutzigen Stiefel die obere Sprosse der Leiter betreten sah. Die Zeit schien fast stehen zu bleiben und mit unendlicher Langsamkeit folgte der zweite Stiefel dem ersten und stampfte auf die nächst tiefere Sprosse. Sein Herz zersprang nun fast und bei jedem Schlag pulsierte sein Kopf so stark, das sein Blick im Rhytmus des Pulses trübe wurde. Seine Beine schienen nun zu versteinern und wurzelten sich fest an den morschen Holzboden. In seiner Todesangst sah er sich als Zuschauer mit unerträglicher Gemächlichkeit den Rucksack zu durchwühlen bis er sein altes Jagdmesser hervorgekramt hatte. Der Jäger war jetzt schon mit halber Körperlänge in den Raum hinabgestiegen und würde bald hineinsehen können. Nun endlich schienen seine Beine wieder zu gehorchen und er sprang so schnell in Richtung Leiter das er fast gestürzt wäre. Wie ein ungezähmtes Tier etwich ihm eine Art Schrei, der jedoch schnell in seiner trockenen Kehle erstickt wurde. Nun trafen sich die Blicke, der Kopf von Anton war grade am oberen Ende der Leiter aufgetaucht. Weit aufgerissene Augen. Sein Mund öffnete sich, doch kein Ton entwich. Keine Rippe hatte das Messer gebremst. Der Griff bohrte sich nun direkt auf die Oberfläche des dunklen Mantels. Anton schluckte. Sie starrten sich wieterhin mit aufgerissenen Augen an. Die Zeit schien nun komplett stehen geblieben zu sein. Wie ein Donnerschlag traf es ihn. Die Faust bohrte sich in seine Schläfe und sogleich verhing ein dunkler Vorhang seinen Blick. Als hätte man die Welt einmal in windeseile gedreht knickten ihm die Beine weckte und er kippte zu Seite. Es schien als fiele er in ein Loch, losgelöst von allen Wänden und Böden in ewiger Finsternis. Nur den Knauf des Messer hielt er so fest er konnte, wie das letzten Zipfelchen einer Hoffnung welche ihm vor dem düsteren endlosen Loch bewahrte. Mit einem schmerzerfülltem Schrei fiel neben ihm etwas hart auf den Boden. Langsam lüftete sich der schwarze Nebel und im flimmernden Augenlicht konnte er Anton neben sich erkennen. Warmes Blut ronn in sein Auge und verstörte die neu gewonnene Sicht sogleich wieder. Anton versuchte sich aufzuringen und das Messer löste sich nun unter erneutem Geschrei glucksend aus seinem Körper. Wie eine Statue aus Stein hielt er das Messer weiter umklammert und erst als Anton, einer Bestie gleich, auf ihn stürzte, stach er erneut zu. Wieder ging es ungebremst in den weichen Körper des Jägers und warmes Blut floss ihm über seine versteinerte Hand. Im dunkelrotem Dunst konnte er erkennen wie Anton mit Brüllen erneut zu Schlag aushohlt. Diesmal traf er sein Kinn und der Kiefer knackte unter der Faust, doch der Schlag war schon weitaus schwächer als der Erste. Wie von Sinnen rieß er das Messer zurück und rammte es erneut mit all seiner Kraft tief in den Bauch des über ihm knienden Jägers. Anton keuchte. Er taumelte zur Seite und erbrach sich neben ihm. Während Anton schnaufend auf allen Vieren über seiner Blutlache kniete, schaffte er es sich aufzurichten. Mit seiner letzten Kraft umfasste er das Messer und stieß es erneut in die Seite des Verwundeten. Diesmal lenkte eine Rippe die Klinge ab und sie bohrte sich nun schräg in die Lunge. Stöhnte sackte er nun ganz zusammen. Ein kraftloser Schlag verlor sich auf halber Strecke. Als Antwort sauste das Messer erneut hinab und traf nun den verendenden Körper erneut in der Brust. Wie elektrifiziert sog sich der ganze vermummte Körper des Jägers ein letztes Mal zusammen, bevor er sich langsam entspannte, alle Gliedmaßen von sich gestreckt.

Hustend stolperte er zum Ausgang. Wellen von Brechreizen schüttelten ihn und an der Tür angekommen, gab er ihnen endlich nach. Jedoch spuckte er nur trockene Galle. Seine sowieso schon geschundene Kehle brannte nun wie Feuer und er rang japsend nach Luft. Er befühlte zitternd seine aufgeschlagene Schläfe. Wie eine Spitze bohrte sich der Schmerz von der Stirn bis in tief die hintersten Winkel seines Kopfes. Sein Blick flimmerte noch immer und metallische Geschmack seines Blutes erfüllte seinen brennenden Mund. Er brauchte Wasser. Taumelnd richtete er sich auf und wandte sich wieder dem Raum zu. Den Blick an die Wände gehfetet versuchte er den schrecklichen Anblick der Leiche zu meiden, doch immer wieder tauchten in seinen Augenwinkeln die rote Blutlache und der dunkle Körper des Jägers auf. Kurz vor dem Regal wo er das Fleisch gefunden hatte, stand eine Tonne die fast zur Hälfte mit mehr oder weniger frischem Wasser gefüllt war. Nachdem er seinen Durst gestillt hatte, sah er neben der Tonne drei verbeulte leere Plastikflaschen stehen, die er sich sogleich schnappte und sie mit der grünbräunlichen Brühe befüllte. In der unruhigen Wasseroberfläche konnte er sein Spiegelbild erkennen. Zum ersten Mal seit seiner Flucht konnte er sich selber ansehen. Doch er erkannte sich nicht wieder, dort im Wasser sah er etwas Fremdes und Ungewohntes. Gebannt starrte er das entstellte Gesicht an. Im Bergwerk hatte er sehr auf sein Aussehen geachtet, soweit es dort möglich war. Nicht allein deswegen waren viele Mädchen leichte Beute für ihn gewesen. Unwillkürlich musste er an das helle Kichern und die glatte zarte Haut eines der Mädchens denken, die er verführt hatte. Wie gut er doch dort gelebt hatte, doch für welchen Zweck. Sein ganzes Leben in einer verblendeten Gemeinschaft nur des Überlebenswillen und der Bedürfnissbefriedigung wegen verbringen, ohne Sinn und Zukunft, frei von Weiterentwicklung und Wissenschaft? Nein das konnte es nicht sein! Ein anderes Leben musste möglich sein, auch wenn die Welt nun anders war als zuvor. Er würde etwas erreichen, etwas wofür es sich zu kämpfen lohnt, ja sogar sterben würde er dafür. Nur wofür wusste er noch nicht, doch er hoffte es zu finden, hier draußen in dieser lebensfeindlichen Welt. Vielleicht war es einfach die Hoffnung die ihm gefehlt hatte, dort unten bei "Wolf". Die Aussicht etwas wirklich wertvolles für sich zu erreichen, einen tieferen Sinn für dieses Dasein zu schöpfen. Doch verblassten nicht vor dem grausamen Überlebenskampf hier draußen diese Ideale? Reduzierten sie sich unter dem Einfluss dieser Umwelt zu fast tierischen Instinkten, die ihn sogar morden ließen?

Panisch verdrängte er die wirren Gedanken und hob seinen Rucksack auf. Er legte die drei Flaschen behutsam neben die neu erworbenen Lebensmittel und schmiss sich den Rucksack über die Schulter. Was fehlte ihm noch? Es war eindeutig, doch er wollte den Gedanken nicht zulassen, zu abstoßend war der Gedanke sich seiner Tat erneut zu nähern. Doch er wusste genau, dass es keinen anderen Weg gab. Er näherte sich mit verkniffenen Augen der Leiche. Von weitem konnte er schon das Gewehr erkennen, welches in einer Blutspur neben der Leiter lag. Nachdem er sich seine Handschuhe übergestreift hatte, griff er das Gewehr und wischte hastig die Blutspritzer ab. Es war ein zehnschüssiges Selbstladegewehr, welches erst kurz nach Beginn des Krieges in Deutschland gebaut wurde. Wegen des Mangels an Kunststoff und Metall wurden die meisten Waffen wieder zum Großteil aus Holz gefertigt, um wertvollere Materialien einzusparen. Testend warf er einen Blick durch die aufmontiert Zieloptik des Gewehres. Im Glas war ein tiefer Sprung der sich quer durch die Optik zog und mehrfach aufspaltete, wahrscheinlich war er beim Sturz des Gewehres , vielleicht aber auch schon vorher entstanden. Jedenfalls war die Optik nicht zu gebrauchen und er montierte sie mit zwei schnellen Handgriffen ab, bevor er sich den Gurt über die noch freie Schulter schmiss. Langsam wandte er sich dem Leichnam zu. Sein Gesicht starrte gespenstisch gen Decke und in seinem Mund stand eine dunkelroter See der aus einem Mundwinkel quellenartig auf den Boden rann. Das Mordwerkzeug lag blutig auf dem Mantelzipfel des Jägers. Vorsichtig kniete er sich nieder und griff nach dem Messer. Es kam ihm viel schwerer und mächtiger vor und er betrachtete es eine Weile unglaubwürdig. Angewiedert strich er das frische Blut am Mantel ab und steckte es zurück in seinen Gürtel. Nach kurzem Zögern entschloss er sich die Manteltaschen der Leiche zu durchsuchen, immerhin konnte er alles gebrauchen, was in irgendeiner Weise seinem Überleben helfen könnte. Er fand neben Zigaretten und einem Feuerzeug ein Ersatzmagazin für das Gewehr, sowie einige zusätzliche Patronen. Ebenso die Hälfte eines Fernglases, welche notdürftig mit Stoff umwickelt war. Als er die Sachen in seinem Rucksack verstaute, fiel sein Blick auf den Gürtel des Jägers. Dort steckte seine Pistole, die sie ihm gestern abgenommen hatten. Mit einem festen Ruck nahm er auch die an sich und richtete sich auf. Hektik kam in ihm auf, als er daran dachte das bald die beiden anderen Jäger zurückkommen konnten und nachdem er sich noch einige Male vergewissert hatte, dass im Raum nichts mehr herumlag was er hätte gebrauchen können, verließ er diesen schrecklichen Ort und betrat wieder den weichen Waldboden.

Der Himmel hatte sich zugezogen und er war kühler geworden. Nachdem er seine Wunde notdürftig mit dem Ärmel abgewischt hatte, streifte er seine Kapuze über und zog die Riemen der Jacke fest zu. Er ging um die Ruine herum und begann zügig seinen Weg Richtung Süden fortzusetzen. Immer wieder blieb er kurz stehen und blickte zur langsam verschwindenden Ruine zurück. Doch es war kein Lebenszeichen auszumachen und schließlich verblasste das Haus zwischen den vielen Bäumen des endlosen Waldes. Nach einigen Minuten merkte er, wie sein angeschlagenes Knie wieder begann zu schmerzen. Doch er biss die Zähne zusammen und marschierte noch einen Schritt schneller durch das grünbraune Dickicht. Der schwere Rucksack und das Gewehr belasteten seinen ausgemergelten Körper sehr und so musste er sich schon bald wieder hinsetzen und eine kurze Rast einlegen. Während er an einem Stück Brot kaute, zog er seine Karte hervor und studierte sie eindringlich: Südöstlich von ihm waren einige Dörfer verzeichnet, gradezu sollte hinter der Straße nach einigen Kilometern ein Bergmassiv beginnen. Westlich konnte er nur weitere Kilometer Wald erkennen. Die Karte war noch aus Zeiten des Krieges, so würden sich in den Dörfern wohl keine Menschen mehr befinden. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er an weitere Überlebende des Krieges denken musste, die ihm begegnen könnten. Noch einmal würde er das nicht durchhalten. So beschloss er kurzer Hand seinen Marsch weiter Richtung Süden fortzusetzen und sich an den Bergen einen Platz für die Nacht zu suchen.Nachdem sich sein Atem wieder beruhigt hatte lauschte er in die Wildnis. Er lag eine gespenstische Stille in der Luft, nichteinmal der Wind wehte in den Blättern. Alles schien wie erstarrt, als wäre die Zeit um ihn herum angehalten worden. Er hätte genauso gut taub sein oder unter einer unsichtbaren Haube sitzen können, so still war es. Die Stille beängstigte ihn schonbald und so räumte er schnell seine Sachen zusammen und zog wieder los. Das knacken der Äste unter seinen Stiefeln und das gleichmäßige Scheuern der Kapuze beruhigten ihn und so stapfte er weiter der Straße entgegen.


Imprint

Text: Cover: concept art by jeremiah humphries http://jeremiahdraws.blogspot.com/
Publication Date: 09-23-2011

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