Wir schrieben den 7. März 1978. Nachts um halb zwei klingelte das Telefon. Ich schälte mich unwirsch aus der Bettdecke. „Gitta, KG ist tot – Herzinfarkt, es ist so furchtbar!“
Sofort war ich hellwach, versuchte auch halbherzig seine Lebensgefährtin Ina zu trösten und versprach, gleich am nächsten Vormittag los zu fahren, wenn ich Kind und Kegel hier versorgt und untergebracht hatte. Mir war sofort klar, dass ich die junge Frau nicht nur beruhigen musste, sondern vor allem auch mit für die Organisation und Abwicklung zuständig war. Für meine Gefühle und Trauer blieb da keine Zeit, ich übertünchte sie mit Aktivismus.
Am nächsten Morgen informierte ich meine Halbbrüder, beide noch sehr jung mit ihren gerade mal 25 und 16 Jahren. Packte schnell meine Reisetasche, auch für meine Kinder, die ich zu einer Freundin fuhr und machte mich dann auf den Weg nach Köln.
Ina hatte bereits einen Bestatter aus dem Ort beauftragt, leider eine kapitale Fehlentscheidung, aber das stellte sich erst später heraus. Zunächst galt es erst einmal, Ina zu beruhigen und einen Plan aufzustellen, was denn nun erst einmal erledigt werden musste. Normalerweise werden Familienmitglieder, Freunde und vielleicht noch ein paar Bekannte eingeladen. Nach der Beerdigung geht man in ein nettes Café oder Restaurant, hockt zusammen und erzählt und gut ist. Hier war alles anders, wie sich noch rausstellen sollte.
Den WDR, seinen Arbeitgeber, hatte sie schon informiert, denn die mussten einige Sendezeiten neu besetzen, da KG ja nun nicht mehr da war. Da ich wusste, dass mein Vater recht bekannt war, fragte ich Ina, wie viele Trauerkarten wir denn wohl ordern sollten. Ihre Antwort: „Mindestens 1.500 Stück!“, versetzte mich allerdings in Staunen: „Was? So viele?“ – „Wenn das man reicht!“
Da war ich echt platt, ich hatte so mit zwei- bis Dreihundert gerechnet. Also fuhren wir los, suchten eine passende Karte aus und bestellten sie. Auf meine bange Frage, ob die denn überhaupt rechtzeitig fertig würden, kam: „Kein Problem, die ersten 500 haben sie heute Abend, den Rest bringen wir morgen Vormittag!“
Beim Bestatter lieferten wir die Kleidung ab, suchten Sarg und alles Zubehör aus, erkundigten uns bei der Post nach der Möglichkeit, die Briefe nicht einzeln mit Marken zu bekleben, sondern stempeln lassen zu können. Es war möglich! Also blieb uns diese Arbeit erspart, aber nicht die Aufgabe, erst einmal die Adressen aller Empfänger raus zu suchen und die Umschläge einzeln zu beschriften. Das war Inas Aufgabe, denn als seine Sekretärin und Assistentin im Rundfunk, kannte sie die Leute am besten. Ich war für alle Familienmitglieder zuständig und hatte die traurige Mitteilung seiner Mutter in Berlin und seiner Schwester in England per Telefon zu überbringen.
Die Karten wurden pünktlich geliefert und so schrieben wir uns die Finger wund.
Natürlich klingelte dazwischen das Telefon auch noch ununterbrochen. In allen Zeitungen der Umgebung inklusive Bildzeitung war nun zu lesen, dass KG nicht mehr lebte. Mit 51 Jahren stirbt man einfach nicht, es löste ein ziemliches Entsetzen aus, obwohl die meisten Menschen wussten, dass er bereits ein Jahr zuvor einen Herzinfarkt hatte, von dem er sich allerdings schnell erholte und mit Volldampf wieder arbeitete. Einen Herzschrittmacher wollte er nicht haben, da er meinte: „Entweder ganz oder gar nicht!“
Nach etlichen Telefonaten fiel mir ein, dass wir ja nach der Beerdigung eine Lokalität brauchten, die nicht nur die kleine Familie, sondern eine recht große Menschenschar fassen musste. Ina wusste schnell Abhilfe und konnte einen großen Saal in der Nähe des Melaten Friedhofs auf dem er beerdigt werden sollte, anmieten. Natürlich mussten wir nun auch einen Zettel mit der Einladung und Anmeldung zum sog. Leichenschmaus“ haben, den wir in Eile aufsetzten und an die Druckerei weitergaben, die uns versprach, ihn so schnell als möglich nach zu reichen.
Es wurde hektisch und ich war heilfroh, dass Ina da war, denn ich hatte, wie ich feststellen musste, überhaupt keine Ahnung vom Ausmaß seines Bekanntheitsgrades und wäre baden gegangen mit all den notwendigen Vorbereitungen. Der WDR brachte per Anruf die nächste Hektik, auch wenn sie „nur“ mal eben wissen wollten, welche Chöre, Kapellen, Sänger und Redner denn nach der Beerdigung auftreten sollen, sie würden das dann organisieren und so nebenbei kam die Frage: „Ach ja, welche seiner Kompositionen sollen die dann spielen?“
Das hatte dann zur Folge, dass Ina mir erst mal einiges erzählen und ich mir einiges anhören musste. Ich kannte nicht mal die Hälfte. Nun befanden sich aber keine ernsthaften Lieder darunter, sondern eher Munteres, Vergnügliches und Schmissiges für Chöre, Kapellen und Musikcorps, die er für seine sonntäglichen Platzkonzerte in ganz NRW einsetzte. Ina telefonierte wie eine Wilde herum und lachte plötzlich los: „Das muss sich doch schrecklich anhören, nee, lieber nicht! Wir schauen nochmal und ich rufe wieder an.“ Ina kriegte sich gar nicht mehr ein und erzählte, dass man ihr vorgeschlagen hatte, seine Werke auch in Moll statt in Dur zu spielen.
Sofort holte sie das Tonbandgerät und suchte einige Songs raus, die wir uns dann in Moll vorstellten. Vor allem bei seinen letzten Aufnahmen mit dem Kölner Kinderchor „Rutschbahnpolka“ und „Amboßpolka“ mit den Westfälischen Nachtigallen, lagen wir vor Lachen fast auf dem Boden. Nein, das ging gar nicht! Es würde sich fürchterlich anhören. Da hatte Ina die Idee, einen seiner besten Freunde anzurufen, der auch im Musikgeschäft tätig ist, und ihn zu bitten, dieses Thema nach seinem Gusto zu gestalten und mit dem WDR, den Künstlern und Musikgruppen abzusprechen. Denn wir wären sonst nie fertig geworden. Er erklärte sich auch gerne bereit, die Trauerrede zu halten, da KG keiner Konfession angehörte.
Diese Punkte konnten wie dann zwar abhaken, aber eine neue Frage kam hinzu: hatte der Saal eine Bühne? Denn der Raum an sich platzte bei so vielen Gasten nach unserer Rechnung eh schon aus allen Nähten. Ina sauste los, klärte alles und ich schrieb weiter und ließ das Telefon klingeln. Ich schaffte so gerade noch, die fertigen Briefe rechtzeitig zur Post zu bringen und am Abend überlegten wir, was wir denn mit den wenigen Angehörigen unserer Familie machen. Abgesehen von der Unterbringung wollte ich ihnen auch gerne vor und nach der Beerdigung einen privaten Raum geben für die ganz persönliche Begegnung, zum Erzählen, Trauern und Trösten. Und so bestellten wir je ein kleines Abendbuffet, denn im Haus war Platz genug für den kleinen Kreis.
Wäre am Abend vor der Beerdigung nicht die Schwester von KG, meine Tante Gis, dabei gewesen, wäre es wohl ein tieftrauriger und eher schweigsamer Abend geworden. Aber wir wussten ja alle, dass Gis wohl schon als Kind in ein Fass voller Witz und Humor gefallen sein musste – denn sie ist noch heute unschlagbar. Am laufenden Band erzählte sie eine Geschichte nach der anderen, was sie zusammen mit KG oder er allein in den Kinderjahren angestellt hatten. Auf jeden Fall erfuhren wir drei, KGs Kinder, einiges, von dem wir bisher überhaupt keine Ahnung hatten. Und mit Sicherheit bekam auch die Mama einiges zu hören, von dem sie vorher nichts wusste. Es war ein rundum schöner Austausch – in dem KG im Mittelpunkt unserer kleinen Gemeinschaft stand.
Am nächsten Tag fuhren wir mittags früh los, weil wir befürchteten, keinen Parkplatz mehr zu bekommen – und das war gut so. Der ist zwar riesig, war aber schon gut gefüllt. Mich verblüffte vor allem, dass drei große Busse vom WDR dort standen – die werden doch wohl nicht die ganze Belegschaft dort abgeladen haben. Ich wusste von Ina zwar, dass der Melaten Friedhof bevorzugt von Prominenten belegt wurde und fand es schon ziemlich übertrieben, dass KG dort beerdigt wurde, und so viel Auflauf hatte ich nun wahrlich nicht vermutet.
Es blieb nicht bei dieser einen Überraschung. Vor der Halle standen Unmengen von Menschen und innen schien es keinen einzigen Platz mehr zu geben, aber da vertraute ich mal den Organisatoren. Am Ende der Trauerhalle erblickte ich hinter dem Sarg das gesamte WDR-Sinfonieorchester und davor vier Solisten. Mein Blick zu Ina zeigte mir, dass sie genauso überrascht war. Der Weg durch den schmalen Gang erschien mir wie ein Spießrutenlauf und ich war froh, als wir endlich vorne in unserer Reihe saßen.
Nach einer kurzen Rede von Gerhard Jussenhoven, seinem Freund, wussten wir, was auf uns zukam. Der WDR hatte das Orchester verpflichtet, KGs geliebte „Messe Solennelle de Saint Cécile“ von Gounod aufzuführen. Ich glaube, nicht nur ich war froh, eine ausreichende Menge Taschentücher dabei zu haben. Es war wunderschön und schrecklich traurig zugleich.
Den Weg aus der Halle zum Grab habe ich wohl teilweise aus meinem Gedächtnis gestrichen, von den sechs Herren, die den Sarg trugen, erkannte ich nur Gerhard Jussenhoven, Willy Berking (der ein Jahr später starb) und Kurt Feltz. Wie lang der ganze Trauerzug tatsächlich war, sah ich erst später auf den Bildern. Am Grab stellten Ina und ich zur gleichen Zeit fest, dass der Sarg verkehrt herum runter gelassen wurde – der Sargschmuck, der eindeutig am Kopfende dekoriert war, war vorne zur Straße hin. Wir mussten unweigerlich lächeln, das war so typisch für ihn, immer gegen den Strom …
Das hatten, wie wir später feststellten, noch einige andere gesehen, die dann später flachsten: „Ist doch viel besser so, dann kann er sich, ohne den Kopf zu verrenken, mit Willi Ostermann besser unterhalten!“ Dessen Grab lag nämlich direkt neben ihm.
Es gab noch etwas, was eindeutig die verkehrte Lage anzeigte. Ich hatte bewusst einen großen Korb mit kleinen Vergissmeinicht - Sträußchen zum Hineinwerfen hinstellen lassen, weil ich das Geräusch, wenn die Erde auf den Sargdeckel knallt, absolut gräßlich finde. Bei der Beerdigung meiner Mutter, vierzehn Jahre zuvor, wäre ich am liebsten weg gelaufen, so gräßlich klang das. Aber dennoch türmte sich ein Haufen Sand mitsamt Schüppe daneben. Und als der Erste statt Sträußchen die Schüppe in die Hand nahm, wollte ich mir schon die Ohren zuhalten, war aber zu langsam. Dann die große Überraschung ... man hörte fast nichts! Das Blumenbukett schluckte die Erde ohne einen Ton. Ich war den Sargträgern mehr als dankbar.
Es dauerte ewig, bis denn nun wirklich alle am Grab waren und glücklicherweise verzichteten die meisten darauf, uns einzeln Beileid zu wünschen und zogen mit einem Kopfnicken vorüber.
Als wir an der von Ina ausgewählten Lokalität ankamen, staunten wir nicht schlecht, denn der Saal war schon gut besetzt. Klar, die meisten aus den vorderen Reihen hatten sich wohl gleich danach auf den Weg gemacht. Gut, dass wir einen Tisch nur für uns hatten. Und ich musste den Hut ziehen, sein Freund hatte auch hier alles perfekt arrangiert. Nachdem es sich mit den Kuchengabeln und Kaffeelöffeln halbwegs ausgeklappert hatte, begann eine Show auf der Bühne, die sich sehen lassen konnte. Es ist zwar nicht meine Musik, aber es waren halt seine Werke. Für sich allein und zuhause hörte er ausschließlich Klassik, aber mit Schlagern, Volks- und Marschmusik verdiente er sein Geld.
Vielleicht klingt es völlig unangemessen, aber es wurde ein sehr fröhlicher und lustiger „Leichenschmaus“. Und mir wurde erst mal klar, was mein Herr Papa überhaupt alles so geschrieben und komponiert hatte und erst da erfuhr ich, dass seine meisten Sachen unter verschiedenen Pseudonymen auf dem Markt waren – und wie ich heute weiß, ist das Gang und Gäbe in dieser Branche.
Mit einem Paukenschlag begann die Vorstellung, das Koblenzer Heeresmusikcorps spielte auf, dabei auch mein älterer Halbbruder. Die Westfälischen Nachtigallen, der Kölner Kinderchor, Bläck Fööss, De Höhner und dazwischen Heino, Lena Valaitis, Marion Maerz, Willy Schneider, Lotti Krekel und andere Stars und Sternchen, die ich gar nicht alle kannte. Auch einige Redner traten zwischen den Darbietungen auf und bei einem Blick auf Oma Ricarda sah ich, wie stolz sie war und wie sie vor allem die Lobreden richtig genießen konnte. Tante Gis wirkte eher erstaunt und wie sie mir später erzählte, hatte sie auch keine Ahnung, was KG außer Klavier und Trompete sonst noch so drauf hatte. Das wunderte mich nicht, denn sie lebte schon seit Kriegsende mit einem ehemaligen Besatzungssoldat zusammen in London. Auch mir war ja das Ausmaß seines Wirkens nicht bekannt.
Zum Abschluss gab es noch eine große Überraschung: seine langjährige Freundin Bianca war aus Amerika eingeflogen. Mit ihr zusammen trat er 1973 zu seinem Comeback als Pianist im Amerikahaus und anschließend auf der Waldbühne auf. Er saß damals nicht allein am Flügel, sondern zusammen mit Bianca, die den Part seiner rechten Hand übernahm. Denn in seinem kurzen Einsatz als 16jähriger auf dem Schlachtfeld des 2. Weltkrieges wurde er durch einen Schulterdurchschuss lange am Klavierspielen gehindert – bis er Bianca traf und sie seine rechte Spielhand ersetzte.
Nun spielte sie fünf Jahre später Gershwins „Rhapsody in Blue“ – eins der Stücke, die beide an diesem Abend in Berlin aufführten. Ich schaute spontan zu Oma Ricarda, sie saß ganz aufrecht, zwar mit feucht glänzenden Augen, aber einem völlig offenen Gesicht. Und ich wusste, sie fühlte nicht nur Trauer, nein, in diesem Moment war sie ihrem Sohn sehr nah und glücklich dabei. Sicher erinnerte sie sich, wie ich, an den damaligen Auftritt in Berlin. Auch meine Tante Gisela hatte einen sehr gelösten Gesichtsausdruck und selbst Ina wirkte nicht mehr so angespannt.
Im Saal rührte sich niemand – die Musik überspannte wie ein Wolkenmeer den großen Raum und erfasste auch die Trauergäste.
Diese fünfzehn Minuten absoluter Harmonie werde ich nie vergessen – ich hatte das Gefühl, wir alle im Saal waren mit unseren Gedanken und Gefühlen vereint und eins mit meinem Vater. Und ich stellte mir vor, wie er da oben auf seiner Wolke mit seinem unwiederbringlichen Lächeln sitzt und sich über diese schöne, zu ihm passende Abschiedsfeier freut.
Fortsetzung: Das Erbe - In Dur und Moll
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Text: Gittarina
Images: Privatarchiv
Publication Date: 02-04-2015
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