Ich starre hinaus ins Wintergrau. Kalte Flocken rieseln herab, krallen sich hilflos an Zweigen, an den Dächern fest.
Heute ist ein schwerer Tag. Ein dichter Nebel hat seine weichen Finger nach meinem Hirn, meinem Herzen, meinem gesamten Körper ausgestreckt und drückt ihn mit solcher Macht zu Boden, dass es mich schon Mühe kostet, zu sprechen, den Kopf zu heben, zu gehen. Normalerweise wehre ich mich mit aller Kraft gegen diesen Nebel, versuche, mich normal zu verhalten, mich selbst zu überlisten, damit es mir besser geht. Heute nicht.
Genau zwei Jahre ist es her, dass mich Bens Lehrerin unter Tränen anrief, mein Kind sei in der Klasse plötzlich zusammengebrochen, ich solle sofort zum Krankenhaus kommen.
Das Warten im Klinikflur zermürbte. Sie nahmen eine Notoperation vor. Dann der Schock, als mir die unfassbare Nachricht übermittelt wurde: Ben war gestorben, die Ärzte hatten ihn nicht retten können. Ein Aneurysma im Gehirn. Eine heimlich tickende Zeitbombe, die explodiert war.
Ich hatte nichts geahnt. Hatte keine Symptome, keinerlei Anzeichen für die sich anbahnende Katastrophe bemerkt. War wie jeden Morgen zur Arbeit gehetzt.
Wusste nicht einmal, ob Ben und ich uns richtig voneinander verabschiedet hatten. Ich bin es tausendfach im Kopf durchgegangen, aber ich kann mich nicht an unseren letzten gemeinsamen Moment erinnern. Was hatte ich zu ihm gesagt, als er vor der Schule aus meinem Wagen stieg? Hatte er mir geantwortet? Oder war er gleich zu seinen Freunden gelaufen? Wie oft hatte ich mir in den vergangenen zwei Jahren gewünscht, wir hätten uns umarmt.
Erik, meinen Ex-Mann, über Bens Tod zu informieren, fiel mir schwer. Ich haderte mit ihm, tue es noch. Wir waren nicht im Guten auseinandergegangen. Mit leerem Gesicht stand er während der Beerdigung neben mir. Die wenigen Worte, die wir wechselten, sprangen bloß sinnlos hin und her und verloren sich in irgendwelchen Sackgassen.
Während meiner Schwangerschaft hatte er eine Affäre begonnen, sich nur Wochen nach Bens Geburt von mir, nein, von uns beiden getrennt. Später hatte er ihn nur selten besucht oder für einen Ausflug abgeholt, hatte wenig Interesse an unserem Kind gezeigt, war voll in seiner neuen Beziehung aufgegangen. Irgendwann hatte er sich gar nicht mehr gemeldet.
Letztendlich war es mir recht gewesen. Ich konnte die Nähe, den Anblick des Mannes, den ich einst geliebt und dem ich vertraut hatte, kaum mehr ertragen.
Zurück blieben Ben und ich. Wir waren ein gutes Team. Nach der Trennung von Erik begann das unschöne Gerangel um die Unterhaltszahlungen, wurde ich beim Scheidungsprozess von einem unfähigen Anwalt vertreten, musste darum wieder voll arbeiten gehen, um über die Runden zu kommen. So viel Stress, Hektik, Müdigkeit, verlorene Stunden. Die ich im Nachhinein besser mit meinem Kind verbracht hätte. Wäre mir bewusst gewesen, dass uns nur noch so wenig Zeit zusammen blieb, hätte ich es getan.
Auf den Verlust folgten Trauer, Depression, Arbeitsunfähigkeit, die letztendlich zu meiner Kündigung führte. Schlaftabletten. Von denen ich zum Glück seit drei Monaten wieder losgekommen bin.
Dabei geholfen hat mir Chris. Ein Mann, den ich im Wartezimmer meines Zahnarztes kennengelernt habe. Er weiß über alles Bescheid, hat Verständnis, er drängt mich zu nichts. Wenn die Traurigkeit mich anspringt, hält er mich einfach fest, und ich atme seinen tröstlichen Geruch ein. Wenn mich Albträume heimsuchen, in den Nächten, die er bei mir ist, umschlingt er mich mit seinen starken Armen und flüstert mir beruhigende Worte ins Haar. Er ist auch witzig, bringt mich zum Lachen, gibt mir den Mut zurück.
Seine Nähe ist wie warmes Wasser, das allmählich den Schmerz der Vergangenheit aus der Wunde spült.
Ich bin mir nicht sicher, wie nah wir uns stehen, was die Zukunft für uns bereit hält. Aber ich weiß, dass ich zum ersten Mal seit Langem wieder echte Zuneigung, vielleicht so etwas wie Liebe, für jemanden empfinde.
Chris hat angeboten, den Tag mit mir zu verbringen, mich zu Bens Grab zu begleiten. Doch ich will es allein durchstehen.
Abends betrete ich Bens Kinderzimmer. Seine Sachen liegen nach wie vor überall. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, sie wegzuräumen, wegzugeben. Noch nicht.
Ich lege mich in Bens Bett. Es riecht nicht mehr nach ihm, aber so kann ich ihm nah sein. Auf dem Nachttisch wartet das Papierflugzeug, das er kurz vor seinem Tod gebastelt hat.
Endlich schließe ich die Augen und komme leichter in den Schlaf, als befürchtet.
Ich bin benommen, noch im Schlummer, als ich etwas auf meiner Haut spüre. Wie eine leichte Berührung, es kann aber auch Zugluft vom geöffneten Fenster sein.
„Mami?“
Ich schieße in die Höhe, mein Herz beginnt wild zu pochen. Diese kleine Stimme würde ich immer wiedererkennen. Und da ist er. Ben. Er steht neben mir, mit demselben erwartungsvollen, ein wenig ungeduldigen Blick wie immer, wenn er mich aufgeweckt hat. Sein Haar ist verwuschelt, und er trägt den Faultier-Schlafanzug, den er so mochte. Er greift meine Hand und zieht daran.
„Mami“, sagt er wieder. Er wirkt so vertraut, so unverändert und lebendig, dass ich mich frage, ob ich mir seinen Tod nur eingebildet habe. Aber nein, es ist Nacht, ich bin in meiner Wohnung, in seinem Bett. Ich habe schon oft von ihm geträumt, aber nie war es so real, derart intensiv gewesen.
„Hallo, Schatz.“ Ich bekomme die Worte kaum heraus. „Ich bin so froh, dich zu sehen.“
Er lupft die Decke, krabbelt zu mir ins Bett, und ich mache Platz für ihn, krümme meinen Körper um seinen, wie früher. Er schmiegt sich an mich.
„Oh, Häschen.“ Ich drücke mein Gesicht in sein Haar und staune, als ich das Kitzeln seiner Haare spüre und ihren Shampooduft rieche. Das alles ist surreal, aber unglaublich tröstlich.
„Ich habe dich vermisst.“ Jetzt kommen mir die Tränen, so überwältigt bin ich.
„Sei nicht traurig.“ Er tätschelt meinen Kopf, auf dieselbe ungelenke Art, wie er früher Hunde gestreichelt hat.
„Ich kann nicht anders. Du fehlst mir so.“
Er ist warm in meinem Arm und ein bisschen zappelig. Genau wie ich ihn in Erinnerung habe.
„Ich bin noch da, Mami.“
„Ich weiß, ich habe dich in meinem Herzen. Aber du wirst wieder gehen, nicht? Du bleibst nicht bei mir. Du bist nur gekommen, um … warum? Damit ich mich besser fühle?“
Ich streiche mit den Fingern über seinen Kopf, seine wunderbaren, kleinen Ohren. Er schüttelt mich ab.
„Ich bin gekommen, um dir ein Geheimnis zu verraten.“
„Was für ein Geheimnis?“
Freude – süß und unverfälscht – erhellt sein Gesicht.
„Ich habe eine kleine Schwester.“
Vermutlich sollte ich nicht überrascht sein, dass mein Ex-Mann und seine neue, junge Frau beschlossen haben, ein Baby zu bekommen. Und doch bin ich es. Entgeistert und auch ein bisschen wütend. Das ist nicht fair, warum verdient Erik, der sich nie um unseren Sohn kümmerte, eine zweite Chance?
„Schön für sie“, murmele ich, obwohl es mir schwerfällt. „Du bist jetzt ein großer Bruder, das ist toll. Wie heißt sie denn?“
„Ich weiß nicht“, sagt er. „Wie willst du sie nennen?“
„Ich? Liebling, ich kann doch nicht entscheiden …“
Dann begreife ich, was er mir da gerade gesagt hat, mein Atem setzt aus, ich schnappe nach Luft. Aufregung erfasst mich. Kann das wirklich wahr sein? Ja, kann es. Seit dem heftigen Gewichtsverlust bekomme ich nur unregelmäßig meine Periode. Mein Körper fühlte sich anders an, die letzte Woche, aber ich hatte dem keine Bedeutung zugemessen. Habe ich zwischendurch irgendwann versäumt, die Pille einzunehmen? Denkbar, bei meiner Fahrigkeit.
Das ist sowohl die beste als auch die schlechteste Nachricht, die ich mir hätte vorstellen können. Ich habe noch keinen Job. Chris kenne ich erst seit ein paar Monaten. Wird er sich überrumpelt fühlen? Will er überhaupt ein Kind? Ich möchte nicht wieder mit einem Mann zusammen sein, der nicht bereit ist, Vater zu werden. Bedeutet ein Kind die Trennung? Nein, so schätze ich Chris nicht ein.
Wie auch immer er reagiert - ich bekomme ein Baby, eine Tochter! Egal, wie schlecht das Timing ist, wie verrückt oder unpassend ihre Ankunft auch sein mag, sie wird mein Kind sein. Die Freude darüber wird mir über alles hinweghelfen.
Ich drücke Ben fest an mich. Er ist der Einzige, mit dem ich das Glück teilen kann.
„Danke“, flüstere ich. „Ich wusste es nicht.“
„Deswegen hab‘ ich’s dir ja gesagt." Ich nicke, küsse ihn auf den Kopf. „Es ist ... eine Überraschung. Eine wirklich gute Überraschung.“
Dann kommt mir ein erschreckender Gedanke, meine Brust zieht sich schmerzhaft zusammen.
„Wird sie eine Krankheit haben wie du? Wird sie ...“
Ich kann die Frage nicht mal beenden, es tut zu weh. Ben schmiegt seinen Kopf an meine Schulter und gähnt.
„Es wird ihr gutgehen“, versichert er. „Sie wird nicht krank.“
Er ist so sachlich und abgeklärt für einen Siebenjährigen, ohne jeden Vorwurf, aber ich kann das Schuldgefühl trotzdem nicht abschütteln. Meine Kehle brennt, als ich die Worte hervorpresse.
„Es tut mir leid, dass ich nicht erkannt habe, dass etwas nicht richtig war.“ Ich schlucke, kann die Tränen nicht unterdrücken. „Ich wünschte, ich hätte ... besser aufgepasst.“
„Ich musste weggehen.“
„Nein, es war meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass du hierbleibst. Dich zu beschützen. Ich habe es vermasselt.“
Er seufzt, als würde ich nicht verstehen, worum es wirklich geht.
„Wenn ich nicht gegangen wäre,“, erklärt er geduldig. „dann würde meine kleine Schwester jetzt nicht in dir wachsen.“
Spricht aus seinem Mund die Weisheit des Universums? Funktioniert es wirklich so?, möchte ich fragen. Ist das Schicksal wahrhaftig so unfair? Um dich auf Umwegen zu einem Kind zu führen, nimmt es dir ein anderes weg? Was für ein Irrsinn. So weit ich weiß, besteht das Leben hauptsächlich aus Zufällen, aus guten und schlechten.
„Benni?“ Auf einmal fühle ich mich schläfrig und zu erschöpft, um weiter darüber nachzudenken. „Als ich dich zur Schule gebracht habe, was habe ich als Letztes zu dir gesagt?“
Er verdreht die Augen. „Was du immer gesagt hast. Du sagtest: Hab‘ einen schönen Tag. Ich hab‘ dich lieb.“
Etwas in mir entspannt sich. Eigentlich sollte es nach allem, was passiert ist, nicht mehr wichtig sein, doch das ist es.
„Gut“, sage ich. „Ich hoffe, dass du das nie vergisst. Ich liebe dich sehr. Für immer.“
„Das weiß ich doch, Mami.“ Er scheint es selbstverständlich zu finden, und das macht mich froh.
„Ich hab‘ dich auch lieb.“ Nur ein Hauch an meinem Ohr, dann gleite ich wieder in den Schlaf.
Als ich aufwache, ist mein Sohn fort. Er war hier, denke ich. Er war wirklich hier. Es war so echt gewesen, auch wenn ich seinen Besuch nur geträumt haben kann. Zwischen meinen Armen ist ein Hohlraum. Ich sollte den Verlust spüren, Leere, Hoffnungslosigkeit. All diese Dämonen, mit denen ich gekämpft habe, seitdem er starb.
Stattdessen verspüre ich Ruhe. Neben der Trauer um mein verlorenes Kind, die ich immer empfinden werde, hat sich ein Gefühl von Zuversicht und Frieden auf mich gelegt und hüllt mich in seine weiche, schützende Decke aus Wärme.
Text: Ursula Kollasch
Images: Bild von Ajay kumar Singh / pixabay
Publication Date: 03-30-2020
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