Cover

Leseprobe

DARK AGES

PRINZESSIN DER FEEN

KATHRIN LICHTERS

INHALT

Einleitung

Dark Ages - Prinzessin der Feen

Widmung

Prolog

1. Irgendwo ankommen

2. Träume

3. Mr Fantastical

4. Feen oder so

5. Der Zirkel

6. Der Feen-Extra-Schnellkurs

7. Ausgestoßene

8. Aufbruch

9. Avalon

10. Der Verrat

11. Sagenland

12. Pferde und andere Katastrophen

13. Etwas, wofür es sich zu leben lohnt

14. Luana

15. Die Prinzessin kehrt heim

16. Zuhause

17. Annäherungen

18. Ciara

19. Gefahr

20. Gestaltwandlerin

21. Lily und Rian

Epilog

Nachwort

Und so geht es weiter …

Danksagung

Über die Autorin

Bücher von Kathrin Lichters

EINLEITUNG

Liebe Leserin, lieber Leser,

Ich freue mich sehr, dass du dich für meine Dark Ages Trilogie entschieden hast. Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich darauf hinweisen, dass es sich hierbei um einen Sammelband handelt, der alle drei Teile der bereits veröffentlichten Trilogie vereint. Diese sind bereits unter den Namen Dark Ages - Prinzessin der Feen, Dark Ages - Königin der Feen und Dark Ages - Kriegerin der Feen erschienen. Ich wünsche dir viel Spaß mit meiner Lily und ihren Gefährten.

Alles Liebe

Deine Kathrin

DARK AGES - PRINZESSIN DER FEEN

Für Antje,

meine liebste Freundin, meine Schwester,

meine andere Hälfte, die mein Leben um so vieles glücklicher macht.

Auf immer und ewig!

PROLOG

Es war dunkel und so finster, wie es in einer Nacht ohne Laternenlicht nur sein konnte. Sie blickte einer Gestalt entgegen, die sie kaum erkennen konnte. Einer Person, die sie ängstigen sollte. In Wahrheit zog es sie direkt zu ihr hin. Es drängte sie geradezu, ihr ungeachtet entgegen zu laufen, um … ja, um was zu tun?

Die Gestalt kam nun langsam auf sie zu. Sie kniff die Augen zusammen, um sie besser sehen zu können. An den breiten Schultern war auszumachen, dass es sich um einen Mann handelte. Er bewegte sich elegant, fast wie ein Panther, der seine Beute ins Auge gefasst hatte. Oder so grazil, als hätte er das gesamte Leben auf einem Drahtseil verbracht. Die Kapuze versteckte das Gesicht, welches sie so gern betrachten wollte. Sie konnte keine Haar- oder Augenfarbe erkennen, nichts, was es ihr möglich machen würde, ihn besser beschreiben zu können.

Sie spürte nur diese starke Anziehung, ganz so, als sei es lebenswichtig für sie, zu ihm zu gelangen.

1. IRGENDWO ANKOMMEN

Tiefblaue Augen öffneten sich abrupt.

Ihr Kopf lehnte schwer gegen das beschlagene Fenster und wurde ordentlich durchgeschüttelt. Der Regen trommelte unentwegt auf das Dach des Zuges, und das ständige Ruckeln ließ nicht zu, dass sie in einen tieferen Schlaf fiel. Wenn sie den Tropfen weiterhin lauschte, dann bewahrte sie das auch vor einer erneuten verwirrenden Begegnung mit ihm. Sie schloss die Augen, um sich einen Moment der Ruhe zu gönnen und die Menschen um sie herum auszublenden.

Für Ende Dezember war es ungewöhnlich warm. Das bedeutete, dass sie in keine weiße Schneelandschaft treten würde, sobald sie aus dem Zug stieg, sondern bloß in Pfützen. Draußen war es feucht und matschig. Ein Wetter, bei dem sich Lily wirklich nicht wohlfühlte. Das mühsam geglättete Haar kräuselte sich dann augenblicklich in alle Richtungen – und unwillkürlich dachte sie an Hermine aus Harry Potter und den Hogwarts Express. Wie gern hätte sie einer solch magischen Zukunft entgegengesehen, mit all den Geheimnissen und Menschen, die einen faszinierten. Eine ihrer besten Fähigkeiten war es, sich in eines ihrer geliebten Bücher hineinzuträumen. Manchmal war sie eine stolze Elizabeth Bennet, die Mr. Darcy mit allerhand Vorurteilen betrachtete und sich am Ende doch Hals über Kopf in ihn verliebte. Ein anderes Mal kam sie sich wie Isolde vor, die ihre Liebe für Tristan nicht zu verbergen vermochte. Natürlich hatte sie auch zeitgenössische Literatur gelesen. Sie bewunderte die große und außergewöhnliche Liebe von Bella und Edward oder kämpfte an Harrys Seite gegen Voldemort. Wenn es etwas gab, das sie einst tun wollte, dann war es, ebensolche Bücher zu schreiben. Sie wünschte sich, Helden auferstehen zu lassen, die bereit waren, alles für die einzig wahre Liebe zu opfern. Damit würde sie hoffentlich anderen Menschen Mut machen, so wie ihre Buchhelden das bei ihr geschafft hatten. Auch wenn ihre nächste Station nicht Hogwarts hieß, so war doch jedes Ziel besser als das, welches sie hinter sich ließ.

Sie seufzte leise, als sie an die Welt dachte, die sie gerade verlassen hatte. Eine Welt, in der ihre Mutter die erste Geige gespielt hatte, gefolgt von der London High Society und unzähligen Benimmregeln. Danach kamen allerhand Partys, mit Kaviar und Champagner und nicht zu vergessen: gesellschaftliche Verpflichtungen. Die war ihr Problem gewesen. Nein, vermutlich stimmte das nicht. Eigentlich war sie das größte Problem gewesen. Ihr ganzes Leben hatte sie nie den Erwartungen ihrer Mutter entsprochen. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals irgendwelchen Vorstellungen gerecht geworden zu sein. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt, weil er ihre Mutter und sie kurz nach ihrer Geburt verlassen hatte. Wer verließ schon ein kleines Baby?

Wenn sie an die Zeit mit ihrer Mutter zurückdachte, die nicht nur aus Anstand und Benimmregeln bestanden hatte, wurde sie ganz wehmütig. Damals hatten sie noch in Cornwall in der Nähe von Onkel Liam und Tante Caitlin gelebt. Dies waren die glücklichsten Jahre in ihrem jungen Leben gewesen.

Ihre Mutter hatte jedoch unbedingt auf die Jagd nach einem ausgesprochen wohlhabenden Ehemann gehen müssen. Der sie dann auch noch nach London verschleppen und all ihre Träume hatte erfüllen müssen.

Harold war gewiss kein schlechter Typ. Er hatte für Jane die Türen zu etlichen vornehmen Clubs, Partys und Gesellschaften geöffnet. Als Gegenleistung liebte Jane ihn und machte ihn zur einzigen Priorität. Dieses Leben mochte Jane genügen, für Lily wurde es jedoch zur Tortur. Daran konnte auch die Geburt ihres Halbbruders Harry vor über acht Jahren, den sie trotz allem wirklich sehr lieb hatte, nichts ändern. Harry wurde allerdings ebenso nach den Vorstellungen seiner Eltern erzogen, und es wurde jetzt schon hinter vorgehaltener Hand von einer geplanten Verbindung zu Mr. Clearwaters Tochter Jenny getuschelt. Das stimmte Lily traurig, doch für Harry war das normal und in Ordnung. Er gierte danach, einst ein riesiges Unternehmen zu leiten. Vor allem freute er sich darauf, viel Geld auszugeben und sich jeden Luxus leisten zu können. Übelkeit stieg in Lily auf, und sie konnte nicht sagen, ob es an der Zugfahrt oder dieser Vorstellung lag.

Obwohl ihre Eltern diese Verbindung guthießen, Lily widerte es an.

Jedes Mal, wenn Lily ihre Meinung zu diesem Thema kundtat, verzog ihre Mutter geringschätzig den Mund und rümpfte die Nase. Ein Gesichtsausdruck, den Lily in der Vergangenheit häufig zu sehen bekommen hatte. Dieses Mädchen sollte ihre Tochter sein? Die seltsame, rebellische junge Frau, die die Last der gesamten Welt auf ihren Schultern zu tragen schien, sollte in ihre akkurate Welt passen?

Auch für sie hatte es schon einen Zukunftsplan gegeben. Harold hatte in ihr immer viel Potenzial gesehen, bereits als sie noch klein gewesen war. Die hellbraunen dicken Haare, die Porzellanhaut und die tiefblauen Augen mussten auf jeden Mann anziehend wirken. Einige hätten sie zur Frau haben wollen, und Lilys Zukunft wäre gesichert gewesen. Manchmal fragte sich Lily, ob die Londoner High Society noch im Mittelalter lebte. Die Vorstellung behielt Harold hartnäckig bei und sah mit Entzücken dabei zu, wie Lily weiblichere Rundungen bekam und erwachsen wurde. Allerdings nur so lange, bis sie sich das Haar schwarz färbte, die Augen dunkel umrandete und etliche Löcher in ihre Ohren und Nase bohrte. Die Kleidung wählte sie mit Bedacht. Sie legte sich durchlöcherte Hosen und dunkle T-Shirts in Übergröße zu, um ihren wohlgeformten Körper vor den möglichen Heiratsanwärtern zu verbergen. Nach all den Jahren hatte sie beinahe vergessen, ob sie dieses Outfit selbst mochte, oder nur ausgesucht hatte, um nicht in das perfekte Bild der Harolds (so nannte Harold sie alle spaßeshalber) zu passen. Die Nasenringe waren mittlerweile verschwunden, doch von der restlichen Maskerade hatte Lily sich bisher noch nicht trennen können. Es war Lilys Art, sich nicht an die Wünsche und Vorstellung ihres Umfelds anzupassen. Manchmal fragte sie sich, ob sie tatsächlich etwas dagegen hatte oder ihre Rebellion bloß Gewohnheit war.

Sie spürte den Blick des alten Mannes auf sich ruhen, der ihr gegenübersaß. Er musterte sie eingehend, ja beinahe neugierig. Ob er ihre Erscheinung verabscheute oder sie insgeheim bewunderte, vermochte Lily nicht zu sagen. Sie trug die bequemen Stiefel, die bis zu den Knien zugeschnürt waren. Da sie den ganzen Tag auf den Beinen sein würde, hatte sie angenehmes Schuhwerk für eine gute Idee gehalten. Außerdem vervollständigten eine Jeans, eine warme Jacke und eine graue Strickmütze, die ihr unordentliches Haar verborgen hielt, ihr Outfit. Die alte Baskenmütze thronte auf dem Kopf des Mannes. Seine Kleidung wirkte zerschlissen und abgenutzt. Lily betrachtete seine Gestalt näher und verweilte bei den Händen, die eine durchweichte Zeitung festhielten. Sie waren gepflegt und makellos. Es gab keine Trauerränder, die man bei dieser Aufmachung erwartet hätte. Sie spürte, wie er sie unverhohlen anstarrte, und Lily wagte es, ihm ins Gesicht zu sehen. Gütige dunkle Augen und ein freundliches Lächeln sahen ihr entgegen. Sie konnte nicht anders und lächelte zurück.

„Möchten Sie auch mal in die Zeitung schauen?“, fragte er, und Lily schüttelte den Kopf.

„Nein danke, ich fürchte, sie würde keine weitere Lesung überstehen.“

Der Mann sah irritiert auf die zerknüllten Papierseiten Gegenstand in seinen Händen, als bemerke er erst jetzt, dass damit etwas nicht stimmte. Er wirkte jedoch keineswegs unzufrieden. „Auf dem Weg nach Hause?“

Lilys verwunderter Blick schweifte in die Ferne und fand prompt eine Antwort, die wahrer war als viele zuvor. „Nach Hause … ja.“

Der Fremde lächelte und überließ Lily ihren Gedanken. „Ich wünsche Ihnen alles Gute für die restliche Reise.“ Lily lächelte bloß und sah dann wieder fort.

Der Zug würde sie endlich in eine andere und hoffentlich bessere Welt führen. Dorthin, wo sie zuletzt wirklich glücklich gewesen war - nach Cornwall. Es hatte nicht viel gebraucht, damit sie ihren Willen bekam, um weit weg von ihrer Mutter leben zu können. Sie wurde leider erst in wenigen Monaten volljährig, und so hätten ihr noch etliche Teepartys bevorgestanden. Glücklicherweise war ihr die rettende Idee gekommen. Sie war mit ein paar Bekannten in die Cafeteria ihrer alten Schule eingebrochen und hatte dort alles verwüstet. Diese Menschen als Freunde zu bezeichnen, wäre albern gewesen, denn sie hatte sich ihnen bloß angeschlossen, um für genügend Ärger zu sorgen. Das hatte Jane schließlich den Rest gegeben. Sie hatte den Gedanken aufgegeben, dass aus der einzigen Tochter, dem hässlichen Entlein, einmal der schöne Schwan werden würde, den sie erwartet hatte. Lily erinnerte sich genau an die zusammengekniffenen Lippen, als Jane ihr den Telefonhörer gereicht und befohlen hatte, Onkel Liam anzurufen.

Liam war in all der Zeit Lilys einziger Lichtblick gewesen. Bei ihm hatte sie jedes Jahr zwei Wochen ihrer Sommerferien verbringen dürfen. Sie liebte dort einfach alles. Es war ruhig, es gab nicht so viele Menschen und am Allerwichtigsten: Es war überall grün. Es gab nichts Schöneres, als sich mit einem Buch ins Gras sinken zu lassen und bloß der Natur zu lauschen. In den zwei Wochen, die sie in Cornwall zu Besuch gewesen war, kehrte Frieden in ihre Seele. Sie hatte sich zu Hause gefühlt, als sei sie endlich irgendwo angekommen. Außerdem hieß man sie dort willkommen, und sie war kein hässlicher Klotz am Bein, der bei der Gesellschaft gern vertuscht wurde. Sie hatte nie verstanden, warum ihre Mutter sie nicht früher hatte gehen lassen wollen. Es war unübersehbar gewesen, dass Jane mit Lilys Verhalten alles andere als glücklich gewesen war. Dennoch hatte sie darauf bestanden, dass sie in London lebte.

Jetzt, wo es endlich so weit war, dass Lily nach Hause fuhr, fühlte sie sich seltsam. Weiterhin rastlos, als gehörte sie nirgendwo wirklich hin. Sie sollte eigentlich zuversichtlich und freudestrahlend im Zug sitzen, doch nichts davon traf zu. Irgendwann in den vergangenen Jahren hatte sie sich selbst verloren. Nun fürchtete sie sich, herauszufinden, was von ihr übrig geblieben war.

Aufgrund des lauten Schepperns hinter ihr, zuckte sie zusammen, und sie sah sich instinktiv um. Eine junge Frau mit halblangen, braunen Haaren hatte ihre Tasche fallen lassen. Der Schaffner beeilte sich, ihr zur Hand zu gehen und alles zurück in den beutelähnlichen Behälter zu stopfen. Die Fremde schenkte ihm ein dankbares Lächeln. Er grinste ihr dümmlich hinterher, als sie wieder Platz nahm.

Lily konnte den Gesichtsausdruck des Kerls durchaus verstehen, denn die Frau war sehr hübsch. Sie war zwar keine klassische Schönheit, dafür war sie zu klein und zierlich, doch ihre Gesichtszüge waren fein und zogen viele Blicke auf sich. Alles an ihr wirkte natürlich schön. Es war wohl eher die Ausstrahlung, die den Mann und jeden anderen Fahrgast im Zug in ihren Bann zog. Einen Moment begegnete sie ihren Augen. Hastig sah Lily fort, da sie sich beim Starren ertappt fühlte, meinte aber, dass die Frau zu ihr herüber lächelte. Hatte sie es sich nur eingebildet, oder hatte sie tatsächlich ein Tattoo um das linke Auge der anderen gesehen? Beim erneuten Hinsehen, war nichts mehr davon zu erkennen. Irritiert entschloss sie sich, diesen Vorfall zu der Reihe von seltsamen Vorkommnissen zu schieben, die typisch für sie waren. Für die letzten Stunden Zugfahrt bis Plymouth schloss sie die Augen und wurde von den gleichmäßigen Geräuschen und Bewegungen in einen leichten Schlaf gewiegt.

Das abrupte Bremsen riss Lily aus ihrem Traum, und sie schreckte hoch. Da war er wieder gewesen … dieser Fremde. Er tauchte seit Monaten in ihren Träumen auf. Obwohl sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte, kam er ihr vertraut vor. Wobei sie keineswegs sicher sein konnte, dass sie ihn nicht kannte, denn sie konnte weder die Haarfarbe noch die Augenfarbe richtig erkennen. Dennoch übte er eine Anziehungskraft auf sie aus, die sie kaum in Worte zu fassen vermochte. Er sah sie stets nur an, bewegte sich dann langsam auf sie zu, und immer, wenn sie auf ihn zulaufen wollte, war er bereits verschwunden. Sie hatte schon öfter daran gedacht, zur Traumdeutung zu gehen, aber eigentlich glaubte sie nicht an so einen Schabernack.

Beinahe vergaß sie, dass es Zeit war, auszusteigen. Sie packte ihren Rollkoffer und eilte auf die geöffneten Türen zu. Gerade eben noch quetschte sie sich hindurch, ehe sie sich automatisch schlossen. Lily sah sich kurz um und beobachtete die Fremde, wie sie die Treppe hinuntersprang. Dafür kamen zwei ihr nur zu vertraute Menschen auf sie zu. Die Erleichterung, die sie bereits herbeigesehnt hatte, überkam sie endlich, und sie stürzte freudig auf ihren Onkel und ihre Tante zu.

„Lily“, rief Caitlin freudestrahlend und fiel ihr buchstäblich um den Hals. „Wie geht es dir?“

Lily nickte und stimmte in ihr Lachen ein. Caitlin drückte sie an sich und machte nur zögerlich für ihren Mann Platz. Liam zog Lily in die Arme und hielt sie dort einen Augenblick länger fest, als wäre er ebenso erleichtert wie sie. Ein beruhigendes Gefühl. Ihre größte Sorge, den beiden zur Last zu fallen, hatte sich in dem Moment in Luft aufgelöst, als sie um einen Schlafplatz für die letzten Monate bis zu ihrer Volljährigkeit gebeten hatte. Liam und Caitlin waren ziemlich aus dem Häuschen gewesen und hatten sofort begonnen, mit ihr Pläne zu schmieden.

Liam hielt Lily eine Armlänge von sich fort und betrachtete sie eingehend. „Wie ich sehe, ist viel Zeit vergangen seit deinem letzten Besuch. Du bist beinahe erwachsen.“

Liam deutete auf ihre Nase.

„Und den bist du auch endlich losgeworden, was? Ich dachte schon, diese Phase würde nie vorübergehen.“ Er grinste breit, und Lily wusste, dass er es nicht so meinte. Das ein oder andere Tattoo trug er ebenfalls auf der Haut, wie sie nur zu genau wusste.

„Das kann ich allerdings nicht erwidern. Ihr seht noch so jung aus wie vor ein paar Jahren.“

Onkel Liam sah so frisch aus, als würde er zur Uni gehen und nicht schon seit einer ganzen Weile ein allseits bekanntes Pub führen. Seine blonden Locken kräuselten sich dank des feuchten Wetters genauso wie Lilys. Wäre er nicht ihr Onkel gewesen, hätte sie ihn sicher als gut aussehend empfunden.

Ihre Tante Caitlin war jedoch weit davon entfernt, bloß attraktiv zu sein. Sie war eine wahre Schönheit. Das klassische Abbild einer Irin. Sie hatte rote, dicke Haare, Sommersprossen auf der Nase und tiefgrüne Augen. Das Funkeln ihrer Augen zeugte von so viel Lebensfreude, dass sich Lily neben ihr wie eine graue Maus vorkam. Caitlin machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das macht nur die viele frische Luft!“

Lily hob die Augenbrauen. „Dann wäre Jane besser hier geblieben und hätte sich das viele Geld für die Chirurgen sparen können.“

„Verratet es ihr bloß nicht, sonst haben wir sie bald auch noch am Hals“, entfuhr es Liam, der kurz darauf losprustete, es allerdings als Hüsteln tarnte, nachdem er Caitlins strengen Blick aufgefangen hatte.

„Lasst uns zum Auto gehen. Vielleicht erwischen wir einen trockenen Moment“, schlug Caitlin vor, drückte ihrem Mann das Gepäck in die Hand und hakte sich bei ihr unter. Liam schnaubte, trottete ihnen aber folgsam hinterher.

„Erzähl uns erst einmal von den letzten Tagen in London. Wie waren deine Weihnachtstage mit den‚ Harolds‘?“, fragte Caitlin.

„Wie immer“, schwindelte Lily. Wäre es wie immer gewesen, hätten die vergangenen drei Tage beinhaltet, dass sie von einem Event zum nächsten geschleppt worden wäre. Nach ihrer Missetat hatte man auf ihre Anwesenheit verzichtet und sie allein in ihrem Zimmer gelassen. Das wollte sie ihrer Tante jedoch nicht gleich auf die Nase binden.

Diese sah sie höchstalarmiert an. „Was haben sie getan?“

Lily runzelte die Stirn. Allerdings war sie eine schlechte Lügnerin, das war sie schon immer gewesen. Den beiden Menschen um sich herum konnte sie aus irgendeinem unerfindlichen Grund nie etwas vormachen.

„Ach, nichts weiter! Ich hatte endlich mal ein Weihnachtsfest, das ich ganz für mich allein gestalten durfte.“

Liam und Caitlin tauschten wieder einen dieser Blicke, die in ihr das Gefühl hervorriefen, sie würde alles beschönigen. Lily wollte nicht, dass sie sich für etwas schuldig fühlten, für das sie nichts konnten.

„Du weißt, du hättest viel eher zu uns kommen können …“

Genau das, dachte sie und lächelte dankbar zu ihrem Onkel auf. „Ich weiß! Aber das hätte meine Mutter nie zugelassen. Ich fürchte, das gehörte zu meiner Strafe für … na ja, ihr wisst schon … Ehrlich gesagt, hatte ich so wenigstens Zeit, mich in Ruhe von meinem Leben dort zu verabschieden. Ohne die Harolds, wenn ihr versteht?“

„Wie lange hat das gedauert?“, fragte Liam mit einem verkniffenen Grinsen im Gesicht, welches Lily erwiderte.

„Höchstens fünf Minuten!“

Sie lachten ausgelassen, was die Stimmung wieder auflockerte und löste.

Endlich kamen sie bei Liams roten Geländewagen an, packten alles ein und fuhren los. Lilys Blick fiel auf die Bushaltestelle, an der ein schwarzer Pick-up parkte. Plötzlich schaute sie der sonderbaren Frau aus dem Zug direkt in die Augen. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Lily, die Frau zu kennen, meinte sie sogar beim Namen nennen zu können. Ein Bild von einer Wiese mit vielen bunten Blumen tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Es war wie eine schöne Erinnerung aus einem anderen Leben, als wüsste sie genau, wer dort stand, und ein Gefühl tiefer Erleichterung überfiel sie. Ganz so, als hätte sie etwas Wichtiges, dass sie einst verloren geglaubt hatte, wiedergefunden.

Beinahe hätte Lily aus einem Impuls heraus die Hand zum Gruß erhoben, was sie, Gott sei Dank, gerade noch unterdrücken konnte. Denn wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, seicht und blitzschnell, war der Augenblick vorüber, und sie wäre sich schrecklich albern vorgekommen. Ein seltsames Gefühl blieb allerdings in ihr zurück, weil Liam sie im Rückspiegel eindringlich musterte. Auf der Fahrt zum Haus von Onkel und Tante versuchte Lily, alle Eindrücke in sich aufzusaugen. Wie hatten ihr die grünen Felder, die Hügel, die Bäume und die wilden Blumen gefehlt! Caitlin und Liam sprachen währenddessen über das Abendessen und die Pläne für den Jahreswechsel. Sie war so vertieft in die Umwelt, dass sie davon kaum etwas mitbekam. Sie bogen in die Kensington Road und hielten vor einem großen Holzhaus. Ihr entwich beim Anblick des neuen Zuhauses ein Seufzer. Es stand nahe am Wald, umringt von unzähligen Bäumen und Wiesen. Vielleicht war es ungewöhnlich für eine Frau ihres Alters, dass sie sich freute, in einem Kaff festzusitzen und keine festen Straßen unter den Füßen zu spüren. Doch nach Jahren im ‚Nebel‘ genoss Lily es, endlich mal ein paar Dinge klar betrachten zu können. In London war ihr alles meist grau, verschwommen und wild vorgekommen. Sie hatte sich getrieben gefühlt, als sei sie ständig auf der Suche gewesen nach der Nadel im Heuhaufen.

Es regnete in Bindfäden, und sie wappneten sich beim Aussteigen mit den Kapuzen davor, nicht nass zu werden. Liam trug ihren Koffer ins Haus und stellte das Gepäck im Flur vor der Tür zum Wohnzimmer ab. Lily zog die schlammbespritzten Schuhe aus, bevor sie weiter in den Wohnbereich hineinging und sich umschaute. Alles war noch genauso wie vor einem halben Jahr. Die Wände waren in einem sanften Gelb gestrichen und im gesamten Raum waren wunderschöne, große Pflanzen verteilt worden. Die Inneneinrichtung war hochwertig und modern. Durch das Fenster hatte man einen ausgezeichneten Blick auf den dahinterliegenden Wald. Vielleicht hätten die dunklen Bäume auf manche unheimlich gewirkt, doch Lily zogen sie bloß an wie das Licht die Motten. Ganz so, als wollten sie ihr ein Geheimnis anvertrauen. Ein Geheimnis, das sie betraf. Verträumt blickte sie hinaus. Wäre es trocken gewesen, wäre sie noch vor dem Auspacken hinausgelaufen, dessen war sie sich sicher.

Liam und Caitlin murmelten etwas in der Küche, die direkt ans Wohnzimmer grenzte. Lily beobachtete sie einen Augenblick, entschied aber dann, dass es sie nichts anging. Sie brauchte nicht lange zu warten, da kam ihr Onkel bereits zu ihr zurück. Er hatte seine Jacke anbehalten, und die hellblonden Haare standen in nassen, wilden Locken vom Kopf ab. Plötzlich wirkte er sehr jung, und Lily fragte sich unwillkürlich, wie er immer noch so aussehen konnte, als sei er Ende Zwanzig. Das war er schließlich schon gewesen, als sie damals von hier fortgegangen waren. Liams Haar war voll, ohne ein einzelnes graues Haar und zu einer dieser mit Gel geformten modischen Frisuren gestylt, die ihm zusätzlich ein jugendliches Erscheinungsbild verlieh. Sein ebenmäßiges Gesicht zeigte keine Spur eines Fältchens, was für einen Mann von Mitte Vierzig ungewöhnlich war. Ob das tatsächlich Auswirkungen der frischen Luft waren? Lily bezweifelte das stark. Es hatte ohnehin wie eine einstudierte Lüge geklungen.

„Dein Zimmer steht nach wie vor für dich bereit, Lilien.“ Er war der Einzige neben ihrer Mutter, der sie oft bei ihrem vollen Namen nannte. Sie wusste, das tat er im Gegensatz zu Jane nicht der Show wegen. Lilien hörte sich nach etwas Besonderem an, während Lily nach der Ansicht ihrer Mutter einfach nur gewöhnlich klang. Und Jane hatte allem Gewöhnlichen entsagt.

„Wir dachten, du packst in Ruhe aus und kommst mit Caitlin in zwei Stunden ins Mollys zum Essen? Ich muss jetzt schon wieder los. Ist das in Ordnung für dich?“ Liam gehörte das Mollys, ein Pub, etwa zwei Straßen entfernt. Es hatte sich einst im Besitz seines Vaters befunden, Lilys Großvater, den sie leider nie kennengelernt hatte. Genauso wenig wie den eigenen Vater. Der Begriff ging auf den Namen seiner ersten großen Liebe zurück. Es mochte auf viele befremdlich wirken, dass ihr Onkel der Vaterfigur am nächsten kam.

Lily wurde es warm ums Herz, als ihr klar wurde, dass er sich extra Zeit genommen hatte, um sie vom Bahnhof abzuholen. Liam wollte gerade gehen, als sie ihn zurückrief. „Liam? Ich wollte noch mal danke sagen, dass ich bei euch bleiben darf.“

Er lachte leise, dann wurde er ernst. „Du hast schon immer hierher gehört. Dein Platz war stets hier bei uns, und so wird es auch bleiben.“ Einen Augenblick betrachtete er sie eingehend, ehe er nachdenklich mit Daumen und Zeigefinger über sein Kinn strich. Sein Zögern verunsicherte Lily. „Um eine Sache bitte ich dich allerdings.“ Er hielt kurz inne und sah zu Boden. „Geh nicht allein in den Wald. Vor allem nicht in der Dunkelheit.“

Verwirrt sah sie hinaus. „Warum denn das? Ich war immer allein draußen. Du weißt, ich kenn‘ mich aus …“

Eilig winkte Liam ab. „Das ist es nicht! In letzter Zeit gab es hier nur … seltsame Vorkommnisse. Wir denken, es sind Wölfe oder irgendwelche anderen wilden Tiere dort unterwegs. Einige Menschen wurden bereits verletzt.“ Sein Blick richtete sich wieder auf ihr Gesicht, und er sah ihr fest in die Augen. „Sehr schwer verletzt.“

Lily betrachtete den Wald und fühlte nach wie vor die starke Anziehungskraft, die von ihm ausging. Sie seufzte und blickte wieder in Liams wachsame, blaue Augen. „Gut. Ich geh nicht allein dorthin.“

„Versprich es mir!“, bat ihr Onkel, und sie nickte zögerlich. „Okay, wir sehen uns später. Ich werde Bill beauftragen, das größte Willkommensessen zu zaubern, das du je gesehen hast.“

Damit wandte er ihr den Rücken zu und verschwand im Flur. Lily blickte ihm nachdenklich hinterher, bis Caitlin durch den geöffneten Küchenbereich auf sie zukam. „Komm, lass uns jetzt deine Sachen auspacken. Ich helfe dir dabei.“

Sie folgte ihr in die erste Etage mit den drei Zimmern. Eins war ein Büroraum, in dem Liam seine Abrechnungen des Pubs erledigte. Zwischen den Räumen lag ein geräumiges Bad mit Badewanne und Dusche. Lily erklomm die letzten Stufen hinauf zum Dachgeschoss. Dies war der absolut schönste Raum im ganzen Haus, und sie fragte sich jedes Mal, warum das nicht das Schlafzimmer von Caitlin und Liam war.

„Es war immer schon dein Zimmer. Niemals hätten wir es für uns nutzen wollen“, sagte Caitlin, als hätte sie ihren Gedanken gelauscht. „Wir hätten uns deine Heimkehr nur viel eher gewünscht.“

Lily wurde verlegen. Sie war es nicht gewohnt, dass jemand Wert darauf legte, sie bei sich zu haben. „Ich fühle mich seit Langem ganz wie zu Hause. Danke, wirklich!“

„So hätte es schon immer sein sollen“, murmelte Caitlin und deutete dann auf zwei Kartons. „Die hat deine Mutter mit dem Eilkurier hierhergeschickt. Sie kamen heute Morgen an.“

Sie starrte darauf und konnte es nicht fassen. „Sie konnte es wohl kaum abwarten, mich und all diese Sachen so schnell wie möglich loszuwerden, was?!“ Bitterkeit war in den vergangenen Jahren zu einem stetigen Begleiter geworden, und das brennende Gefühl verwundert sie nicht, das ihr galleähnlich die Kehle hochkroch. Sie wollte sich daran machen, die Kartons zu öffnen, als Caitlin sie an die Schulter fasste und zurückhielt.

„Vielleicht wollte sie nur, dass du dich wohlfühlst und alle Sachen um dich hast, die dir etwas bedeuten.“ Caitlin seufzte.

Schöne Worte und eine ebenso schöne Vorstellung, doch die Zeit in Harolds Haus hatten Lily von solchen Hoffnungen gänzlich befreit. Caitlin hatte keine Ahnung, wie kalt es in ihrem alten Zuhause wirklich gewesen war. Das hatte Lily nun endgültig hinter sich gelassen. Sie hatte nicht vor, jemals dorthin zurückzukehren.

„Ich weiß, Liam lässt nur selten ein gutes Haar an deiner Mutter …“

Als Lily in Caitlins Augen sah, entdeckte sie Kummer darin, und eine große Sorgenfalte breitete sich auf der Stirn ihrer Tante aus.

„Vergiss aber nicht, dass sie trotzdem deine Mutter ist, und es womöglich gute Gründe dafür gibt, dass sie so geworden ist.“ Nur einen Wimpernschlag später war ihre Tante wieder ganz die Alte. „Nun aber genug davon!“ Entschlossen schüttelte Caitlin den Kopf, sodass die roten Locken wippten. Sie war eine dieser unglaublich glücklichen Frauen, die im Alter eher schöner zu werden schienen als zu verwelken. In den großen, grünen Augen blitzte der Schalk. „Was hältst du von einem Frauenabend? Wir könnten im Pub essen gehen und es uns danach hier zu Hause gemütlich machen? Ich will alles über die letzten Monate bei den Harolds wissen. Gibt es neue Gerüchte? Fruchtsäurepeelings, die schiefgegangen sind oder Ähnliches? Vielleicht auch irgendwelche Skandale der Oberschicht, die ich nicht glauben werde?“

Lily stimmte in das Gelächter mit ein, und die trüben Gedanken waren wie fortgewischt. Es ging gar nicht anders. Caitlins Lachen war einfach ansteckend. Sie packten die Bücher in das freistehende Regal und räumten die Klamotten in den Schrank. Alles in diesem Raum war hell und geräumig. Große Fenster gaben den Ausblick auf den Wald frei und würden die Sonne ins Zimmer lassen, sollte es jemals aufhören zu regnen. Die Wände waren hier sonnengelb gestrichen und mit seltsam, verschlungenen Linien und Mustern verziert. Lily hatte sich hier immer besonders wohlgefühlt, und doch war da diese leise zaghafte Stimme in ihrem Kopf, die diesem Gedanken widersprach. Bilder einer Blumenwiese tauchten vor ihrem inneren Auge auf, die sie heute bereits schon einmal betrachtet hatte.

2. TRÄUME

Während Lilys erster Tage in Plymouth regnete es ununterbrochen, was es ihr beinahe unmöglich machte, ins Freie zu gehen. Genau genommen tingelte sie bloß in Liams Geländewagen zwischen ihrem neuen Zuhause und dem Pub hin und her. Einmal war sie mit Caitlin in den nahegelegenen Einkaufsmarkt gefahren, um Lebensmittel zu kaufen. Es störte Lily nicht, dass sie nichts weiter erlebte. Sie genoss die Ruhe, die sie umgab. Sie musste keine seltsamen Gespräche am Handy anderer mit anhören, keine Schlägereien schlichten oder Eifersuchtsdramen ertragen.

Dafür schien sie überaus willkommen in der kleinen Gemeinde zu sein, in der Caitlin und Liam schon so lange wohnten. Jede Person, die sie traf, begrüßte sie überschwänglich und kannte sie sogar beim Namen. Selbst im Pub, wo sie regelmäßig aushalf, fühlte sie sich ungewohnt wohl. Lily war froh darüber, etwas zurückgeben zu können, auch wenn das bedeutete, dass sie mit mehr Menschen zu tun haben würde, als ihr im Allgemeinen lieb war. Es war nicht so, als mochte sie keine Kontakte. Vielmehr stimmte bloß selten die Chemie zwischen ihr und den anderen, sodass sie ihre Zeit lieber allein verbrachte. In London hatte sie nur wenig mit den Mädchen in ihrem Alter gemein gehabt, deren Themen Jungs, Make-up, die neueste Mode-Kollektionen und nochmal Jungs waren. Geistreiche Unterhaltungen waren meist tabu, und Lily hatte selten ausreichend Geduld für das pubertäre Kichern übrig, das bei den traubenähnlichen Mädchenansammlungen vorherrschte, sobald irgendein Kerl auftauchte. Obwohl sie fürchtete, auch hier kaum Freunde zu finden, hoffte sie insgeheim, vielleicht doch ein paar Kontakte zu ihren zukünftigen Kommilitonen knüpfen zu können. Alle waren freundlich zu ihr, und keiner wollte sie anbaggern oder stellte irgendwelche unangenehmen Fragen. Lily war glücklich und freute sich auf jeden neuen Tag, bevor sie abends in einen tiefen Schlaf fiel.

Allerdings waren ihre Träume nach wie vor unruhig und verwirrend. Jede Nacht kehrte der fremde Mann zurück, der sie anstarrte und auf sie zuging, und Lily fühlte sich beinahe heimgesucht. Ihn umgab eine düstere Aura, und nach jeder Begegnung mit ihm war sie seltsam aufgekratzt und rastlos. Das Gefühl, auf der Suche nach etwas zu sein, war danach übermächtig. Als sei ihr etwas Entscheidendes entgangen, was zum Greifen nahe gewesen war. Diese Empfindung verflog nach einem starken Kaffee am Morgen meist wieder, und so stürzte sie sich in einen neuen Tag.

Die Stimmung im Hause von Liam und Caitlin schien allerdings mit jedem Tag, den Lily dort verbrachte, abzukühlen. Caitlin und auch Liam gingen äußerst behutsam mit ihr um und erweckten wirklich den Eindruck, froh darüber zu sein, dass sie bei ihnen war. Sobald sie annahmen, sie sei in eins ihrer Bücher abgetaucht, stritten sie über alles Mögliche. Diesmal versuchte sie zu lauschen, doch die Stimmen von Caitlin und Liam waren so gedämpft, dass sie unmöglich den Zusammenhang der losen Worte verstehen konnte. Nie zuvor hatte sie solche Unstimmigkeiten zwischen den beiden bemerkt. Aus unerfindlichen Gründen wurde sie jedoch die Befürchtung nicht los, dass sie wegen ihr stritten. Nachdem Liam das Haus verlassen hatte, fragte Lily ihre Tante danach, was zur Folge hatte, dass Caitlin betont gute Laune heuchelte, und Lily vom gezwungenen Dauergrinsen eine verspannte Wangenmuskulatur bekam.

Am Silvestermorgen herrschte allgemeine Betriebsamkeit. Das Pub veranstaltete eine Party mit Livemusik, und es gab noch tausend Dinge, die erledigt werden mussten. Lily und Caitlin waren voll eingespannt. Bisher hatte Sie kein großes Interesse an diesem Feiertag gehabt. Hier jedoch, in der neuen Welt und der Zukunft voller Möglichkeiten, freute sie sich auf ihren persönlichen Neustart. Sie fuhr mit Liam in den Pub, um die Band beim Aufbau der Boxen und Mikrofone zu unterstützen. Liam kaufte währenddessen noch einige Schnapsvorräte ein. Ein Transporter stand bereits vor der verschlossenen Tür, als Lily mit übergezogener Kapuze aus Liams Auto stürzte. Sie schloss den Laden auf, bevor sie bis auf den Slip nass würde. Die Bandmitglieder kletterten ebenfalls in Windeseile aus dem Auto und stürmten im gleichen Tempo auf die geöffnete Tür zu. Das Licht wurde angeschaltet, und sie öffnete die Fenster, damit der Rauch vom vorangegangenen Abend abziehen konnte. Geschäftig ließ sie Wasser in das Spülbecken ein, um ein paar Aschenbecher auszuspülen und achtete nicht auf die ein- und ausgehenden Menschen. Erst, als eine glockenhelle Stimme sie direkt ansprach, sah sie auf und erstarrte.

Vor ihr stand die Frau aus dem Zug. Sprachlos starrte Lily sie an und registrierte erst am Ende des Satzes, dass die Fremde mit ihr gesprochen hatte. „Entschuldige … ich war … nicht ganz …“

„Bei dir?“, half sie belustigt nach. Lily nickte und sah das einnehmende Lächeln auf ihrem Gesicht. „Das Wetter macht mich auch ganz gaga …“ Sie grinste, während Lily sie fortwährend anstarrte. Sie hatte hellbraunes Haar, intensiv grüne Augen, die unnatürlich wirkten, und ein freundliches Gesicht. Auch aus der Nähe sah sie nicht wie die klassische Schönheit aus, die einen von diversen Modemagazinen anblickten. Aber ihre Ausstrahlung war derart anziehend, dass ihr Erscheinungsbild Lily regelrecht umhaute. „Ich hätte gern ein Wasser, wenn ich schon hier bleiben könnte?“

Wie selbstverständlich griff sie nach einem Glas und einer Flasche Wasser. „Nun, die Party beginnt erst in ein paar Stunden, wenn du so lange warten willst …“

„Ach, das Wichtigste hab ich natürlich gar nicht erwähnt. Ich sagte ja … gaga. Ich helfe euch heute Abend! Ich gehöre zur Crew. Ich bin übrigens Ciara“, stellte sie sich gutgelaunt vor.

Irritiert heftete sie den Blick auf einen Punkt hinter Ciara. „Davon hat mein Onkel mir gar nichts erzählt.“

Das war bei dem Trubel und dem Durcheinander auch keine große Verwunderung. Dennoch zweifelte Lily an Zufällen wie diesen. Zuerst begegneten sie sich im Zug, und jetzt standen sie sich ausgerechnet im Mollys gegenüber?

Einen Augenblick lang schien Ciara ihren Einwand als Ablehnung zu deuten, denn sie holte Luft, ehe sie erklärte: „Liam und ich haben das erst gestern Abend festgemacht. Wahrscheinlich hat er es in der Hektik vergessen.“

Lily nickte, bis ihr einfiel, dass sie sich selbst noch gar nicht vorgestellt hatte.

„Du bist also Lilien, Liams Nichte. Ich glaube, wir sind uns schon im Zug begegnet, oder?“

„Lily … nenn mich einfach Lily. Ja, du bist mir auch aufgefallen.“

„Wie witzig, du mir auch. Wenn das nicht auf eine großartige Freundschaft hoffen lässt.“ Sie grinste, prostete ihr mit dem Wasserglas zu und plapperte sogleich weiter. Im Hintergrund fuhr die Band damit fort, die Kabel an die Boxen anzuschließen und alles an seinen Platz zu rücken. Trotz ihrer Skepsis konnte sich Lily Ciaras Wesen nicht entziehen, ganz ähnlich wie bei ihrer Tante. Ciara erzählte von der Uni, auf die Lily in wenigen Tagen auch gehen würde. Erleichtert stellte sie fest, dass Ciara ebenfalls Englische Literatur und Mythologie gewählt hatte. Zufall? Oder schenkte das Schicksal ihr tatsächlich eine Freundin? Jemand, der sie nicht verhöhnte, weil sie zum wiederholten Male Romeo und Julia oder Ein Sommernachtstraum von Shakespeare las. Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Zumindest teilten sie ihre Faszination für Legenden und Sagen, in denen sie sich immer schon vergraben hatte, um aus der konservativen Welt ihrer Mutter zu flüchten.

Die beiden Frauen holten gemeinsam die Gläser aus dem Keller, damit sie später noch mit dem Spülen hinterherkamen. Dabei berichtete Ciara von ihrem Urlaub in London und konnte sich vor Begeisterung nicht mehr bremsen, was in Lily unangenehme Erinnerungen hervorrief. Sie hatte sich wohl etwas anmerken lassen, denn Ciara legte den Kopf schief und sah ihr forschend ins Gesicht. „Du teilst diese Meinung offenbar nicht?“

„Dieses London, von dem du da redest, hab ich so nie kennengelernt“, erklärte Lily kurz angebunden, wurde innerlich jedoch ruhiger. „Es ist schön, dass es dir so gut gefallen hat.“ Unbedacht legte sie eine Hand auf Ciaras Arm. Augenblicklich tauchten Bilder vor Lilys innerem Auge auf. Eine grüne Wiese mit zwei kleinen Mädchen in langen weißen Kleidern, die lachend Fangen spielten. Sie sah einen Garten voller Lilien, ein Gesicht, das sie schon gesehen zu haben glaubte und ihr schrecklich vertraut vorkam. Lily zog die Hand sofort zurück, als hätte sie sich verbrannt. Erschrocken betrachtete sie erst ihre Finger, dann Ciara und schließlich ihre Handinnenfläche, die merkwürdig kribbelte. Ein betont unschuldiger und fragender Ausdruck stand Ciara ins Gesicht geschrieben. „Stimmt was nicht?“

Lily hatte etwas gesehen. Etwas, das man normalerweise nicht sah, wenn man jemanden berührte.

„Das war seltsam“, murmelte sie, und Ciara musterte sie interessiert.

„Nur ein Stromschlag. Ich hab ihn auch gespürt. Wir sind wohl beide elektrisch aufgeladen, was?“ Ciara lachte und schwebte an ihr vorbei. Misstrauisch sah Lily der neuen Freundin hinterher. Irgendetwas stimmte hier nicht. Was war nur los mit ihr? Drehte sie jetzt völlig durch? Oder verlor sie den Verstand? Liam kam zu ihr und unterbrach ihre wirren Gedanken.

„Alles in Ordnung bei dir, Lily? Gut, dass ihr an die Ersatzgläser gedacht habt. Wenn ich dich nicht hätte …“ Er wirkte so erleichtert, als er die frisch gespülten Gläser auf dem Tisch stehen sah, dass er Lilys Grübelei damit vertrieb. „Ich kann nicht verstehen, wie deine Mutter dich gehen lassen konnte.“ Er drückte sie kurz und rau an sich und gab ihr überschwänglich einen Kuss auf den Scheitel. Sie würde wahrscheinlich immer ein Freak bleiben, egal, wo sie nun lebte.

Später, in all dem Trubel und Lärm, blieb ihr keine Zeit mehr, sich näher mit dem Geschehenen zu beschäftigen. Ciara scherzte nach wie vor mit ihr herum. Allerdings achtete sie penibel darauf, ihr nicht mehr zu nah zu kommen, sodass Lily ahnte, dass sie sich das keineswegs bloß eingebildet haben konnte. Der Andrang im Pub war riesig, es war laut und unüberschaubar. Der Zigarettenqualm vernebelte ihr die Sicht, und sie kam mit der Getränkebestellung kaum noch hinterher. Liam und Caitlin begrüßten die ältere Gesellschaft freundschaftlich, die mittlerweile am Tresen saß. Ciara hingegen schien jeden jungen Menschen im Pub mit Namen und der dazugehörigen Hintergrundgeschichte zu kennen. Am Anfang, als noch nicht so viel los gewesen war, hatte sie Lily noch aufgeklärt, wer die Zicke, die Sportskanone oder wer einfach ein liebenswerter Nerd war. Ihr war der Kopf fast geplatzt, auch wenn sie sich weiterhin bemühte, konzentriert zuzuhören. Jetzt war es allerdings so voll und unübersichtlich, dass sie die sture Arbeit am Zapfhahn zu schätzen wusste.

Lilys Aufmerksamkeit wurde, trotz der Menschenmenge um sie herum, plötzlich auf eine Gruppe junger Erwachsener gelenkt, die gerade das Mollys betraten. Zuerst konnte sie nicht genau sagen, was sie an sich hatten, dass sich Lily dazu entschloss, ihre selbst erschaffene Blase zu verlassen. Die Gruppe bestand aus vier Männern und einer Frau, alle etwa im gleichen Alter wie sie. Ihre Köpfe waren wegen des Regens von Kapuzen bedeckt, sodass Lily kaum ein Gesicht erkennen konnte. Was sie allerdings sah, war, dass Ciara auf sie zuschoss und wildgestikulierend auf einen der Männer einredete. Ob das ihr Freund war? Vielleicht hatten sie einen Streit? Er hatte ihr den Rücken zugewandt, dennoch gierte Lily förmlich danach, nur einen winzigen Moment einen Blick von ihm erhaschen zu können. Sie fürchtete bereits, unhöflich zu sein, indem sie derart offensichtlich zu ihnen hinüber starrte, doch sie war nicht fähig fortzusehen. Dann versteifte sich seine Gestalt, als hätte Ciara etwas Schockierendes gesagt, dabei hatte Ciara mitten im Wortschwall innegehalten. Ihr Blick glitt gezielt an ihm vorbei und hin zu Lily. Was der Ausdruck in Ciaras Augen bedeutete, konnte sie nicht einschätzen. War es Irritation oder Unglaube?

Entgegen ihrer Hoffnungen wandte er sich nicht zu ihr um, sondern schaute so rasch über seine Schulter, dass sie nichts außer einem stoppeligen Kinn erkennen konnte. Er sagte kurz etwas zu Ciara, woraufhin sie auf ihre Füße blickte, und stürmte dann rücksichtslos und rempelnd, beinahe fluchtartig aus dem Pub. Einige riefen ihm entrüstet hinterher.

Lily fühlte sich peinlich berührt, weil sie ihn derart offensichtlich angestarrt hatte. Beschämt sah sie sich um und erkannte, dass sie sich im Fokus der Gruppe befand, und hielt den Atem an. Die Ausdrücke in ihren Mienen konnten unterschiedlicher nicht sein und reichten von Neugier bei einem der Männer über Skepsis bis hin zu Feindseligkeit bei der Frau. Im nächsten Augenblick waren sie auch schon dabei, sich weiter durch die Menschenmenge zu arbeiten, und Lily stieß den angehaltenen Atem aus. Sie legte die Hand über ihr wild klopfendes Herz und schloss für einen Moment die Augen. So aufgewühlt hatte sie sich noch nie gefühlt.

Das waren genug Verrücktheiten für einen Tag, dachte sie und versteifte sich kurz, als Caitlin ihr einen Arm über die Schultern legte.

„Mach mal eine Pause! In einer Stunde ist der Jahreswechsel, und du solltest vorher noch etwas Kraft tanken. Meinst du nicht?“

Dankbar für die herbeigesehnte Ablenkung nickte Lily und machte sich auf den Weg zum Hinterhof. Sie brauchte jetzt wirklich dringend frische Luft, um den Kopf freizubekommen. Sie schnappte sich schnell eine Jacke aus dem Aufenthaltsraum und wusste bei all der Unordnung nicht, ob es die eigene oder die von Caitlin oder Ciara war, die sie sich gegriffen hatte. Es war Caitlins Parfüm, das ihr in die Nase stieg, als sie in den Mantel schlüpfte. Lily störte das nicht, deshalb öffnete sie die stabile Eisentür zum Hof und sog sofort die kühle, feuchte Luft in die Lungen. Das tat gut! Die Kapuze zog sie über ihren Kopf, um sich vor dem prasselnden Regen zu schützen, und atmete ein paarmal tief durch. Ein verächtliches Schnauben entwich ihr, ehe sie über sich selbst lachte. Ob es hier jemals aufhören würde zu regnen? Und würde sie irgendwann einmal diese Verrücktheiten hinter sich lassen?

Der Hinterhof war klein und beherbergte die üblichen überfüllten Mülltonnen, leere Bierkästen und alte Fässer, wodurch ein schaler Biergeruch in der Luft hing, der ihr Übelkeit verursachte. Unerklärlicherweise wurde es dunkler. Natürlich war es unmöglich, denn es war bereits tiefste Nacht, und die dicke Wolkendecke schirmte Plymouth von dem Mond und den Sternen ab. Außer den Laternen in der Nähe gab es keinerlei Lichtquelle, allerdings brannte davon keine mehr. War der Strom ausgefallen? Von drinnen ertönte der rockige Sound der Band, sodass ein Stromausfall ausgeschlossen war und kaum zur Erklärung dienen konnte.

Mit einem Mal spürte Lily, dass sie nicht mehr allein war. Es war bloß ihr Instinkt, der sie warnte, indem sich ihre Nackenhaare aufrichteten. Wie von selbst griff sie an den Metallknauf der Tür und zog daran, doch nichts tat sich. Das konnte doch nicht wahr sein! Sie war schon mehrfach an dem Abend hinausgegangen, um den Müll zu entsorgen, und da war die Tür auf dem Rückweg immer offen gewesen.

Im Ernst jetzt? Vor Furcht feuchte Hände, die am Knauf abrutschten. Auf ihren Sarkasmus war stets Verlass, etwas, was ihre Mutter an ihr gehasst hatte. Entweder hast du was Sinnvolles zu sagen, oder du hältst deinen Mund, junges Fräulein, waren Janes Worte gewesen. Das junge Fräulein hatte Lilys Brechreiz besonders auf die Probe gestellt. Hatte Liam nicht etwas von wilden Tieren gesagt? Und verletzten Menschen? Nun doch um einiges panischer rüttelte sie am Türknopf und klopfte heftig gegen die Tür. Selbstverständlich hörte sie aufgrund des Lärms keiner. Unter der Jacke brach Lily der Schweiß aus. Ein Rascheln war zu hören. Sie schaute sich nach allen Seiten um. Natürlich. Ganz wie im Horrorfilm. Sie hielt bei dem Versuch inne, die verriegelte Tür aufzubekommen, weil sie wusste, dass dieses Vorhaben sowieso aussichtslos war. Das seltsame schlurfende Geräusch jagte ihr einen eiskalten Schauder über den Rücken, dennoch nahm sie all ihren Mut zusammen und wandte sich um. Ihre Augen konnten nichts in der Dunkelheit erkennen, und sie machte sich gedanklich eine Notiz, Liam den Hinweis zu geben, dass Licht auf einem dunklen Hinterhof immer eine gute Idee war. Augenblicklich erahnte sie zwei Personen, die sich langsam auf sie zubewegten. Zwei dunkle Gestalten, deren Umrisse nur schemenhaft zu erkennen waren. Wie pathetisch. Glühende Hitze brannte unerwartet auf Lilys Haut, nur knapp unter ihrer Halsmulde. Sie griff an die Stelle und bekam die Kette zu fassen. Die Lilie glühte auf ihrer Handinnenfläche und leuchtete hell.

„Was zum Teufel …?“, murmelte sie, erinnerte sich dann jedoch an die nahende Bedrohung und stöhnte innerlich auf. Wie konnte ihr hier nur so etwas passieren? Immerhin war sie einigermaßen unbeschadet aus London herausgekommen, wo Gewaltverbrechen eher zur Tagesordnung gehörten, oder etwa nicht? Aber nein, das war so typisch für Lily. Keine andere schaffte es, sofort die Verbrechensrate der Stadt hochzujagen. Sie musste einen hysterischen Lachanfall niederkämpfen. Auch das entsprach ganz ihrem Charakter. Sie lachte in den unpassendsten Momenten wie auf Beerdigungen oder kurz bevor sie von zwei dunkel gekleideten Verbrechern ermordet wurde. Doch irgendwo hatte sie einmal gehört, dass es immer besser war, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen - ähnlich wie bei aggressiven Hunden.

Sie bemühte sich um einen festeren Stand und hielt Ausschau nach etwas, das sie nutzen konnte, um sich zu wehren. Da war jedoch nur Caitlins knallbunter Regenschirm mit den weißen Schäfchen, den sie dort offenbar stehen gelassen hatte. Ob der sich als Waffe eignen würde? Ein erneuter Lachanfall kämpfte sich ihre Kehle hoch, als Lily im Geiste die Überschrift eines Zeitungsartikels durch den Kopf schoss: Frau schlägt zwei Vergewaltiger mit knallbuntem Regenschirm in die Flucht. Nichtsdestotrotz umfing sie den Schirmgriff fest.

Die vermummten Gestalten kommunizierten in einer fremden Sprache miteinander, oder waren es bloß Laute? Lily konnte sich nicht erinnern, eine solche Redeweise jemals gehört zu haben, denn sie bestand eher aus zischenden und rollenden Lauten. Sie waren zudem sehr leise gesprochen, sodass sie schon versucht war, die beiden aufzufordern, doch bitte deutlicher zu sprechen. Das tat sie natürlich nicht. Sie war ja nicht lebensmüde, nur sarkastisch. Stattdessen hielt sie den Schirm abwehrend vor ihren Körper. Die Gestalten blieben unerwartet stehen, und Lily beflügelte das Gefühl, Eindruck gemacht zu haben.

Eine dritte Person landete wie aus dem Nichts zwischen ihr und den Fremden und stellte sich ihnen breitbeinig entgegen.. Anschließend sprach sie in ähnlicher Weise mit ihnen, allerdings viel lauter und unüberhörbar wütend. Als sie auch noch eine Art Schwert zog, flüchteten die beiden anderen Typen rasch. Irgendetwas an ihrem Retter wirkte vertraut … Tiefe Erleichterung überkam Lily. Ihr Verstand warnte sie jedoch. Wer wusste schon, wer diese Person war? Womöglich ging von ihm die wahre Gefahr aus?

Der Fremde drehte sich zu ihr um, und plötzlich verspürte Lily die Anziehung, der sie heute schon einmal begegnet war. Ähnlich der Anziehungskraft, die sie zum Wald zog oder der, die sie in ihren Träumen bemerkte. Ihr Traum! Augenblicklich wusste sie, wer da vor ihr stand. Diese Szene hatte sie bereits vor sich gesehen und nicht nur einmal. Wie oft hatte sie in den vergangenen Monaten von diesem Moment geträumt? Unzählige Male und jetzt war es so weit. Endlich würde sie erfahren, wer es war, und was das alles zu bedeuten hatte.

Vielleicht würde sie aber auch bloß erkennen, dass sie irre war und dringend ihren Kopf untersuchen lassen musste.

Ihr Atem stockte, als er sich langsam und mit geschmeidigen Schritten auf sie zubewegte. Die breiten Schultern, die von einer dunklen Jacke verborgen waren, und die schmalen Hüften gaben deutliche Rückschlüsse darauf, dass es sich um einen Mann handelte. Fassungslos starrte sie auf das Bild, das sich ihr bot. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie glauben, dass es der gleiche Mann war, der im Pub mit Ciara gestritten hatte. Aber wie …?

Langsam löste sich die Anspannung, und sie machte einen unsicheren Schritt auf ihn zu. Dabei zitterten ihre Beine und drohten fast nachzugeben. Außerdem erinnerte sich Lily daran, was jedes Mal in ihren Träumen geschah, wenn sie auf ihn zugehen wollte, und hielt inne. Sie hörte ihn derb fluchen. Verwundert beobachte sie, wie er in seine Tasche fasste, und sie einen Moment lang bloß ansah, bevor er ihr etwas ins Gesicht pustete. Dabei murmelte er wieder eine Menge seltsamer Worte, und vor Lilys Augen tanzten kleine Funken. Ihre Beine gaben nach, sodass sie nach hinten fiel und hart mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug. Kurz öffnete sie noch einmal die Augen. Sein Gesicht tauchte über ihr auf und sah auf sie hinunter. Lily erkannte graue Augen und helle Haare, die unter der Kapuze hervorlugten, ebenso wie einen blonden Dreitagebart, der sich um seine wohlgeformten Lippen zog. Dann wurde alles schwarz - schwarz wie die endlose Nacht.

Lily kam langsam zu sich und lag weich und bequem. Dank der Bettdecke fühlte sie sich sicher und geborgen. Sie öffnete die Augen einen Spaltbreit und blickte in die Dunkelheit. Etwas raschelte, und sie richtete sich alarmiert auf. Ein stechender Schmerz jagte durch ihren Kopf, und sie griff sich an die Stirn. Erschrocken fuhr Caitlin zu ihr herum und stürzte auf sie zu.

„Lily, mein Gott! Endlich bist du wach“, stieß sie aus. Caitlin schloss sie fest in ihre Arme, und sie entspannte sich.

Die Angst war noch nicht versiegt, ebbte jedoch etwas ab, als Caitlin die kleine Nachttischlampe anschaltete. Lily befand sich in ihrem Zimmer und in Sicherheit.

„Was ist passiert? Wie bin ich hierhergekommen? Der Mann …“

Beruhigend legte Caitlin eine Hand auf Lilys Schulter. „Es ist alles in Ordnung, mein Schatz. Du bist nur gestürzt.“ Sie lächelte gezwungen, als kosteten ihr diese Worte enorme Kraft.

Entschlossen, den eigenartigen Vorkommnissen auf den Grund zu gehen, schüttelte sie Caitlins Hand ab und schob die Bettdecke von sich, um aufzustehen. „Nein, nein … da waren zwei Gestalten … Ich konnte sie nicht genau erkennen, aber sie haben in einer seltsamen Sprache gesprochen. Und der Mann! Wo ist er? Er hat mit ihnen geredet und mich vor ihnen beschützt.“ Lily runzelte die Stirn und war auf einmal nicht mehr gänzlich davon überzeugt, dass er wirklich ihr Retter gewesen war. Schließlich war sie danach in Ohnmacht gefallen … Dieses glitzernde Pulver … Er hatte ihr etwas entgegen gepustet.

„Glaube ich zumindest“, fügte sie beunruhigt hinzu.

Caitlins Augen drückten große Sorge aus, doch als sie mit ihr sprach, beruhigte sie sich. „Hey Kleines, das hast du sicher nur geträumt … Du hast dir ziemlich heftig den Kopf gestoßen …“

„Du meinst, ich habe mir das alles bloß eingebildet?“ Prüfend starrte sie ihre Tante an. Caitlin sah ihr nicht in die Augen und nickte, allerdings wurde Lily das Gefühl nicht los, dass sie log. Lily schüttelte den Kopf. Sie war sich so sicher gewesen … Sie schrak erneut hoch. „Wer hilft Liam denn gerade?“

Caitlin lachte, und die Tür zu Lilys Zimmer wurde aufgestoßen. Liam stand im Türrahmen, und sie blickte von einem besorgt dreinblickenden Onkel zu der erheiterten Tante.

„Du hast die Silvesternacht verschlafen … wie auch den ganzen nächsten Tag.“

„Das kann doch alles nicht wahr sein! Ich hab also einen Tag lang geschlafen? Einfach so?“ Sie sank zurück in die Kissen und legte einen Arm über ihre Augen.

Liam ließ sich neben sie aufs Bett sinken. „War eben ein aufregender Jahreswechsel.“

„Ich hoffe, dass das kommende Jahr nicht ganz so turbulent wird, wie das alte geendet hat“, flüsterte Lily beschämt. Sie glaubte, etwas verpasst zu haben, denn Liam und Caitlin wechselten einen seltsamen Blick miteinander.

„Wie fühlst du dich jetzt?“, fragte Liam und legte seine eiskalte Hand auf ihre Stirn, mit der er zuvor im Gefrierschrank gewühlt haben musste, so kalt wie sie war.

„Bis darauf, dass ich starke Kopfschmerzen habe, ist alles in Ordnung.“ Lilys Bauch knurrte. Zerknirscht sah sie zu ihrem Onkel auf. „Offenbar könnte ich ein ganzes Schwein auf Toast essen.“

Caitlin stand auf. „Ich besorge dir zu essen und etwas gegen deine Kopfschmerzen.“

Nach kurzem Zögern erzählte Lily Liam noch einmal von den letzten Minuten des gestrigen Abends, bevor alles schwarz geworden war. Auch er schrieb das Geschehene ihrer blühenden Fantasie und ebenfalls der leichten Kopfverletzung zu. „Wer glaubt schon an seltsame dunkle Wesen, die sich in einer unbekannten Sprache verständigen? Oder an einen geheimnisvollen Retter, der dir auf unerklärliche Weise vertraut vorkommt? Obwohl du weder seinen Namen kennst, noch ihn wirklich beschreiben kannst?“

Lily hatte dem nichts mehr entgegenzusetzen. Dennoch verhielt sich Liam irgendwie komisch. Er war ungewöhnlich ruhig und machte auch keine Scherze so wie sonst. Er saß einfach nur neben ihr und nahm ihre Hand in seine. Väterlich strich er darüber. „Du bist so besonders, Lilien! Das warst du schon immer gewesen, und deine Fantasie ging gern mit dir durch.“

Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Was sagte man zu so etwas?

Caitlin kam mit einem Teller Sandwiches, einer Teekanne mit drei Tassen und einer Schmerztablette zurück. Sie lümmelte sich zu ihnen aufs Bett und breitete alles vor ihnen aus. Es waren genau solche Momente, die diese Familie zu etwas Besonderem für Lily machten. Es war mitten in der Nacht, und sie veranstalteten ein Picknick in ihrem Bett. Sie hatte sich selten so wohl gefühlt und war einfach nur glücklich.

Lily erblickte in ihren Träumen erneut den Mann in derselben Situation des Silvesterabends, der sie seit Wochen in ihren Träumen verfolgte. Diesmal rannte sie nicht auf ihn zu, sondern wartete ab, bis er zu ihr kam. Er beugte sich über sie, und sie konnte seine vollen Lippen erkennen, die von kurzen Bartstoppeln umgeben waren. Seine Augen waren von einer so satten graublauen Farbe, dass sie sie sofort an das Meer kurz vor einem Gewitter erinnerten. Der Rest seines Gesichtes blieb durch die dunkle Kapuze verborgen. Lily wollte schon danach greifen, um ihn vollständig betrachten zu können, doch da blickte er sie an, ganz aufmerksam und intensiv. Sie irritierte der Ausdruck in seinen Augen so sehr, sodass sie nicht zu atmen wagte. Er machte leise Sch-Laute und strich ihr mit der Hand über die Augen, was sie erneut in tiefe Dunkelheit hüllte.

Irgendwann tauchte ein anderes Gesicht über ihr auf. Nun war es nicht das des vertrauten Mannes, sondern ein viel, viel älteres Erscheinungsbild. Sie befand sich immer noch in ihrem Zimmer und schaute hinauf an die mit Holz verkleidete Decke. Auch dieser Mann war ihr nicht unbekannt. Sie konnte sich jedoch nicht erinnern, woher sie ihn kannte. Als er ihren Blick erwiderte, waren seine Augen so gütig, dass sich Lily sofort geborgen fühlte. Sie versank erneut in Dunkelheit und wurde erst am frühen Morgen von den Sonnenstrahlen geweckt.

Endlich war sie ausgeschlafen und erholt. Ihr Kopf tat kaum noch weh, und sie stellte sich an eines der Fenster, durch das sie auf den Wald blicken konnte. Zu guter Letzt hatte es aufgehört zu regnen. Die Sonne stand tief und beleuchtete die Blätter der Büsche und Bäume auf eine Weise, wodurch sie in einem besonders intensiven Grün erstrahlte. Auf den Feldern hing noch der Tau. Eine tiefe Ruhe überkam Lily, und die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Alles, was sie in ihren Träumen gesehen hatte - Der Fremde, der ihr so vertraut war, und der Ältere - Sie waren real.

Sie träumte nicht nur vor sich hin. Sie sah tatsächlich etwas. In diesem Fall hatte sie Dinge beobachtet, die geschehen sollten oder längst geschehen waren, während sie ohne Bewusstsein gewesen war. Ihr Unterbewusstsein förderte die Erinnerungen zutage, an die sie nicht mehr denken sollte. Irgendjemand wollte, dass sie vergaß. Es ging etwas vor sich, da war sich Lily sicher. Denn die merkwürdigen Vorkommnisse, die in den wenigen Tagen seit ihrer Ankunft geschehen waren, konnten kein Zufall sein. Sie dachte an das komische Verhalten ihres Onkels und ihrer Tante, das Auftauchen von Ciara und an diese Träume sowie dieser Fremde, zu dem sie sich derart stark hingezogen fühlte, obwohl sie keine Ahnung hatte, wer er war. Was das auch immer sein sollte, nun hatte es endgültig ihre Neugierde geweckt, und sie würde dem auf den Grund gehen.

3. MR FANTASTICAL

Voller Tatendrang begann Lily, sich für den ersten Uni-Tag vorzubereiten. Sie war wild entschlossen, das Leben in Cornwall voranzutreiben, und kam deshalb schon mit einer gepackten Tasche zum Frühstückstisch hinunter. Caitlin und Liam blickten sie erstaunt an. Aus einem nicht klar zu erkennenden Grund war die Stimmung ungewöhnlich frostig. Ganz anders als in der vergangenen Nacht.

„Du willst heute zur Uni gehen?“ Perplex über Lilys Spontanheilung schüttelte Liam den Kopf. „Nein, nein. Du solltest dich lieber noch ausruhen. Gönn dir doch einen weiteren Tag zum Ausschlafen. Die Uni läuft dir ja nicht weg.“

Lily blieb standhaft, goss Kaffee in ihren Thermo-Becher und ließ sich nicht beirren. „Liam, ich habe fast zwei Tage lang nur geschlafen. Ich habe das dringende Bedürfnis, endlich in mein Leben zu starten. Bitte, lass mich dich nicht erst überreden müssen.“

Er schaute unzufrieden in den Kaffeebecher. „Ich finde das nicht richtig. Sag doch auch mal was dazu, Caitlin!“

Diese verschränkte jedoch nur die Arme vor der Brust. „Ich dachte, ich solle mich raushalten und dürfe nichts mehr sagen?“ Eisige Kälte lag in ihrer Stimme. Dieses Verhalten war untypisch für ihre Tante, und Lily fragte sich, was zwischen ihnen vorgefallen war. Die Sorge, dass es etwas mit ihr zu tun haben musste, nahm wieder zu. Sie sah von einem zum anderen und überlegte, was sie darauf antworten sollte. Stattdessen nutzte sie den Moment lieber zum Verschwinden. Kurz bevor sie die Jacke vom Haken nahm, kam ihr allerdings der Gedanke, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie am besten zur Uni kam. Das hatte sie aufgrund der Hektik der vergangenen Tage nicht bedacht.

„Ähm Leute, … entschuldigt … Ich hab keinen Schimmer, wie ich von hier wegkommen soll“, gab sie kleinlaut zu, als sie erneut die Küche betrat.

„Ich dachte mir schon, dass du nicht weit kommen wirst“, erwiderte Liam siegessicher.

Caitlin kam ihr unerwartet zu Hilfe. „Ich fahr dich, Lily.“ Sie warf ihrem Ehemann einen bösen Blick zu, den er mit frostiger Miene ertrug.

Im Auto herrschte ungewohnte Stille, und Lily wusste nicht, ob es ihr zustand, Caitlin nach ihren Problemen zu fragen. Sie brütete während der gesamten Fahrt darüber nach, fällte allerdings keine Entscheidung. Als sie auf dem Uniparkplatz hielten, blieb sie einen Moment länger sitzen, um Caitlin die Gelegenheit zu geben, etwas zu sagen.

„Soll ich dich später auch wieder abholen? Du kannst mich einfach anrufen“, bot diese jedoch nur an.

„Nein, ich nehme den Bus. Ich komm schon klar. Dankeschön!“ Sie winkte unbeholfen und kletterte vollgepackt aus dem Wagen.

Nachdem Caitlin das Auto rückwärts aus der Parklücke rangierte, bremste sie noch mal scharf ab und öffnete das Fenster. „Lily?“ Sie sahen sich einen Moment an. „Alles wird gut werden, ich verspreche es dir. Hab einen schönen ersten Tag.“ Winkend fuhr sie davon, und Lily atmete erst einmal ganz tief durch. Nun fühlte sie sich wieder so müde wie in der vergangenen Nacht und fürchtete schon, ihren Zustand falsch eingeschätzt zu haben. Der willensstarke Teil in ihr straffte jedoch bereits die Schultern und zwang sich weiter zu gehen. Sie fragte etwas herum und folgte dann den Wegweisern zum Sekretariat. Sie brauchte noch einen Zeitplan für ihre Vorlesungen und eine Wegbeschreibung des Hochschulgeländes.

Die schnippische Sekretärin gab ihr nur kurze und knappe Antworten und beschwerte sich dann lautstark und leider berechtigt darüber, dass sie sich nicht früher erkundigt hatte. Danach beachtete sie Lily nur noch mit ebenso viel Interesse, wie sie einem Insekt entgegen gebracht hätte.

Was für ein toller Start. Sie knirschte mit den Zähnen. Eigentlich hatte sie einen besseren ersten Eindruck hinterlassen wollen. Fluchtartig verließ sie das Büro und rannte sogleich in jemanden hinein, weil sie so in ihre Unterlagen vertieft gewesen war. Sie blickte hoch und erkannte grüne Augen und nahm die starke Präsenz der anderen Frau vor ihr wahr. Das blonde Haar fiel ihr in sanften Wellen über den Rücken, und die feingeschwungenen Brauen zogen sich vorwurfsvoll zusammen. Lily betrachtete sie eingehend und stellte dabei fest, dass sie sich schon einmal begegnet waren. Am Silvesterabend in Liams Pub. Sie gehörte zu den Freunden von Ciara und warf ihr nur einen äußerst wütenden Blick zu. Lily konnte sich nicht erklären, womit sie den Zorn der Fremden auf sich gezogen hatte.

„Entschuldi-“, begann sie, wurde jedoch sofort schroff unterbrochen.

„Kannst du nicht aufpassen?“, herrschte die Schönheit sie an.

Offenbar hatte auch sie nichts für neue Studenten übrig. Sie sammelten beide schweigend ihre Unterlagen zusammen und entfernten sich voneinander, ohne ein weiteres Wort miteinander zu wechseln. Das war definitiv keine Begegnung, die Lily so schnell wiederholen wollte.

Verzweifelt suchte sie den Raum der ersten Vorlesung und fand ihn dann mithilfe einiger mehr oder weniger hilfsbereiten Kommilitonen, kurz bevor die Stunde begann. Sie setzte sich auf einen Platz möglichst weit hinten und versuchte, Ordnung in ihre chaotische Blättersammlung zu bekommen. Sie hatte jetzt Mythologie - und auf diese Lehrstunde war sie wirklich gespannt. Es gab doch nichts Schöneres auf der Welt, als bis zum Hals in einem Märchen oder einer Legende zu stecken. Ohne Probleme konnte mit dem Lesen eines guten Buches ein ganzer Tag an ihr vorüberziehen. Es ging stets um Liebe, Kampf und Tragik.

Endlich betrat der Universitätslehrer den Raum und zog augenblicklich die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich. Zuvor hatte es noch lautes Stimmengewirr gegeben, das jetzt aber abrupt endete. Der Professor war zwar schon in die Jahre gekommen, dennoch ging von ihm eine Präsenz aus, die nicht zu beschreiben war. Er wirkte würdevoll und weise, ohne jedoch dabei das Aussehen eines Großvaters zu haben. Er war viel eher elegant und wie ein typischer Brite gekleidet. Unter seiner grauen Anzugsjacke trug er eine passende Weste und hatte in der Westentasche eine Taschenuhr versteckt, die er gerade herauszog. Sein Haar war vollständig ergraut und im Nacken zu einem Zopf zusammengefasst. Das Gesicht war von Falten übersät, aber die Augen wirkten hellwach, beinahe stechend. Sein Blick glitt über die versammelten Studenten, bis er Lily fokussierte. Als sich ihre Blicke trafen, schnappte sie unwillkürlich nach Luft.

Das war er! Er war der bekannte Mann aus ihrer neuesten Erinnerung. Und nicht nur das: Sie hatte auch im gleichen Zug mit ihm gesessen, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Warum war ihr das nicht eher aufgefallen? Er war der alte Herr aus dem Zug mit der Zeitung und der Baskenmütze.

Welche Erklärung gab es wohl für diesen Zufall? Für jemanden wie sie, die nicht wirklich an Zufälle glaubte, war das sehr verwirrend. Sie seufzte innerlich auf und wich seinem forschenden Blick aus. Wieso war sie bloß solch ein Freak?

„Oh, ein neues Gesicht. Sie müssen entschuldigen, aber ich habe ein fotografisches Gedächtnis, was in meinem Alter eindeutig Vorteile hat.“

Ein Lachen ging durch den Hörsaal, und selbst Lily konnte sich seinem Charme nicht entziehen, deshalb lächelte sie schüchtern zurück. Unverkennbar hatte er diese Wirkung auf all ihre Kommilitonen.

„Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle? Mein Name ist Sir James Mac Calaghan. Ich unterrichte hier an der Universität das Fach Mythologie. Mythologie ist meine Leidenschaft, die mich schon das ganze Leben lang begleitet. Bei Ihnen ist das ähnlich, nehme ich an?“ Die Frage war direkt an Lily gerichtet, und sie hasste die allgemeine Aufmerksamkeit, die ihr dadurch zuteilwurde.

Sie hatte Glück. Just in diesem Moment öffnete sich die Tür des Hörsaals, und eine Gruppe weiterer Zuhörer stürzte lautstark hinein. Sofort richtete sich das Augenmerk auf den Tumult, und sie vergaß zu atmen.

Die Freunde von Ciara und ihm platzten herein. Sie erkannte Ciara und die Frau von vorhin wieder. Doch Lily hatte keine Blicke mehr für sie. Der junge Mann mit dem blonden Haar, das strubblig vom Kopf abstand und an dessen Arm die Schönheit hing, nahm ihre gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch. Sie wusste sofort, dass er sowohl der Mann aus ihren Träumen, als auch vom Hinterhof war. Sie hätte etliche Dinge nennen können, wie etwa den beeindruckenden Körperbau, den grazilen Gang oder das ausdrucksstarke Kinn. Es waren die Augen, die sie dazu brachten, ihn wie eine Idiotin anzustarren. Sie hatten eine so seltene Farbe, dass wohl jeder normale Mensch davon ausging, dass er Kontaktlinsen trug. Es waren nicht nur die äußerlichen Merkmale, die ihr versicherten, dass er der Mann aus ihren Träumen war. Diese merkwürdige Anziehungskraft zog sie wieder zu ihm, ganz so, als wären sie Magnete, und Lily glaubte, dass er sie ebenfalls wahrnahm. Denn sein Blick glitt zielstrebig vom Professor herüber zu ihr. Beinahe sofort wandte er sich von ihr ab und tat so, als hätte es diesen Moment des Erkennens nicht gegeben.

Gut aussehend war nicht das richtige Wort, um ihn zu beschreiben. Er war kein klassischer Sportlertyp mit Zahnpastalächeln. Er war auch nicht einer dieser sympathischen Anzugmänner, die einer Maus eine Katze verkaufen konnten und die sie aus der Gesellschaft ihrer Mutter gewohnt war. Er wirkte verwegen, beinahe unnahbar und eher wie ein wilder Krieger. Ganz so, als dulde er kein „Nein“ als Antwort, und als müsse er sich buchstäblich durchs Leben kämpfen. Lily fielen seine mittelblonden Haare auf, die eine wilde Unordnung darstellten. Sein Gesicht war ohne Frage attraktiv, doch auch geheimnisvoll und gefährlich. Zumindest hinterließ es diesen Eindruck bei ihr. Ihre Kommilitonen schienen das jedoch anders zu sehen, denn sie grölten und pfiffen anerkennend durch den Hörsaal. Lily war irgendetwas Entscheidendes entgangen.

Professor Mac Calaghan war keineswegs imponiert von der Show der Gruppe. Das konnte sie seinen Augen förmlich ablesen, obwohl er die jungen Männer und Frauen mit einem Lächeln bedachte. „Mister Brady, wie ich sehe, genießen Sie Ihren Auftritt in vollen Zügen. Setzen Sie sich doch, bevor es Ihr Letzter ist. Außerdem würde ich gern mit meinem Unterricht fortfahren.“

Der Angesprochene wechselte einen amüsierten Blick mit dem Professor, schien jedoch kaum beeindruckt von der Zurechtweisung zu sein. Gelassen setzte er sich ans andere Ende des Hörsaals, so weit von Lily entfernt, wie es eben ging. Zumindest waren das ihre Gedanken, für die sie sich sofort genierte. Warum sollte sie der Grund für irgendetwas sein, was dieser Brady tat? So vermessen war sie nicht. Es umgaben ihn, neben Ciara und der arroganten Schönheit von vorhin, noch drei junge Männer. Allesamt waren sie gut gebaut und scharrten sich wie Bodyguards um ihn herum. Lily bemühte sich, die Gruppe nicht allzu sehr anzustarren.

„Wir wollen mal nicht gleich so theatralisch werden, Mister Mac Calaghan“, entgegnete er mit einer dunklen, melodischen Stimme.

Lily riss entsetzt die Augen auf. Niemals hätte sie sich so etwas getraut. Er schien sich jedoch nichts daraus zu machen, was andere über ihn dachten.

„Wenn dir die Theatralik zu viel ist, kannst du dir gern einen anderen Hörsaal suchen, Rian!“ Der Ton des Professors war schneidender und duldete keinen weiteren Widerspruch.

Rian. Rian Brady. Endlich kannte sie den Namen des anziehenden Fremden. Sie überlegte gerade, ob sich die beiden wohl näher kannten, weil der Professor ihn plötzlich geduzt hatte, als sie ihren eigenen Namen vernahm.

„Just in diesem Moment war ich dabei, mich unserer neuen Studentin zu widmen und mich ihr vorzustellen, als wir so rüde von diesen vermaledeiten Raufbolden unterbrochen wurden. Bitte entschuldigen Sie, Miss Jones.“

Allesamt wandten sie sich erneut Lily zu, die augenblicklich errötete.

„Äh … kein Problem“, sagte sie nur so leise, dass es im Saal zu tuscheln begann.

„Wie ist denn Ihr Vorname, Miss Jones?“

Sie war irritiert. In London hatten sich die Professoren keinen Deut um sie geschert, genau genommen um keinen der Studenten. Sie hatten den Saal betreten, etwas aufgeschlagen und dann einen Monolog geführt, der so manche Müdigkeit herausgefordert hatte.

„Lily. Ich heiße Lily.“

„Ich denke, das ist nicht Ihr richtiger Name?“

„Nun, es ist der Name, mit dem ich im normalerweise angesprochen werde. Aber eigentlich heiße ich Lilien“, antwortete sie wahrheitsgemäß.

„Wie die Blume …“, rief jemand, und allgemeines Gelächter erklang.

„Wundervoll“, murmelte Lily mehr zu sich selbst. Sie entschied, beim nächsten Mal noch weiter hinten, am besten hinter einem dieser großen Kerle, zu sitzen.

„Nun, Mr. Finnigan, wissen Sie denn, was der Name wirklich bedeutet?“, fragte der Professor den Ruhestörer herausfordernd. Sein Lächeln blieb ungetrübt.

„Na, er hört sich doch nach der Blume an?“

Mac Calaghan gab sich offensichtlich alle Mühe, nicht mit den Augen zu rollen. „Und welche Bedeutung hat nun diese Blume?“

„Woher soll ich das wissen? Ich bin schließlich kein Biologe.“ Wieder ertönte Gelächter, und Lily wäre am liebsten im Erdboden versunken.

Ein gewinnendes Lächeln breitete sich auf Professor Mac Calaghans Gesicht aus. „Nun, Sie irren sich. Der Sinngehalt des Namens geht weit in der Geschichte zurück, unserer eigenen Geschichte. Für viele Menschen ist die Namensgebung ein kostbares Geschenk. Die Bedeutung lässt auf die Lebenspfade der Personen schließen. Nehmen wir Miss Jones als Beispiel. Lilien ist ein bedeutsamer Name. Die Lilie steht für Reinheit und Keuschheit.“

Ein wieherndes Lachen erfüllte erneut den Raum, und Lily zog den Kopf weiter ein. Angestrengt starrte sie auf ihre Schnürsenkel. Es war kaum möglich, sie noch mehr zu blamieren.

„Vor allem aber steht sie für Schönheit, Licht, Helligkeit, kurz gesagt: für das Gute.“

„Warum verwendet man dann die Lilien auch auf Beerdigungen?“, fragte jemand, und Lily traute sich, wieder aufzuschauen.

Ihr Blick suchte den Raum ab und traf auf Rians. Seine Augen schienen undurchdringlich, und er wandte sich schnell ab.

„Weiße Lilien sind in der griechischen Mythologie ein Symbol des Todes. Aber nicht für jeden bedeutet der Tod etwas Schreckliches. Der Tod symbolisiert nur den Aufstieg in eine höhere Ebene. Deshalb finden sich diese Blumen häufig auch auf Beerdigungen und Trauerfeiern wieder. Allerdings finden sie auch bei Hochzeiten Verwendung. Die Lilie sollte jedoch nur mit äußerster Bedachtsamkeit weitergegeben werden, denn hat sie einmal ihr Herz vergeben, ist es eine Liebe auf ewig.“ Professor Mac Galaghan lächelte sie an und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Haben Sie noch einen weiteren Namen, Miss Jones?“

Lily stockte der Atem, und sie fixierte den Professor mit den Augen. Was sollte das alles bloß? „Liara. Ich heiße Lilien Liara.“

„Du Ärmste“, kam es gleich wieder aus mehreren Richtungen.

Sie hatte ihren Zweitnamen stets seltsam gefunden, aber er hatte ihr dennoch gefallen. Er war ungewöhnlich und anders als alles andere um sie herum.

„Wollten deine Eltern dich quälen?“, rief derselbe Junge aus der letzten Reihe und lachte. Sie bemerkte, dass die

Imprint

Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Publication Date: 05-16-2022
ISBN: 978-3-7554-1393-6

All Rights Reserved

Next Page
Page 1 /