GEORGIA GIRL AUF ABWEGEN
LIV KEEN
INHALT
Ohne Titel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Epilog
Nachwort
Danksagung
Über die Autorin
Weitere Bücher von Liv Keen
Für dich,
wo auch immer du gerade sein magst.
KAPITEL 1
JUNE
„Ich soll Ihnen einen blasen?“, fasste ich sein abscheuliches, unmoralisches Angebot knapp zusammen und schnappte erschrocken nach Luft. Der Schock über so viel Unverfrorenheit machte mich starr vor Schreck. Die Tragweite der Worte, die gerade aus dem Mund des Mannes kamen, sickerten nur langsam in mein Bewusstsein. Das konnte er doch nicht ernst meinen, oder etwa doch?
Stanley Palmer gehörte zu den einflussreichsten Agenten in Los Angeles. Einer unbekannten Autorin wie mir konnte dieser Mann die nötigen Türen öffnen. Am Morgen noch hatte ich gehofft, endlich die dringend benötigte Starthilfe zu erhalten, damit meine Karriere in die richtigen Bahnen gelenkt wurde. Und nun?
Normalerweise hielt ich mich für recht schlagfertig. Jetzt war ich jedoch unfähig, etwas zu erwidern. In den letzten Wochen hatte es viele schlechte Tage gegeben, aber keiner war so beschissen wie dieser. Seine kleinen Schweinsaugen sparten sich den Blick in mein Gesicht, glitten lüstern über den Ausschnitt meiner weißen Bluse, die dank meiner Schwäche für Eiscreme, die mir als Nervennahrung diente, enger saß, als es in diesem Moment hilfreich war. Anschließend heftete sich sein Blick auf meine nackten Knie, die von dem Kostümrock nicht verhüllt wurden. Kennt ihr diese Träume, in denen man im Klassenzimmer sitzt, vollkommen nackt und entblößt? So kam ich mir gerade vor. Automatisch presste ich meine Beine fester zusammen, damit er so wenig Haut wie möglich zu sehen bekam. L.A. war zu heiß für Hosenanzüge, doch jetzt wünschte ich mir, ich hätte einen Hitzschlag in Kauf genommen, um seinem lüsternen Blick zu entgehen.
„Wirf doch mal einen Blick in meinen Terminkalender, Schätzchen. Dort findest du unzählige hoffnungsvolle, junge Autorinnen, die durchaus bereit sind, mir einen Gefallen zu erwidern. Die Stadt ist voll von Idioten, die glauben, der neue Tarantino oder Spielberg zu sein. Wenn du willst, dass ich mir deinen Schwachsinn genauer anschaue, um vielleicht etwas für dich zu arrangieren, muss es sich für mich auch richtig lohnen – wenn du verstehst, was ich meine.“ Und ob ich verstand! Angewidert verzog ich angesichts seiner Worte mein Gesicht zu einer Grimasse. Mühsam schluckte ich gegen den aufsteigenden Brechreiz an, denn der Anblick dieses Mannes, der mich mit seinem Blick taxierte, war widerwärtig.
Ich kam mir vollkommen ausgeliefert und hilflos vor. Noch nie zuvor hatte ich mich so gefühlt. Es war kein Geheimnis, dass Frauen für die gleiche Arbeit schlechter bezahlt wurden oder es mehr Männer in leitenden Positionen gab. Das alleine war schon eine Ungeheuerlichkeit. Diese Macht allerdings dreist gegen Frauen einzusetzen, und sie mit sexuellen Gefälligkeiten zu erpressen, war schlicht und ergreifend abscheulich. Sexismus war auch in L.A. keine Neuheit und hinter vorgehaltener Hand warnten Frauen ihre Freundinnen vor bestimmten Männern, die Frauen als Freiwild betrachteten. Über Stanley Palmer war mir jedoch noch nichts dergleichen zu Ohren gekommen. Es war das erste Mal, dass jemand diese Macht gegen mich benutzte – zumindest in dieser ausgeprägten Form.
Schließlich lebte ich seit über sechs Jahren in L.A. und hatte eine wilde Collegezeit hinter mir. Aufdringliche Kerle waren mir nicht neu. Nicht umsonst hatte mich meine Freundin Hazel zu diversen Selbstverteidigungskursen geschleppt und dafür Sorge getragen, dass eine Dose mit Pfeffergel mein treuer Begleiter wurde – einsetzen musste ich es jedoch zum Glück noch nie. Vielleicht war das der Grund, weshalb in mir nach wie vor das naive Kleinstadtmädchen schlummerte.
Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich schluckte trocken. Nie zuvor in den letzten vierundzwanzig Jahren hatte ich derart bedauert, eine Frau zu sein. „Das hier ist kein Büffet, an dem sie sich einfach bedienen können“, entfuhr es mir aufgebracht.
„Was glaubst du, wie der Hase in diesem Business läuft?“
Der Typ hatte sie wohl nicht mehr alle. Ich würde weder meinen Stolz noch meine Überzeugungen verraten, um eine Chance in dieser Branche zu bekommen. Alles, was er von mir kriegen würde, war ein Arschtritt, aber ganz gewiss kein Blowjob.
Ich holte tief Luft, straffte meine Schultern und stand auf. Dank Hazels Manolos betrug meine Körpergröße jetzt immerhin stolze einsdreiundsechzig und so überragte ich den miesen Kerl in seinem teuren Bürostuhl zumindest um einen halben Kopf. „Sie werden es sich selbst machen müssen, Mr. Palmer. Von mir bekommen Sie höchstens eine Anzeige wegen sexueller Belästigung.“
Für den Bruchteil einer Sekunde verrutschte sein triumphierendes Lächeln, ehe es sich in ein gemeines Grinsen verwandelte. „Wer wird dir, einer unbedeutenden, untalentierten, selbsternannten Autorin, nur ein Wort glauben? Jeder wird denken, dass du wegen meiner Ablehnung, diese Gerüchte erzählst und ich werde jeden warnen, mit dir zusammenzuarbeiten. In dieser Stadt bekommst du kleines Luder keinen Fuß mehr auf den Boden.“
Seine Worte hinterließen ein eisiges Gefühl in meinem Magen, das sich in all meine Gliedmaßen ausweitete. Ich schluckte gegen den Kloß in meinem Hals an und hob dennoch das Kinn. „Das werden wir noch sehen“, knurrte ich, schnappte mir blitzschnell den Ordner, in dem sich mein Exposé und das Manuskript befanden, von seinem Schreibtisch. Ohne ein weiteres Wort verließ ich fluchtartig sein Büro und mein Herz hämmerte immer noch wie wild. Hastig lief ich mit meiner Mappe, die ich wie ein Baby an meine Brust drückte, an seiner Empfangsdame vorbei, die mir einen verwunderten Blick zuwarf. Ich brachte es nicht fertig, auf den Aufzug zu warten und hastete stattdessen vier Stockwerke hinunter, um das Gebäude zu verlassen. Mit der frischen Luft nahm ich auch die Erleichterung wahr, die durch meine Glieder strömte. Die hielt jedoch nicht lange an. Da stand ich und sah dabei zu, wie mein größter Traum, all meine Hoffnungen und Wünsche wie eine riesige Seifenblase zerplatzen. Für die Illusion, eines Tages eine große Drehbuchautorin zu werden, hatte ich nicht nur alles aufgegeben, nein, ich hatte auf jede erdenkliche Art und Weise dafür gekämpft. Eine Menge mieser Jobs gehörten dazu, zuletzt drei gleichzeitig, um die Miete bezahlen zu können und meine Karriere voranzutreiben. Vom Teller waschen, über das Putzen luxuriöser Wohnungen und das Braten von schlechten Burgern in einem Schnellimbiss war alles dabei. Ich war mir nicht zu schade für diese Arbeit gewesen. Hier jedoch endete meine Aufopferung.
Alles, was ich nun wollte, war eine sichere Umgebung, eine Bettdecke, unter der ich mich vor der traurigen Wahrheit, die sich mir weiter aufdrängte, stellen konnte. Ein Becher Karamelleis konnte ebenfalls nicht schaden.
Als die Tür zu Hazels Apartment hinter mir ins Schloss fiel, sackte ich schluchzend auf dem Teppichboden zusammen. Ich bekam schlecht Luft, meine Hände wurden feucht, ich spürte ungewöhnliche Stiche in meiner Brust und eine Welle der Angst durchfuhr mich. Erlitt ich etwa einen Herzinfarkt? Oder waren es bloß Anzeichen für eine ausgewachsene Panikattacke? Mir stand, wie ich fand, ein Nervenzusammenbruch durchaus zu. Mit geschlossenen Lidern zwang ich mich jedoch, tief durchzuatmen, wischte die Hände an meinem Rock ab und lehnte mich gegen das Sofa. Ich war vollkommen aufgeschmissen. Am Ende! Vollkommen am Arsch!
Ich zitterte. Niemals würde ich Geld mit meinen Geschichten verdienen. Nicht mit einem Agenten wie Stanley Palmer im Nacken, der allen erzählte, was für ein hinterlistiges Luder ich war. Ich hatte Übung darin, die Rückschläge einzustecken – das blieb in diesem Job nun einmal nicht aus. Bisher war mein Optimismus allerdings unerschütterlich gewesen. Die aufkeimende Existenzangst machte aber auch diesen zunichte, denn dieses Mal sah es richtig, richtig übel aus.
Nicht wie damals, als ich den Job im Kino verloren hatte und kein Geld für die Kaution des Pappkarton von Wohnung auftreiben konnte. Oder wie an dem Tag, als meine Schrottkiste abgeschleppt wurde und seither auf dem Parkplatz der Abschleppfirma seine letzte Ruhe fand. Wenn mir nicht langsam etwas einfiel, konnte ich mir dieses Leben nicht mehr lange leisten.
Erst vor zwei Wochen war ich bei meiner Freundin Hazel untergekommen, die mich und meine wenigen Habseligkeiten, ohne zu zögern, aufgenommen hatte. Es war armselig, aber mein gesamtes Leben passte in eine Reisetasche und einen Karton. Die Miete meiner winzigen Wohnung hatte zu guter Letzt meine Mittel überstiegen und so war ich gezwungen gewesen, umzudisponieren. Die Aussicht, mir einen weiteren Job zu suchen, war in keiner Weise verlockend. Es bedeutete nur, dass ich bald zwischen Schlaf und Zeit zum Schreiben wählen musste. Mir fehlte schlicht die Kraft, weiterzukämpfen. Womöglich musste ich akzeptieren, dass mein Traum, vom Schreiben leben zu können, eine Sackgasse war.
Das war auch der Grund, warum ich solch große Hoffnungen in den Termin bei Stanley Palmer gesetzt hatte. Es war mir ein wenig wie die letzte Chance vorgekommen und ein Teil fürchtete, dass dies nun das Ende war. Nicht nur das Ende eines wirklich miesen Tages, sondern – und es tat weh, mir das einzugestehen – der Verwirklichung meines Traums, je wie Sofia Coppola zu werden.
Das Klingeln meines Handys durchbrach die erdrückende Stille in Hazels Wohnung und automatisch griff ich danach. Claire stand in großen Buchstaben auf dem Display und ich wischte die Tränen von meinen Wangen. Es war kein guter Moment, um mit meiner perfekten Schwester zu sprechen. Wahrscheinlich gab es den nie, aber jetzt konnte ich keinesfalls die Kraft aufbringen, mich ihr zu stellen. Entschlossen lehnte ich den Anruf ab, stellte das Handy auf stumm und versuchte, zu vergessen, was im Büro dieses schmierigen Agenten geschehen war. Im Augenblick wollte ich bloß eins: duschen, um die Erinnerung an seine lüsternen Blicke von meinem Körper zu waschen, denn auch wenn er mich nicht angerührt hatte, so kam ich mir doch erniedrigt und schmutzig vor.
Die Tränen auf meinem Gesicht vermischten sich mit den Wassertropfen der Dusche und ich seifte mich ausgiebig mit Hazels wohlriechendem Pfirsichduschgel ein. Ich war vielleicht obdachlos, aber ich musste noch nicht wie eine Streunerin riechen. Meine geröteten Augen trocknete ich anschließend mit dem Handtuch, das ich nun um meinen Körper schlang, und mit einer Hand wischte ich die Feuchtigkeit vom Spiegel. Die Frau, die mir darin entgegenblickte, sah so niedergeschlagen und erschöpft aus, dass ich sie gern getröstet und aufgebaut hätte. Ich zog mir meinen Hello-Kitty-Schlafanzug an und setzte mich auf das Sofa, das zurzeit mein Schlafplatz war.
Wie war es möglich, dass Männer wie Stanley Palmer nicht hinter Gittern steckten? Sie hatten Macht und Einfluss. Keine Sekunde zweifelte ich daran, dass er seine Drohung, mich selbst zu kompromittieren, wahr machen würde und deswegen verwarf ich jeden Gedanken daran, ihn tatsächlich anzuzeigen. Ich hatte dringendere Sorgen, zum Beispiel, wie lange ich von den zweihundert Euro, die mein Dispo hergegeben hatte, noch Leben könnte?
Es dauerte nicht lang, bis meine Freundin Hazel in ihrem Hühnerkostüm von der Big Chick Fast-Food-Kette zur Tür hineinkam. Den Kopf des Huhns trug sie unter dem Arm und ihr ansonsten glattes Haar stand in alle Himmelsrichtungen ab.
„Wenn das nicht meine letzte Schicht als Huhn wär, dann schwöre ich, hätte man mich demnächst in den Nachrichten sehen können. Ich hasse Menschen, die Fast Food lieben und ich bin überzeugt, ihnen irgendwann Gewalt anzutun.“ Im Gegensatz zu mir hatte Hazel einen wirklich aussichtsreichen Job in einer Serie bekommen. Die Zeichen standen gut, dass sie sich langsam einen Namen in der Fernsehbranche machte. Ich musste neidvoll anerkennen, dass sie nicht nur ein gutes Sprungbrett in Form ihres erfolgreichen Dads, der Produzent war, gehabt hatte, sondern auch eine gehörige Portion Talent besaß. Etwas, das meine College Professoren zwar auch über mich gesagt hatten, woran ich jedoch inzwischen ernsthafte Zweifel hegte – schließlich war das fast drei Jahre her.
Hazels Blick traf meinen und sie erkannte sofort, dass etwas nicht stimmte. „Was ist geschehen, June?“
Mit dem dickbäuchigen Kostüm war es beinah unmöglich für sie, neben mir auf dem Sofa Platz zu nehmen. Sobald sie mich umständlich in ihren Arm zog, begann ich erneut, zu weinen, ehe ich ihr stockend berichtete, was bei dem Termin vorgefallen war. Fassungslos starrte sie mich an und streichelte schließlich mein Haar, bis ich mich ein bisschen beruhigt hatte. Der Druck auf meiner Brust war vielleicht nicht ganz fort, aber zumindest leichter geworden, jetzt, da ich es einer anderen Person erzählt hatte.
„Es tut mir so leid, June. Ich wünschte, ich könnte dir etwas sagen, was dir hilft. Wir könnten einen perfiden Plan schmieden, um es ihm heimzuzahlen.“ Ich brachte ein schwaches Lächeln zustande. Es war aber auch einfach zu lustig, von einem Huhn getröstet zu werden. „Was hast du jetzt vor?“
Hilflos zuckte ich mit den Achseln. „Ich habe keinen blassen Schimmer. Seien wir mal ehrlich, mein Leben war auch ohne seine Drohung bereits im Eimer.“
Schweigend starrten wir auf unsere Hände, die sich festhielten. Hazel und ich waren schon auf Bryhers Island, unserer Heimat in Georgia, unzertrennlich gewesen. Damals hatte Hazel bei ihrer Mutter gelebt, bis sie ihren Highschool-Abschluss in der Tasche gehabt hatte und zu ihrem Vater nach L.A. gezogen war. Ich hatte dem Städtchen nur wenige Wochen später ebenfalls den Rücken gekehrt, um an der Berkeley zu studieren. Es war eine großartige, wenn auch harte Zeit, denn ohne Hazel zu sein, kam mir grundlegend falsch vor. Schon früh in unserer Kindheit hatten wir gelernt, dass wir gemeinsam stärker waren. Es wurde jedoch zunehmend schwerer, ihr von meinem absteigenden Ast dabei zuzusehen, wie sie immer erfolgreicher wurde. Hazel war großherzig und würde jeden Erfolg und Dollar mit mir teilen, doch das war das Letzte, was ich wollte. Mein Ego und mein Traum, finanziell unabhängig und erfolgreich mit meinen Geschichten zu sein, ertrug Hazels Unterstützung kaum noch.
Während ich meinen schwermütigen Gedanken nachhing, rutschte Hazel unbehaglich auf ihrem Platz hin und her. „Ich fürchte, ich hab noch mehr schlechte Nachrichten für dich, June“, wisperte sie. „Ich hasse es, genau in diesem Moment davon anzufangen, aber du wirst es bald ohnehin erfahren.“ Mit trauriger Miene hielt sie inne und ich blickte sie abwartend an. Was sollte mich jetzt noch erschüttern? Es konnte unmöglich noch schlimmer kommen.
„Nun sag es schon, Hazel“, drängte ich.
Statt zu antworten, stand sie umständlich auf und zog aus ihrer Tasche mehrere Zeitschriften. „Auf dem Weg nach Hause wollte ich meiner üblichen Sucht nachgehen …“ Sie warf dem Stapel bereits gelesener Hochglanzmagazine einen Blick zu. „Dabei bin ich daran vorbeigelaufen.“ Prompt hielt sie mir das Cover der Fame unter die Nase und mein Atem stockte. Ein allzu bekanntes Gesicht lächelte mir von dort entgegen. Die Arme des Mannes waren um den Körper einer jungen, blonden Schönheit geschlungen. Es war dasselbe Gesicht, das sich am gestrigen Abend noch dicht an meinem befunden hatte. Er hatte sich mit mir in den Bettlaken eines luxuriösen Hotelzimmers geräkelt. „Milliardenschwere Verlobung“ war als Überschrift zu lesen und perplex griff ich nach der Zeitschrift. Mein Herz setzte aus, nur um in der nächsten Sekunde schmerzhaft weiter in meiner Brust zu schlagen. Das konnte unmöglich wahr sein! Troy würde niemals … und doch stieß ich nach kurzem Durchblättern auf seinen Namen.
„Völlig überraschend gab Michael Derbyshire die Verlobung seiner Tochter Miss Eliana Derbyshire mit dem namhaften Staranwalt Troy MacNamara bekannt. Die bildschöne Schauspielerin feierte zuletzt viele Erfolge am Broadway und wurde erst kürzlich unter Vertrag genommen für die neue Bestsellerverfilmung von …“
Eine Verwechslung war ausgeschlossen. Niedergeschlagen legte ich das Magazin beiseite, denn selbst die winzige Hoffnung, dass es sich hier um Troys mir unbekannten Zwillingsbruder handelte, war nun ausgemerzt. Er war verlobt? Mit keiner Silbe hatte er auch nur erwähnt, dass es eine Freundin gab und jetzt wollte er heiraten? Hatte er mich derart belogen? Fassungslos schüttelte ich den Kopf. „Aber … das ist … das ist doch …“, begann ich und richtete mich fassungslos auf. Wie immer, wenn ich mich aufregte, lief ich auf und ab.
„Troy!“, vervollständigte Hazel meinen Satz und nickte nachdrücklich. Das war jedoch nicht ganz das, was ich hatte sagen wollen.
„Unmöglich!“, rief ich.
„Das dachte ich auch. Habt ihr euch nicht gestern noch getroffen?“
Wie in Trance nickte ich und hörte Hazel, die ihrer Empörung lautstark Luft machte, gar nicht mehr richtig zu. Ich hatte genug damit zu tun, mich aufs Weiteratmen zu konzentrieren. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen und ich kämpfte ein weiteres Mal an diesem Tag mit den Tränen.
Hazel hatte Troy und mich erst vor wenigen Monaten auf einer angesagten Party miteinander bekannt gemacht. Rasch war er mein Freund geworden, keiner, der mich abends ausführte oder mich mit Blumen beschenkte, nein. Er war tatsächlich ein guter Freund mit gewissen Vorzügen, der meine Bedürfnisse befriedigte, ohne irgendwelche Erwartungen zu haben. Es war die perfekte Vereinbarung gewesen und doch starrte ich fassungslos auf die Zeitschrift in meiner Hand. Der Verrat kroch wie bittere Galle meine Speiseröhre hinauf. Wie hatte er mir das nur antun können? Wir waren vielleicht kein Paar gewesen sein, oder hatten uns ewige Liebe geschworen, dennoch hatten wir uns immer mit Respekt behandelt. Unsere Treffen waren witzig gewesen, wir hatten uns gut miteinander unterhalten können und manchmal – so wie gestern – war es auch lediglich um Sex gegangen.
Meine Gedanken wanderten unwillkürlich zum Abend des Vortags. Troy hatte nicht reden wollen, dafür waren wir leidenschaftlich übereinander hergefallen. Ich war voll und ganz auf meine Kosten gekommen und nie und niemals hätte ich erwartet, dass ich am nächsten Tag etwas derart Ungeheuerliches erfahren würde. Wieso hatte er mich für dumm verkauft? War ich also immer bloß die andere Frau gewesen? War ich wirklich so bescheuert gewesen, ihm diese Nummer des desillusionierten Scheidungsanwalts abzukaufen? Mir hatte er immer versichert, das Letzte, was er wolle, wäre eine Ehe, weil er tagtäglich dabei zusah, wie aus Liebe Hass wurde. Naiv wie ich war, hatte ich ihm seinen Standpunkt abgekauft und in ihm einen Verbündeten gesehen. In dieser Hinsicht unterschied ich mich von vielen anderen Frauen. Tja, nicht jedes Mädchen denkt bei der Erfüllung ihres Daseins an ein weißes Kleid und einen gut aussehenden Ehemann. Ich zumindest tue das nicht. Einen Menschen auf diese Art zu seinem Eigentum und unglücklich zu machen, stand für mich schlichtweg nicht zur Debatte. Meine Eltern waren der beste Beweis dafür, dass aus jeder großen Highschool-Liebe irgendwann einmal der Vorhof der Hölle wurde. Ich war nicht daran interessiert, ebenfalls diesen Weg einzuschlagen – sehr zum Leidwesen meiner Mutter, die sich nicht davor scheute, mir diese vermeintlich schlechte Charaktereigenschaft unaufhörlich vorzuwerfen.
Obwohl ich fest geglaubt hatte, dass kaum Gefühle im Spiel gewesen waren, musste ich nun einsehen, dass ich mich geirrt hatte. Offenbar konnte man nicht monatelang mit einem Mann schlafen, ohne zumindest ein bisschen sein Herz für ihn zu öffnen. Es hatte nie eine konkrete Absprache über exklusiven Sex stattgefunden, aber eine feste Freundin oder gar Verlobte hätte ein eindeutiges No-Go für unsere Sextreffen bedeutet – zumindest von meiner Seite aus. Eifrig griff ich zu meinem Handy, das mehrere Anrufe aufgezeichnet hatte, die ich ignorierte. Stattdessen wählte ich Troys Nummer. Das Tuten zog sich endlos dahin und es dauerte einige Minuten, ehe jemand dranging. Es hätte mich nicht überraschen sollen, dass es die Stimme von Troys Sekretärin war.
„Mr. MacNamaras Apparat?“
„Miss Vendecamp, ich bin es, June Cooper …“
„Miss Cooper, es tut mir leid, aber Mr. MacNamara steht nicht zur Verfügung.“ Die Doppeldeutigkeit ihrer Worte verschlug mir kurzzeitig die Sprache, jedoch nicht lang genug, damit sie mich erfolgreich hätte abwimmeln können.
„Ach so und wie kommt es, dass Sie sein Mobiltelefon haben?“
„Na ja …“
Mir entglitt ein spöttisches Lachen. „Natürlich! Meine Nummer wird automatisch auf Ihr Telefon weitergeleitet, weil er ein feiges, hinterhältiges und betrügerisches Arschloch ist, das mich mit SEINER VERLOBTEN HINTERGEHT, während ich erst gestern seine Eier lecken sollte!“ Meine Stimme nahm zum Ende hin Fahrt auf. Ich blickte in Hazels verwundertes Gesicht und meine Gesichtsfarbe musste vom Farbton her der roten Couch ähneln. Ich legte auf und ließ mich kraftlos auf das Sofa sinken. Bevor ich mich noch mehr blamieren konnte, verbarg ich mein Gesicht hinter meinen Händen.
„June?“, fragte Hazel nach einer Weile vorsichtig. Mittlerweile hatte sie das Hühnerkostüm abgelegt und stand mir in Leggins und Shirt gegenüber. Ich legte meine Hand an meine Stirn. Das war allerdings nicht möglich, denn in ihren Augen sah ich Mitgefühl. „Das ist ein ganz besonders mieser Tag für solche Nachrichten, oder? Es tut mir so leid, Süße.“ Behutsam ließ sie sich neben mir nieder.
„Ich … es ist doch nicht deine Schuld.“
„Ich hätte es bis morgen vor dir verbergen können“, überlegte sie und streichelte meinen Arm.
„Das hätte nicht das Geringste geändert, Hazel.“ Impulsiv sprang ich auf. „Ich meine, wie könnte es noch schlimmer kommen?“ Mein freudloses Auflachen klang fremd in meinen eigenen Ohren. „Seit dem Ende meines Studiums versuche ich, meine Drehbücher zu vermitteln, doch mit jedem Jahr werden die Absagen und miesen Jobs mehr. Sieh mich an! Ich stehe am Abgrund meine Karriere. Mein Freund hält mich für dumm und naiv. Ich bin so pleite, wie man nur sein kann, quasi obdachlos … Viel schlimmer kann es gar nicht mehr kommen.“
„Das stimmt nicht“, warf Hazel in sanftem Tonfall ein. „Obdachlos bist du nicht. Die Couch gehört dir und das weißt du ganz genau. Bei mir hast du immer einen Platz.“
Ich seufzte und lächelte sie traurig an. „Das ist es aber nicht, was ich will. Ich möchte finanziell unabhängig sein. Ich möchte niemandem auf der Tasche liegen und mal ehrlich, Hazel, ewig geht das auch nicht gut. Nächste Woche wirst du mit den Dreharbeiten für diese Serie beginnen und ich kann unmöglich hier hocken und dich von deiner Arbeit ablenken.“
Das war allerdings bloß die halbe Wahrheit. Ein Teil von mir wollte ihr nicht dabei zusehen, wie sie die Karriereleiter hochkletterte, während ich wieder und wieder hinabstürzte. Das konnte ich ihr jedoch unmöglich sagen, denn sie sollte stolz auf ihre Erfolge sein. Sie hatte sie sich redlich verdient und ich wollte nicht, dass sie sich meinetwegen schlecht fühlte. Ein Teil von mir freute sich auch mit ihr. Der andere beklagte allerdings mein verkorkstes Leben. Ich war eine miese Freundin – ohne Frage. Man musste sich für die Erfolge der Menschen, die man liebte, freuen. Und Hazel war weit mehr als irgendeine Freundin. Sie war meine auserwählte Familie. Es gab keinen besseren Menschen als sie. Allerdings konnte ich nichts gegen dieses ätzende Gefühl tun, dass wie Säure in meinem Magen brodelte.
„Ist es okay, wenn ich kurz unter die Dusche hüpfe? Ich stinke nach Huhn.“
Ich nickte, sah ihr nach und sank tiefer in das weiche Polster des Sofas. Das konnte alles nicht wahr sein! Dieser Tag war ein einziger Albtraum und versprach, nicht besser zu werden, wenn ich an die unzähligen verpassten Anrufe meiner Schwester dachte, die auf meinem Display angezeigt wurden. Claire war immer hartnäckig, wenn sie etwas wollte, doch die acht Anrufe innerhalb der letzten Stunde waren sonderbar. Mit zittrigen Fingern hielt ich mir das Telefon ans Ohr, um die hinterlassene Nachricht abzuhören.
„June?“, ertönte die schwache Stimme meiner Schwester Claire auf dem Band. „Dad hatte einen Herzinfarkt – du musst nach Hause kommen. SOFORT!“
Als hätte die Nachricht mir den Todesstoß gegeben, schloss ich gequält die Augen und stieß einen entsetzten Seufzer aus. Hazel, die gerade auf dem Weg in die Dusche war, eilte wieder auf mich zu. Fürsorglich streichelte sie mir über den Rücken. „Ich trau mich gar nicht, zu fragen, aber, was ist passiert?“
„Es scheint, als hätte mein Dad einen Herzinfarkt gehabt.“
„Oh mein Gott“, entfuhr es meiner Freundin und sie sah mich schockiert an. „Du musst sofort nach Hause!“
„Das fürchte ich auch.“
„Ich weiß, du hast mit deinen Eltern kein gutes Verhältnis, aber …“
Ein spöttischer Laut entfuhr mir. „Das ist noch leicht untertrieben.“ Die Wahrheit war, meinen Dad und mich verband etwas Besonderes. Wir waren beide auf unsere eigene Art eigenbrötlerisch und stets die Außenseiter in unserer eigenen Familie. Er hatte meinen Wunsch, fortzugehen, wahrscheinlich am besten nachvollziehen können, auch wenn es ihn traf, dass ich ans andere Ende des Kontinents gezogen bin, um der Enge der Kleinstadt zu entkommen. Bryhers Island war eine überschaubare Insel an der Küste Georgias, die viele vielleicht als Paradies betiteln würden. Für mich war es das nur in einer Hinsicht gewesen: Die Landschaft war atemberaubend. Georgia gehörte zu den konservativsten Bereichen der Südstaaten und anders als meine Mom und Claire war ich keine Southern Belle. Mit meinen drallen Kurven, die damals eher für Babyspeck gehalten wurden, machte ich nicht die beste Figur in den typischen Südstaatenkleidern. Generell gab ich mehr Geld für Bücher statt für Kleidung und Make-up aus. Etwas, das meine Mom und Claire nie verstanden hatten. Jahrelang hatte ich befürchtet, man hätte mich im Krankenhaus vertauscht, aber dem war nicht so gewesen. Ob es mir nun passte oder nicht, ich war eine echte Cooper. Weiß der liebe Gott, was er sich da für einen Scherz erlaubt hatte. Bei der ersten Gelegenheit war ich nach meiner Schule an die Berkeley University gegangen und hatte mir vorgenommen, es den verständnislosen Gesichtern meiner Familie zu zeigen. Ich war fest entschlossen gewesen, keinen Fuß zurückzusetzen, ehe ich finanziell unabhängig und als Drehbuchautorin gefragt war. Beides hatte sich nicht erfüllt und dennoch …
„Ich habe mir geschworen, nicht eher zurückzukehren, bis ich ihnen bewiesen habe, dass sich Träume erfüllen können und ich mich sehr wohl allein um mich kümmern kann. Meine Eltern halten mich, wie du weißt, für eine Verräterin, weil ich es gewagt habe, ihnen und den Südstaaten den Rücken zu kehren.“
„Sie halten uns beide für Verräterinnen“, erinnerte Hazel mich und ich lächelte über ihre unermüdliche Unterstützung.
„Mit dem Unterschied, dass du was erreicht hast und ich immer noch an dem Punkt stehe, an dem ich mich vor drei Jahren bereits befunden habe. Außerdem hat deine Mom dich immer unterstützt. In den Augen meiner Familie bin ich bloß eine Träumerin. Sie erwarten förmlich, dass ich zu ihnen zurückgekrochen komme und jetzt sieh mich nur an“, jammerte ich, ehe ich meinen Fokus auf die Sorge um meinen Dad richtete und mit erstickter Stimme hinzufügte: „Dennoch muss ich zu ihm. Mein Dad ist …“
„Ich weiß“, murmelte Hazel und tätschelte meine Hand. „Das musst du mir nicht erklären. Wenn du nicht willst, musst du ihnen nichts von deinem Dilemma erzählen.“
„Wie soll ich ihnen weiter etwas vormachen?“
Hazel sprang auf und ergriff die Manolo Blahniks, die ich mir erst heute von ihr geliehen hatte. „Ganz einfach, du bekommst die und die Louis Vuitton Tasche von mir …“ Ich war bereit, zu protestieren, als Hazel die Hand hob und mich zum Schweigen brachte. „Natürlich sind sie nur geliehen, June.“
Ich schüttelte den Kopf. „Das geht auf keinen Fall!“
„Ich weiß, wie schwer es dir fällt, Hilfe anzunehmen, aber so wie ich das sehe, hast du nur zwei Möglichkeiten. Entweder du kehrst erhobenen Hauptes in unsere Heimat zurück oder … und, ich denke wir beide wissen, wie wenig dir diese Option gefallen wird, du beichtest deiner Familie alles und wirst von ihrem Mitgefühl überrascht. Wer weiß, vielleicht kommt ihr euch sogar wieder näher.“
Ich lachte bitter auf. „Im Leben nicht! Eher friert die Hölle zu. Du kennst doch meine Mom!“ Die Schlucht, die zwischen uns lag, war unüberbrückbar und dennoch würde ich zurückkehren. Damit stand es fest - das war das Ende!
KAPITEL 2
JUNE
Es ist das Ende der Welt, sagte die Raupe. Es ist der Anfang, erwiderte der Schmetterling, stand da auf der Karte. Ich würde meine wunderbare Hazel und ihre gut gemeinten Ratschläge in den nächsten Tagen vermissen - schrecklich vermissen. Behutsam strich ich mit der Kuppe meines Zeigefingers über ihre grazile Handschrift und hörte mich selbst seufzen. Wie sollte ich die Rückkehr nach Bryhers Island nur ohne Hazels unerschütterlichen Optimismus ertragen? Leider befreite mich Hazels gut gemeinter Ratschlag nicht von den Bauchschmerzen, die mich seit Claires Anruf fest im Griff hatten. Ich hatte sogar das Karamelleis, meine Lieblingssorte, verschmäht und das wollte etwas heißen. Ich widerstand niemals Eis, es sei denn, meine Familie kam ins Spiel. Seufzend legte ich meinen Kopf gegen die Busscheibe und betrachtete die Dämmerung der frühen Morgenstunden.
Als Tochter einer traditionellen, konservativen und wohlhabenden Südstaatenfamilie hatte ich so ziemlich jeden in diesem Ort mit meiner Entscheidung, an die Westküste zu wechseln, gegen mich aufgebracht und am allermeisten meine eigene Familie. Der Unglaube, dass ich je mehr sein könnte als eine Träumerin, begleitete mich nun seit den vergangenen sechs Jahren. Ich hatte es kaum erwarten können, ihnen zu beweisen, was in mir steckte und dass ich es schaffen konnte. Meine Eltern waren keinesfalls schlechte Menschen, sie bewegten sich nur ungern aus ihrer Komfortzone. Das musste auch der Grund dafür sein, dass die beiden immer noch miteinander verheiratet waren. Ich hatte nie zwei Personen erlebt, die, abgesehen von ihren Kindern, so wenig gemeinsam hatten. Meine größere Schwester Claire trat seit jeher wie selbstverständlich in die Fußstapfen unserer Mutter. Sie passte wunderbar in diese Umgebung. Als gekürte Teilnehmerin diverser Schönheitswettbewerbe, Prom-Queen und ehrenamtliches Mitglied im Frauenverein erfüllte sie das Bild der perfekten Southern Belle. Den einzigen Fauxpas, den meine Schwester sich geleistet hatte, war der, dass ihr Kind nicht erst in der Hochzeitsnacht gezeugt worden war. Dieser Umstand war der Grund für ihre übereilte Hochzeit gewesen, doch solange der Schein gewahrt blieb, interessierte dieser am Ende niemanden mehr.
Selbst mein Bruder, der stets versicherte, nichts für Traditionen übrigzuhaben, auf einem Hausboot lebte und seit seinem Highschool-Abschluss in ein und derselben Bar arbeitete, bildete da keine Ausnahme. Georgia zu verlassen, war so etwas wie ein Affront gewesen und daher galt ich als das schwarze, oder wie ich es nennen würde, das bunte Schaf meiner Familie. In vielerlei Hinsicht unterschied ich mich von meinen Geschwistern und fragte mich einmal mehr, ob mich nicht doch der Klapperstorch gebracht hatte. Es würde zumindest eine ganze Menge erklären. Zum Beispiel, dass ich im Gegensatz zum Rest meiner Verwandten dunkles, gelocktes Haar hatte, das mir bis zur Schulter reichte und niemals länger wurde. Keiner aus meiner Familie verstand mich und meinen seltsamen Humor. Im Gegensatz zu ihnen hatte mein größter Traum nichts, absolut gar nichts mit einer Miss-Wahl oder der Eroberung eines heiratsfähigen Kerls zu tun. Trotzdem befand ich mich auf dem Weg nach Hause.
Ich betrachtete die Finger meiner rechten Hand. Natürlich hatte ich wieder begonnen, an meiner Nagelhaut zu nagen. Eine schreckliche Angewohnheit, die ich mir vor einigen Jahren mühsam abgewöhnt hatte. Die Angst um meinen Dad und auch die vor der Reaktion meiner Familie, wenn ich vor ihrer Tür stand, machten mich ganz nervös. Ich konnte unmöglich am anderen Ende der USA darauf warten, dass mein Dad sich von seinem Herzanfall erholte. Der Streit mit meiner Familie betraf vor allem meine Mutter und mich. Mein Vater war im Vergleich zu der Löwin, die sie darstellte, ein folgsames Lamm.
Dies dürfte auch der Grund dafür gewesen sein, dass er mich nie in Kalifornien besucht hatte – eine Tatsache, die ich ihm angesichts seines Gesundheitszustandes nicht länger verübeln konnte. Die Sorge um ihn war so groß, dass ich seit einer geraumen Weile unruhig mit dem Bein wippte und regelmäßig mein Handy checkte. War es nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen, dass Claire sich nicht erneut meldete? Sie würde mir gewiss Bescheid geben, wenn es schlechter um ihn stand, oder? Andererseits würde sie mich wohl kaum über seinen Tod informieren, wenn ich zu ihnen unterwegs war. Mein Magen verkrampfte sich bei dieser Erkenntnis und die latente Übelkeit nahm wieder zu. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Ich hätte Claire um das Geld für ein Flugticket bitten sollen, auch wenn ich damit meine finanzielle Situation offenbart hätte. Immerhin wäre ich dann inzwischen längst auf Bryhers Island.
Der überfüllte Bus war pünktlich gekommen – etwas, das nicht selbstverständlich war. Angesichts der Enge kam ich in den Genuss diverser einschlägiger Körpergerüche. Ich dankte meiner eigentlich nie vorhandenen Weitsicht, auf das Frühstück verzichtet zu haben, und bemühte mich, vorzugsweise durch den Mund zu atmen.
Da saß ich also mit einer Reihe Manuskripte, die keiner haben wollte, einer wahllos bestückten Reisetasche, die ich von meiner verstorbenen Großmutter geerbt und die ihre besten Jahre bereits hinter sich hatte. Die geliehene Louis Vuitton Handtasche und die hochhackigen Manolo Blahniks von Hazel werteten meinen Anblick hoffentlich auf. Das Letzte, was ich wollte, war, meiner Familie zu beichten, welch Versagerin ich war.
Als ich daran dachte, wie kläglich ich gescheitert war, begannen die Tränen erneut, zu fließen. Vielleicht lag es aber auch nur an der Erschöpfung und an meinem strapazierten Nervenkostüm. In den letzten Stunden hatte ich kaum ein Auge zugetan. Mein Handy vibrierte. Claire hatte nur ein Wort geschrieben: „Entwarnung!“ Erleichterung überkam mich.
„Junge Lady, nehmen Sie das“, riss mich eine fremde Stimme aus meinen Gedanken. Ich blickte in die braunen Augen eines älteren Herrn neben mir, der mir ein Stofftaschentuch mit Monogrammen hinhielt. Feinsäuberlich waren die Buchstaben EH darauf gestickt worden. „Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass diesem hübschen Gesicht ein Lächeln um einiges besser stehen würde?“ Sein Schnäuzer war schneeweiß, die Haut von der Sonne gebräunt und gealtert. Die Brillengläser auf seiner Nase waren kugelrund und von einem schmalen, silbernen Rahmen umgeben. „Wer hat es nur geschafft, Ihnen das Lächeln zu rauben?“ Verräterisch glitt mein Blick auf die Zeitschrift in meinem Schoß, in der sich der Grund für mein gebrochenes Herz befand, von dem ich dachte, niemand könnte ihm etwas anhaben. Für einen Scheidungsanwalt, der von der veralteten Institution Ehe nichts hielt, wie er mir bei unserem dritten Date erzählt hatte, lächelte er ungemein glücklich in die Kamera. Troys Anblick widerte mich an, aber nicht so sehr wie Miss Derbyshires engelhaftes Aussehen. Sie war das komplette Gegenteil von mir. Falls es damals seine Absicht gewesen war, mich mit diesem Satz loszuwerden, war dieser Vorsatz gründlich schiefgegangen. Noch am gleichen Abend waren wir im Bett gelandet und hatten unsere lockere Beziehung vertieft. Wir hatten uns für die zwangslosen Treffen gefeiert und ganz gegen meine Pläne hatte ich mich in Troys verlässlicher Umgebung wohlgefühlt. Geborgenheit bedeutete für mich nämlich, dass er nicht mit einem Dreikaräter um die Ecke kam, um mich für ewig an sich zu binden. Offensichtlich hatte diese Gefahr niemals bestanden, denn innerhalb der vergangenen Monate hatte er diesen Ring einer anderen angesteckt. Das Schlimmste an all dem: Ich hatte nichts davon bemerkt. Gar nichts. Ich war die andere Frau gewesen. Monatelang! Wie war das nur möglich? Nun ja, offensichtlich gehörte ich gänzlich anderen Kreisen an, sodass die Gefahr, dass ich ihm und seiner Freundin begegnete, gering gewesen war. „Doch nicht etwa dieser Mann?“
Traurig lächelte ich meinen Sitznachbarn an, nahm das Stofftuch entgegen und tupfte meine Tränen trocken. Ich holte tief Luft, um mir eine Geschichte aus den Fingern zu saugen und platzte dann doch mit der Wahrheit heraus. „Nach Monaten erfahre ich durch diese Zeitung, dass er sehr wohl vorhatte, zu heiraten, nur eben nicht mich.“ Kräftig schnäuzte ich in sein Taschentuch und bemerkte zu spät, dass dies ziemlich unangebracht gewesen war.
Der Fremde lachte jedoch nur und winkte ab. „Sie wollen mich auf den Arm nehmen?“ Erstaunt hob er eine Braue. „Sie wollen mir wirklich sagen, er hätte statt Ihnen diese Frau gewählt?“
„Sie meinen diese erfolgreiche, talentierte und wunderschöne Schauspielerin?“ Ich wünschte, ich könnte behaupten, mir hätte bloß das erfolgreich zugesetzt, aber zwischen Miss Derbyshire und mir herrschte eine tiefe Schlucht, die ich auch nach weiteren Leben nicht überbrücken könnte.
„Dafür braucht man nicht mal eine Brille, um zu erkennen, dass es sich bei einem echten Südstaatenmädchen wie Ihnen um einen Hauptgewinn handelt.“ Sein Schmunzeln erregte meine Aufmerksamkeit und ich lächelte zaghaft.
„Den Südstaatencharme hatte ich ganz vergessen.“
„Dabei ist der doch die größte Waffe für uns Ehrenmänner“, entgegnete er und trommelte mit seinen Fingern auf den kleinen Koffer, der auf seinem Schoß lag. Es sah aus, als würde er Klavierspielen. „Mein Enkelsohn sagt das zumindest immer.“
„Dieser unvergleichliche Charme bewirkt immerhin, dass ich mich kurzzeitig besser fühle“, gab ich zu. „Sollte ich ihrem Enkel einmal begegnen, werde ich mich davon überzeugen, ob er ihn auch besitzt.“
„Dieser Kerl …“ Er deutete auf Troys Gesicht, das uns von dem Cover der Zeitung in meinem Schoß entgegen prangte. „… ist sicher nicht bei Verstand und feige noch dazu, wenn er es nicht für nötig befand, Ihnen selbst Rede und Antwort zu stehen“, verkündete der Fremden mit einer Empörung, die mich rührte und erneut zum Schmunzeln brachte. „Und glauben Sie mir, eines Tages werden Sie gewiss einen ganz wunderbaren Mann heiraten und sie werden keinen Gedanken mehr an diesen Schmierlappen verschwenden.“
„Ich habe gar nicht vor, jemals zu heiraten“, entfuhr es mir, als hätte ich ein Wahrheitselixier getrunken.
„Sie hatten wohl ziemliches Pech mit den Männern, die Sie bisher kennengelernt haben, Sie Ärmste.“
„Nennen Sie mich doch einfach June“, bat ich und schlug die Zeitschrift zu, um Troy aus meinem Blickfeld zu verbannen.
„Aber nur, wenn Sie mich Abe nennen.“
„Eigentlich glaube ich nur nicht an die Liebe. Das ist alles“, behauptete ich, denn er hatte recht: Meine Erfahrungen mit Männern waren bisher allesamt enttäuschend gewesen.
Völliges Entsetzen zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. „Wie bitte?“ Er schnappte nach Luft und unterbrach sein imaginäres Klavierspiel kurzfristig. „Welche junge Frau glaubt denn nicht an die Kraft der wahren Liebe?“
Achselzuckend vermied ich es, ihm in die Augen zu sehen. „Das liegt sicher an der seltsamen Beziehung meiner Eltern.“ Auch ohne mehrere Therapiesitzungen durchschaute ich meine Eigenheit.
„Ich werde Ihnen mal etwas sagen. Ich war damals ein junger Mann, beinahe noch ein Teenager, als mich die Liebe völlig unverhofft traf, aber ich wurde dank meiner Elizabeth erwachsen und fand endlich den Sinn meines Lebens.“
„Ich hatte mir für mein Leben einfach erhofft, dass es da noch etwas anderes gibt als bloß eine Hochzeit und die Gründung einer Familie“, gab ich zu und betrachtete meine Finger, die miteinander verschränkt waren.
„Was gibt es denn bitte Größeres als Liebe? Ich glaube vielleicht nicht an Fügung, oder zumindest nicht so, wie meine Frau es gern gehabt hätte. Ich vertraue darauf, dass Liebe allein es schafft, Brücken zu bauen und Wüsten zu durchqueren. Der einzige Sinn des Lebens besteht darin, der Liebe zu begegnen.“
Mein Blick schweifte von ihm zu dem Ortsschild, das wir gerade passierten. Bryhers Island stand in großen Buchstaben auf der grünen Metalltafel am Ortsrand. Ein unerwartetes Kribbeln erfüllte meinen Bauch, das ich auf die Nervosität schob. Wie es meinem Vater wohl ging?
„Besuchen Sie Ihre Familie?“
Ich nickte und musste einen ziemlich gequälten Gesichtsausdruck aufgesetzt haben, denn Abe runzelte die Stirn. „Sie sehen alles andere als glücklich aus. Bleiben Sie lange an diesem schönen Ort?“
„So lange wie nötig. Mein Vater ist krank“, entgegnete ich entschieden. „Und Sie?“
Sein Blick veränderte sich und Abe seufzte. „Ich gehöre hierher.“
Noch während sich meine Augen auf die Landschaft hefteten, durchströmte mich ein anderes Gefühl, was weniger mit Unruhe und Sorge zu tun hatte. Aufregung traf es eher. Nachdem ich die halbe Nacht in irgendwelchen Zügen und Bussen verbracht hatte, war die Aussicht bald aus diesem Bus steigen zu dürfen, geradezu verlockend. Die Aussicht raubte mir den Atem, denn die frühe Morgensonne tauchte die Brücke, auf die wir gerade fuhren, um den Lakeshore River zu überqueren, in goldenes Licht. Das Glitzern der Wasseroberfläche war beinahe unerträglich schön. Offenbar hatte ich vergessen, wie paradiesisch meine Heimat war. Ein paar Pelikane flogen über die Brücke hinweg, die eine der beiden einzigen Verbindungsstellen zum Rest der Welt oder zumindest zum Festland von Georgia darstellte. Mit Nachdruck verdrängte die Sonne die Wolken und kündigte einen heißen Tag auf Bryhers Island an.
„Es gibt einfach keinen schöneren Platz auf dieser Welt, nicht wahr?“
Überrascht schaute ich dem Mann, den ich für einen Augenblick völlig vergessen hatte, in das freudige Gesicht.
„Ja, das stimmt wohl“, räumte ich leise ein.
Die restliche Fahrt bis zum Ortskern dauerte höchstens fünfzehn weitere Minuten und nochmals zehn, bis ich meinen Koffer an mich nehmen konnte. Wir verabschiedeten uns, denn er würde noch zwei Stationen weiterfahren, wie er mir verriet. Zu spät bemerkte ich, dass ich vergessen hatte, ihm das Taschentuch zurückzugeben, was ohnehin ziemlich eklig gewesen wäre und so steckte ich es ein.
Die Haltestelle leerte sich und ich sah dabei zu, wie die Menschen von ihren Lieben in Empfang genommen wurden. Leider war weit und breit keines meiner Familienmitglieder in Sicht, wie Claire es versprochen hatte. Dafür ertönte plötzlich ein schriller Pfiff hinter mir und ich vernahm eine Stimme, die mir ziemlich vertraut war. So vertraut, dass sie mir eine Gänsehaut über den Rücken jagte: „Wenn das nicht Mini-Cooper ist!“
Ich setzte mein bestes Pokerface auf und drehte mich zu der Quelle dieser Worte herum. Obwohl mein Körper instinktiv bereits wusste, wer dort stand, wollte mein Hirn es nicht wahrhaben. Der Mann, der mit verschränkten Armen, in Lederjacke und dem üblichen überheblichen Lächeln an seinem Motorrad lehnte, war kein geringerer als Kyle Harper. Bester Freund meines Bruders seit Kindertagen, höllisch gut aussehend und zu meinem Leidwesen der Mann, der mir meine Unschuld geraubt hatte. In Form eines Flashbacks erinnerte ich mich einen Moment lang an die verhängnisvolle Nacht vor so vielen Jahren in der Hütte im Wald. Längst verdrängte Bilder stürzten an die Oberfläche, erwachten vor meinem geistigen Auge. Seine großen Hände, die mir geschickt Lust bereiteten, auf meiner nackten Haut. Kyle strich sich mit seinem beringten Daumen nachdenklich über seine vollen Lippen, während seine dunklen Augen mich eingehend betrachteten. Dachte er etwa auch gerade an diese Nacht? Ob ihm gefiel, was er sah?
Allein der Gedanke ist überflüssig, schimpfte ich mich im Stillen und doch sehnte sich mein Körper, durch die Erinnerungen an diese leidenschaftlichen Stunden, nach ihm. Ich konnte meinen Blick nicht abwenden. Sein Haar trug er mittlerweile etwas kürzer, doch es hatte immer noch die gleiche satte Farbe von flüssigem Honig und war verwuschelt. Breite Schultern wurden von einer offenen Lederjacke verborgen, doch das eng anliegende, weiße Shirt versprach einen durchtrainierten Körper. Hatte Scott nicht erwähnt, dass er bei der Polizei in Chicago war? Warum war er zurück an diesen Ort gekehrt?
„Nenn mich nicht so“, entfuhr es mir zähneknirschend, woraufhin ich von Kyle bloß ein herablassendes Lächeln erntete.
„Also hat L.A. aus dir eine dieser Tussis gemacht, ja?“ Das klärte wohl die Frage, ob ihm gefiel, was er sah.
„Welche Art von Tussi?“, fragte ich ungewohnt angriffslustig. Eigentlich fuhr ich nicht sehr schnell aus der Haut, doch die unerwartete Begegnung mit Kyle hatte mich kalt erwischt. Er gehörte zu den Erinnerungen, die man gern verdrängen wollte. Nicht, weil sie unschön waren, sondern weil ich zu lange gebraucht hatte, sie in den Tiefen meines Herzens einzuschließen.
Die fehlende Begrüßung meiner Familie nach drei langen Jahren Abwesenheit überging ich, fühlte aber, wie es mir zunehmend schwerer fiel, zu atmen. Was Kyles Anwesenheit zu bedeuten hatte, ahnte ich bereits, wobei ich in diesem Augenblick kaum sagen konnte, was mich schlimmer traf. Seine unverhohlene Ablehnung oder die Tatsache, dass keines meiner Familienmitglieder es für nötig hielt, mich persönlich einzusammeln. Ohne mir den Gefallen zu tun, seiner Ausführung etwas hinzuzufügen, drückte er mir bloß einen Helm in die Arme.
Ungläubig starrte ich ihn an. „Du willst, dass ich in diesem Outfit auf dein Höllending steige? Warum?“
„Weil ich von deinem Bruder beauftragt wurde, dich einzusammeln. Deshalb!“ Seine Augen glitten höchst anzüglich über meinen Körper und er kratzte sich jungenhaft am Hinterkopf. „Das dürfte interessant werden!“, bemerkte er, als er meinen kurzen Rock ins Visier nahm. Sein Blick wanderte weiter und ein freches Grinsen erschien auf seinem Gesicht, als er mein Schuhwerk betrachtete. „Nun komm schon, Prinzessin, was hast du erwartet?“, fragte er spöttisch. „Dass du in einer Limousine abgeholt wirst?“
Ich stellte mit Schwung die bemitleidenswerte Reisetasche vor seine Füße und deutete darauf. Er benahm sich, als wäre ich ein verzogenes Gör, das gewohnt war, von ihrer Familie verhätschelt zu werden. Er sollte es besser wissen. Diese Annahme war so weit von der Tatsache entfernt, dass ich hysterisch auflachte. „Und wie hattest du vor, mein Gepäck zu transportieren?“
„Hör zu, entweder du steigst jetzt auf oder ich fahre ohne dich.“ Gelassen nahm er auf seiner Maschine Platz, schob lässig mit dem linken Fuß den Ständer zur Seite und zog seinen Helm auf.
Ich seufzte. Diese Rückkehr war alles andere als erfreulich. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Leider hatte ich weder genug Geld, um mir ein Taxi zu rufen, noch die richtigen Schuhe, um die Strecke zum Haus meiner Eltern zu Fuß zurückzulegen. Ich klemmte mir also meine Reisetasche mit einem unbehaglichen Blick unter den Arm und stieg unsicher hinter Kyle, der ein zufriedenes Grinsen zur Schau trug, auf. Er warf den Motor an und das Röhren der Maschine ließ mich zusammenzucken. Verzweifelt versuchte ich, so viel wie möglich von meinen nackten Oberschenkeln zu verbergen, die mein Rock dank des verhängnisvollen Sitzes freigab. Ich hasste Kyle und das Gefühl, das er in mir hervorrief, während ich den geeigneten Platz für meine Arme suchte. Rasant fuhr er los und ich ergriff das Einzige, was sicheren Halt versprach: seine muskulöse Mitte. Trotz des Lärms glaubte ich, ein amüsiertes Lachen zu hören.
Die Fahrt ins Krankenhaus dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Seine Erheiterung war ihm deutlich von den Augen abzulesen, als er mir in einem unerwarteten Akt der Ritterlichkeit vom Motorrad half. Eilig zog ich den hochgerutschten Rock hinunter, ehe ich den Helm vom Kopf nahm. Ich wollte lieber gar nicht wissen, was dieser meiner Frisur angetan hatte. Ich sah sicherlich wie eine Vogelscheuche aus, doch für Eitelkeiten war keine Zeit. Unsicher äugte ich zum Krankenhaus und eine eisige Hand griff nach meinem Herzen und ballte sich zur Faust.
Kyles Räuspern lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn. Das Funkeln seiner Pupillen hätte mir durchaus früher ein Warnhinweis sein sollen, doch erst als er auf die Tasche deutete, die ich einfach hatte fallen lassen, schnappte ich erschrocken nach Luft. „Ähm, muss das so?“, fragte er betont unschuldig.
Am Rand meiner Reisetasche war der Reißverschluss aufgeplatzt und die Hälfte meiner Wäsche hatte sich während der Fahrt über den Straßen von Bryhers Island verteilt. Ein unterdrücktes Glucksen ging von Kyle aus, was endgültig aus ihm herausbrach, als ich ihn bestürzt und mit hochrotem Kopf ansah. Er lachte nun so laut, dass er sich den Bauch halten musste. „Hast du das beim Blick in den Spiegel nicht bemerkt?“, fuhr ich ihn an und das selbstgefällige Achselzucken war Antwort genug. Ich blickte die Straße zurück, konnte jedoch keins meiner Kleidungsstücke sehen.
Lodernder Zorn erfüllte mich und ich stieß ihm aufgebracht gegen die Brust.
„Du weißt schon, dass ich dieses Streicheln kaum spüre?“
„Was bist du nur für ein Arschloch? Als hätte ich im Moment Zeit und Nerven für so was!“, brüllte ich, schnappte meine Tasche und stöckelte, ohne mich noch mal zu ihm umzusehen, zum Krankenhaus hinauf.
Da ich keine Ahnung hatte, wo ich meinen Dad finden konnte, fragte ich an der Anmeldung nach seiner Zimmernummer. Noch bevor ich die Tür erreicht hatte, drangen die lauten und unverkennbaren Stimmen der restlichen Coopers an mein Ohr. Mein Herz wummerte nun aufgebracht gegen meine Brust und die Unsicherheit um den Gesundheitszustand meines Dads schnürte mir förmlich die Luftröhre ab. Bislang hatte ich das gut verdrängt, aber egal, wie uneinig wir uns auch waren, ich durfte ihn auf keinen Fall verlieren. Weder jetzt noch in Kürze. Es gab zu viel, was wir zu klären hatte.
Bedächtig atmete ich ein und betrat dann entschlossen das Zimmer, in dem ich meinen Vater vermutete. Alles, was ich sah, war sein leeres Bett. Meine Mutter wurde tränenüberströmt von meiner Schwester Claire im Arm gehalten und getröstet. Hieß das etwa …? Ich brachte es nicht fertig, den Satz zu Ende zu denken.
Mein Bruder Scott, der in einem Stuhl lümmelte, sah mich zuerst. „Na, sieh mal einer an!“, stieß er erstaunt aus. Sofort wandten sich meine Mutter und meine Schwester zu mir um. „Die verlorene Tochter kehrt heim.“
„Ist er …“ Meine Stimme brach. Ich räusperte mich und fragte zittrig: „Ist er … tot?“
„Du hast sie angerufen?“, entfuhr es meiner Mutter an meine Schwester gewandt. Sofort blieb ich stehen.
„Tot? Wer?“, fragte meine Schwester stirnrunzelnd und ignorierte unsere Mom geflissentlich.
„Dad!“, fügte ich ungehalten hinzu und deutete auf das Bett. Scott lachte haltlos und Claire, die einzig Vernünftige in diesem Zimmer, schüttelte nachdrücklich mit dem Kopf.
„Wie kannst du mich nur derart hintergehen“, jammerte Abigail Cooper, die Frau, die mich geboren hatte und stets die Aufmerksamkeit auf sich zog, auch wenn sie ihr nicht zustand. „Ich habe dir eindeutig verboten, sie …“ Dabei zeigte sie anklagend mit dem Finger auf mich. „… anzurufen.“
Claire seufzte, wechselte einen hilflosen Blick mit Scott und sah mich beschwichtigend an. Wäre er nicht mein nerviger Bruder gewesen, den ich bereits mit Windpocken und leidender Miene während einer Fischvergiftung gesehen hätte, wäre das Wort gut aussehend bei seiner Personenbeschreibung gefallen. Er hatte strohblondes Haar, das sich wie meines lockte, wenn es länger wurde. Ein Umstand, den er hasste, denn es gab kaum einen Menschen, der eitler als Scott Cooper war, der ähnlich verkorkst war wie ich selbst, wenn es um Beziehungen ging. Scott war ein bindungsunfähiger Frauenheld. Sein Ruf eilte ihm voraus und jeder Vater warnte seine heranwachsende Tochter vor diesem unmöglichen Kerl, der jetzt missbilligend mit der Zunge schnalzte.
„Natürlich habe ich sie angerufen. Sie ist eine Cooper und hat jedes Recht, über Dads Gesundheitszustand Bescheid zu wissen“, entgegnete Claire.
Ein abschätziger Blick meiner Mutter in meine Richtung deutete darauf hin, dass sie anderer Meinung war. „Hat sie also, ja? Tja, jedes Recht geht mit Pflichten einher, und da June es die letzten Jahre nicht für nötig befunden hat, uns zu besuchen oder uns auf irgendeine Art und Weise an ihrem Leben teilhaben zu lassen, ist sie hier nicht willkommen.“
„Mom!“, entfuhr es meiner sonst so sanftmütigen Schwester ungewohnt heftig.
„Ihr wisst schon, dass ich anwesend bin?“, fragte ich überflüssigerweise. Ich hätte auch nichts sagen können, denn keiner schien eine Notiz von mir zu nehmen. „Wo ist Dad also? Wird er operiert?“
Scotts wiederholtes Lachen wurde immer nerviger und für meinen Geschmack etwas zu ungehalten. „Gestorben an einem Furz!“, wieherte er schließlich und ich schloss gequält die Augen. Sollte ich noch Zweifel daran gehabt haben, dass jedes Mitglied dieser Familie einen Dachschaden hatte, dann waren sie in diesem Augenblick ausgemerzt. Scott ignorierte den mahnenden Blick unserer Mutter.
„Ich will jetzt endgültig wissen, wo Dad ist!“, rief ich durchringend genug, um die Aufmerksamkeit der anderen zu gewinnen. Meine Mom wandte mir unmissverständlich den Rücken zu, ein Zeichen, dass ich von ihr nichts erfahren würde. Fein. Dann eben nicht. Scotts Lachen erstarb kurzzeitig, doch bevor Claire mir antworten konnte, wurde eine Tür aufgerissen und die gedrungene Gestalt meines Vaters erschien.
Er trug eines dieser weißen Krankenhaushemden und in der Hand hielt er die Red News. „Wie soll ich mich bei dem Lärm hier draußen denn nur entspannen können?“, brüllte er mit lauter Stimme, ehe sein Blick auf mich fiel. „Mini?“, hauchte er und seine harte Miene wurde sofort weicher. „Bist du es wirklich?“
„Dad?“, fragte ich leise zurück. „Ich dachte, du … ich dachte …“
„Ich hätte einen Herzinfarkt?“ Ich nickte.
„Tja, dann wird es dich freuen, zu hören, dass er bloß unter einer Panikattacke und Flatulenzen gelitten hat, die wir irrtümlicherweise für einen Herzinfarkt gehalten haben“, antwortete meine Mutter mit der üblichen Hochnäsigkeit in der Stimme. Und das, obwohl sie entschlossen schien, nichts zu sagen. Wie es jedoch so ihre Art war, konnte sie keiner Versuchung widerstehen, mir eine Rüge zu erteilen. „Deine Anwesenheit hier ist also vollkommen überflüssig und du kannst dich in den nächsten Flieger nach L.A. setzen.“
„Abigail!“ Ein vernichtender Blick meines Vaters traf meine Mutter und ließ sie peinlich berührt zusammenzucken. Sie presste die Lippen fest aufeinander, als müsse sie sich so zwingen, kein weiteres Wort zu sagen.
Die übliche Eiseskälte griff nach mir und nahm Besitz von meinem Herzen. Es verstumme für eine quälend langsame Sekunde, ehe es schmerzhaft weiterpumpte. Viel zu oft hatte ich mich so gefühlt. Ungeliebt. Wertlos. Obwohl ich wusste, dass ich nicht das kleine Mädchen von damals war, empfand ich es genauso. „Schon gut, Dad, danke, Scott. Ich bin wie immer nicht erwünscht und sie sagt bloß, was sie denkt. Ich freue mich, dass es dir gut geht und … verschwinde einfach wieder.“
Meine Hand umklammerte die Henkel meiner malträtierten Reisetasche und ich machte auf der Stelle kehrt. Wie in Trance nahm ich den Weg, den ich eben erst gekommen war. Absätze klapperten über den Flurboden des Krankenhausganges. Die Gefühlsachterbahn, die ich an diesem Tag gefahren war, nahm nun ausufernde Höhen an. Ich spürte die brennenden Tränen in meinen Augen, die darauf drängten, hinauszuströmen.
Claire rief meinen Namen. Ich blieb zwar stehen, brachte es aber nicht fertig, mich zu ihr umzudrehen. Sie durfte nicht sehen, wie verletzt ich war. Unter keinen Umständen. „Du bleibst natürlich bei mir, June!“
Ich hob bloß die Hand, zum Zeichen, dass ich sie verstanden hatte, ehe ich in den Aufzug stieg und wartete, dass die Türen sich hinter mir schlossen.
Die frische Luft, die mich draußen vor der Eingangstür in Empfang nahm, fühlte sich angenehm auf meiner Haut an. Die brennenden Tränen auf meiner Wange konnte sie leider nicht im Keim ersticken. Ein Schluchzen drang aus meiner Kehle hinaus und ich schlug eine Hand vor meinen Mund, als könnte es die drängende Flut der Enttäuschung zurückhalten. Unerwartet griff jemand nach mir und Kyles vertraute Stimme, die im Gegensatz zu vorhin nicht hämisch lachte, sondern melodisch klang, drang an mein Ohr. „Hey, was ist passiert? Ich dachte, deinem Dad geht es gut und es sei nur falscher Alarm gewesen?“
Wie gern wollte ich in seine Arme sinken und hemmungslos weinen. Es spielte keine Rolle, wessen Arme es waren. Ich wollte bloß, dass mich jemand hielt, und jemandem erzählen, was mich derart aus der Fassung brachte. Dann drang die Erinnerung an Kyles Gehässigkeit in mein Bewusstsein zurück und ich schob ihn entschlossen von mir. Er war der letzte Mensch, mit dem ich mein Innerstes teilen wollte. Ich wusste, muskulös, wie er war, hätte er ohne Weiteres dafür sorgen können, dass ich an Ort und Stelle blieb, doch er ließ sofort von mir ab. „Das Letzte, was ich heute gebrauchen kann, bist du, Kyle Harper.“
„Lass mich dich wenigstens nach Hause fahren“, bat er.
„Nichts könnte mich je wieder dazu bringen, auf dieses Höllenteil zu steigen.“ Ich schüttelte den Kopf. „Mach einfach das, was du am besten kannst und tu so, als hätte es mich nie gegeben.“ Bei seinem Anblick hielt ich kurz inne. Ein Schatten huschte über sein Gesicht, doch es dauerte bloß eine Sekunde, ehe er sich wieder gefangen hatte. Im nächsten Moment wirkte er so unnahbar und distanziert wie immer, als könnte ihm nichts und niemand etwas anhaben.
Ich wünschte, so ginge es mir auch. Solange ich mich in seiner Gegenwart befand, war ich unfähig, eine Mauer um mich zu errichten, die es mir möglich machte, mich vor diesen Empfindungen zu schützen. Ich winkelte ein Knie nach dem anderen an, um Hazels Manolos auszuziehen, klemmte sie unter meinen Arm und lief barfuß die Straße entlang. Ganz egal, wohin, Hauptsache, fort von hier!
KAPITEL 3
JUNE
Nichts hatte sich in Bryhers Island verändert, wenn man einmal von den neuen, roten Dachziegeln der Kirche und der rosigen Markise von Gerald Hayes Eissalon absah. Für die Einwohner war das schon eine Wahnsinnsveränderung, und obwohl mir nicht zum Lachen zumute war, spürte ich das Lächeln, das an meinen Mundwinkeln zupfte. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie lang die Leute über die Neuigkeiten diskutiert hatten. Der Starrsinn der Menschen vor Ort war erstaunlich.
In L.A. wurde überhaupt kein Gedanke an solche Kleinigkeiten verschwendet. Da waren die Zeitungen bloß voll mit den gerade erst eröffneten Clubs und Szene-Restaurants. Manchmal schrieben sie natürlich auch über die Verlobung eines neuen Sternchens mit einem gut aussehenden Anwalt. Sarkasmus war meine geheime Superkraft, zumindest wollte ich das gerne glauben. Ich verabschiedete mich von Mrs. Manfield, Hazels Mom, der ich einen Besuch abgestattet hatte. Wie damals war es mir um einiges leichter gefallen, ihre Mutter zu besuchen, als meine eigene. „Schön, dass du da warst, June.“
Ich winkte ihr zum Abschied zu. „Gern.“ Dann wandte ich mich der Straße zu und machte mich auf den Weg zu meiner Schwester.
Plötzlich wog meine Tasche so viel, als trüge ich Steine mit mir herum und schweren Herzens führte ich meinen Weg fort. Es dämmerte bereits und die Eltern sammelten ihre Kinder von den Straßen, die Seilchen gesprungen, fangen gespielt und Hüpfkästchen gezeichnet hatten. Das waren Dinge, die mich in eine längst vergessene Zeit zurückversetzten. Der Anblick des Hauses, das mir in meiner Kindheit stets eine Zuflucht geboten hatte, verursachte mir Magenschmerzen. Das Haus meiner Schwester, das einst meiner Großmutter gehört hatte, war ein prächtiger Altbau im viktorianischen Stil. Zuletzt war ich bei der Beerdigung meiner Granny hier gewesen. Damals hatte sich das Haus in einem schrecklichen Zustand befunden. Dank Claires Pflege und dem Geld meines Schwagers machte es jetzt allerdings richtig was her. Staunend betrachtete ich die frisch gestrichene Außenfassade, die rosa und roten Rosenbüsche im Vorgarten und die neuen Fensterläden. Es war das perfekte Haus für meine noch perfektere Schwester und ihre perfekte kleine Familie. Ich holte tief Luft und stieg die Treppenstufen zur Eingangstür hinauf.
„Da bist du ja endlich“, erschreckte mich Claires Stimme. Zu meiner Überraschung lehnte sie mit einer dünnen Wolldecke auf der Sitzecke, in der einen Hand ein Glas Wein und in der anderen ihr Mobiltelefon. „Ich habe dich ungefähr ein Dutzend Mal angerufen.“
„Hattest du Sorge, dass ich mich in dieser Stadt verlaufe? Ich kenne diesen Ort besser als meine Handtasche.“
„Ich befürchtete eher, du wärst nach der desaströsen Begegnung mit unserer Mutter schon im nächsten Flieger nach L.A.“ Sie beäugte mich prüfend.
„Da kann ich dich beruhigen“, antwortete ich bloß und ließ mich erschöpft auf die Bank neben sie fallen. „Du kennst mich doch.“
„Gerade deswegen“, entgegnete Claire und richtete anschließend den Blick auf meine kohlrabenschwarzen Füße. Ich brauchte dringend ein Fußbad und eine Pediküre. „Kyle hatte also recht. Du bist wirklich und wahrhaftig nach
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Publication Date: 05-16-2022
ISBN: 978-3-7554-1397-4
All Rights Reserved