30 Tage mit dir
Julika Wöltje
Wilk und Wilk GbR
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Impressum:
Wilk Wilk GbR
Tempowerkring 6
21079 Hamburg
ISBN-: 978-3-00-068928-4
Covergestaltung: Casandra Krammer www.casandrakrammer.de
Covermotiv: © Stocker_team – Shutterstock.com
Für meine Leser-innen, die mit mir träumen.
Und für meine Schwester, die immer an mich glaubt.
Er bemerkte den leichten Zug kühler Morgenluft mehrere Minuten bevor er richtig wach wurde. Frische zog in sein großzügig angelegtes Schlafzimmer, umspielte sein Gesicht und wanderte dann weiter, in Richtung Flur. Er hörte die ersten Vögel zwitschern und konnte einen leichten Duft nach Jasmin wahrnehmen, der in der Luft hing. Doch auch wenn das Leben in der Natur bereits den Tag einzuläuten schien, so wusste er, dass es noch früh sein musste. Viel zu früh. Die Dunkelheit, die sich vor seinen geschlossenen Augenlidern breitmachte, verriet es ihm. Er drehte sich um und spürte die dünne Seide seiner Bettwäsche auf seinen nackten Armen, dessen feine, dunkle Härchen sich bei der Berührung augenblicklich aufstellten. Doch so sehr er auch versuchte, wieder einzuschlafen, es wollte ihm beim besten Willen nicht gelingen.
Also gab er sich geschlagen, brummte unzufrieden und drehte sich erneut um. Als er die Augen öffnete, fiel sein Blick auf den Wecker auf seinem Nachttisch. 5:07 Uhr an einem Sonntagmorgen. So früh war er schon lange nicht mehr aufgewacht. Außer natürlich, er hatte Nachtschicht. Dann befand er sich um diese Uhrzeit auf den Fluren des Krankenhauses, schaute nach seinen Patienten und flirtete mit den Krankenschwestern. Er musste erst um 8:00 Uhr bei der Arbeit sein und mehr als eine Stunde benötigte er nicht, um zu duschen, zu frühstücken und ins Krankenhaus zu fahren. Es blieb ihm also noch sehr viel Zeit. Er setzte sich auf, die Glieder noch steif von der Nacht und blieb auf dem Bettrand sitzen. Was sollte er jetzt tun? Er könnte ins Fitnessstudio gehen, um diese Uhrzeit war es dort angenehm leer. Oder sollte er lieber schon mal ins Krankenhaus fahren und die Akte für die Operation durchsehen, die heute anstand?
Er stand auf, ging zum Stuhl in der Ecke und nahm sich seinen Morgenmantel. Ebenfalls feinste Seide, genau wie die Bettwäsche. Er mochte das kühle, luftig leichte Gefühl, dass sich bei diesem Stoff auf der Haut breitmachte. Sarah hatte versucht, ihn von weicheren, samtigen Stoffen zu überzeugen. Er drehte sich im Gehen in die Richtung seines Bettes, in dem sie schlief und ruhig atmete.
Sie würde eh nicht lange genug bleiben, um etwas von der weichen Bettwäsche zu haben, die sie sich wünschte. Er zog eine Augenbraue hoch, als er sah, wie sie sich im Schlaf umdrehte, wobei sie ein Bein und die Hälfte ihres Hinterns entblößte. Er könnte auch einfach wieder ins Bett kriechen, sie aufwecken und sich noch etwas ablenken, ehe er zur Arbeit musste. Doch er ließ diesen Gedanken schnell wieder ziehen, denn Sarah war kein Fan frühmorgendlicher Aktivitäten. Genau genommen schien sie ab halb 10 überhaupt erst zum Leben zu erwachen. Nicht, dass das normalerweise zu Problemen führte. Sie sahen sich meist eh erst in den Abendstunden, wenn er Feierabend hatte und sie sich in der Stadt auf einen Drink trafen.
Mit einem letzten Blick auf ihren Po, dessen Rundung in der Morgendämmerung verführerisch schimmerte, ging er in Richtung Bad. Er zog die Tür hinter sich zu, stellte die Dusche an und genoss die Dampfschwaden, die schon bald aufstiegen. Das heiße Wasser prickelte auf seiner Haut und er griff zum Duschgel, um sich zu waschen. Nach fünf Minuten stellte er das heiße Wasser mit einem entschlossenen Handgriff aus und zuckte kurz zusammen, als das eiskalte Wasser auf seinen Kopf herunterprasselte. Anschließend stellte er das Wasser ganz ab, schlang sich ein Handtuch um die Hüften und ging in den begehbaren Kleiderschrank, der an das Bad grenzte. Er wählte ein hellblaues Hemd, wie jeden Morgen, eine dunkelgraue Hose und die passenden Schuhe. Auf die Krawatte würde er heute verzichten, schließlich war Sonntag und unter seinem Arztkittel sah man die Krawatte sowieso nicht.
Bevor er das Ankleidezimmer wieder verließ, nahm er seine Rolex aus der Schublade, in der er sie aufbewahrte und streifte sie über sein Handgelenk. Die Uhr hatte seinem Vater gehört. Bei einem Blick in den Spiegel fiel ihm auf, wie ähnlich er ihm mittlerweile sah. Obwohl, er berichtigte sich in Gedanken, er sah dem Vater ähnlich, den er vor zehn Jahren gekannt hatte. Niemand konnte wissen, wie sein Vater heute, im Alter von 65 Jahren ausgesehen hätte.
Er erinnerte sich an den stolzen, wortkargen Mann, der sich jeden Morgen für die Arbeit fertigmachte, seiner Frau einen Kuss gab und dann in das Krankenhaus aufbrach, in das auch er gleich fahren würde. In den meisten Erinnerungen aus Anthonys Kindheit kam sein Vater nicht vor. Beziehungsweise, er kam nicht persönlich vor. Die Anrufe, mit denen er seine Abwesenheit entschuldigte, waren dafür umso zahlreicher. Doch auch wenn sein Vater nicht häufig zu Hause war, so hatten sich die gemeinsamen Momente umso stärker in Anthonys Erinnerungen eingebrannt. Er dachte an seinen siebten Geburtstag. Seine Mutter hatte eine große Party für ihn geschmissen und seine Freunde waren zahlreich erschienen. Sie hatten Sackhüpfen und fangen gespielt, riesige Mengen Torte und Zuckerwatte in sich hineingestopft und schließlich um ihn herumgestanden, während er seine Geschenke auspackte.
Er erinnerte sich an das strahlende Lächeln seiner Mutter, die sich über den Erfolg der Feier freute. Und er erinnerte sich an Harry, seinen Bruder, der rückwärts über die Ritterburg stolperte, die Anthony gerade erst ausgepackt hatte und dabei einen Turm abbrach. Der Streit, den dieser Vorfall auslöste, war vorprogrammiert gewesen, denn auch wenn die beiden Brüder keinen großen Altersunterschied hatten, Harry war nur drei Jahre jünger als Anthony, kamen sie nie gut miteinander aus.
Anthonys Mutter führte das oft darauf zurück, dass die beiden von ihrem Vater unterschiedlich behandelt wurden. Doch Anthony selbst war sich ziemlich sicher, dass dies nicht die Ursache war. Klar, er war als der Erstgeborene immer der ganze Stolz seines Vaters gewesen. Gleichzeitig hatte auf ihm aber auch die Last der Erwartungen geruht. Er hatte sich immer große Mühe gegeben, war sehr gut in der Schule und auch auf dem College vom Erfolg gesteuert gewesen. Trotzdem sah er seinem Vater an, dass er seine Erwartungen nicht erfüllte. Und nun war es eh zu spät, denn sein Vater war seit zehn Jahren tot und Anthony würde nie erfahren, ob er seinen Ansprüchen irgendwann hätte gerecht werden können.
Harry war immer schon ein Träumer. Er scherte sich nicht sonderlich viel um die Schule und die Meinung seiner Lehrer. Das bedeutete nicht, dass er nicht gut gewesen wäre. Auch er war aufs College gegangen und hatte, genau wie Anthony, Medizin studiert. Von außen betrachtet waren sich die beiden Brüder durchaus ähnlich. Doch Harry hatte immer schon eine andere Lebenseinstellung. Er tat Dinge, weil sie ihn glücklich machten und nicht, um seinem Vater zu imponieren. Als er seine erste Freundin mit nach Hause brachte, liebte er sie wirklich. Er hatte sich eine junge Frau ausgesucht, die ihn glücklich machte und mit der ihn mehr als nur körperliche Anziehungskraft verband. Als sie ihn verließ, brach es ihm das Herz. Auch wenn Anthony Harry damals ausgelacht hatte, musste er zugeben, dass er seinen Bruder manchmal um dessen von Emotionen geprägtes Weltbild beneidete. Er selbst war immer schon sehr viel pragmatischer gewesen. Er wollte es zu etwas bringen im Leben, wollte seinen Vater von seinen Fähigkeiten als Arzt überzeugen, Geld verdienen und sicher – irgendwann einmal eine Familie gründen. Doch dieser Zeitpunkt war noch lange nicht gekommen.
Anthony kehrte in Gedanken zurück an seinen siebten Geburtstag und die Tatsache, dass sein Vater wieder einmal nicht anwesend gewesen war. Irgendeine Operation hatte ihn aufgehalten. Auch wenn Anthony wusste, dass sein Vater wichtige Operationen durchführte und dadurch Leben rettete, konnte er seine Eifersucht nicht unterdrücken. Am Abend, als er in seinem Bett lag, kam seine Mutter zu ihm, um ihm eine gute Nacht zu wünschen. Sie versicherte ihm, dass sein Vater sich am Wochenende freinehmen würde, um mit ihm das neue LegoSet aufzubauen, das er von seiner Tante Ann geschenkt bekommen hatte. Sein Vater hielt sein Versprechen. Nicht aus Zuneigung und Liebe, sondern wahrscheinlich eher aus Prinzip. Doch das Ergebnis war für Anthony an diesem Wochenende dasselbe. Mehr als fünf Stunden beschäftigten sie sich mit dem Lego-Set, das aus einem Krankenwagen, mehreren Sanitätern, sowie Ärzten und einem verletzten Patienten bestand. Anthony beobachtete seinen Vater dabei, wie dieser konzentriert die einzelnen Teile gruppierte und anschließend in sauberen Reihen nebeneinander platzierte.
„Struktur, Ordnung und Sauberkeit“, sagte er „das sind die Grundprinzipien für Erfolg.“ Dieser
Satz hatte sich bei Anthony eingebrannt, sodass er ihn wahrscheinlich in geschwungenen Lettern an die Wand im Eingangsbereich seines Hauses geschrieben hätte, wenn ihm dies nicht viel zu kitschig und sentimental gewesen wäre. Nach diesem Leitsatz hatte Anthony sein Leben aufgebaut, auch jetzt noch, 32 Jahre nach seinem siebten Geburtstag und zehn Jahre nach dem Tod seines Vaters. Er war erfolgreich in seinem Beruf und bei den Frauen, hatte sein Haus elegant und modern einrichten lassen und wenn Martha, seine Putzfrau, dreimal die Woche kam, fand sie stets alles in bester Ordnung und Sauberkeit vor. Sie fragte sich sicherlich manchmal, warum er sie überhaupt angestellt hatte.
Er seufzte, wand seinen Blick vom Spiegel ab, vor dem er gedankenversunken stehengeblieben war, nahm seinen Schlüsselbund aus der Schale aus Edelmetall und ging zur Garage. Unter der Woche nahm er meistens seinen schwarzen SUV, um zur Arbeit zu fahren. Doch heute, an einem Sonntag, an dem die Sonne langsam hinter den Bäumen hervorkam und eine verirrte Libelle über die spiegelglatte Oberfläche seines Swimmingpools schwirrte, entschied er sich für die sportlichere Variante. Eine Stunde später bog er mit seinem silbernen Porsche auf den Parkplatz des Cedars-Sinai Medical Center in Los Angeles ein, in dem er nun schon seit 8 Jahren als Herzchirurg arbeitete. Er hatte unterwegs noch in seinem Lieblingscafé, einem modernen Neubau, einen Zwischenstopp eingelegt, um sich mental auf die nächsten 12 Stunden vorzubereiten und einen Kaffee zu trinken. Schwarz und ohne Zucker, mit Schnickschnack konnte er nichts anfangen.
Als er in den Flur des fünften Stocks trat, sah er Lucía hinter dem Schalter stehen. Die Krankenschwester arbeitete hier bereits seit gut 20 Jahren und er hatte gehofft, dass sie heute während seiner Schicht da sein würde. Sie hatte eine beruhigende Wirkung auf ihn, von der er vor anstrengenden Operationen immer zehrte. „Sie konnten wohl wieder mal nicht schlafen Dr. Taylor?“ Mit einem Zwinkern nahm sie eine blaue Akte aus dem Schrank hinter dem Schalter und reichte sie ihm. Er bedankte sich, verwickelte sie einige Minuten in ein Gespräch, allein um ihre melodische Stimme zu hören und ging anschließend in sein Büro.
Die nächsten 50 Minuten würde er darauf verwenden, die Krankenakte seiner heutigen Patienten durchzugehen und sich mental auf die Operation vorzubereiten, die um 13 Uhr beginnen sollte. Doch auch wenn seine Schicht anstrengend werden würde, er freute sich auf die nächsten 12 Stunden. Er liebte seine Arbeit. Nicht so sehr wegen der Patienten, deren gerettete Leben selbstverständlich ein netter Nebeneffekt waren. Doch was er wirklich liebte, das war die Macht, die er verspürte, wenn er Operationen am offenen Herzen vornahm. Er spürte, wie das Leben eines Menschen unter seinen Händen pulsierte und wie das Adrenalin durch seine
Adern schoss. Er genoss die anerkennenden Blicke der Assistenzärzte, Praktikanten und Krankenschwestern, wenn ihm eine komplizierte Operation gelungen war. In diesen Momenten fühlte er sich unschlagbar und er wusste, er hatte es geschafft. Er hatte sich eine Position erarbeitet, in der ihn andere
um sein Können, seinen Lebensstil und sein Ansehen beneideten.
Als er an diesem Abend gegen 22 Uhr das Krankenhausgebäude verließ, war er müde und aufgeputscht zugleich. Die Operation war zwar gut verlaufen, hatte jedoch deutlich länger gedauert als gedacht. Er schaltete sein Handy ein und blickte auf das Display, das ihm drei verpasste Anrufe anzeigte. Zwei waren von Sarah, sicherlich war sie sauer, weil sie eine Verabredung hatten und er zu spät kam. Der dritte Anruf kam von einer unbekannten Nummer. Er drückte auf den Knopf, um zurückzurufen und ging über den mittlerweile beinahe leeren Parkplatz zu seinem Auto. Die Abendluft war kühl und er bereute, seine Jacke im Büro gelassen zu haben. Gleichzeitig genoss er die frische Luft. Es war Anfang Februar und auch wenn die Temperaturen tagsüber angenehm waren, fielen sie abends deutlich ab. Nach dem vierten Freizeichen hörte er es in der Leitung knacken und eine männliche Stimme meldete sich mit einem krächzenden
„Hallo?“.
Der Mann räusperte sich. Er schien bereits geschlafen zu haben.
„Hallo, guten Abend, hier spricht Anthony Taylor, ich habe einen Anruf von Ihnen erhalten?“, sagte Anthony in geschäftlichem Ton.
Es blieb eine Sekunde lang still. Dann hörte er die Stimme des Mannes erneut und diesmal erkannte er sie. „Hallo Anthony, hier ist Harry, dein Bruder. Ich habe dir meine Nummer vor einem halben Jahr gegeben, als ich sie geändert habe. Du hast scheinbar vergessen, sie einzuspeichern. Wie dem auch sei. Ich wollte dir nur sagen, dass ich am Mittwochabend in Los Angeles landen werde. Sehen wir uns dann am Donnerstag, so um 10 Uhr, wie jedes Jahr?“ Anthony schluckte, dann räusperte er sich, bevor er sprach. „Ja klar, 10 Uhr, wie jedes Jahr“ und weil er nicht so abweisend klingen wollte fügte er hinzu „wir können uns auch um 8 Uhr treffen, in dem Café, das dir so gut gefällt.“ Sein Bruder willigte ein und sie legten auf.
Anthony starrte auf den Bildschirm. Das Gespräch hatte 53 Sekunden gedauert. Nicht, dass sich die Brüder jemals besonders nahegestanden hätten. Aber noch vor einigen Jahren telefonierten sie regelmäßig, mehrmals im Jahr, tauschten sich darüber aus, was in ihrem Leben passierte und was in den kommenden Wochen auf sie zukommen würde. Doch die Abstände der Telefonate hatten sich mit den Jahren vergrößert und dieses Mal waren es die ersten 53 Sekunden, die sie seit einem Jahr miteinander geredet hatten.
Anthony hatte im Dezember nach Philadelphia reisen wollen. Er wollte dort zu einem Kongress, an dem auch andere Spezialisten auf seinem Gebiet anwesend sein würden. Bei der Gelegenheit wollte er Harry besuchen. Einfach mal schauen, wie es seinem Bruder an der Ostküste erging. Doch dann war eine Operation dazwischengekommen und er war nicht zu dem Kongress geflogen und somit auch nicht zu seinem Bruder. Er redete sich ein, dass sein Arbeitspensum einfach zu hoch war, um sich frei zu nehmen und mehrere Tage zu verschwinden. Nicht, weil die Patienten ohne ihn nicht auskommen würden, denn im Krankenhaus gab es haufenweise ausgebildetes Personal und die besten Ärzte. Doch er wollte seine Position nicht gefährden. Am liebsten hätte er jede Operation selbst durchgeführt. Er wollte in die Fußstapfen seines Vaters treten und hasste es gleichzeitig, immer noch mehrmals in der Woche mit ihm verglichen zu werden. Anthony war an seinem Auto angekommen, doch bevor er einstieg, legte er den Kopf in den Nacken und atmete tief durch. Dabei fiel ihm ein kleiner Stern auf, der ganz allein am Himmel stand. Er senkte den Blick auf sein Auto, stieg ein und fuhr nach Beverly Hills. 15 Minuten später war er zu Hause. Er genoss die Zeit in seinem Auto, wenn er von einer anstrengenden Schicht kam und plötzlich ganz allein in einem kleinen Vakuum zu sitzen schien. Die belebten Straßen flogen an ihm vorbei, dann die großen Villen, die sich an die bergige Landschaft schmiegten. Er bog in seine Auffahrt und sah Sarahs Wagen vor der Garage parken. Verdammt, er hatte vergessen, sie anzurufen und ihr zu sagen, dass sie sich lieber gleich in der Bar treffen sollten. Sie hatte bestimmt zwei Stunden auf ihn gewartet.
Sie war grundsätzlich unkompliziert, was wahrscheinlich einer der Gründe war, weshalb sie überhaupt so lange zusammen waren. Doch wenn sie eines hasste, dann ohne Vorwarnung warten zu müssen. Gleichzeitig hatte Anthony keine Lust, sich zu entschuldigen. Das sah er auch eigentlich gar nicht ein. Er hatte sich ja nicht verspätet, weil er noch golfen war. Die Arbeit ging vor, sie war wichtig, wichtiger als irgendein dummes Date. Und außerdem, was hätte sie mit der gewonnenen Zeit gemacht? Noch etwas im Internet geshoppt oder Trash-TV gesehen? Das hatte sie genauso gut von seinem Haus aus machen können, während sie wartete. Er hatte keine Lust sich zu entschuldigen, wusste aber, dass es nötig sein würde, wenn er sich heute Abend noch entspannen wollen würde. Er schloss seine Haustür auf und ging Richtung Bad, um sich zu duschen. Nach einem langen Arbeitstag musste er die Krankenhausluft von seiner Haut bekommen. Auf dem Weg zum Bad kam er am Wohnzimmer vorbei. Er sah Sarah auf dem Sofa sitzen, wo sie in eine ihrer Sendungen vertieft war. Er seufzte und ging auf sie zu „Sorry, dass ich so spät bin, die Operation hat länger gedauert. Ich dusche nur schnell, dann können wir losfahren.“ Er hatte eigentlich keine große Lust mehr, heute auszugehen. Es war spät, er musste am nächsten Morgen wieder früh aus dem Haus und an einem Sonntagabend war sowieso nicht so viel los. Doch wenn er sich schon verspätet hatte, dann würde er Sarah wenigstens den Gefallen tun, mit ihr in die kleine Bar zu gehen, die sie so gerne mochte. Sie war eigentlich nicht sein Typ. Zu bunt, zu verspielt, zu weiblich angehaucht. Es war eine Bar, in die Freundinnen gingen, um zu tratschen und sich zu betrinken. Keine Bar, in der man Männer im Anzug sah, die sich nach dem hart erarbeiteten Feierabend einen Whiskey gönnten.
Sarah hatte ihn selbstverständlich sofort bemerkt. Noch bevor er die Haustür aufschloss, hatte sie das Auto gehört und sich schnell wieder auf das Sofa gesetzt und so getan, als hätte sie dort die letzten Stunden verbracht. Doch sie war keineswegs in die Serie vertieft, die dort über den Bildschirm flimmerte. Sie kannte die dumme Serie nicht einmal. Als Anthony neben sie trat, starrte sie weiter auf den Bildschirm. Sie sah aus den Augenwinkeln, wie er sich neben sie setzte. „Ich weiß, dass du sauer bist, aber wir können doch zur Feier des Tages in deine Lieblingsbar gehen“ machte er einen erneuten Versuch. „Was feiern wir denn?“ fragte sie schnippisch.
Er fuhr sich durch die Haare und stellte sich dieselbe Frage. Dann hellte sich sein Blick auf. „Wir können feiern, dass ich heute wieder ein Leben gerettet habe. Wir stoßen sozusagen auf den neuen Geburtstag der Patientin an.“
Sie war sauer, aber viel mehr noch war sie enttäuscht. Sie wusste nicht genau, was sie eigentlich erwartet hatte. Sie wusste, dass er nicht auf Sentimentales stand. Er war pragmatisch veranlagt, Romantik war absolut nicht sein Ding. Und doch hatte ein Teil von ihr gehofft, dass er dieses Mal anders sein würde. Dabei hatten ihre Freundinnen sie vor ihm gewarnt. Anthony Taylor, der Herzchirurg im Cedar-Sinai-Hospital, war zwar angesehen und wurde von vielen Frauen und Männern umschwirrt, doch er war gleichzeitig auch ein berüchtigter Junggeselle. Sie sah ihn gleichgültig an, „ist schon okay, wir müssen heute nicht mehr ausgehen. Ich bin eh schon müde, morgen habe ich ein Shooting und ich sollte am besten ausgeruht dort erscheinen.“ Sie griff nach ihrem Handy und stand auf. Auf dem Weg zur Haustür drehte sie sich noch einmal um und sagte „Herzlichen Glückwunsch zum ersten Jahrestag“, bevor sie durch die Tür verschwand. Er hörte den Motor ihres Autos aufheulen und anschließend das Knirschen der Kiesel, als sie etwas zu schnell die Auffahrt hinunterfuhr. Dann war es still. Erst jetzt sah er, dass auf dem Tisch vor dem Sofa ein kleines Paket stand. Säuberlich eingepackt in rotes Papier, mit einem weißen Seidenbändchen darum. Er riss das Papier auf und begutachtete das Whiskeyglas, das zu Vorschein kam. Sie hatte es gravieren lassen. Auf der einen Seite des Glases las er seinen Namen in geschwungenen Lettern. Auf der anderen Seite standen die drei Wörter, die sie sich bisher noch nicht gesagt hatten. Ich liebe dich. Er musste schlucken. War es wirklich schon ein Jahr her, seit er Sarah auf der Party eines Freundes kennengelernt und gleich am selben Abend mit nach Hause genommen hatte? Die Zeit war viel zu schnell vergangen und er hatte sich so in die Arbeit vertieft, dass er gar nicht gemerkt hatte, wie nach und nach nicht nur ihre Zahnbürste, sondern auch ihre Unterwäsche, Shampoo Flaschen und allerlei anderer Kram bei ihm eingezogen waren. Wie lange war es her, dass er zum letzten Mal mit einer Frau ein ganzes Jahr zusammen gewesen war? Das musste noch in seinen Zwanzigern gewesen sein und jetzt steuert er rasant auf die vierzig zu. Sarah würde die ganze Woche unterwegs sein. Sie hatte Shootings außerhalb von Los Angeles. Wo genau, daran konnte er sich nicht mehr erinnern. Nun stand er vor einem Dilemma. Er hatte sich zwar nicht an den Jahrestag erinnert, denn in seinen Augen gab es keinen Grund zur Feier, doch er brauchte Sex. Unbedingt, besonders nach ihrem Liebesgeständnis, mit dem er sichtlich überfordert war. Er nahm sein Smartphone aus der Tasche, scrollte in seinen Nachrichten etwas nach unten, bis er den Chat mit Nathalie fand und schrieb ihr eine Nachricht. Dann ging er ins Bad, zog sich aus und stellte sich unter die Dusche. Das „Pling“ seines
Handys, das eine Antwort ankündigte, hörte er nicht mehr. Stattdessen konzentrierte er sich auf das Rauschen des Wassers und auf die tiefen Bässe der Musik, die er angemacht hatte. Er schaltete den Massagestrahl ein, ließ sich die verspannten Nackenmuskeln von dem starken Wasser weichkneten und merkte, wie die Anspannung des Tages, der Leistungsdruck und der Stress von ihm abfielen. Eine ganze Weile stand er so da, er konnte im Nachhinein nicht mehr sagen, wie lange. Mit geschlossenen Augen ließ er das Wasser über seinen Kopf strömen und spürte, wie es auf seinem Weg nach unten über jeden einzelnen seiner Muskeln floss. Dann hörte er, wie die Tür der Dusche aufgemacht wurde, ein kühler Luftzug zog von außen in das Innere der Dusche, die mit Dampfschwaden erfüllt war. Er öffnete die Augen und sah sie vor sich stehen. Sie war schlank und sportlich gebaut, ihre Haut glänzte feucht, als sie zu ihm ins Wasser trat und er wusste augenblicklich, dass er sich freute, sie wiederzusehen. Sie trat auf ihn zu, während er die Augen halb schloss und sich sein Körper bei der Vorfreude auf die Berührung, die gleich folgen würde, anspannte. Sie küssten sich mit der Leidenschaft zweier Menschen, deren Körper sich nach dem anderen sehnten, deren Herzen jedoch nie zusammengehört hatten. Sie wusste genau, wo sie ihn berühren musste und man merkte ihr an, dass sie die Kontrolle genoss, die sie über seinen Körper besaß. Als er sie an sich zog und sich ungeduldig gegen sie presste, öffnete sie ihre Beine und ließ sich von ihm in die Höhe ziehen. Ihre Oberschenkel umschlossen seine Hüften, als er in sie eindrang und mit einem Seufzen signalisierte sie ihm, dass sie ihn ebenso sehr vermisst hatte, wie er sie. Er wusste genau, wie er sie zum Höhepunkt bringen konnte, doch er wollte den Moment hinauszögern. Als er merkte, dass ihre Atemzüge flacher und schneller wurden, hielt er inne, setze sie auf dem Boden ab und drehte sie mit dem Bauch zur Wand. Sie stützte sich an den Fliesen ab, während er erneut in sie eindrang. Gemeinsam fanden sie einen Rhythmus, der sie unentwegt dem Höhepunkt näherbrachte und als sie aufkeuchte, war es auch um ihn geschehen. Sie waren nie offiziell ein Paar gewesen, doch diese Treffen fanden trotzdem regelmäßig statt. Und bisher waren sie immer sehr zufriedenstellend ausgegangen – für beide. Sie waren ein eingespieltes Team, dass trotzdem nie eine langweilige Routine entwickelte. Es handelte sich um eine rein körperliche Beziehung – no strings attached. Doch genau das war es, was beide so genossen. Keine Erwartungen, keine Enttäuschungen, keine Verpflichtungen oder gebrochene Herzen. Sie schliefen in dieser Nacht noch zweimal miteinander. Sie sahen sich zwar nicht besonders häufig, nutzten dafür jedoch jede Sekunde ihres Beisammenseins. Als
Anthony am nächsten Morgen aufwachte, war Nathalie nicht mehr da. Es wunderte ihn nicht, denn sie blieb nie bis zum Morgen und hatte sicher auch einen harten Tag vor sich. Nathalie arbeitete in einer Anwaltskanzlei. Sie sah in ihren engen Kostümen nicht nur umwerfend aus, sondern galt gleichzeitig auch als eine der besten Anwältinnen in Los Angeles. Für eine Beziehung war nie der richtige Zeitpunkt gewesen. Außerdem waren sie sich wahrscheinlich viel zu ähnlich, um zusammenzubleiben. Sie liebte ihre Karriere, hatte sich selbst hochgearbeitet und dachte gar nicht daran, für eine Beziehung Kompromisse einzugehen. Sie genoss ihr Leben, ihre Freiheit und ihren Status. Er konnte es ihr nicht einmal verübeln, denn er verstand sie nur zu gut.
Der Anfang der Woche verlief ruhig. Anthony arbeitete wie gewohnt, machte bei einigen Patienten die Visite und unterhielt sich in den wenigen Pausen, die er hatte, mit Lucía. Er genoss die Ruhe, die ausnahmsweise einmal herrschte, aß in verschiedenen angesagten Restaurants und verbrachte die Abende vor dem Fernseher. Sein Lebensstil schloss faule Abende auf dem Sofa normalerweise aus. Wenn er nicht gerade arbeitete, dann verbrachte er viel Zeit mit Freunden und Bekannten, ging aus oder war auf Partys eingeladen. Umso mehr wusste er die seltenen ruhigen Abende zu schätzen. Mit Sarah hatte er seit dem Vorfall am Sonntagabend kein Wort gewechselt, doch er wusste, dass sie sich schon bald melden würde. Sie schaffte es nie, lange nichts von sich hören zu lassen.
Am Mittwoch wachte er schlecht gelaunt auf. Der Morgen war grau, es würde mit großer Wahrscheinlichkeit noch im Laufe des Vormittags regnen und er wusste in dem Augenblick, in dem er die Augen öffnete, dass es ein beschissener Tag werden würde. Kurz bevor er im Krankenhaus ankam, meldete sich sein Handy mit dem vertrauten „Pling“, das den Eingang einer neuen Nachricht anzeigte. Er parkte auf seinem gewohnten Platz vor dem Krankenhaus und öffnete seine Nachrichten. Sarah hatte sich gemeldet. Sie schrieb, dass sie heute in der Stadt sei und sich gerne mit ihm zum Mittagessen verabreden würde. Er stimmte zu, nannte ihr Ort und Zeit und stieg aus dem Wagen, um ins Krankenhaus zu gehen. Lucía empfing ihn wie jeden Morgen, gab ihm die Krankenakten der Patienten, für die er an diesem Tag zuständig war und verschwand dann wieder hinter ihrem Schalter. Er schaute sich die Krankenakten durch, besuchte die Patienten auf ihren Zimmern und bereitete sich auf die Operationen vor, die diese Woche noch anstanden. Es gab keine besonders schweren Fälle, soweit man das bei Herzoperationen sagen konnte.
Als es 13 Uhr war, zog er seinen Arztkittel aus, streifte die Jacke über, die er heute mitgebracht hatte und musste an der Eingangstür des Krankenhauses feststellen, dass es schüttete. Der Himmel war dunkelgrau und in der Ferne konnte man das tiefe Grollen des Donners hören, das langsam in Richtung Beverly Hills zog. Auf dem Parkplatz hatten sich tiefe Pfützen gebildet und er wunderte sich, dass ihm der Regen vorher nicht aufgefallen war. So sehr konnte man sich doch gar nicht in seine Arbeit vertiefen, dachte er sich. Die Krankenschwester an der Rezeption, eine junge Blondine, die gerade ihre Ausbildung absolviert hatte, rief seinen Namen und reichte ihm einen Regenschirm. Doch auf dem Weg zu seinem Auto wurde er trotzdem klitschnass.
Während er versuchte den Pfützen auszuweichen, zog das Grollen des Donners unaufhörlich näher. Endlich an seinem Auto angekommen, klappte er den Schirm zu und schob sich auf den Sitz. Er hasste es, nass zu werden. Nun würde er nach dem Mittagessen noch kurz nach Hause fahren müssen, um sich neue Klamotten anzuziehen, ehe er wieder ins Krankenhaus fuhr. Los Angeles verwandelte sich in reinstes Chaos, sobald es regnete. Die Abflussrohre konnten die riesigen Wassermengen nicht auffangen und das Wasser sprudelte an verschiedenen Stellen aus den Gullideckeln. Langsam reihte sich Anthony in den stockenden Verkehr ein. Das Restaurant, das er Sarah als Treffpunkt genannt hatte, war zum Glück nicht weit entfernt. Als er ankam, wartete sie schon auf ihn. Sie hatte sich an einen kleinen runden Tisch gesetzt, der sich in eine Ecke des Restaurants schmiegte. Er wunderte sich darüber, denn normalerweise liebte sie es, mitten im Lokal zu sitzen und durch ihre laute Stimme und ihre schillernden Outfits die Aufmerksamkeit der anderen Restaurantbesucher auf sich zu ziehen. Heute sah sie irgendwie anders aus. Ihre Stimmung war gedrückt, was er ihr nach dem Ausgang ihres letzten Treffens nicht verübeln konnte. Als er näherkam, schaute sie kaum auf. Er setzte sich und gab dem Kellner ein Zeichen. Die Begrüßung verlief unterkühlt, doch darauf war er bereits gefasst gewesen. Sie schwiegen beide eine Weile, bis der Kellner das Essen brachte, dann versuchte Anthony, die Konversation irgendwie ins Rollen zu bringen. Doch Sarah würgte ihn ab: „Weißt du,“ sie stockte „ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich habe dich heute Morgen nicht angeschrieben, weil ich mich mit dir vertragen will.“ Sie schwieg eine Sekunde, schien zu überlegen, wie sie fortfahren konnte und atmete dann einmal tief ein uns aus. „Vertragen, das klingt so, als hätten wir uns gestritten. Dabei haben wir uns noch nie gestritten und wir kennen uns über ein Jahr. Der Grund dafür ist aber nicht, dass wir uns so blendend verstehen und es deshalb einfach keinen Grund für Diskussionen gibt. Der Grund ist, dass du so absolut emotionslos bist, dass du nicht den Aufwand betreiben würdest, dich mit mir auseinanderzusetzen.“ Sie atmete erneut tief durch und er sah, dass sie zitterte. „Ich habe dir geschrieben, dass ich dich liebe. Du hast mir nicht nur nicht geantwortet und mich tagelang nicht angerufen, sondern keine Sekunde gezögert, um eine andere Frau zu dir einzuladen, nachdem ich gefahren war.“ Bei ihrem letzten Satz blieb ihm beinahe das Stück Fleisch im Hals stecken, das er gerade herunterschlucken wollte. Er griff nach seinem Drink und trank einen Schluck, der mit großer Wahrscheinlichkeit etwas zu groß war. Es war ihm zwar im Großen und Ganzen egal, was Sarah von ihm hielt. Er hatte nicht einmal versucht, Nathalies Besuch irgendwie zu vertuschen. Trotzdem hasste er es, wenn er auf Fehler unverblümt hingewiesen wurde. Er merkte, wie er rot wurde und Wut stieg in ihm auf. Was bildete sich Sarah eigentlich ein. Sie hatte genau gewusst, auf wen sie sich einließ. Er hatte ihr von Anfang an gesagt, dass ihre Beziehung nicht exklusiv war und trotzdem nahm sie sich das Recht heraus, ihn einfach aus heiterem Himmel mit einem Liebesgeständnis zu konfrontieren. Was hatte sie denn erwartet? Dass er ihre Gefühle erwiderte und ihr ewige Liebe schwor? Er setzte zu einer Antwort auf ihre Anschuldigungen an, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. Mit einer abschätzenden Handbewegung brachte sie ihn zum Schweigen, dann fuhr sie fort: „Ich weiß ich weiß, jetzt wirst du davon anfangen, dass wir nie eine exklusive Beziehung hatten, dass ich kein Recht habe, dich zu beschuldigen, dass wir nie ausgeschlossen haben, mit anderen Menschen zu schlafen und du das immer gesagt hast. Das ändert aber rein gar nichts an der Tatsache, dass du ein Arschloch bist. Ein gefühlskaltes, arrogantes Arschloch. Du gehst mit den Menschen um dich herum um, als würden sie dir gehören. Du liebst es, die Regeln vorzugeben und zu entscheiden, wann wer wie Zeit mit dir verbringen kann. Du bist es gewohnt, dass sich alles um dich dreht und dir die Menschen folgen, als wärst du Jesus höchst persönlich. Etwas für eine andere Person aufzugeben, deine eigenen Interessen auch nur einen einzigen Moment hintenanzustellen, daran denkst du nicht im Traum. Du scherst dich einen Dreck um die Gefühle anderer, aber eins sage ich dir Anthony: Wenn du irgendwann mal auf die Hilfe anderer angewiesen sein wirst, dann wird da niemand für dich sein. All diese Leute, die dich umschwirren, als wären sie Motten und du das strahlende Licht, die werden sich einen Dreck um dich scheren. Schau mich nicht so an, als hätte ich keine Ahnung. In deinen Augen bin ich nur das kleine Model, das Trash-Sendungen im Fernsehen verfolgt und von Daddy alles in den Hintern geschoben bekommt. Aber meine Gefühle für dich waren echt. Ich habe ein Jahr lang alles auf mich genommen, ich habe geglaubt, dass du mir irgendwann etwas von der Zuneigung zurückgeben wirst, wenn ich mich doll genug anstrenge. Aber jetzt reicht es mir.“ Ihre Stimme war langsam aber kontinuierlich lauter geworden, doch jetzt räusperte sie sich, sah ihm in die Augen und schloss mit den Worten „Ich hoffe für dich, dass du niemals auf die Hilfe anderer angewiesen sein wirst.“ Der Bissen in seinem Mund, auf dem er nun schon seit mehreren Minuten herumkaute, war zäh geworden und lag ihm schwer auf der Zunge. Sie wartete nicht auf seine Antwort, sondern schob energisch ihren Stuhl zurück, nahm ihre Handtasche und verschwand. Er hörte, wie ihre Absätze auf dem Holzboden des Restaurants klackerten und wie die Geräusche des Regens zu ihm durchdrangen, als sie durch die Tür verschwand. Doch er stand nicht auf, um ihr nachzulaufen und sie aufzuhalten.
Er drehte sich nicht einmal um.
Anthony kehrte nach dem Vorfall mit Sarah nicht ins Krankenhaus zurück. Er hatte allein in diesem Monat Überstunden für ein ganzes Jahr angesammelt und er wusste, dass er sich nicht mehr auf die Patienten konzentrieren können würde, die an diesem Nachmittag noch anstanden. Also rief er kurz entschlossen Lucía an, entschuldigte sich und überließ die Visiten dem Vertretungsarzt.
Anschließend fuhr er nach Hause, duschte, zog sich um und entschied sich dazu, in eine Bar zu fahren. Es war zwar erst 18 Uhr, als er in der eleganten Bar in Downtown Los Angeles ankam, doch für einen Mittwochabend war viel los. Anthony ging zielstrebig zum Barkeeper
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Text: Wilk und Wilk GbR
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Publication Date: 05-10-2021
ISBN: 978-3-7487-8234-6
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