I templari c'entrano sempre
Die Templer haben ihre Finger immer im Spiel
(Umberto Eco, Das Foucaultsche Pendel)
"Also, Alex, wie hat dir der Film gefallen?" Nina nippte an ihrem Glas Montepulciano und sah ihren Freund fragend an."Alex? Hörst du mir überhaupt zu?" Alexander Behaim schrak hoch und starrte Nina an.
"Äh ja, der Film, gut. Gut. Ich meine, ein bisschen zu …"
"Ein bisschen zu was? Alex, Alex!" Nina seufzte und knallte ihr Glas auf den Kneipentisch. "Herrgottnochmal; wir wollten uns einen schönen Abend machen, Kinogehen, ein Glas Wein danach, und du, du erinnerst dich wahrscheinlich nicht einmal, was für einen Film wir gerade gesehen haben, stimmt's?"
"Doch, doch, entschuldige bitte, aber ich bin in Gedanken gerade wo anders."
"Das sehe ich, und das ist auch nichts Neues, Alex, und irgendwie verstehe ich dich ja auch. Du hast dich in diese Templermärchen verbissen, und das beschäftigt dich halt. Aber langsam wird das zu viel, das ist ja schon fast krankhaft!"
Alexander Behaim riss die Augen auf.
"Templermärchen, krankhaft? So siehst du das? Ich dachte, dass dich das auch interessiert."
"Ja schon, Alex, ich bin doch keine dumme Kuh, die sich nur Liebesschnulzen ansieht, shoppen geht und Nägel lackiert, aber es gibt noch was anderes als deine Templer. Die sind ja schon zu einer Obsession geworden, merkst du das nicht? Du bist doch nicht Indiana Jones und ich schon gar nicht Lara Croft! Der Schatz der Templer ist ein interessanter Mythos, eine Legende, nichts weiter. Aber du verlierst dich darin, und das macht mir Sorgen."
"Ach ja?" Behaim stürzte wütend seinen Wein hinunter und winkte der Kellnerin nach Nachschub. "Eine Legende? Nach dem 1. Kreuzzug kommen im Jahr 1119 neun Ritter nach Jerusalem, der König räumt seine Gemächer auf dem Tempelberg für sie, und diese neun machen 9 Jahre lang nichts anderes, als sich durch die Fundamente des Salomonischen Tempels zu graben. Was sie dort suchten, war und ist unbekannt. Das sind bestätigte Tatsachen. Und danach gründeten sie den ersten Ritterorden, der schwuppdiwupp zur mächtigsten und reichsten Organisation der westliche Welt wurde. Auch das ist keine Legende. Und dann…"
"Dann hat König Philip am 'Schwarzen Freitag' dem 13. Oktober 1307 in einer Nacht- und Nebelaktion alle Anführer verhaften, foltern und auf dem Scheiterhaufen verbrennen lassen. Aber der sagenhafte Schatz, an den er wollte, blieb verschwunden bis heute. Alex, Alex, du hast mir das schon hunderttausendmal erzählt; ich kann's fast singen!"
"Jetzt sei doch nicht so negativ, Nina, das ist kein Märchen. Wie geht das? Warum haben die Templer sich nicht gewehrt? Wohin ist ihr unglaublicher Reichtum so schnell verschwunden?
Via La Rochelle nach Schottland oder gar nach Amerika? Seit Jahrhunderten sucht man danach, und ich …"
"… und du hast den Schlüssel dazu gefunden, ich weiß, ich weiß."
"Warum klingt das so sarkastisch? Ich allein habe den Bezug zu Paracelsus entdeckt; darauf ist noch niemand von all den Historikern, Bestsellerautoren und Schatzsuchern gekommen. Das Testament des Paracelsus sagt, wo die drei Teile des Schatzes verborgen liegen. Natürlich nicht klar und deutlich, sondern verschlüsselt. Paracelsus ist der Begründer der neuen Medizin, hat Bahnbrechendes geleistet – der schreibt doch keine Märchen in sein Testament!"
"Ich bitte dich Alex, Paracelsus hat 200 Jahre nach den Templern gelebt und war noch im mittelalterlichen Symbolismus und in der Alchemie verhaftet. Das kann man nicht wirklich ernst nehmen. Schreib' doch ein Buch darüber wie Umberto Eco oder Dan Brown, und du wirst vielleicht reich und berühmt, auch ohne den Schatz zu finden."
"Verstehst du mich wirklich nicht? Ich brauche kein Geld, und berühmt sein will ich schon gar nicht. Ich dachte, wir lieben uns; du solltest mich eigentlich besser kennen. Der Templerschatz ist mehr wert als 12 Königreiche, hat Paracelsus geschrieben, aber er meinte das nicht im Sinne von Gold und Edelsteinen. Der Schatz hat nämlich hat eine zweite, eine hermetische, mystische, geistige, kryptische, Komponente. Und einzig und allein die ist es, die ich finden will. Und deshalb fliege ich morgen nach Jerusalem. Ich muss noch packen, lass uns zahlen und gehen."
Nina blieb kurz die Luft weg, dann explodierte sie.
"Du fliegst nach Jerusalem? Ohne mir was zu sagen? Ja geht's noch? Spinnst Du jetzt völlig? Hast du vergessen, dass wir übermorgen etwas Wichtiges vorhaben?"
"Tut mir wirklich leid, Ninchen, aber in Jerusalem liegt der Schlüssel zum Templergeheimnis; ich bin so nah dran, wie noch nie, ich spüre das. Ich habe schon Termine mit Führern und Vermittlern dort vereinbart."
"Dein Ninchen kannst du dir schenken, mein lieber Alexander. Ich weiß jetzt nur, dass ich dankbar sein muss." Sie stand auf, warf fünfzig Euro auf den Tisch, starrte zur Decke, atmete tief ein und fuhr fort: "Ich bin dankbar dafür, dass ich dich nicht geheiratet habe, dankbar, dass wir keine Kinder haben, dankbar für meine intuitive Entscheidung, noch nicht mit dir zusammenzuziehen, auch wenn du ein noch so großes Haus geerbt hast. Ich liebe dich Alex, aber es geht nicht mehr. Guten Flug und pass auf dich auf."
Alexander Behaim war wie versteinert. Er konnte weder etwas sagen, noch irgendwie reagieren, als Nina das Lokal verließ.
*
Jerusalem - al Quds – Jeruschalajim – Hieroslyma.
Was für eine Stadt! Wahrscheinlich die verrückteste der Welt. Tief Gläubige, Atheisten und religiöse Fanatiker treffen hier aufeinander. Juden, Muslime, Orthodoxe, Katholiken, Zionisten, Palästinenser, Drusen, Amerikaner, Salafisten und andere Irre. Eine Blaupause des menschlichen Wahnsinns auf diesem Planeten. 780.000 Einwohner von 7,2 Milliarden auf dieser Welt, also 0.01 Prozent, verursachen gefühlte 50 Prozent aller Schlagzeilen der Nachrichtenagenturen. Verrückt, irre, wahnsinnig, krank.
Solche Gedanken gingen Alexander Behaim durch den Kopf, als er aus dem Fenster seines Hotels auf die quirlige Masse in der Gasse darunter blickte. Und er überlegte, wie es wäre, nach Evakuierung der Einwohner diesen mörderischen Ort mit einer schmutzigen Atombombe für alle Zeiten zu vernichten und unbetretbar zu machen. Hätte dann der ewige Streit, das ewige Morden ein Ende? Er versuchte die morbiden Gedanken aus dem Kopf zu schütteln und sich wieder auf seine Mission zu konzentrieren. Das Geheimnis der Templer. Vielleicht würde seine Entschlüsselung das Problem menschlicher lösen.
Aber Alexander war am Ende. Er hatte alle Führungen mitgemacht, die touristischen Highlights absolviert, hatte es sogar geschafft, einige der verbotenen Katakomben und Geheimgänge tief im Tempelberg zu besuchen – der Zaubergesang von ABBA: Money, Money, Money war sehr hilfreich gewesen, - aber er war dem Geheimnis keinen Deut näher gekommen. Seine vermeintlich interessanten Kontakte hatten sich als Flops erwiesen oder als geldgierige Schlepper zu sinnlosen 'Mysterytouren' entpuppt, und er war kurz davor, aufzugeben.
Die Hektik seiner Suche hatte nur einen positiven Effekt gehabt. Sie hatte ihn von dem Schmerz abgelenkt, der mit dem Namen Nina verbunden war. Warum verstand sie ihn nicht? Die Entdeckung des Templergeheimnisses würde vielleicht die Probleme der ganzen Menschheit lösen bis hinunter zu ihren eigenen Befindlichkeiten. Das sollte doch ein paar Unannehmlichkeiten wert sein; was ist schlimm daran, das Beste zu versuchen? Wie kann man das Beste nicht wollen, verdammt noch mal? Alexander versuchte, sich in eine gewisse Wut hineinzureden, aber es gelang ihm nicht. Und schmerzhaft fiel ihm ein, wie er seine Freundin belogen hatte. Denn seine – wie hatte Nina es genannt, kranke Obsession? – hatte inzwischen fast sein gesamtes ererbtes Vermögen verschlungen, und er überraschte sich manchmal dabei, wie er über das Gold und die Edelsteine des Schatzes nachzudenken begann, statt an seinen transzendenten Teil.
"Mein Gott, Nina, Nina, warum hast du mich verlassen?", schrie er über die Jerusalemer Altstadt. Als er bemerkte, wie die Passanten zu ihm heraufstarrten, wurde ihm die Blasphemie seiner Worte bewusst, und er schloss schnell das Fenster. Doch der Schmerz wurde nicht weniger. Aber er konnte nicht anders. Er war davon überzeugt, dass das Templergeheimnis nichts weniger war, als der Heilige Gral, um den sich seit Jahrhunderten die Legenden rankten.
Die Gralsburg Montsegur im Languedoc, Burg Gisors in der Normandie, Rosslyn Chapel in Schottland, die Katharer, Wolfram v. Eschenbach, der Nazi Heinrich Himmler – alles war mit den Templern verbunden. I templari c'entrano sempre …
Alexander Behaim war sich sicher gewesen, endlich auf der richtigen Spur zu sein. Doch jetzt machte sich Verzweiflung in ihm breit. Er hatte sein Lebensglück verloren in dieser fremden, orientalischen, quirligen, brandgefährlichen, historischen, furchterregenden, mystischen, glaubenstropfenden Stadt. Um es zurückzugewinnen, musste er das Geheimnis lüften, musste an den Schlüssel kommen; sein Seelenheil hing davon ab. Alexander Behaim hatte sich verrannt. In dieser Stadt, in der sich der Wahnsinn der Welt manifestierte, würde er das Geheimnis nicht finden.
Er hatte etwas übersehen, hatte die Spur verloren, er hatte sogar vergessen, was er in Jerusalem überhaupt wollte. Aber was hatte er übersehen? Wo war er bei seiner Suche falsch abgebogen?
Er ging zur Minibar, holte ein Fläschchen eines undefinierten Schnapses heraus, schüttete ihn in einem Zug hinunter, schüttelte sich vor Grauen und setzte sich an seinen Laptop.
Zum tausendsten Mal las er das Testament des Paracelsus, und dann blieb fast sein Herz stehen. Er fasste sich an den Kopf. Hier, hier stand es schwarz auf weiß, an Deutlichkeit nicht zu überbieten. Wie die viel zitierten Schuppen fiel es ihm von den Augen.
(…)und saget auch, das drei große scheze verborgen sein. Einer zur Weiden in Friaul, ein ander zwischen Schwaben und Baiern …(…) item es sol bei solchen schaze zwischen Baiern und Schwaben uberaus erfarne Kunstbücher gefunden werden (…) mehr an Barschaft denn 12 Königreiche, etliche Edelsteine und ein Karthäuserstein …
Wieder fasste sich Alexander an den Kopf. Wie hatte er das in all den Jahren übersehen können? Wo verlief zu Zeiten des Paracelsus die Grenze zwischen Schwaben und Bayern? Verdammt, vor seiner Haustüre!
Warum schrieb Paracelsus von gewaltigen Schätzen, von Edelsteinen und zusätzlich von 'erfarnen Kunstbüchern' und einem Karthäuserstein? Das war der Schlüssel!
Erfarne Kunstbücher – damals war das, was man heute unter Kunst versteht, Malerei, Bildhauerei ein Handwerk, über das man sicher keine Bücher geschrieben hat. Nein, Paracelsus meinte die magische Kunst, Wissen, Weisheit, die alchemistische Kunst. Und 12 war eine magische Zahl. Mer an barschaft denn 12 Königreiche bedeutete, dass dieser 3. Teil des Schatzes mehr wert war, als alles andere auf dieser Welt.
Der Goldschatz der Templer, das, worauf es König Philipp abgesehen hatte, mochte irgendwo im Friaul oder in den Pyrenäen liegen, aber das wahre, spirituelle Geheimnis steckte in den 'erfarnen Kunstbüchern'.
Doch wo genau waren sie versteckt? Paracelsus musste einen verschlüsselten Hinweis gegeben haben. Warum betonte er einen Karthäuserstein im Gegensatz zu Edelsteinen?
Alexander fiel dazu im Moment nichts Vernünftiges ein, aber er wusste, dass er sofort nachhause musste, an die Grenze zwischen Schwaben und Bayern.
*
Sofort nachdem Behaim in München die EL AL-Maschine verlassen und den Zoll hinter sich gebracht hatte, ging er an einem Hot Spot online.
Karthäuserstein.
Im Netz fand er nur Angebote von Verlegefirmen für Gartenplatten, die noch dazu so schräg formuliert waren, dass er sich wunderte, wie die überhaupt je an einen Auftrag kommen wollten. Unter Karthäuser allein sprangen ihm zuerst Katzen ins Auge, aber dann fand er Hinweise auf den Orden der Karthäusermönche. Er verfeinerte seine Suche um Schwaben und Bayern und wurde schließlich fündig. Er ärgerte sich selbst, dass es so lange gedauert hatte, denn er hatte den Begriff so eingegeben, wie er zur Zeit Paracelsus' geschrieben wurde: Karthäuser mit th. Dass über 90 Prozent der Eintragungen im Zeitalter von Duden und Rechtschreibprogrammen falsch mit th geschrieben wurden überraschte ihn etwas, aber nicht wirklich. Internet. Nicht Karthäuserthal, sondern Kartäusertal. Das war es. Eine stille Schlucht am Rand der schwäbischen Alb. Eine winzige Ansiedlung mit einem ehemaligen – Kartäuserkloster. Und die Grenze zwischen Schwaben und Bayern verlief zu Zeiten der Templer genau hier.
*
Als Alexander Behaim vor der Klosterruine den Motor des Leihwagens abstellte, ausstieg und über eine kleine Brücke auf die uralten Mauern zuging, glaubte er, die Last der Jahrtausende zu spüren. Kurze Recherchen hatten genügt, um die historische Bedeutung des stillen Ortes zu erkennen. Der Steilhang hinter dem Kloster musste der Weiherberg sein, auf dem die Kelten blutige Opferrituale abgehalten hatten; gleich dahinter lag eine sogenannte Hunnenschanze. Auf der anderen Seite des Sträßchens bewachten die Reste der Burg Rauhaus das kleine Örtchen, und am Eingang des engen Tales erhoben sich links und rechts des Baches zwei weitere Festungsruinen.
Durch diese Schlucht waren die Kelten gezogen, die Römer und Germanen, die Haufen der aufständischen Bauern und die plündernden Horden im 30jährigen Krieg.
Kühle Schauer liefen über Behaims Haut. Hier musste es sein, hier war der einzig logische Ort, der Platz, den Paracelsus gemeint haben musste. Sein kryptisches Testament war der Schlüssel gewesen, der Alexander hierher geführt hatte. Er spürte deutlich die Kraft dieses Ortes und seine mystische Ausstrahlung. Wo konnte der Schatz der Templer besser aufgehoben sein, als hier? Nein, nicht die Truhen voller Gold und Edelsteine, die wären im Laufe der Jahrhunderte sicher schon entdeckt worden. Aber die wahren Geheimnisse, niedergeschrieben in 'erfarne Kunstbücher' und mehr wert, als alle Königreiche der Welt – hier in diesen Klostermauern wären sie sicher verborgen geblieben.
Alexander fröstelte erneut. Er war am Ziel. Endlich.
Durch ein verfallenes Tor gelangte er in einen Innenhof und sah ratlos zu dem Glockentürmchen hoch. Der Eingang war verschlossen, und es sah so aus, als hätte schon lange niemand mehr das wuchtige Portal mit seinen rostigen Eisenbeschlägen geöffnet. Er stieg über Reste von Grundmauern der Mönchskartausen, über abgesunkene, völlig verwitterte Grabsteine, arbeitete sich durch mannshohes Unkraut und umrundete das Kirchlein auf der Suche nach einem anderen Eingang – vergeblich. Was jetzt?
Dann erinnerte er sich an das Wirtshaus am Sträßchen, das durch den Ort führte.
Die Wirtsstube war offen, aber leer. Klar. Das Kaff hatte höchstens 20 Einwohner, und wer sollte unter der Woche, wenn keine Touristen durchkamen, hier einkehren?
Der Wirt reagierte entsprechend mürrisch, als Alexander nur eine Auskunft wollte, wurde aber freundlicher, als Behaim die bewährte ABBA-Methode zur Anwendung brachte. Money, Money, Money. 20 Euro wiesen ihm direkt den Weg zu einem großen, aber heruntergekommenen Gebäudekomplex direkt neben der Klosterruine, den er vorhin nicht beachtet hatte.
Auf Alexander Behaims Klopfen öffnete sich die Pforte, und ein Mann sah ihn fragend an. In seinem Blick lagen weder Argwohn noch Misstrauen oder Ablehnung. Weiße Haare bedeckten seine Schultern und ein grauer Vollbart die Brust. Er trug ein schwarzes, verwaschenes T-Shirt und eine saubere, aber ebenso verwaschene Jeans, aus denen nackte Füße heraus kamen, die in abgetragenen Jesus-Latschen steckten. Ein Freak schoss es Alexander durch den Kopf, aber die sanften Augen seines Gegenübers passten nicht zu dem wirren Bild.
Alexander konnte sich nicht erklären, wie es dazu gekommen war, aber plötzlich saß er auf einer Holzbank und erzählte dem Alten ohne jede Hemmung von seinem Leben. Von seiner Kindheit, seiner Jugend, seiner Obsession, den Schlüssel zum Geheimnis der Templer zu finden und von seiner gescheiterten Liebe zu Nina. Keine Sekunde kam es ihm komisch vor, sich einem wildfremden Mann anzuvertrauen.
Der Alte unterbrach ihn nur einmal kurz, verschwand und kam mit einer Flasche und zwei Gläsern zurück. Er schenkte ein, und das Getränk lief wie Balsam durch Alexanders Kehle.
"Met", sagte der Graue nur und bedeutete Alexander, weiterzureden. Und dieser redete weiter. Ohne Unterlass brach es aus ihm heraus, während der Alte einfach nur zuhörte. Und als Alexander bei seinem Lebensbericht endlich im Kartäusertal angekommen war und erschöpft zu Boden blickte, herrschte eine Zeitlang Stille. Endlich sagte der Grauhaarige:
"Mein Freund, du fühlst, nein, du weißt, dass du an einem magischen Ort angekommen bist. Meine Mitbrüder, die hier meine Unterkunft teilen und ich selbst wissen, wovon du redest. Wir alle waren auf der Suche nach irgendetwas, nach einem Schlüssel, nach einer Erklärung, nach einem Sinn. Oder, wie du, nach einem Geheimnis, dem Geheimnis des ewigen Lebens, des Seins und Vergehens. Bei dir ist es der Schlüssel zum Geheimnis der Templer.
Aber weißt du", fuhr er nach einer kurzen Pause fort, "der Schlüssel ist nur ein Symbol. Jeder Schlüssel ist von irgendjemandem gemacht worden, und deshalb kann ihn auch irgendjemand nachmachen. Aber das Geheimnis hinter der Grenze ist etwas ganz anderes. Vielleicht glaubst du, es ist der Schlüssel zu einer wohlgefüllten Schatzkammer, vielleicht ist es der Schlüssel zum Himmelreich oder sogar zum Herzen einer geliebten Frau. Doch es kann auch der Schlüssel zu einem Kerker sein, der Schlüssel, der weggeworfen wird und dich irgendwo jämmerlich verrecken lässt – eingemauert zwischen realen, feuchten Wänden, oder in deiner ganz eigenen geistigen Kerkerwelt, die du dir selbst erschaffen hast. Wähle selbst. Entscheide, wohin dich der Schlüssel führen soll.
Du hast die Wahl. Und was das Geheimnis der Templer angeht – hier wirst du nichts finden.
Das Kloster wechselte zwischen Reformation und Gegenreformation mehrfach die Herren. Und schließlich wurde es aufgelöst und die Bestände geteilt. Die Liegenschaften fielen an den protestantischen Fürstenhof. Aber die mobilen Wertsachen, Kultgegenstände, Reliquien sowie die gesamte Bibliothek wurden ins katholische Kloster Heilig Kreuz in Donauwörth geschafft. Und wenn irgendwelche Bücher hier versteckt worden sind, dann wurden sie mit an die Donau genommen. Hier findest du nichts mehr – nur vielleicht dich selbst.
Hier liegt kein Geheimnis verborgen – oder alle. Bedenke, mein Freund: Ein Schlüssel hat immer zwei Richtungen. Man kann damit aufschließen oder abschließen. Egal, wo du bist, ob in Jerusalem, in Machu Picchu, im Grand Canyon oder im Taj Mahal – die wahren Geheimnisse, für die es sich lohnt zu leben oder zu sterben, liegen nur in dir selbst verborgen. Horche in dich hinein. Dann wirst du erkennen, was du suchst, und wenn du es nicht findest, dann komme zu uns zurück. Wir alle waren auf der Suche nach irgendetwas, oder sind es noch immer. Unsere Tür steht jederzeit offen. Aber wenn du wirklich meinst, deinen Weg gefunden zu haben, dann gehe ihn und vergiss unser Gespräch, mein Freund."
*
Als Alexander Behaim im einzigen Fremdenzimmer des Gasthauses saß und sich den letzten Rest der zweiten Flasche eines Weines eingeschenkt hatte, der so schmeckte, wie er hieß – 'Kartäusergelübde' – war sei Entschluss gefasst. Er glaubte, den Alten verstanden zu haben. Die Suche nach dem 'Templergeheimnis' hatte ihn sein halbes Leben, fast sein ganzes Vermögen und seine geliebte Nina gekostet. Das musste jetzt vorbei sein. Seine Suche war eine Sackgasse gewesen. Nie wieder. Alles würde anders werden. Nina! Er würde zu ihr fahren und sie wiedergewinnen. Den Rest seines Lebens und seines Vermögens würde er nicht für seltsame Schatzsuchereien verschwenden, sondern mit Nina verbringen. Nizza, Malediven, Kreuzfahrten, Wellnesshotels. Er würde ihr alles bieten, was er konnte, um sie zurück zu bekommen. Das mit den Kindern … Na ja. Egal. Er musste zu ihr. Jetzt. Sofort.
Um 23.00 Uhr stieg Alexander Behaim in seinen Mietwagen und machte sich auf den Weg zu Nina. Alles würde gut werden.
Um 23.44 Uhr sah er plötzlich die Abzweigung nach Donauwörth. Verdammt! Was hatte der Alte erzählt? Die Bibliothek des Klosters war nach Donauwörth gebracht worden?
Mit voller Kraft stieg er in die Bremsen und versuchte, auf der Bundesstrasse zu wenden. Den entgegenkommenden Lkw übersah er.
Um 23.46 Uhr war Alexander Behaim tot.
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Der Schatz der Templer liegt vielleicht immer noch irgendwo verborgen. Wer weiß?
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Text: Bert Rieser
Images: Bert Rieser
Publication Date: 06-08-2014
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