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Das Geheimnis der Hexen von Nördlingen

 

 

Wilbert Röttinger hatte es weit gebracht.

Zuerst war es eine Schnapsidee gewesen, die er zusammen mit seinem Kollegen Daniel Schneider auf einer Weihnachtsfeier der RomanceHotelGroup ausgeheckt hatte. Beide hatten sie das Hotelfach von der Pike auf gelernt und arbeiteten schon lange für diese Firma, die sich auf Standorte für Romantiker spezialisiert hatte – Spreewald, Venedig, Montmartre, Rothenburg etc.

Aber die Arbeitsbedingungen waren hart, die Verträge skandalös, Lob unbekannt, und so beschlossen sie, eine eigene Hotelkette aufzuziehen.

 

Vampir- und Werwolfgeschichten boomten, Harry Potter und Genossen bereiteten die nächste Kundschaft vor, und die Esoterikmessen wurden von Jahr zu Jahr größer. In Zeiten der Unsicherheit, der Zukunftsängste, der Unwägbarkeiten des Schicksals griffen die Menschen schon immer auf andere Unfassbarkeiten zurück: auf Religionen, auf Wunderheilmethoden, auf Sagen und Märchen und deren moderne Form, die Esoterik.

Das war ihre Idee: Hotels an 'esoterischen' Orten eröffnen, an sogenannten Kraftorten, an geschichtsträchtigen Plätzen.

 

Ihr erstes Objekt war die Wartburg. Mit etwas Brimborium wie etwa Mitternachtsführungen durch die Burg, spektakulären Teufelsauftritten in Martin Luthers Schreibstube und ähnlichen PR-Gags bekamen sie den maroden Hotelbetrieb sofort in die schwarzen Zahlen. Weitere Projekte folgten. Falkenstein in den Alpen, Hotels bei den Externsteinen, am Brocken, am Teufelsloch. Alle waren erfolgreich.

 

Röttinger war das aber nicht genug. Er suchte immer weiter nach lohnenden Standorten.

Eines Tages schickte ihm einer seiner Immobilienmakler ein Angebot, und er war wie elektrisiert. Hallo! Nördlingen! Seine Heimatstadt!

Seine Familie war zwar schon weggezogen, als er elf Jahre alt war,  aber das angebotene uralte Haus erkannte er sofort. Sie hatten am Stänglesbrunnen gewohnt, nur ein paar Häuser weiter.

Nördlingen, die alte Reichsstadt – dass er daran noch nicht gedacht hatte! Sie war ein geradezu perfekter Standort für ein Mystery-Hotel. Das mittelalterliche Zentrum, umgeben von der vollkommen intakten Stadtmauer, mit seinem Gewirr von Gässchen, windschiefen Gerberhäusern, versteckten Plätzen, Kirchen und herrschaftlichen Prunkbauten und noch dazu im Meteoritenkrater des Rieses gelegen – einem Kraftort per se -, das war einfach genial.

Röttinger griff sofort zum Telefon und stand noch am selben Tag vor dem angebotenen Objekt.

 

Die Sonne hing schon tief, als er zu dem gewaltigen Dach hochblickte, das sich über die vier Stockwerke aus verzogenem Fachwerk wölbte. Auch der Dachboden schien aus mehreren Etagen zu bestehen, und Röttinger sah vor seinem geistigen Auge schon Vortrags- und Seminarräume, eine Mittelalterbar, einen Rittersaal als Zentrum und etwa 30 Doppelzimmer entstehen. Es würde eine schöne Stange Geld kosten, aber noch mehr einbringen, da war er sich sofort sicher.

Er trat zum Eingangsportal, einem Meisterwerk der mittelalterlichen Zimmermannskunst, mit dicken Eisenbändern beschlagen, stellte sich auf die Zehenspitzen und tastete den Rahmen ab. Ja, da war der Schlüssel, wie sein Makler gesagt hatte.

Mit Knarren und Quietschen ließ sich das Portal aufschieben. Ein langer, dunkler Gang lag vor ihm, und er tastete nach einem Lichtschalter. Eine Neonröhre erwachte zuckend zum Leben und tauchte den Flur in fahl-weißes Dämmerlicht. Sein Makler hatte ihm erzählt, dass das Gebäude zuletzt als Archiv und Lager einer Druckerei gedient habe und seit geraumer Zeit leer stehe. Er solle sich einfach umsehen und sich einen ersten Eindruck verschaffen. Und genau das tat Röttinger. Er blickte in die Räume links und rechts des breiten Flurs und stieg die durch das Alter fast schwarz gewordene Eichentreppe hoch in den ersten Stock. Und das was er dort sah, verschlug ihm beinahe den Atem. Ein gewaltiger Saal, der  über die gesamte Hausbreite reichte, nahm fast das ganze erste Stockwerk ein, wie er im Schein der funzligen Lampe erkennen konnte. Dicke Balken stützten die Decke und unterstrichen die Großzügigkeit des Raumes. Er strahlte Ruhe und gleichzeitig etwas Magisches aus. Hier hatte er seinen Rittersaal!

Irritierend war nur, dass durch die kleinen Fenster überhaupt kein Lichtstrahl drang. Auch wenn die Sonne inzwischen untergegangen war, müssten doch ein paar Lichter der Stadt zu sehen sein. Seltsam.

 

Plötzlich zuckte die Neonröhre kurz auf, flackerte und erlosch. Doch der Raum fiel nicht in absolute Dunkelheit, wie Röttinger befürchtete, sondern leuchtete quasi aus sich heraus. Sehr seltsam.

Röttinger drehte sich um die eigene Achse und betrachtete die sonderbaren Zeichen an den Wänden, die er vorher übersehen hatte. Und dann sah er seinen eigenen Atem in der Luft stehen. Es war urplötzlich sehr kalt geworden. Zeit, zu gehen.

Doch wo war die Treppe? Verdammt, das gibt's doch nicht! Wo ist die verdammte Treppe?

Ein leises Geräusch ließ ihn herumfahren und steigerte sich zu einem schrillen Kreischen, das ihn bis ins Mark erschütterte. Und dann sah er sie.

 

An der Nordwand stand eine uralte Frau, gebeugt und bucklig, mit langen, schneeweißen Haaren, die zottelig über die krummen Schultern hingen. Mit knotigen Händen stützte sie sich auf einen dürren Stock und blickte ihn mit bösen, kalten Augen an. Die Urhexe aus seinen Kinderbüchern!

Röttinger zitterte und schwitzte gleichzeitig, dann stammelte er eine Art von Entschuldigung, doch die Alte grinste nur boshaft und schnippte mit den Fingern. Und mit jedem Schnippen tauchten neben ihr weitere alte Weiber auf. Flammendrote Haare die eine, mit einem fauchenden schwarzen Kater auf der Schulter, klein und verschrumpelt die andere. Wieder eine andere hatte einen Besen zwischen ihre krummen Beine geklemmt und noch eine war verunstaltet durch riesige Warzen und hatte messerscharfe Krallen statt Finger. Ein Panoptikum des Grauens. Sie wirbelten durch die Luft und umringten Röttinger, der vor Entsetzten gelähmt war. Seine Sinne drohten zu schwinden, er glaubte, sich übergeben zu müssen und vor Grauen zu sterben, doch irgendetwas hielt ihn aufrecht.

 

"Jaja, mein schöner junger Herr", krächzte die erste Alte, "so habt Ihr uns aus Eurer Kindheit in Erinnerung, aus Euren garstigen Kinderbüchern, aus den Märchen und Sagen. So stellt Ihr Euch Hexen vor, nicht wahr? Aber das ist Eure verdummte Phantasie."  Wieder lachte sie meckernd und schnippte nochmals mit ihren gichtigen Fingern.

 

Plötzlich veränderten sich die schaurigen Gestalten. Röttinger blickte von einer zur anderen und sah auf einmal ganz normale Frauen um sich herum. Sie waren in unterschiedlichem Alter und sahen, abgesehen von ihrer altertümlichen Kleidung, aus, wie die Nachbarin nebenan, wie die Verkäuferin beim Aldi, wie die Apothekerin, wie das junge Ding, das gestern auf der Parkbank gesessen war.

Aber sie alle erfüllten Röttinger mit einem viel tieferen Entsetzen, mit einem noch namenloseren Grauen, als vorher in ihrer Hexengestalt. Er konnte nicht anders. Ein Schluchzen brach aus seiner Kehle, er sank auf die Knie und weinte hemmungslos. Denn unendliches Leiden war in den Zügen der Frauen eingegraben, ein gottverlassenes Entsetzen, endlose Schmerzen und abgrundtiefe Trauer zugleich. Es brauchte nicht der verbogenen, gebrochenen Glieder, der blutigen Arme und Beine, der herausgerissenen Nägel, der eingeschlagenen Zähne, der verkohlten Hautfetzen. Es brauchte nur des Blickes in ihre Augen, um aus dem knallharten Geschäftsmann Wilbert Röttinger ein hilflos weinendes Bündel aus Mitleid zu machen.

 

"Ja, junger Herr, das sind wir, erinnert Ihr Euch? Nein, wie solltet Ihr auch! Ihr wisst wahrscheinlich nicht einmal, wo Ihr seid und wer Ihr seid. Ich will's Euch sagen.

Ihr seid ein Nachfahre des Ratsadvokaten Doctor Sebastian Röttinger, und das hier ist das Hexenrichterhaus, wie es heute noch im Volksmund heißt. 34 Frauen hat er quälen und foltern lassen, ohne Gnade. Hat uns Männern und Kindern entrissen, hat uns an den Armen aufhängen lassen, in Spanische Stiefel gesteckt und die Daumenschrauben angelegt. Hat uns mit glühenden Eisen foltern lassen und mit Zangen zwicken und martern. Alles im Namen des Gesetzes. Und dann haben wir endlich gestanden. Gestanden, Kinderleichen ausgegraben und gefressen zu haben, wir haben gestanden, zusammen mit dem Teufel auf Ziegenböcken zum Rathaus geritten zu sein und dort mit ihm Buhlschaft getrieben zu haben, dass wir Ernten verhext, das Vieh verzaubert und die Brunnen vergiftet haben, das alles haben wir unter der Folter gestanden. Und schließlich sind wir auf dem Scheiterhaufen, oben am Hexenfelsen, jämmerlich verreckt."

 

Sie machte eine kurze Pause und fuhr dann fort:

"Aber dafür haben wir Euren Urahn auf dem Scheiterhaufen verflucht bis ins letzte Glied. Sollte er oder einer seiner Nachfahren je wieder dieses Haus unseres Leidens betreten, solle er die gleichen Schmerzen erleiden wie wir und hinabfahren in den Höllenschlund.  Wir haben ihn verflucht in aller Teufel Namen und im Namen aller seiner Helfershelfer. Aber … das war unsere Sünde. Unsere einzige Sünde.

Man darf auch seinen schlimmsten Peiniger nicht in Satans Namen verfluchen. Deshalb ist der Fluch auf uns zurück gefallen. Seit 500 Jahren sind wir hier gefangen, und unsere Rache haben wir nie bekommen, weil der Herr Ratsadvokat nie in dieses Haus zurückgekehrt ist und auch keiner seiner Nachfahren. Bis heute!"

Jetzt lachte die Erscheinung wieder mit höllischem Gekreische.

"Endlich können wir uns rächen! Auge um Auge, Zahn um Zahn!"

 

Röttinger hatte sich schwankend erhoben. Die letzten Worte der Hexe hatte er nicht mehr gehört. Er sah nur in die Augen der Frauen und stammelte:

"Es tut mir leid." Ströme von Tränen rannen über sein Gesicht. "Es tut mir unendlich leid um euch und eure Familien. Bitte verzeiht!" Er sank wieder auf die Knie und schlug die Hände vors Gesicht.

 

"Was? Was sagt er? Es tut ihm leid? " Die Wortführerin blickte in die Runde der Frauen.

"Habt ihr das gehört?" Alle nickten.

Die Hexe trat zu Röttinger und hob sein Kinn an. "Es tut Euch leid, und Ihr entschuldigt Euch?", fragte sie noch einmal.

Röttinger konnte nur leicht nicken, aber mit tränenverschleierten Augen sah er die Veränderung: Die gequälte, zermarterte Miene verschwand aus dem Gesicht der Frau. Mit nun strahlenden Augen sah sie Röttinger an und sagte:

"500 Jahre warten wir auf diese Worte, junger Herr, die wir von Eurem Ahnen nicht hörten. Ich danke Euch. Jetzt sind wir frei. Frei von unserer Schuld des Fluchs. Danke!"

Röttinger blickte auf. Das Grauen war verschwunden. Die Luft roch plötzlich nach Frühlingsblumen, und die Kälte wich.

Flackernd erwachte die Lampe wieder zum Leben.

Röttinger erhob sich schwankend, floh aus dem Haus und kehrte nie wieder.

 

 

 

 

Nachwort

 

Der protestantische Ratsadvokat Sebastian Röttinger, 'beider Rechte Doctor', war einer der härtesten Hexenverfolger seiner Zeit. Unter seiner Gerichtsführung und gegen den Rat der Geistlichkeit verurteilte er in der Reichsstadt Nördlingen nach Geständnissen unter der Folter 34 unschuldige Frauen und einen Mann zum Tode auf dem Scheiterhaufen.

Erst die Wirtin der Krone, Maria Holl, widerrief immer wieder alle bei 56 Folterungen erpressten Geständnisse und wurde schließlich widerwillig freigelassen. Die Standhaftigkeit dieser tapferen Frau erschütterte in der Stadt den Glauben an die Rechtmäßigkeit der Urteile, und die Hexenverbrennungen fanden ein Ende.

 

Nachfahren des Hexenrichters und seiner Opfer leben noch heute in der Stadt.

 

 

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Imprint

Text: Bert Rieser
Images: Bert Rieser unter Verwendung eines Stiches von Riegel 1687
Publication Date: 04-14-2014

All Rights Reserved

Dedication:
Allen Opfern religiösen Wahns - egal in welcher Zeit

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