Ich muss sechzehn Jahre alt gewesen sein, als mich Ingrid, meine Schulfreundin aus der Nachbarschaft ansprach, ob ich nicht wüsste, wo man mit ein paar Leuten feiern könnte. Ihren Geburtstag nämlich. Ich sei natürlich eingeladen.
Mir war schon klar, weswegen sie mit mir redete. Sie wusste, dass ich seit einiger Zeit Mitarbeiter im Jugendclub „Kompass“ war, der unter der Obhut des evangelischen Kirchenkreises stand. Räumlichkeiten zum Feiern gab es dort genug. Die waren aber nicht für „Normal Sterbliche“ gedacht, sondern man musste schon irgendwie mit dem Kirchenkreis involviert sein. So wie ich eben.
Meine Mitarbeit im Jugendhaus bestand zu dieser Zeit aus Tür- und Thekendienst in der Diskothek des Hauses. Ich hatte auch schon einige Seminare besucht, die mich später befähigen sollten, eine Anzahl von 9 – 12-jährigen Heranwachsenden im Jugendclub für Gruppenaktivitäten anzuleiten.
„Ja. Ist schon okay. Ich denke, im Kompass können wir einen Raum für eine Feier bekommen. Ich muss das nur erst mit Diakon Westermann absprechen. Ich sag Dir dann Bescheid.“
Ingrid strahlte mich an und mir wurde warm ums Herz. „Toll, danke. Wie sieht es denn eigentlich mit alkoholischen Getränken aus? Ist das erlaubt?“
„Nee, ist es nicht. Hier gibt’s auch während der Disco nur Cola, Fanta, Mineralwasser und irgendwelche Säfte.“
Ingrids Lächeln erstarb. „Das ist ja echt Käse.“ Ihre Stirn runzelte sich. „Können wir denn nichts reinschmuggeln?“
Meine Freude, dass Ingrid mich angesprochen, mich in diese Feier und sozusagen in ihr Leben mit einbezogen hatte, erstarb. Ich hielt mich vage: „Ich weiß nicht so recht. Wir haben ja den Seiteneingang, der für die Mitarbeiter gedacht ist. Da vielleicht …“
„Super! So machen wir’s!“ Für Ingrid schien die Sache damit geklärt.
„Langsam. Ich muss doch erst noch mit dem Westermann reden.“
Sie lächelte mich an, griff mir zärtlich (wie ich meinte) an die Schulter. „Du machst das schon.“
Ja, das hoffte ich.
Das Gespräch mit Diakon Westermann verlief kurz. Da es bei der Feier um eine Freundin von mir ging, sei die Sache klar, meinte er. Feiern war erlaubt, ich hatte die Verantwortung und sollte nur dafür sorgen, dass der Raum auch wieder sauber und ordentlich verlassen würde. Diakon Westermanns letzte Worte zu dem Thema waren: „Das kein Alkohol konsumiert wird, ist ja selbstverständlich!“
Ja, natürlich. War selbstverständlich!
Der Tag der Feier war da. Parallel dazu lief im „Kompass“ das normale Programm. Die Disco war offen, der Filmraum war auch ordentlich frequentiert, ein Western lief. In einem der Räume hatte sich die Fotogruppe eingefunden, in irgendeinem anderen Raum lief eine Bastelaktion. Es war also viel los. Das Gute daran war, dass so ohne großes Aufsehen zwei oder drei Kästen Bier und diverse Spirituosen „angeliefert“ werden konnten. Die Spirituosen verschwanden in einem Wandschrank in „unserem“ Raum und die Bierkästen in der Mädchentoilette.
Wir hatten einige Stühle an den Wänden stehen. Ein Plattenspieler mit den entsprechenden Lautsprechern war aufgebaut, einer von Ingrids Freunden machte den Diskjockey.
Wie die anderen Gäste an ihre Getränke kamen, weiß ich nicht. Ingrid jedenfalls versorgte mich mit dem Bier aus der Damentoilette.
Und genau das war das Problem. Ich trank nämlich kein Bier. Auch keine sonstigen alkoholischen Getränke. Mein erstes Bier und das erste Glas Wein hatte ich so mit vierzehn Jahren im Rahmen meiner Konfirmation getrunken. Mir schmeckte das alles nicht. Wein war mir zu sauer, Bier zu bitter und Schnaps zu scharf. Nix für mich. Ich rauchte lieber. Und kiffte ab und zu.
Tja, aber da war nun Ingrid. Und sie brachte und bot mir das Bier an. Da konnte ich nicht Nein sagen. Wirklich nicht. Ich mochte sie sehr. Sie wohnte im Block bei uns gegenüber. Ab und zu hatten wir auch schon Schulaufgaben zusammen gemacht. Das war aber auch alles. Ich war nämlich schüchtern. Nie hätte ich gewagt, ihr meine Zuneigung zu gestehen.
Doch zurück zum Bier. Ich trank es. Schmeckte echt bitter. Nachdem ich die erste Flasche getrunken hatte, merkte ich das aber nicht mehr.
An die nächsten Ereignisse kann ich mich nur noch schemenhaft erinnern. Ich tanzte mit Ingrid. In den Tanzpausen brachte sie mir wohl noch die eine oder andere Flasche Bier. Welche Menge ich getrunken habe, kann ich nicht sagen. Es kann nicht viel gewesen sein, da ich ja keinen Alkohol gewöhnt war.
Ich entsinne mich dunkel, dass ich mich in das Urinal der Männertoilette übergeben musste. Diente immerhin zur Vorbeugung einer Alkoholvergiftung. Das Übergeben meine ich.
Irgendwann muss die Feier zu Ende gewesen sein, den in meiner Erinnerung haftet eine Szene, in der mir ein älterer Mitarbeiter des Jugendklubs mitteilt, ich solle dafür sorgen das aufgeräumt und das Licht gelöscht wird. Als ich am nächsten Tag meine leichten Brandwunden an den Händen sah, fiel mir ein, dass ich die Glühbirnen samt Fassung aus den Lampen gedreht hatte, weil ich den Lichtschalter nicht gefunden hatte.
Wie ich nach Hause gekommen war, erfuhr ich von meiner Mutter. Ingrid hatte mich abgeliefert. Leider hatte sie meiner Mutter auch erzählt, dass ich versucht hätte, in die Lahn zu springen, als wir sie über die Brücke an der Mensa überquert hatten. Ich hatte Ingrid, alkoholbedingt, meine Liebe gestanden. Doch sie hatte mich abschlägig beschieden. Da hatte ich ins Wasser gewollt. Ein dummer Erpressungsversuch. Ingrid hatte mich abhalten können.
So peinlich das auch alles war, das dicke Ende kam noch. Den uns zum Feiern überlassenen Raum hatte keiner sauber gemacht. Leere Flaschen und Bierpfützen waren hinterlassen worden. An die leeren Bierkästen in der Damentoilette hatte wohl auch niemand mehr gedacht. Man hatte sie entdeckt.
Ich bekam eine dicke Abmahnung von Diakon Westermann. Ich hätte es verstanden, wenn er mich aus dem Jugendklub ausgeschlossen hätte. Tat er nicht.
Doch ich verließ von selbst den Jugendklub und gab meinen Mitarbeiterausweis ab. Ich kam mit dem von mir begangenen Vertrauensbruch nicht klar. Ich schämte mich zu sehr.
Dass mir später eine achtjährige Suchtkarriere bevorstand, konnte ich da noch nicht wissen.
Doch hat diese Feier nichts damit zu tun. Und auch Ingrid kann wirklich nichts dafür.
Publication Date: 11-08-2013
All Rights Reserved