Cover

Prolog

Ich sah in ihre Augen. In ihre liebevollen, zärtlichen braunen Augen. Ihr Blick beinhaltete so viel Wärme, so viel Liebe.

Und dennoch passte es nicht hierher.

Dennoch zerriss es mir das Herz.

Sie hätte mich anschreien müssen, mir den Teufel auf den Hals hetzen sollen.

Ich hätte es sogar begrüßt, wenn sie auf mich eingeschlagen hätte.

Alles wäre besser gewesen.

Alles – nur das nicht.

Ein leichtes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.

Scharf sog ich die Luft ein, versuchte das Brennen zu unterdrücken, dem Monster, welches tief in mir schlummerte, keine Macht zu geben.

Mein ganzer Körper bebte.

„Ssshhht“, machte sie und ihr Blick wurde noch eine Spur wärmer. „Es wird alles gut, mein Schatz.“

Das nächste, was ich sah, waren leuchtend rote Augen…

The new one

Mit einem spitzen Schrei erwachte ich aus meinem Traum. Schweiß lief mir die Stirn herunter, mein Atem ging schnell und stoßweise und ich brauchte eine Weile, um zu realisieren, wo ich war.

Mein Zimmer wirkte fremder denn je. Vielleicht lag es daran, dass es Nacht war und ich normalerweise einen unbekümmerten Schlaf hatte. Vielleicht lag es daran, dass das hereinfallende Mondlicht die Gegenständige auf eine eigenartige Art und Weise leuchten ließ. Vielleicht lag es aber auch daran, dass das gar nicht mein Zimmer war. Oder zumindest nicht bis vor ein paar Tagen.

Knapp eine Woche war es her, seit ich nach Forks gezogen war, eine Kleinstadt im US-Bundesstaat Washington. Ein Ort, an dem das Wort Regen eine neue Bedeutung bekam. Denn auch jetzt konnte ich hören, wie die Tropfen leise gegen meine Fenster prasselten. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen. Wovon hatte ich eigentlich geträumt? Es war ein Alptraum gewesen, dessen war ich mir sicher. Doch ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern, wovon er gehandelt hatte. Oder wollte ich mich vielleicht auch nicht erinnern?

Ich schluckte, spürte, wie sich mein Hals krampfhaft zusammenzog, trocken, wie er war. Auf meinem Nachttisch stand ein Krug mit kaltem Wasser. Den hatte ich mir in meiner dritten Nacht hierhergestellt und ich war froh, ihn hier stehen zu haben, denn seit ich hierhergezogen war, schlief ich schlecht. Ich konnte mir nicht erklären warum. Alles war so wie immer. Selbst mein Zimmer war genau so eingerichtet, wie in New Orleans. Und dennoch... ich fühlte mich einfach nicht heimisch.

Mit einem kurzen Blick auf die Uhr stellte ich fest, dass ich noch 3 Stunden schlafen konnte, bis es Zeit war aufzustehen. Mit einem leisen Seufzer goss ich mir etwas Wasser in ein Glas, welches ich ebenfalls auf dem Nachttisch zu stehen hatte und trank vier kräftige Schlucke. Meine trockene Kehle begrüßte die kalte und wohltuende Flüssigkeit mit Freude. Danach ließ ich mich wieder in die Kissen zurücksinken und starrte an die Decke. Ich hatte Angst davor einzuschlafen. Würde der Traum wiederkommen? Wenn ja, wie würde er dieses Mal enden? Würde ich es verkraften können?

Ich stemmte meine Hände gegen meine Stirn und atmete einmal tief ein. Der Regen prasselte unabkömmlich gegen mein Fenster. Es war fast, als würde er darauf tanzen. Unter normalen Bedingungen hätte ich es wohltuend gefunden. Unter normalen Bedingungen, wäre es nichts weiter, als eine Melodie, die mich wieder in den Schlaf gebracht hätte. Doch nichts war mehr normal. Das war es seit langem nicht mehr.

Ich seufzte erneut, stieg aus dem Bett und tat etwas, was ich seit Jahren nicht mehr gemacht hatte. Ich ging in das Schlafzimmer meiner Eltern. Die Dielen im Flur waren kalt und ließen mich frösteln, als ich vor ihrer Tür stand. Ich schluckte erneut und wünschte mir, ich hätte den Krug Wasser mitgenommen, doch dafür war es jetzt zu spät und zurückgehen wollte ich auch nicht mehr. Langsam hob ich meinen linken Arm, fasste an den Türgriff und drehte ihn. Es klickte und die Tür schwang automatisch nach innen auf, während mein Blick über das Bett meiner Eltern glitt. Es war leer.

Schwermütig betrat ich das Zimmer und ließ mich schlussendlich auf die weichen Decken fallen. Plötzlich übermannte mich die Müdigkeit mit solch einer Schlagkraft und ich war vollkommen erschöpft. Kurz strich ich über die Bettdecke, die unbenutzt unter mir lag. Und das war sie schon seit Jahren.

 

Was war das? Woher kam dieses Geräusch? War es ein Piepen? Oder eher ein Klingeln? Bildete ich mir das vielleicht auch nur ein? Ich drehte meinen Kopf in die andere Richtung und versuchte es zu ignorieren. Doch es hörte nicht auf. Es war ganz leise. Eher am Rande meiner Wahrnehmung, als dass ich es wirklich hören konnte.

Ich kniff kurz die Augen zusammen, dann öffnete ich sie. Das erste, was ich sah, waren grüne Bäume, die durch den Morgentau in der Sonne glänzten. Ich blinzelte kurz, dann sah ich die Konturen eines Fensters, einen großen Schrank und mehrere Bilder. Ich befand mich im Schlafzimmer meiner Eltern. Die Bettdecke unter mir war total zerwühlt. Ein Zeichen dafür, dass ich mich in der Nacht hin und her geworfen haben musste.

Plötzlich wurde das Piepen lauter und schwoll zu einem durchdringenden Ton an. Verwirrt blickte ich mich um. Es kam aus meinem Zimmer. In der Nacht hatte ich sowohl meine, als auch die Tür meiner Eltern offen gelassen und somit drang nun der Weckruf meines Weckers unverwechselbar an meine Ohren.

Ich seufzte leise, stieg dann auf und ging wieder zurück, nicht ohne jedoch vorher das Bett wieder ordentlich herzurichten und die Tür hinter mir zu verschließen. Ich schaltete den Wecker aus. Es war bereits fünf nach halb sieben. Um acht musste ich in der Schule sein. In der neuen Schule, besser gesagt der Forks-High-School. 358 Schüler. Mit mir wären es dann einer mehr.

Rasch zog ich mir meine Schlafsachen aus und schlüpfte in die Dusche im oberen Badezimmer. Das Wasser war wohlig warm, meine Muskeln schienen sich zu entspannen und all die Anspannungen der ganzen letzten Nächte schienen von mir abzufallen. Es war befreiend. Zum ersten Mal, seit ich hier war, fühlte ich mich irgendwie lebendig. Vielleicht lag es auch daran, dass heute zum ersten Mal seit meiner Ankunft die Sonne schien. Unabkömmlich strahlte sie durch das große milchige Fenster im Bad und hieß mich so auf ihre Weise in Forks Willkommen. Ein Lächeln umspielte meine Lippen. Ich war mir sicher, heute würde ein interessanter und besserer Tag werden. Irgendwie hatte ich das im Gefühl.

Als ich aus der Dusche stieg und mir ein Handtuch umwickelte, um mir die Zähne zu putzen, nahm ich mir die Zeit, mich im Spiegel zu betrachten. Ich hatte ein schmales Gesicht, meine Nase und mein Mund waren optimal aufeinander abgestimmt, dennoch fand ich sie relativ normal und meine langen braunen Haare fielen mir in sanften Locken herunter. Die kristallblauen Augen hatte ich von meiner Mutter.

In meinem Zimmer suchte ich mir die Kleidung für den heutigen Schultag aus. Es war mein erster, sollte ich mir also vielleicht etwas Schickes oder Formelles anziehen? Einige Minuten stand ich vor dem Schrank und betrachtete die Kleidungsstücke, dann zuckte ich mit den Schultern, zog eine einfache blaue Jeans, einen schwarzen Rollkragenpullover und ein grünes T-Shirt mit einem kleinen Pinguin darauf heraus. Im Spiegel betrachtete ich meine Kombination. Also ich fand sie nicht schlecht. Noch schnell meine Tasche gepackt und dann nichts wie los.

In der Küche trank ich kurz eine Tasse Milch, nahm einen Apfel in den Mund und packte mir noch einen weiteren in die Tasche. Wer wusste schon, wie das Essen in der Schule war? Die Schlüssel vom Haken nehmend, zog ich mir meine Jacke an.

„Tschau Mum, Tschau, Dad. Ich wünsche euch einen schönen Tag“, lächelte ich sie an und gab ihnen einen kurzen Kuss auf die kalte Glasoberfläche ihres Fotos. Sie lächelten zurück. Wie jeden Tag.

Einen tiefen Atemzug einnehmend fiel die Tür hinter mir ins Schloss. Es roch nach Moss, Wald und Regen. Und irgendwie gefiel mir dieser Geruch. Eilig lief ich auf meinen Volvo XC60 zu, ließ den Motor an und fuhr von unserem Grundstück. 7:23 Uhr. Na, wenn das nicht pünktlich war.

 

Viel zu früh fuhr ich auf den Parkplatz der Forks-High-School. Außer mir war niemand hier. Naja… so hatte ich immerhin freie Auswahl. Ich stellte meinen Volvo relativ nahe an der Schule ab. Auch wenn ich ein gutes Gefühl hatte, was den heutigen Tag betraf, eine schnelle Fluchtmöglichkeit sollte man am ersten Schultag immer in petto haben.

Ich schaltete den Motor ab, ließ das Radio aber an. Ich war mir nicht sicher, ob außer mir überhaupt schon jemand da war. Man hatte mir gesagt, dass ich mich als erstes im Sekretariat melden sollte. Dort würden sie mir meinen Unterrichtsplan und ein paar weitere Informationen geben. Für mehrere Minuten schloss ich die Augen und ließ mich von der Musik treiben. Fast wäre ich eingeschlafen, hätte mich ein Geräusch an der Frontscheibe nicht aufgeschreckt. Verwirrt blickte ich auf und einen kurzen Augenblick später entfuhr mir ein Seufzer. Es fing doch tatsächlich an zu regnen. Der Tag hatte so gut angefangen. Und ich hatte keinen Schirm bei.

Na, was soll‘s, dachte ich mir und blickte noch einmal auf die Uhr. 7:47 Uhr. Mittlerweile war der Parkplatz auch nicht mehr so leer wie vorher. Fast ein Drittel des gesamten Platzes war mit Autos belegt und zwischendurch sah man ein paar Schüler durch den Regen huschen. Ich vergrub meinen Kopf noch etwas tiefer in den Kragen meines Anoraks, um dem Wasser keine Möglichkeit zu bieten meinen Hals hinabzulaufen, nahm meine Tasche vom Beifahrersitz und stieg aus. Eilig lief ich auf das Sekretariat zu. Ich wusste, wo es war, schließlich war ich schon einmal hier gewesen, um mich hier anzumelden.

Die rothaarige Sekretärin saß wie üblich hinter dem großen Pulk und sie schenkte mir ein Lächeln, welches ich, als ich eintrat, erwiederte. „Ah, Guten Morgen, Miss Lamar. (Kleiner Hinweis, die Betonung lieg auf dem zweiten a… nicht, dass ihr Lama ließt! ^^) Fürchterliches Wetter, nicht wahr?“, fragte sie und strich sie über die Arme, fast so, als wäre sie gerade aus dem Regen gekommen und nicht ich.

Ich zuckte leicht mit den Schultern und lächelte fröhlich. „Ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt.“

Skeptisch hob sie eine Augenbraue, sagte jedoch nichts. Dann legte sie mir mehrere Zettel hin. „Das eine hier, ist Ihr Stundenplan. Dort steht alles drauf, die Räume, in denen Sie Unterricht haben, Ihre zuständigen Lehrer und der Schwerpunkt dieses Semesters.“ Bei diesen Worten blickte sie mich leicht skeptisch durch ihre Brille an und versuchte herauszufinden, ob ich es verstanden hatte. Ich schenkte ihr ein erneutes Lächeln und nickte. Sie fuhr fort. „Der andere Zettel hier…“, sie deutete auf den rechten, „Ist ein Orientierungsplan für unsere Schule. Auf ihm stehen alle Räume, die Sie benötigen und auch die anderen. Als erstes haben Sie Mathematik bei Mr. Cabot. Die Räume für Mathematik finden Sie auf der rechten Seite. Ihrer ist in Block 5, also genau hier.“ Sie zog einen roten Kreis um ein Viereck in dessen Zentrum eine 5 stand. Vermutlich sollte es ein Gebäude symbolisieren.

„Dankeschön“, lächelte ich, nahm die beiden Zettel vom Pult und wollte mich gerade verabschieden, als sie mich zurückhielt. „Einen Moment noch, Miss Lamar. Der Direktor würde Sie vorher noch gerne sehen.“

„Mich?“, fragte ich leicht verwirrt. Sie nickte.

Was wollte der Direktor von mir? Ich war noch nicht einmal eine Stunde auf dieser Schule und schon sollte ich zum Direktor? „Kommen Sie!“ Die Rothaarige winkte mich zu sich heran und führte mich dann, an dem großen Pult vorbei, einen langen Gang entlang, an dessen Ende sich eine Tür befand. Genau in Augenhöhe hing ein Messingschild, auf dem Mr. Brewster – Direktor stand. Die Sekretärin klopfte, öffnete nach einem „Herein“ die Tür und schob mich in das kleine Büro.

„Miss Lamar ist jetzt da“, lächelte sie und verließ dann wieder den Raum. Ich blickte auf und sah in die grauen Augen eines um die 40 oder 50 Jahre alten Mannes, mit grauen Haaren und einem freundlichen Ausdruck auf dem Gesicht. Ich merkte sofort, dass er ein Direktor war, wie er im Bilderbuche stand. Freundlich, zuvorkommend, hilfsbereit, gütig und immer für seine Schüler da. Aber man sah ihm auch an, dass er auch durchgreifen konnte, wenn es von ihm verlangt war.

„Guten Morgen, Mrs. Lamar.“ Er strahlte förmlich, erhob sich von seinem Platz und reichte mir die Hand.

Ich ergriff sie, ebenfalls lächelnd. „Guten Morgen, Mr. Brewster.“

„Setzen Sie sich doch bitte.“ Er deutete auf den freien Sessel, direkt vor seinem Schreibtisch und ich folgte seiner Aufforderung.

„Also, Miss Lamar…“, begann er, nachdem er sich ebenfalls wieder gesetzt hatte. „Sie werden sich vermutlich nicht denken, können warum ich Sie gebeten habe, vor dem Unterricht noch einmal zu mir zu kommen, oder?“ Verwundert schüttelte ich den Kopf. „Sie brauchen keine Angst zu haben“, lächelte er. Die hatte ich auch gar nicht. „Ich werde Ihnen nichts Böses tun. Es ist nur so… ich würde mich gerne einmal mit Ihren Eltern unterhalten.“

Mein Blick blieb gleich. Verwundert und dennoch leicht interessiert. Von außen hatte es den Anschein, als wüsste ich nicht, worauf er hinaus wollte. Innen sah es aber ganz anders aus.

„Nun, ich bewundere Ihr Engagement und Ihre Begeisterung. In meiner ganzen Amtszeit ist mir noch kein Schüler untergekommen, der sich persönlich und allein an dieser Schule hier angemeldet hat. Meistens erledigen das die Eltern.“ Er lachte kurz über irgendetwas, woran er gerade dachte. „Jedenfalls. Ich bin es gewöhnt, sowohl die Schüler als auch deren Eltern zu kennen. Bei Ihnen allerdings kenne ich bislang nur Sie. Es ist nichts, wovor Sie Angst haben müssen, das versichere ich Ihnen. Aber ich würde trotzdem gerne ein kleines Gespräch mit ihnen führen.“

Ich schluckte unbemerkt und lächelte. Mein Puls war normal, mit seiner Bitte hatte er mich nicht überrascht. Ich war mir sicher gewesen, dass er irgendwann auf dieses Gespräch kommen würde. Was sollte ich ihm nur sagen? Die Wahrheit? Aber dann würden so viele Komplikationen entstehen. Es würde nur noch alles verzwickter werden. Lästige Fragen. Und am Ende wurde ich vielleicht sogar gebeten, wieder zu verschwinden. Also nicht die Wahrheit. Das war eh am einfachsten.

Ich nickte. „Kein Problem. Ich sage meinen Eltern Bescheid. Ich weiß nur nicht, ob Sie für ein Treffen Zeit haben werden. Sie sind sehr beschäftigt, wissen Sie. Würde Ihnen auch ein Telefongespräch genügen?“, lächelte ich.

„Oh, natürlich. Es wäre mir zwar lieber, wenn Ihre Eltern mich einmal persönlich besuchen würden, aber wenn Sie beschäftigt sind, ich kann das verstehen. Am Anfang, denke ich, würde ein Gespräch am Telefon genügen.“

„Gut. Ich werde meinen Eltern Bescheid sagen.“ Wir verabschiedeten uns und er geleitete mich noch zur Tür. Ein Glück. Ich war aus der Sache heil raus. Sonst hätte ich vielleicht etwas machen müssen, was mir so gar missfiel.

 

Block 5…. Block 5… wo war denn jetzt nochmal Block 5? Ich lief ein Gebäude entlang – rot, quadratisch und genau so aussehend, wie die drei anderen, die ich davor passiert hatte. Mit einem Seufzer blickte ich auf den Gebäudeplan. Warum mussten eigentlich solche Pläne immer von oben gezeichnet sein? Ich stand ja schließlich nicht über dem Gelände, sondern mittendrin. Und überhaupt, wo war auf dieser Karte eigentlich Norden? Ich drehte die Karte auf die andere Seite. Vielleicht so? Hm… aber dann standen alle Zahlen ja auf dem Kopf. Verwirrend.

Der Unterricht hatte bereits begonnen gehabt, als ich das Büro des Direktors verlassen hatte. Erst zu spät war mir eingefallen, dass ich die Sekretärin nach dem Weg hätte fragen sollen, doch nun hatte ich mich bereits verirrt. Einfach weiterlaufen, dachte ich mir. Irgendwann würde ich schon ankommen. Und tatsächlich. Kaum zwei Minuten später trat ich vor eine Tür, neben der ein eisernes Schild mit der Aufschrift 5 hing. Mit einem resignierten Blick auf die Uhr wusste ich, dass ich schon fast ein Viertel Stunde zu spät war. Na toll, der erste Schultag und ich kam gleich zu spät. Ein perfekter erster Eindruck. Doch jammern half auch nicht weiter.

Schnell packte ich den gebäudeplan und auch die anderen Zettel in meine Tasche, zog noch einmal kurz meine Kleidung zurecht und klopfte dann. Es vergingen ein paar Sekunden, dann hörte ich, wie jemand lautstark „Ja?“, rief. Mit einem Lächeln auf den Lippen öffnete ich die Tür.

Für ein Klassenzimmer war der Raum verhältnismäßig klein. Das lag aber vermutlich daran, dass ich größeres gewöhnt war. Schließlich kam ich aus einer Großstadt, da war die Anzahl der Schüler ja fast 3-mal so groß, wie hier. Doch große weitlaufende Fenster ließen den Anschein erwecken, als könnte man direkt in den Wald spazieren.

Als ich den Raum betrat, blickten ausnahmslos alle Augen in meine Richtung und ein Tuscheln machte die Runde. Immer noch ein Lächeln auf den Lippen, überflog ich kurz die Schüler und wandte mich danach direkt an den Lehrer. „Entschuldigen Sie bitte die Verspätung, Mr. Cabot, aber ich hatte noch ein Gespräch mit dem Direktor. Mein Name ist Amylin Lamar. Ich bin neu hier.“

Sein Blick musterte mich kurz, von oben nach unten und wieder zurück, dann lächelte er leicht. „Ja, ich wurde bereits informiert, dass Sie heute komme würden. Nun, ich heiße Sie herzlich willkommen hier in Forks. Ich hoffe es gefällt Ihnen.“ Sein Lächeln wurde breiter.

Ich nickte. „Gut, dann setzen Sie sich doch bitte dorthin.“ Er wies auf einen freien Tisch, in der letzten Reihe. „Wenn Sie irgendwelche Probleme haben sollten, lassen Sie es mich wissen.“

„Danke“, lächelte ich und folgte seiner Anweisung. Während ich an den Tischen vorbeilief, ruhten alle Blicke auf mir und als ich mich setzte, hatte ausnahmslos jeder seinen Kopf mir zugewannt. Mein Lächeln blieb unverwandt auf meinen Lippen, obwohl ich mich etwas unwohl fühlte. Ich war noch nie im Zentrum des Interesses gewesen.

„So, wenn dann alle mal bitte wieder die Köpfe nach vorne richten würden, könnten wir vielleicht an Ihren miserablen Leistungen arbeiten.“

Ich holte einen Block und Stift aus meiner Tasche und wandte mich dem Gekritzel an der Tafel zu. Zahlen und Buchstaben in den verschiedensten Kombinationen waren dort vorzufinden, doch nichts, was ich nicht hätte identifizieren können. Tatsächlich hatte ich das alles schon einmal gehabt. Mein Blick glitt immer wieder zur Tafel zurück, während ich die Rechnung von der Tafel abschrieb. Vermutlich gehörte sie zu einer Aufgabe aus einem Buch, welches ich mir noch nicht besorgt hatte.

Plötzlich nahm ich eine Bewegung vor mir war und ich blickte auf. Ein Mädchen mit wilden dunklen Locken strahlte mich förmlich an. „Hey, ich bin Jessica Stanley“, flüsterte sie.

„Hi“, antwortete ich und lächelte.

„Sag mal, seit wann bist du denn in Forks?“ Ihr Blick wandte sich kurz zu Mr. Cabot, der gerade etwas an die Tafel schrieb und so mit dem Rücken zu uns stand.

„Seit ungefähr einer Woche.“
Plötzlich huschte eine Person auf den Stuhl neben mir und erschrak mich leicht. Verwundert blickte ich zur Seite und blickte in ein rundes Gesicht welches mich regelrecht anstrahlte. „Hi, ich bin Mike Newton. Eigentlich Michael, aber für meine Freunde bin ich nur Mike.“ Er redete sehr schnell und hielt mir seine Hand entgegen.
Zögernd ergriff ich sie. „Amylin Lamar“, lächelte ich leicht.

„Ich weiß.“ Sein Grinsen wurde breiter, falls das überhaupt noch möglich war. „Hab zugehört, als du reingekommen bist.“

„Sag mal,…“, unterbrach ich ihn, „... bekommst du nicht Ärger, wenn du einfach den Platz wechselst?“

„Ach, iwo“, erwiderte er und dann, ganz plötzlich, hob er seinen rechten Arm. „Mr. Cabot?“, rief er laut, während dieser aufblickte. „Ich dachte, ich setze mich vielleicht zu Amylin. Sie hat ja vielleicht ein paar Probleme den Anschluss zu finden und da dachte ich, ich helfe ihr.“

Verwirrt sah ich ihn an. Wie kam er jetzt darauf, dass ich nicht mitkommen würde? Darüber hatten wir doch gar nicht gesprochen.

Skeptisch hob Mr. Cabot eine Augenbraue. „Damit sie genauso schlecht wird wie Sie?“ Alle lachten und ich sah, wie Mike um die Nase herum leicht rot anlief.

„Naja. Vielleicht kann sie mir ja dann helfen, sollte sie es besser verstehen.“
Mr. Cabot wandte seinen Blick mir zu und ich lächelte. „Tun Sie, was Sie nicht lassen können“, antwortete er und schrieb dann erneut etwas an die Tafel.

„Super!“ Mit einem breiten Grinsen sah er mich wieder an. „Also… hast du das verstanden?“ Mit großen Augen musterte er mich. Und ich konnte nicht anders, als zu lachen.

 

„Also, wie kommt es, dass wir nichts von dir wussten?“

„Wie bitte?“ Ich blickte auf und sah in Mikes blaue Augen. Es war Mittagszeit und er hatte mich nach Englisch wieder vor dem Raum abgeholt. Das machte er schon den ganzen Vormittag. Er brachte mich zu meinen Räumen und holte mich von da auch wieder ab, selbst wenn er ganz woanders Unterricht hatte. Es fühlte sich irgendwie an, als würde ein kleiner Hund neben mir herlaufen. Aufgeweckt, anhänglich… aber auch treu… und irgendwie süß.

„Na, sagen wir es mal so. Normalerweise weiß hier jeder sofort alles. Forks ist ’ne kleine Stadt, wie dir sicher aufgefallen ist. Wenn es etwas Neues gibt, dann macht das sofort die Runde. Nur bei dir irgendwie nicht. Ich gehöre eigentlich zu denjenigen, die als erster Bescheid wissen.“

„Wer’s glaubt.“ Das war Eric, der einen Arm um Angela gelegt hatte und links von Mike lief.

Mike ignorierte ihn. „Wie kommt es also, dass du plötzlich heiteren Himmels hier auftauchst?“

„Ich tauche doch nicht heiteren Himmels hier auf“, erwiderte ich verwundert. „Ich bin doch schon seit einer Woche hier.“

„Und wie kommt es, dass wir erst erfahren, dass es eine neue Schülerin gibt, als du plötzlich den Raum betrittst? Hast du dich etwa die ganze Zeit versteckt?“ Er lachte.

Jessica neben mir, rollte mit den Augen. „Hör ihm einfach nicht zu“, wandte sie sich an mich, dann lächelte sie. „Aber er hat schon recht. Wieso wussten wir nichts von dir?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht.“

„Lass mich raten. Du liebst es im Mittelpunkt zu stehen und hast deswegen den Kontakt zu anderen gemieden.“ Mike zwinkerte mir zu.

„Eigentlich nicht“, antwortete ich tonlos.

„Keine Sorge.“ Er legte plötzlich den Arm um mich. „Wenn wir da rein gehen, dann garantier ich dir, dann wirst du im Mittelpunkt stehen, Babe.“ Sein Grinsen wurde breiter und es schien, als würde er sich eine Spur weiter aufrichten. Dann öffnete er die Tür zur Kantine und ließ mich eintreten.

Nun, was das betraf, da hatte Mike ausnahmsweise recht. Es dauerte nicht lange, bis jeder Anwesende hier mein Auftauchen bemerkt hatte und mich jetzt von oben bis unten musterte. Ich schluckte kurz und lächelte zaghaft, wusste jedoch nicht, wen genau ich ansehen sollte. Bei über 300 Schülern verlor man gut und gerne mal den Überblick.

Plötzlich legte sich wieder ein Arm um meine Schulter und ich blickte in Mikes grinsendes Gesicht, der die schaulustige Meute ignorierte. „Komm, Amy. Wir holen dir was zu essen.“ Somit zog er mich Richtung Essensausgabe und reichte mir ein Tablett.

Amy… jetzt hatte ich schon einen Spitznamen. Obwohl er mir nicht sonderlich gefiel, sagte ich nichts. Das war doch eigentlich ein Zeichen dafür, dass ich jetzt dazugehörte, oder? Interessiert blickte ich mich um. Jessica war dicht hinter mir. Offensichtlich gefiel ihr es nicht, dass Mike immer noch seinen Arm auf meiner Schulter gelegt hatte, denn sie starrte ihn wütend an. Doch befreien konnte ich mich nicht, ohne dabei unhöflich zu wirken. Als ich in Angelas Gesicht blickte, erhielt ich ein aufmunterndes Lächeln, welches ich erwiederte. Wenigstens eine schien meine Situation nachvollziehen zu können.

Mein Blick schweifte über die Vitrinen. Hier gab es alles, was man für ein Mittag brauchte: Nudeln, Pizza, Salat, belegtes Brot, Fleisch, Fisch, Obst. Was sollte ich nur nehmen? Doch noch bevor ich mich für etwas entscheiden konnte, passierte plötzlich etwas sehr seltsames.

Es fühlte sich an, als würde mir jemand gegen den Kopf stoßen. Nicht doll oder grob. Es war eher, als würde man mich mit einem Finger anstupsen. Verwirrt blickte ich hinter mir, doch da war niemand. Die anderen waren längst schon zu ihren Plätzen gegangen, nur Mike wartete noch auf mich.

„Alles in Ordnung?“ Er musste meinen verwirrten Gesichtsausdruck bemerkt haben, denn er kam einen Schritt auf mich zu und sah mich leicht besorgt an.

„Ja, ja“, erwiderte ich und drehte mich noch einmal kurz um. Nichts. Außer mir und Mike stand niemand hier an der Essensausgabe. Komisch, dachte ich mir. Hatte ich mir das etwa nur eingebildet? Vermutlich…

„Hey Amy, willst du denn nichts essen?“ Ich blickte Mike an, der auf mein immer noch leeres Tablett deutete.

„Äh, doch“, erwiderte ich und wandte mich wieder dem Essen zu. Da ich nicht besonders großen Hunger hatte, nahm ich mir nur einen kleinen Salat, ein belegtes Brötchen und einen Orangensaft und folgte dann Mike zu den anderen. Sie alle saßen an einen runden Tisch und unterhielten sich schon lautstark über ihre Erlebnisse vom Wochenende.

Es war irgendwie schön hier zu sitzen. Mein erster Tag und ich hatte schon gleich Freunde gefunden. Forks war wohl doch nicht so übel, wie ich anfangs vermutet hatte. Ein Lachen machte die Runde, als Mike sich mit Soße bekleckerte. Jessica zog ihn damit die ganze Zeit auf.

Ich hatte gerade meinen Salat aufgegessen und nahm einen Schluck meines Saftes, als ich plötzlich erneut das Gefühl hatte, jemand würde mich antippen. Verwirrt hielt ich inne. Und dann endlich realisierte ich, was es war. Es war nicht so, dass mich jemand am Kopf anstupste – jedenfalls nicht von außen. Irgendjemand versuchte konsequent Einblicke auf meine Gedanken zu erhaschen. Anfangs war es noch ganz leicht. Es fühlte sich an, als würde eine kühle Hundeschnauze immer wieder gegen die große Mauer prallen, die ich um meinen Geist gezogen hatte. Schnuppernd und abtasten. In dem Versuch, eine Schwachstelle zu finden. Langsam wurden die Stupser stärker… kräftiger. Unaufhörlich drückte jemand mit aller Macht gegen eine Stelle und versuchte durchzubrechen. Doch das würde ihm nicht gelingen. Niemals.

Verwundert blickte ich mich um. Meine Blicke schweiften über die Tische, blieben hier und da an einzelnen Gesichtern hängen. War es etwa möglich, dass...? Und dann sah ich sie.

 

Sie waren zu fünft. Skulpturen gleich saßen sie an ihrem Tisch und obwohl jeder von ihnen ein Tablett vor sich hatte, aß keiner etwas. Sie hatten blasse Haut. So blass, dass es selbst für eine verregnete Stadt wie Forks außergewöhnlich war. Ihre Gesichtszüge waren alle unterschiedlich und dennoch schien nahezu jeder einzelne perfekt zu sein.

Nur ein Mädchen stach besonders hervor. Sie war nicht wie die anderen, rutschte unruhig auf ihrem Platz hin und her, ihre braunen Haare hingen ihr etwas ins Gesicht und sie blickte glücklich in das Gesicht eines Jungen, der ihr seine komplette Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Sie beide waren die einzigen die sprachen, denn der Rest starrte ohne mit der Wimper zu zucken auf einen Fleck irgendwo im Raum. Ich wusste von Anfang an, wer sie waren… oder besser gesagt, was sie waren.

Ich hätte es mir denken können. Forks war das Fleckchen Erde mit der höchsten Niederschlagsrate. Wenn sie sich irgendwo niederlassen würden, dann vermutlich hier. Nur eines verstand ich nicht… Was hatte das Mädchen bei ihnen zu suchen, das offensichtlich nicht Teil Ihresgleichen war?

„Hey Amy, hörst du überhaupt zu?“

„Wie bitte?“ Ich zog meine Augen von diesen Geschöpfen und wandte meine Konzentration Mike zu. „Was hast du gerade gesagt?“

Mike hatte ein leicht skeptisches Lächeln auf den Lippen und folgte meinem Blick. Als er sah, wen ich betrachtet hatte, wurde seine Miene finster. „Oh“, sagte er nur knapp.

„Ist was?“, fragte Jessica plötzlich und folgte seinem Blick. Im Gegensatz zu Mike, hellte sich ihre Miene amüsierend auf. „Oh, du hast die Cullens bemerkt.“

„Wen?“, fragte ich interessiert und sah sie an.

„Die Cullens. Das sind die Typen da hinten am Tisch. Die hast du doch gerade betrachtet, oder?“ Ich nickte.

„Tse“, machte Mike und wandte sich wieder seinem Essen zu. Offensichtlich war ihm der Appetit vergangen, denn er stocherte noch kurz in seinem Auflauf herum und legte dann die Gabel beiseite. „Du solltest dich von ihnen fern halten“, murmelte er.

„Warum?“ Mein Blick schweifte kurz zu ihnen zurück. Der Druck in meinem Kopf hatte mittlerweile nachgelassen. Wer immer es gewesen war… er hatte schlussendlich aufgegeben.

„Nun ja, sie sind nicht ganz normal.“ Mit seinem rechten Zeigefinger zog er kleine Luftkreise über seiner Stirn.

„Also ich finde sie nett“, wandte Angela ein und lächelte leicht.

„Ja, weil du dich auch von ihnen hast bezirzen lassen“, erwiderte Mike.

„Gar nicht wahr“, verteidigte sie sich und wandte sich an Eric, der Mike wütend musterte.

„Was meinst du mit bezirzen?“, fragte ich, um die Situation etwas zu entschärfen.

Seinen Blick wieder auf mir gerichtet, fuhr Mike fort. „Siehst du das Mädchen dort mit den langen braunen Haaren, die dort zwischen dem Hünen und dem schlaksigen Typen sitzt?“ Naja, schlaksig war er nicht gerade. Er war definitiv trainierter als Mike, doch das sagte ich ihm nicht. Stattdessen nickte ich nur. „Das ist Bella. Sie ist vor etwa mehr als einem Jahr auch hierher nach Forks gezogen. Ihr Vater ist der Polizeichef hier. Naja, jedenfalls war sie anfangs mit uns befreundet, bis dann halt dieser Cullen auftauchte und sie bezirzte. Jetzt hängt sie lieber mit denen ab als mit uns.“ Mike zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, was sie so toll an ihm findet. Er spricht ja kaum ein Wort zu irgendjemand anderem.“

„Erst vor kurzem sind die Cullens weggezogen und haben Bella hier zurückgelassen“, mischte sich Jessica in das Gespräch ein. „Sie war vollkommen fertig. War weder ansprechbar noch zumutbar. Es war, als würde sie gar nicht mehr leben, so als hätte jemand ihre Seele gefressen und nur ihre Hülle wäre noch da.“

„Wie würdest du dich fühlen, wenn dich jemand einfach so verlassen würde?“, hakte Angela nach. Jessica zuckte nur mit der Schulter und starrte betrübt auf ihr Tablett.

„Ich kann es nicht verstehen, warum sie jetzt wieder bei ihnen ist“, schimpfte Mike und unterdrückte einen Schlag auf den Tisch. „Ich meine, er hat sie verletzt, hat sie einfach hier zurückgelassen und ihrem Schicksal überlassen. Und kaum ist er wieder da, da wirft sie sich ihm wieder an den Hals.“

„Du magst sie, nicht wahr?“ Es war raus, bevor ich überhaupt darüber nachgedacht hatte.

Wie vorhin in Mathe, lief seine Nase rot an und er kratzte sich am Kopf. „Naja… mögen… also… wie man’s nimmt… Aber darum geht es doch auch gar nicht. Fakt ist, dass, egal mit wem die Cullens sich abgeben, er danach nicht mehr zurechnungsfähig ist.“

„Ach Mike, da übertreibst du jetzt aber. Bella ist sehr wohl in der Lage, für sich selbst zu entscheiden. Und wenn sie Edward wirklich liebt, dann verzeiht sie ihm, was er ihr angetan hat.“ So etwas hätte ich von Angela jetzt nicht erwartet. Dass sie Bella so in Schutz nahm – erstaunlich. Normalerweise hielt sie sich von Auseinandersetzungen fern… zumindest dachte ich das.

Mike brummte nur irgendetwas, dann plötzlich erhob er sich. „Komm Amy, wir sollten langsam mal los. Was hast du als nächstes?“ Ohne auf meine Antwort zu warten, zog er mich vom Stuhl hoch und Richtung Ausgang.

Verwirrt starrte ich auf seinen Hinterkopf, während ich ihm folgte. Was sollte das denn jetzt? „Äh, warte bitte mal kurz, ich habe meine Tasche vergessen.“

„Beeil dich“, nuschelte er nur und ließ meinen Arm wieder los. Eilig drehte ich mich um und lief ein paar Schritte vorwärts, als ich plötzlich mit jemandem zusammenstieß. Ich taumelte ein paar Schritte rückwärts und blickte dann hoch. Ein großer Junge, ich schätzte ihn auf 1.95m, stand mir gegenüber und starrte mich mit karamellfarbenen Augen verwundert an. Er gehört zu den Cullens, wie Mike vorhin gesagt hatte.

Plötzlich stupste erneut jemand gegen meine innere Mauer und gleichzeitig trat hinter dem großen Jungen eine weitere Person hervor. Ich wandte mich ihm zu und blickte in ein weiteres Augenpaar. Auch diese waren karamellfarben und fast identisch mit denen direkt vor mir. War er es, der es konsequent versuchte, meine Gedanken zu lesen?

Unentwegt sah ich ihn an und auch er löste den Blick nicht von mir. Dann nahm ich am Rande eine weitere Bewegung wahr und ich löste mich von dem Anblick. Neben dem Jungen stand ein Mädchen. Ihr Name war Bella, das hatte zumindest Mike gesagt. Dann musste das hier also Edward sein, denn sie hielt seine Hand fest und er war leicht vor sie getreten, fast so, als würde er jeden Moment darauf warten, sich vor sie stürzen zu müssen, um sie zu retten.

Ein leichtes Lächeln umspielte meine Lippen bei diesem Bild. Edwards Augen verengten sich eine Spur und der Druck in meinem Kopf wurde stärker. Verwirrt sah ich ihn kurz an, dann wandte ich mich wieder der Person zu, in die ich gerannt war. „Entschuldigung“, lächelte ich und blickte auf.

Sein Blick war verzerrt. Seine Augen funkelten und ich spürte, wie sich jede Faser seiner Muskeln anspannte. Er sah aus, als würde er sich gerade bereit zum Sprung machen. Edward griff blitzschnell nach vorne und packte den Großen am Arm. „Emmett“, zischte er so leise, dass ich es kaum verstand. Immer fester wurde der Griff. Hätten wir es hier mit einem normalen Menschen zu tun, dann hätte er ihm sicherlich schon den Arm gebrochen.

Doch Emmett ließ sich nicht besänftigen – keines Falls. Ein leises Knurren kam aus seiner Kehle. Bella wich ein paar Schritte zurück. Ob wegen Edward, der sie mit der anderen Hand zurückgeschoben hatte, oder aus eigener Furcht, ich konnte es nicht so genau sagen.

„Emmett, denk an Carlisle und Esme.“ Zwei weitere Gestalten tauchten nun auf und schienen ebenfalls in dem Versuch, Emmett vor einer Dummheit zu bewahren.

„Nein, Emmet. Nein“ sagte Edward, wie als würde er auf eine Frage antworten. „Hör auf damit!“

Verwundert sah ich ihn wieder an. Also war doch er es gewesen, der so verzweifelt versucht hatte, meine Gedanken zu lesen. Was er damit wohl bezweckte?

„Scheiße“, knurte Emmett plötzlich und ich zuckte zusammen. Er riss sich von den Armen los, die ihn die ganze Zeit festgehalten hatten und stürmte auf mich zu.

Es ging alles ganz schnell. Und dennoch konnte ich eigentlich nicht genau sagen, was passierte. Ich sah nur, wie Emmett mir mit wutverzehrtem Gesicht näher kam. Wie er seine linke Hand hob, bereit zum Zupacken und wie erschrocken Bellas Gesichtsausdruck war. Ich hatte keine Angst. Ich war mir sicher, dass er mir nichts tun würde. Und  selbst wenn...

Doch nichts dergleichen geschah. Das nächste, was ich spürte, war ein Windhauch, der über meine Wangen streifte und Emmett war an mir vorbei gestürmt. Ich hörte noch, wie die Tür ins Schloss fiel, dann war es still.

Abwechselnd blickte ich in die Gesichter der Cullens. Sie schienen erleichtert zu sein, dass nichts Schwerwiegendes passiert war. „Er beruhigt sich wieder“, sagte ein Mädchen, dessen Namen ich nicht kannte. Sie fasste kurz an Edwards Arm und sie sahen sich einen Moment in die Augen, dann nickte er, fast so, als würde er ihr zustimmen. Er nahm Bella bei der Hand, zog sie an mir vorbei und aus der Cafeteria.

„Du musst ihn entschuldigen. Normalerweise gleicht Emmett einem Teddy, doch heute hatte er einfach einen schlechten Tag.“ Sie strahlte mich an. Dann nahm sie den anderen Jungen, der sich bedacht im Hintergrund gehalten hatte am Arm und führte ihn hinaus, stets darauf bedacht, einen Abstand zwischen ihnen und mir einzuhalten.

„Was ist denn mit dem los?“ Entgeistert sah mich Mike an. Ich zuckte nur mit den Schultern, um ihm zu zeigen, dass auch ich keine Ahnung hatte. Die meisten Schüler hatten die Cafeteria bereits verlassen, so waren es nur wenige gewesen, die das Szenario mitbekommen hatten. „So hab ich den ja noch nie erlebt.“ Mike schüttelte den Kopf.

„Amylin, ist alles in Ordnung mit dir?“ Angela stand jetzt vor mir und sah mich besorgt an.
Ich lächelte und nickte. „Ja, mir geht’s gut. Es ist ja nichts passiert.“

„Oh Gott, ich dachte er geht gleich auf dich los.“ Sie stand anscheinend immer noch leicht unter Schock. Eric hatte einen Arm um sie gelegt und versuchte sie zu beruhigen. Neben mir, war er der einzige, der noch einigermaßen ruhig zu sein schien.

Auch Jessica hatte einen entsetzten und erschrockenen Gesichtsausdruck aufgesetzt, als sie mir meine Tasche reichte. „Danke“, lächelte ich, doch sie nickte nur, nicht fähig den Blick von der Tür zu wenden, durch die die Cullens gerade verschwunden waren.

„Ich kann mich nicht erinnern, dass Emmett sich jemals gegenüber einem anderen so verhalten hat. Normalerweise bleiben sie immer unter sich“, flüsterte Angela, die sich langsam zu beruhigen schien.

„Ich hab’s ja gesagt: Die Cullens sind einfach total verrückt.“ Bei diesen Worten legte Mike einen Arm um mich. „Aber keine Angst, Amy. Die werden dir nicht nochmal zu nahe kommen, dass schwöre ich dir – vor allem nicht dieser Emmett.“

Verwundert blickte ich auf. Ich war mir sicher, dass – sollte es jemals zu einer Gegenüberstellung kommen – Mike keine Chance gegen Emmett hätte. Und das nicht nur, weil er zu ihnen gehörte. Ihm schien dieser Gedanke auch gekommen zu sein, denn ich konnte sehen, dass er innerlich hoffte, nie sein Versprechen wahr machen zu müssen. „Lasst uns das ganze jetzt einfach vergessen“, sagte Mike laut und grinste. „Also Amy, was hast du als nächstes?“

Ich kramte in meiner Tasche und holte meinen Stundenplan heraus. Bislang hatte ich mir noch nicht die Mühe gemacht, ihn auswendig zu lernen. „Chemie“, antwortete ich, als ich darauf blickte.

„Cool, dann haben wir ja wieder zusammen Unterricht.“ Mikes Grinsen wurde noch eine Spur breiter. „Und du kannst dich neben mich setzen. Mein sonstiger Partner ist für einige Zeit noch krankgeschrieben.“

Ich lächelte und folgte ihm aus der Cafeteria. In diesem Moment war ich einfach nur glücklich. Es gab Leute, die mich mochten. Es gab Menschen, die sich um mich sorgten. Sie hatten mich akzeptiert und das Gefühl war einfach zu schön. Ab morgen konnte ich dann wohl mein Auto auch etwas weiter weg parken. Eine Flucht brauchte ich jetzt wohl nicht mehr in Aussicht zu stellen.

 

„So, da wären wir.“ Mit diesen Worten riss mich Mike aus den Gedanken. Die anderen hatten sich bereits verabschiedet, außer Mike und mir hatte keiner den Chemiekurs gewählt. Mit einem breiten Grinsen schob er mich in den Raum und trat auf den Lehrer zu. „Hallo, Mr. Wentorf. Das hier ist Amylin Lamar.“ Mike zeigte auf mich. „Sie ist neu hier und ich dachte, vielleicht kann sie die erste Zeit neben mir sitzen. Wie Sie wissen, ist mein Laborpartner für einige Zeit krank.“

Mr. Wentorf musterte mich einen Augenblick, dann nickte er kurz und widmete sich wieder seinen Aufzeichnungen. Sehr gesprächig schien er ja nicht zu sein. Ich folgte Mike zu einem Tisch an der Wand und setzte mich neben ihm. Während ich meine Sachen auspackte, unterhielten wir uns über belangloses Zeug. Wochenende… Forks… die Schule… Er schien sehr daran interessiert zu sein, wie ich lebte.

„Hey, vielleicht kann ich ja mal zu dir kommen? Dann kannst du mir Mathe beibringen, du bist eindeutig besser darin als ich.“ Ich lächelte und zuckte mit den Schultern. „War das ein Ja?“ Sein Grinsen wurde breiter und seine Augen weiteten sich.

Ich zuckte erneut mit den Schultern. „Von mir aus.“

„Klasse“, meinte er fröhlich, doch seine gute Laune hielt nicht lange an. Schlagartig verfinsterte sich seine Miene und er grummelte irgendetwas vor sich hin. Verwundert folgte ich seinem Blick und sah ihn.

Emmett Cullen hatte gerade den Raum betreten und begab sich zu seinem Platz ganz hinten im Raum. Ich bemerkte, wie viele ihm hinterher sahen - die Jungen ehrfurchtsvoll, die Mädchen beeindruckt. Interessiert sah ihm zu, wie er sich auf einen Stuhl niederließ, teilnahmslos seine Sachen auspackte und dann aus dem Fenster starrte.

„Der schon wieder“, hörte ich Mike hinter mir murmeln. „Ich hatte gehofft, er würde nicht mehr auftauchen.“

Verwundert sah ich ihn an. „Er hat hier Unterricht. Warum sollte er nicht kommen?“

„Nachdem, was in der Cafeteria passiert ist, hatte ich gehofft, ihn für einige Zeit nicht zu sehen. Naja, auch egal. Solange er dir nicht in die Quere kommt, soll’s mir Recht sein.“ Er musterte ihn kühl.

Ein leichtes Lächeln stahl sich auf meine Lippen. „Ich dachte, wir wollten den Vorfall vergessen? Außerdem bist du doch da, um mich zu beschützen.“ Den letzten Teil hatte ich eher zum Spaß gesagt. Mike grummelte etwas, konnte aber nicht verhindern, dass er um die Nase herum leicht rot anlief.

Plötzlich spürte ich einen Blick im Nacken. Ich wandte mich um und sah in Emmetts Gesicht, dessen Augen mich zum einen wütend, zum anderen interessiert musterten.

 

 

Emmetts Sicht

 Immer noch leicht zornig betrat ich den Chemieraum. Lange war es her, dass ich die Beherrschung verloren hatte und dennoch konnte ich mich noch gut daran erinnern, wie es war. Die vor Schrecken geweiteten Augen… Das warme Blut, das mir in den Mund gelaufen war… Nichts im Vergleich zu einem Grizzly…

Wütend über mich selbst, schüttelte ich den Kopf. Ich sollte nicht daran denken, das war Vergangenheit. Zwei Mal schon hatte ich Schwäche gezeigt. Zwei Mal schon hatte ich nicht widerstehen können und zwei unschuldige Menschen getötet. Und obwohl es so gut geschmeckt hatte, konnte ich nicht umhin, mich im Nachhinein einfach nur miserabel zu fühlen.

Carlisle, Esme, Alice, Jasper, Ed… sie alle hatten mir verziehen, mir nie einen Vorwurf gemacht. Ich konnte mich noch genau daran erinnern, wie es war, als ich nach Hause gekommen war. Natürlich hatten sie Bescheid gewusst, schließlich hatten meine kleine Schwester und mein Bruder nicht umsonst diese Gaben. Ich hatte mich auf das Schlimmste gefasst gemacht. Doch Esme hatte mich einfach nur in den Arm genommen und gesagt, wie sehr sie mich liebte. Niemand hatte mich verurteilt. Niemand hatte mich böse oder entsetzt angesehen. Sie alle haben mir gezeigt, dass wir weiterhin eine Familie waren. Und ich hatte mir vorgenommen, nie wieder schwach zu sein, nie wieder die Beherrschung zu verlieren. Ich wollte sie alle nie wieder enttäuschen. Doch jetzt…

Mit einem leisen Seufzer, für Menschen nicht hörbar, ließ ich mich auf meinen Platz nieder und blickte aus dem Fenster. Ich konnte mir auch nicht erklären, wie es dazu gekommen war. Es war nicht wie damals. Klar, ihr Geruch war unbeschreiblich. Doch er war noch lange nicht so intensiv und brennend in der Kehle. Und dennoch war da etwas gewesen, das mich für einen kurzen Moment die Kontrolle verlieren ließ.

Was war es gewesen? Waren es ihre blauen Augen? Ihr unschuldiger Blick? Ihre zarte Haut, die ich für einen kurzen Moment, und dennoch lang genug, gespürt hatte? Oder war es einfach diese Wärme, die sie aussprühte? Irgendetwas war anders an ihr. Sie war ein Mensch, das konnte ich mit Sicherheit sagen. Und dennoch war sie anders.

Plötzlich nahm ich eine Stimme war, die ich nur allzu gut kannte. „Der schon wieder. Ich hatte gehofft, er würde nicht mehr auftauchen“, grummelte Mike Newton, Bellas alter Freund. Bei diesem Gedanken stahl sich ein leichtes Lächeln auf meine Lippen. Dieser Waschlappen nahm sich ja einiges heraus, einfach so von oben herab über mich zu sprechen. Wenn der wüsste… Ich musste ihn eigentlich nur böse ankucken, schon würde sich dieser Idiot vor Angst in die Hose machen. Hinter dem Rücken anderer hatte er eine große Klappe, doch wenn es darauf ankam, zog er den Schwanz ein.

„Ich dachte, wir wollten den Vorfall vergessen? Außerdem bist du doch da, um mich zu beschützen“, hörte ich plötzlich eine sanfte Stimme. Ein Lachen unterdrückend, wandte ich mich um. Und blickte in zwei klare blaue Augen. Sofort verfinsterte sich mein Ausdruck. Was hatte sie hier zu suchen?

Erneut drang ihr Duft an meine Nase. Doch obwohl es ein Brennen in meinem Hals verursachte, war es dennoch nicht so stark, als dass ich mich nicht hätte beherrschen können. Und trotzdem wäre ich jetzt am liebsten aufgesprungen und hätte mich über sie gestürzt. Warum nur? Was zog mich so an?

Sie wandte ihren Blick nicht ab, ganz im Gegenteil. Kurz musterte sie mich von oben bis unten, dann sah sie mir wieder direkt in die Augen. Faszination machte sich in mir breit. Ich hatte nur ein paar Menschen getroffen, die solche kristallänlichen blauen Augen hatten. Ihre braunen Haare vielen ihr in leichten Locken die Schulter hinunter. Bei jedem Atemzug hoben und senkten sie sich und wehten somit einen weiteren Hauch ihres Duftes zu mir herüber. Das jedoch reichte schon aus. Ich nahm einen tiefen Atemzug und genoss ihren Geruch, saugte alles von ihr auf. Im nächsten Moment stockte ich. Was zum Geier machte ich da? Ich sog ihren Duft auf? War ich denn von allen guten Geistern verlassen?

Die Schulglocke ertönte und deutete den Unterrichtsbeginn an. Widerwillig wandte ich den Blick ab und versuchte mich auf das Geschehen an der Tafel zu konzentrieren. Doch ich ertappte mich immer wieder dabei, wie mein Blick zu dem faszinierenden Mädchen huschte.

 

 

Amylins Sicht

„Heute beschäftigen wir uns mit der elektrophilen Addition“, begann Mr. Wentorf den Unterricht. Geteiltes Stöhnen drang durch den Raum. „Miss Lamar, versuchen Sie einfach so gut wie möglich aufzupassen. Nach dem Unterricht gebe ich Ihnen einen Überblick über die bereits behandelten Themen, die Sie dann zur nächsten Stunde nacharbeiten müssen. Ich verstehe sowieso nicht, wie man kurz vor den Prüfungen die Schule wechseln kann.“ Den letzten Teil murmelte er eher vor sich hin.

Verwunderung machte sich in mir breit – Verwunderung und zum kleinen Teil auch Empörung. Wie kam er darauf, dass ich dem Unterricht nicht folgen konnte? Elektrophile Addition… das hatte ich schon im letzten Semester. Und wenn die Klasse nach dem Inhaltsverzeichnis des Lehrbuches vorgegangen war, dann hing sie aber weit hinterher. Doch von all dem sagte ich nichts. Schließlich wollte ich es mir nicht gleich am ersten Schultag mit meinem Lehrer für Chemie verscherzen. So nickte ich nur.

„In der letzten Stunde hatten wir bereits die radikalische Substitution durchgenommen. Kann mir einer von Ihnen vielleicht noch einmal kurz erklären, worum es sich dabei handelt?“ Stille. Keiner schien auch nur den Hauch einer Ahnung zu haben. Mr. Wentorf behielt seinen kühlen Gesichtsausdruck bei, doch ich merkte, dass er innerlich langsam wütend wurde. „Keiner?“, fragte er gedehnt.

Ich schmunzelte leicht und hob die Hand. Unverzüglich schoss eine seiner Augenbraue in die Höhe und er musterte mich fragwürdig. „Ja, Miss Lamar?“

„Die radikalische Substitution ist ein Reaktionsmechanismus, bei dem Alkane und Halogene miteinander reagieren. Das bekannteste Beispiel ist die Chlorierung von Methan, bei der Wasserstoffatome des Methanmoleküls durch Chloratome ersetzt werden“, lächelte ich. Erneute Stille. Ich merkte, wie Mike mich von rechts mit offenem Mund musterte. Langsam wandte ich meine Aufmerksamkeit ihm zu. „Was?“, fragte ich verwirrt. Hatte ich etwas Falsches gesagt?

„Hm“, machte Mr. Wentorf. „Diejenigen, die mit Abwesenheit glänzen, scheinen in meinem Unterricht besser aufzupassen, als diejenigen, die anwesend sind. Hatten Sie das schon einmal, Miss Lamar?“

Ich nickte. „Ja, im letzten Semester.“ Was meinte er denn jetzt mit Abwesenheit? Ich war doch heute den ersten Tag hier.

Plötzlich merkte ich einen stechenden Blick im Nacken und sah mich verwundert um. Emmett sah mich an und betrachtete mich auf eine vollkommen andere Art und Weise als vorhin. Nicht wütend und auch nicht interessiert. Eher… belustigt.

„Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, wenn Sie die Anfangszeit bei Mr. Newton sitzen. Er könnte sich eine Scheibe von Ihnen abschneiden. Hoffentlich passt er neben Ihnen besser auf, als neben Mr. Bellingham. Was ich wohl eher bezweifle.“ Mike lief erneut rot an. Mitleidig sah ich ihn an. So schlecht konnte er doch nun auch wieder nicht sein. Und so gut war ich auch nicht. Mein einziger Vorteil war, dass ich das alles schon einmal gehabt habe – mehr nicht. „Schlagt bitte alle das Lehrbuch auf Seite 385 auf und lest das Kapitel über elektrophile Addition. Am Ende der Stunde sind Sie so auf dem Wissenstand, dass Sie problemlos eine Arbeit darüber schreiben könnten. Fangen Sie an!“

Leises Gemurmel lag in der Luft, als jeder die besagte Seite aufschlug. Auch wenn ich den Stoff bereits beherrschte, tat ich es ihnen gleich. Ich hatte wirklich keine Lust noch mehr Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.

Erneut spürte ich einen Blick im Nacken, doch als ich mich umsah, war da nichts. Nur Emmett, der jetzt wieder gelangweilt aus dem Fenster sah. Verwundert musterte ich ihn. Sein blaues T-Shirt lag eng an seinem Körper und ließ so jeden seiner Muskeln deutlich sichtbar werden. Er hatte einen seiner Beine lässig auf das andere gelegt und seine Arme vor der Brust verschränkt. Warum las er nicht? Konnte er den Stoff auch bereits? Wundern würde es mich nicht, immerhin war er älter, als er aussah.

Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen bei der Ironie dieser Gedanken. Wie alt er wohl war? 50… 100… 200? Vielleicht sogar noch älter? Leicht biss ich mir auf die Lippen und grübelte nach. Was wollten sie hier? Zu groß war doch das Risiko, dass man hinter das Geheimnis kam, vor allem in so einer kleinen Stadt wie Forks, wo Neuigkeiten in bahnbrechender Geschwindigkeit die Runde machten.

Emmett musste wohl bemerkt haben, dass ich ihn musterte, denn er wandte mir plötzlich seinen Kopf zu. Unfähig den Blick zu senken, sahen wir uns an. Ich blickte in seine Augen. Sie hatten die Farbe wie flüssiges Karamell – ganz anders, als die, dich ich kannte. Rot… normalerweise waren sie doch rot. Das verwunderte mich.

Minuten verstrichen, in denen keiner etwas tat; weder den Blick abwandte, noch irgendeine andere Regung von sich gab. Dann, ganz plötzlich, grinste er. Meine Augen weiteten sich leicht und ich sah ihn verwirrt an. Was sollte das denn jetzt? Doch mit einem Male änderte sich sein Ausdruck schlagartig und er funkelte mich an.

„Amy?“, fragte Mike hinter mir und brachte mich in die Realität zurück.

„Ja?“ Ich löste den Blick von Emmett und drehte mich um.

„Warum starrst du Cullen so an?“ Sein Gesichtsausdruck beinhaltete viele Gefühle. Wut… Skepsis… Trauer… Verwirrtheit… Entsetzen… und noch ein paar weitere.

Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“ Ehrlich gesagt, wusste ich es wirklich nicht. Warum hatte ich den Blick nicht senken können? Warum hatte er den Blick nicht gesenkt? Was hat mich und anscheinend auch ihn, so fasziniert? Vielleicht lag es an seinen Augen. An diesen warmen hellen Augen, die so untypisch für jemanden, wie ihn waren. Doch was hatte ihn dann so gefesselt? War es die Belustigung darüber, dass ich vorhin in ihn gerannt war? War es meine Antwort auf Mr. Wentorfs Frage gewesen? Hatte er mich jetzt als Freak abgestempelt? … Oder war es die Tatsache, dass er mich vorhin und jederzeit hätte töten können, wann immer es ihm danach verlangte? Ein kleiner Schauer lief mir über den Nacken und ich widerstand dem Drang, mich erneut zu ihm umzudrehen.

Mike hob eine Augenbraue. „Du hast keine Ahnung? Sag bloß, du stehst auf ihn?“ Leichte Panik schwang in seiner Stimme.

„Wie bitte? Ach so… nein. Das ist es nicht“, antwortete ich und wandte mich dem Buch zu.

„Was dann?“

Ein erneutes Schulterzucken. „Ich weiß es wirklich nicht, Mike. Vielleicht weil er sich vorhin so komisch mir gegenüber verhalten hat?“

„Hm“, machte er nur und starrte wütend zu Emmett. „Er sieht dich immer noch an. Anscheinend hat er was gegen dich, denn sein Blick ist alles andere als freundlich.“

„Ach ja?“ Ich widerstand erneut dem Drang, zu ihm zu sehen. Was hatte ich ihm getan, dass ich solche Blicke verdient hatte?

Einen Augenblick musterte mich Mike, dann heiterte sich seine Stimmung wieder auf. „Mach dir nichts draus. Der ist eh nur irgendein Idiot.“ Ich sah in seine Augen und die Vorstellung, dass eine dem Charme oder Bezirzen der Cullens, wie Mike es nannte, widerstand, schien ihm zu gefallen.

„Wir sollten uns weiter an die Aufgaben machen“, antwortete ich nur lächelnd und wir wandten uns wieder dem Lehrbuch zu.

Fünf Minuten später flüsterte Mike: „Ich versteh das nicht.“ Ein Lachen unterdrückend, machte ich mich an die Aufgabe, ihm den Stoff zu erklären.

 

Meine letzte Stunde an diesem Tag war Sport. Zusammen mit Jessica und Mike lief ich zur Turnhalle. Es hatte mittlerweile aufgehört zu regnen, nur ab und zu nieselte es noch kurz. So kam ich einigermaßen trocken bei den Umkleiden an.

„Bis gleich“, grinste Mike und verschwand zu den Jungen.

Verwirrt blickte ich ihm hinterher. „Wieso denn bis gleich?“

Offensichtlich hatte ich die Frage laut gestellt, denn Jessica antwortete mir: „Na, wir haben doch zusammen Unterricht.“

„Jungs und Mädchen haben zusammen Sport?“ Nicht, dass ich entsetzt gewesen bin. Ich war einfach nur… überrascht. Schließlich war ich anderes gewohnt.

„Ja“, grinste sie und musterte mich, als würde ich auf dem Mond leben. „Bei euch etwa nicht?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein. In New Orleans hatten wir getrennt Unterricht, das war effizienter. Schließlich mussten bei uns die Jungen und Mädchen unterschiedliche Leistungen erbringen.“

„Naja, im Grunde ist das bei uns eigentlich nicht anders“, erwiderte Jessica und betrat unsere Umkleide. „Jedoch würde es sich bei uns nicht wirklich lohnen den Unterricht zu trennen. Bei ungefähr 350 Schülern?“ Belustigt hob sie ihre Augenbrauen. „Aber keine Angst. Auch wenn wir in einer Turnhalle haben, bleiben die Jungs eher unter sich und wir Mädchen unter uns. Du musst dir also keine Sorgen machen, dass dir vielleicht ein Junge zu nah kommen könnte.“

Ich lächelte. Im Moment war das mein geringstes Problem. Doch ich sagte nichts, sondern folgte Jessicas Beispiel und zog mich um. Knapp zehn Minuten später versammelten wir uns alle in der Sporthalle. Viele der Jungen waren bereits anwesend und machten sich warm, indem sie entweder Dehnübungen ausführten oder Fußball spielten. Zu den letzteren gehörte auch Mike. Er schien uns bemerkt zu haben, denn er grinste plötzlich in unsere Richtung und hob die Hand. Jessica, die rechts neben mir stand, tat das gleiche. Man hätte meinen können, wir würden uns heute erst jetzt das erste Mal sehen.

Mit leichtem Interesse sah ich mich um. Die Sporthalle hier war nichts im Vergleich zu meiner alten; ungefähr nur halb so groß. Der braune Putz kam schon an einigen Stellen von der Wand herunter und man konnte deutlich die schwarzen Spuren der Gummisohlen auf dem Parkett sehen. Über allem lag ein undefinierbarer Geruch. Ich würde ihn vermutlich als typisch für Sporthallen bezeichnen.

Auf einmal ertönte ein lauter Pfiff und ich blickte mich um. Unser Sportlehrer hatte gerade die Halle betreten und winkte uns zu sich. In knappen Sätzen erklärte er uns das Thema unserer heutigen Stunde – Volleyball. Die Jungs würden das linke, die Mädchen das rechte Feld bekommen. Jeder hatte sich zu beteiligen.
Ich hörte ein leises Stöhnen hinter mir und als ich mich umsah, erkannte ich Bella. Unsere Blicke kreuzten sich und ich schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, welches sie nur zögerlich erwiderte. Es war ihr anzusehen, dass sie jetzt gern überall wäre – nur nicht hier. Und als sich heraus stellte, dass sie wirklich spielen musste, wäre sie am liebsten im Erdboden versunken.

„Versuch' dich von Bella fern zu halten“, flüsterte Jessica mir grinsend zu, mit der ich glücklicherweise in einer Mannschaft war.

„Wieso?“, fragte ich verwirrt und sah sie an.

„Sie ist sportlich total unbegabt. Sie schafft es eher den Ball dir an den Hinterkopf zu knallen, anstatt ihn nur einmal über das Netz zu kriegen.“ Sie kicherte.

Ich ignorierte ihre Aussage und konzentrierte mich auf die Spielerin mir gegenüber. Was Jessica über Bella gesagt hatte, fand ich weder nett, noch passend, denn auch sie befand sich in unserem Team. Nicht jeder war in der Lage in allem perfekt zu sein. Ich zu meinem Teil hatte keine Ahnung von Physik, deswegen hatte ich dieses Fach auch abgewählt. Chemie ja – aber kein Physik. Warum sollte es also auch nicht Leute geben, die mit Sport ihre Probleme hatten? War Jessica denn in allen Fächern so viel besser? Doch weiter konnte ich mir nicht mehr den Kopf darüber zerbrechen, denn plötzlich ertönte ein lauter Pfiff und das Team, gegen welches wir spielten, machte den ersten Aufschlag.

Es war anstrengend. Fast genau so anstrengend wie in New Orleans und das sollte schon was heißen. Die Mädchen hier waren verdammt gut; von den Jungs wollte ich gar nicht erst sprechen. Kein Wunder also, dass Bella lieber dem Ball auswich. Ich konnte sie nur zu gut verstehen. Gerade mal zehn Minuten spielte ich und auf meinen Unterarmen bildeten sich schon rote Striemen, die leicht brannten.

Ich hatte Aufschlag. Galant warf ich den Ball nach oben, schlug mit der rechten Hand flach gegen ihn und beförderte ihn so in das gegnerische Spielfeld. Eine große Spielerin mit langen blonden Haaren nahm ihn an, leitete ihn zur Person ans Netz weiter und diese stellte es einer anderen, die hoch sprang und einen Angriff auf unser Feld ausübte – genau auf Bella zu. Entsetzt starrte ich sie an. Spiel hin oder her – das ging eindeutig zu weit. Würde der Ball treffen, dann könnte Bella ernsthaft verletzt werden.

Ohne groß darüber nachzudenken, sprintete ich vor und stellte mich gerade noch rechtzeitig zwischen Bella und dem Ball, um ihn noch einigermaßen annehmen zu können. Dabei wurde mir jedoch die Luft aus meinen Lungen gepresst und ich keuchte kurz auf. Au, das hat weh getan. Nichts im Vergleich zu den letzten zehn Minuten. Ich fasste mir kurz an den Brustkorb und versuchte zu einer gleichmäßigen Atmung zu kommen. Dass wir den Punkt noch bekommen haben, bekam ich schon gar nicht mehr mit.

„Alles in Ordnung?“, fragte Jessica und sah mich teils besorgt, teils entsetzt an.

Ich nickte. „Ja, mir geht’s gut.“ Dann atmete ich noch einmal tief ein und schon war alles wieder normal. Leicht Lächelnd ging ich zurück zu meinem eigentlichen Platz auf dem Spielfeld.

„Danke“, flüsterte jemand. Ich drehte mich um und sah Bella, die zögernd lächelte.

„Nichts zu danken“, erwiderte ich.

 

„Bin wieder da!“, rief ich und schloss die Tür hinter mir. Keiner antwortete. Ich blickte das Foto meiner Eltern, welches auf dem Tisch links neben der Tür stand, lächelnd an und hauchte einen Kuss darauf. „Ich hoffe, ihr hattet einen tollen Tag“, grinste ich. Dann machte ich mich daran, Jacke und Schuhe auszuziehen und warf meine Tasche auf einen der Stühle in der Küche.

Was könnte ich wohl zum Abendessen machen? Gedankenverloren öffnete ich den Kühlschrank und blickte hinein. Spaghetti mit Tomatensoße… Pizza… Salat… Auflauf…? Ich könnte mir auch einfach nur etwas beim Chinesen bestellen. Plötzlich stockte ich. Gab es hier sowas überhaupt? Ich konnte mich nicht erinnern, in einen meiner Stadtbesuche einen Chinesen gesehen zu haben. Hm… dumme Angewohnheit, die ich aus New Orleans mitgebracht hatte.

Mit einem Blick auf die Uhr bemerkte ich, dass es für das Abendessen noch reichlich früh war. Kurz nach halb fünf zeigten mir die Zeiger an. Ich nahm meine Tasche vom Stuhl und kramte meine Schulsachen hervor. Dann ließ ich mich am Tisch nieder und schlug meine Notizen auf. Die meisten Lehrer hatten uns bereits schon heute Unmengen an Hausaufgaben gegeben. Eigentlich kein Problem, doch ich hatte zusätzlich noch einiges an Unterrichtsstoff nachzuholen.

Leider hatte ich nicht das Glück wie in Chemie bereits einen vorgearbeiteten Wissenstand zu haben. In Englisch hatte ich feststellen müssen, dass sie hier komplett andere Werke behandelt haben, das hieß mindestens zwei noch in dieser Woche lesen. In Geschichte nahmen sie gerade ein komplett anderes Jahrhundert durch. Ich wollte gar nicht erst wissen, was mich morgen in Geographie und Biologie erwartete. Vermutlich würde ich die ganze Nacht an den Aufgaben sitzen – wenn das mal reichte.

Bella is coming home

Panisch lief ich durch die Dunkelheit.

Ich wusste nicht, wo ich war. Überall um mich herum standen Bäume, die in den Himmel hinausragten und mir die Sicht versperrten. Ab und zu strauchelte ich, konnte mich aber im letzten Moment noch fangen. Obwohl ich nichts hörte, keinen keuchenden Atem, keine schnellen Schritte, wusste ich dennoch, dass er hinter mir war. Kurz drehte ich mich um, doch das einzige, was ich sah, war tiefschwarze Nacht.

Plötzlich verhing ich mich in einem Strauch. Mit aller Kraft versuchte ich mich durchzukämpfen, riss mir meine Arme und Beine auf und wusste, dass ich es dadurch nur noch schlimmer machte. Blut lief warm meine kalte Haut entlang.

„Ich kann dich riechen“, hörte ich eine tiefe Stimme und erschrak. Sie war näher, als ich vermutet hatte.

Endlich hatte ich mich befreit. Sofort setzten sich meine Beine wieder in Bewegung. Ich wusste nicht wohin, hatte jegliche Orientierung verloren. Lief ich ihm vielleicht sogar entgegen? Doch ich traute mich nicht stehen zu bleiben.

„Du weißt, dass mich dieses Katz und Maus Spiel nur noch mehr erregt.“

Auf einmal verhedderte ich mich an einer Wurzel und fiel mit einem spitzen Schrei. Feuchte Erde traf auf meine Haut, mein Atem ging stoßweise und ein Schmerz machte sich in meinem Knöchel breit. Unweigerlich versuchte ich mich zu befreien, doch es gelang mir nicht. Ich war eingeklemmt.

Ängstlich sah ich mich um. Wo war er? Kam er von rechts? Oder von links? Ich wusste es nicht und die Ungewissheit machte mich fast wahnsinnig. Ein Wimmern drang zwischen meinen Lippen hervor und dann, ganz plötzlich stand er über mir. Ein Grinsen umspielte seine Lippen, was ihm einen noch teuflerischeren Ausdruck verlieh. Ich schluckte schwer, sagte jedoch nichts. Worte waren überflüssig, dessen war ich mir sicher. Nichts und niemanden hätte ihn jetzt davon abhalten können.

„Hab keine Angst, meine Kleine. Ich werde es auch ganz schnell machen. Du wirst kaum was spüren.“ Mit diesen Worten beugte er sich zu mir herunter.

 

Mein Buch rutschte vom Tisch und knallte auf die kalten Küchenfliesen, was mich hochschrecken ließ. Ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, wo ich war. Offensichtlich war ich in der Nacht über meinen Schulsachen eingeschlafen, denn meine ganzen Notizen waren über den Tisch verteilt und unter mir lag das aufgeschlagene Werk von Hamlet.

Ich seufzte leise und stützte meinen Kopf kurz in meine Hände. Mein Rücken war angespannt. Nicht verwunderlich, wenn man bedachte, dass ich mehrere Stunden auf einem harten Stuhl schlafend verbracht hatte. Langsam streckte ich mich und versuchte so die Anspannungen loszuwerden. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich mich beeilen musste. Es war schon kurz nach sieben.

Hastig lief ich die Treppen hoch und stürmte ins Bad. Meine Sachen von gestern entledigte ich mich schnell, warf sie in den Wäschekorb und sprang unter die Dusche. Das warme Wasser hatte eine wohltuende Wirkung und mein schmerzender Rücken beruhigte sich langsam. Nach und nach kamen die Erinnerungen an den Traum zurück.

Ich hatte gehofft, jetzt, da mich der Alltag wieder hatte, würde alles seinen gewohnten Gang gehen. Ich würde alles andere vergessen. Doch ich hatte immer noch keine Kontrolle darüber, wenn ich schlief. Es war schwierig eine Barriere aufrechtzuerhalten, wenn man ins Land der Träume überging. Teilweise verfluchte ich mich schon dafür, dass ich mich nicht genug anstrengte oder im Grunde vielleicht gar nicht vergessen wollte… Doch ich musste. Ich musste all das vergessen. Sonst war es mir nicht möglich alles hinter mir zu lassen und von vorne anzufangen.

Als ich mein Zimmer betrat, kramte ich nur schnell irgendwelche Sachen aus meinem Schrank, zog sie an und klaubte meine Schulsachen zusammen. In der Küche ging dann die Suche nach den Schlüsseln los. Wo verdammt nochmal hatte ich sie gestern hingetan? Auch wenn ich sonst ein sehr gutes Erinnerungsvermögen hatte… Bei Schlüsseln musste ich immer das ganze Haus auseinandernehmen. Ich war mir sicher… wenn es Heinzelmännchen gab… dann machten sie sich offensichtlich einen Spaß daraus, mich zu ärgern.

Vereinzelt warf ich die Kissen von der Couch, bis ich realisierte, dass ich hier gestern gar nicht gewesen war. Also zurück in die Küche… Oder eher im Flur?

„Ihr wisst nicht zufällig, wo ich sie hingetan habe?“ Meine Eltern strahlten mich von ihrem Foto aus an. Und direkt vor dem Rahmen lagen diese unbändigen Biester. „Danke“, lächelte ich und nahm die Schlüssel, küsste noch einmal kurz meine Eltern zum Abschied und schloss hinter mir die Tür zu. Wenn das jetzt jeden Morgen so sein würde... Ich dachte erst gar nicht zu Ende.

 

Trotz der ganzen Hektik, die ich heute Morgen verspürt hatte, kam ich noch rechtzeitig auf dem Schulgelände an. Kaum hatte ich den Wagen zum Stillstand gebracht, da öffnete sich die Fahrertür und Mike grinste mich an. „Morgen, junge Dame.“ Er hielt mir die Tür auf.

„Guten Morgen“, lächelte ich und stieg dankend aus.

„Na, was hast du gestern noch so gemacht?“ Betont lässig lief er neben mir her, die Hände in den Hosentaschen vergraben.

„Hausaufgaben“, nuschelte ich, während ich meinen Autoschlüssel in die Tasche verfrachtete.

„Hausaufgaben?“ Entsetzt sah mich Mike an.

Ich nickte. „Ja. Immerhin muss ich einiges nachholen, beziehungsweise auffrischen. Ihr habt in Englisch zwei Bücher gelesen, die ich nicht kenne und so wie es aussieht sind sie für die Prüfungen wichtig.“

„Ja… aber trotzdem.“ Er grummelte noch irgendwas vor sich hin. Wir traten zu den anderen, die sich amüsiert um einen Van drängelten.

„Hey Amy“, grinste mich ein Junge an, den ich überhaupt nicht kannte. Er hatte braune, kurze Haare und Augen in derselben Farbe. Sein Lächeln war freundlich und aufrichtig. Ich konnte nicht anders, als es zu erwidern.

„Hallo“, sagte ich.

„Oh, entschuldige. Du kennst mich ja noch gar nicht. Ich bin Tyler Crowley. Wir hatten gestern leider noch nicht das Vergnügen.“ Er streckte mir seine Hand entgegen und ich schüttelte sie zaghaft.

„Ich bin Amylin.“

„Ja, das hab ich schon gehört.“ Sein Grinsen wurde breiter. „Aber Amy gefällt mir irgendwie besser.“

Ich nickte, wie zur Bestätigung, dass ich verstanden hatte. Einer Meinung war ich aber nicht mit ihm. Amy… das klang irgendwie nicht ganz nach mir.

„Los, kommt, wir müssen los.“ Jessica riss mich aus meinen Gedanken und zusammen machten wir uns auf den Weg zum Unterricht.

„Sag Amy, wie lange bist du schon in Forks?“ Tyler war zu mir getreten und lief jetzt neben mir her.

„Seit ungefähr einer Woche“, antwortete ich monoton. Ich hatte diesen Satz bereits gestern schon so oft gesagt, dass er mir automatisch rausrutschte.

„Und gefällt’s dir hier?“

Verwundert blickte ich ihn an. Er war bislang der erste, der mich das fragte. Die anderen hatten mehr über sich erzählt, was mir im Grunde wohler war. „Es ist nett.“

„Nett?“ Er hob skeptisch eine Augenbraue.
„Ich weiß nicht, wie ich es anders beschreiben soll“, lächelte ich.

„Was anders beschreiben?“ Mike hatte sich zurückfallen lassen und lief jetzt ebenfalls neben mir her. Ihm schien es nicht zu gefallen, dass Tyler und ich uns alleine unterhielten.

„Wie ich Forks beschreiben soll.“

„Aufregend… super… ereignisreich… traumhaft… sonnig.“ Er grinste breit, was auch meine Mundwinkel dazu veranlasste, nach oben zu wandern.

„Boah, Newton. Siehst du nicht, dass Amy und ich ein ernstes Gespräch führen?“

„Ernstes Gespräch? Seit wann kennst du denn bitteschön die Bedeutung von einem ernsten Gespräch?“, neckte Mike ihn.

Mein Blick glitt zu Jessica und sie rollte mit den Augen. „Jungs“, murmelte sie und zog mich leicht in den Matheraum. Mike folgte uns einige Augenblicke später. Er hatte vermutlich noch eine kleine Auseinandersetzung mit Tyler gehabt, denn als er sich neben mich setzte, glühte sein Kopf leicht rot. „Idiot“, murmelte er.

„Alles in Ordnung?“, fragte ich und blickte von meinen Notizen auf. Er nickte nur.

 

Den ganzen Tag über sah ich keinen von ihnen. Zu beschäftigt war ich mit anderen Dingen, als dass ich sie hätte wahrnehmen können. Auch wenn ich wusste, dass sie in der Cafeteria ein paar Tische entfernt waren. Auch wenn ich die Blicke in meinem Nacken spürte. Und obwohl ich jeden einzelnen Druck wahrnahm, den Edward auf meine innere Mauer ausübte, war ich so anderweitig beschäftigt, dass ich sie schlichtweg vergaß. Erst in Chemie wurde ich wieder mit ihnen konfrontiert. Oder besser gesagt, mit einem von ihnen.

Emmett Cullen betrat nur wenige Augenblicke vor Mike und mir den Raum. Als er mich erblickte, stahl sich kurz ein Grinsen über sein Gesicht, dann wurde seine Gesicht wieder ernst. Ich versuchte es so gut es ging zu ignorieren. In letzter Zeit hatten sie mich zu oft verwirrt. Diese ständigen Gefühlswechsel. Erst will er auf mich losgehen… dann blickt er mich böse an… im nächsten Moment grinst er wieder, nur um dann wieder verstimmt drein zu blicken. Das waren selbst für ein Mädchen zu viele Gefühle auf einmal.

„Heute experimentieren wir“, begann Mr. Wentorf, nachdem die Glocke den Unterricht angekündigt hatte. Mikes Miene hellte sich auf. Es war deutlich zu erkennen, dass dies der interessanteste Teil für ihn war. „Dazu bilden Sie bitte Zweiergruppen. Maximal drei. Jeder von Ihnen bekommt ein Blatt, auf dem die Versuche notiert sind.“ Er ging durch die Gänge und verteilte Blätter. „Zeitgleich zu Ihrem Experiment werden Sie ein Protokoll anfertigen, in dem Sie alles aufschreiben: Geräte, Chemikalien, eine Skizze, Durchführung, Beobachtungen, Auswertung. So, wie Sie es bei mir gelernt haben.“ Bei dem letzten Satz blickte er mich kurz an, verkniff sich jedoch ein Kommentar und ging weiter. „Ich werde am Ende der Stunde einige einsammeln.“ Ein paar Schüler stöhnten. „Nun denn, Mr. Cullen, wo würden Sie gerne arbeiten?“

Die gesamte Klasse blickte nach hinten. Emmett wandte seinen Kopf vom Fenster ab und starrte Mr. Wentorf an. Dann zuckte er mit den Schultern. „Bitte nicht zu uns“, flüsterte Mike hinter mir und ich musste schmunzeln.

„Gib ihm doch wenigstens eine Chance“, erwiderte ich, ebenfalls flüsternd.

Dem soll ich eine Chance geben?“ Er spuckte das Wort förmlich aus, erhob jedoch nicht seine Stimme. „Der wäre der letzte, dem ich irgendwas geben würde.“ Dann faltete er seine Hände wie bei einem Gebet zusammen und murmelte erneut vor sich hin. Leicht lächelnd wandte ich mich wieder der Klasse zu.

„Wenn das so ist… Ich denke, Sie werden das auch alleine hinbekommen“, sagte Mr. Wentorf nur knapp und wandte sich dann wieder an uns alle. „Also los, fangen Sie an!“

Stühle schabten über den Boden, als einige Schüler aufstanden, um Geräte und Chemikalien für das Experiment zu besorgen. Ich wandte mich kurz dem Aufgabenblatt zu und überflog es. Im Grunde war es nicht schwer. Es war ein Experiment zum Thema Elektrophile Addition. Ich wandte mich an Mike. „Willst du das Experiment machen oder ich?“

„Ich mach das schon“, grinste er und zwinkerte mir zu. „Du brauchst dir deine Hände nicht schmutzig machen. Schreib du nur das Protokoll und überlass uns Männern die schweren Aufgaben.“

Skeptisch hob ich eine Augenbraue. Doch anstatt etwas zu erwidern, stand ich nur auf und ging nach vorne zum Lehrerpult. Dort hatte Mr. Wentorf die Chemikalien drapiert. Ich griff gerade nach einem kleinen Fläschchen, auf dessen Etikett Cl stand, als eine zweite Hand genau die gleiche Idee hatte. Eisige Kälte traf auf meine Finger und ich blickte erstaunt auf. Zwei karamellfarbene Augen blickten mich an, obwohl ich mir sicher war, dass sie heute um einen Hauch dunkler waren als gestern.

„Entschuldigung“, lächelte ich.

„Keine Ursache“, grinste er. Wow… er redete.

Einige Augenblicke starrten wir uns an – ich leicht verwirrt, er immer noch breit grinsend. Ich hörte etwas knacken und blickte runter. Emmett hatte die Kante des Tisches fest umklammert und diese schien nun leicht beschädigt zu sein. Verwirrtheit machte sich in mir breit. Warum tat er das? Machte es ihm Spaß, Tische zu demolieren? Oder war es so anstrengend, sich zu einem Lächeln zu bemühen?

Emmett hatte meinen Blick bemerkt und starrte ebenfalls herab. Für kurze Zeit herrschte Schweigen. Dann presste er einen Fluch zwischen seinen Lippen hervor, rauschte an mir vorbei und war im nächsten Moment schon aus dem Klassenzimmer verschwunden. Als ich mich umsah, sah ich nur noch, wie die Tür ins Schloss fiel.
„Miss Lamar? Warum hat Mr. Cullen soeben mein Klassenzimmer verlassen, ohne sich vorher abzumelden?“ Die Stimme meines Chemielehrers drang schrill an mein Ohr.

„Ich weiß nicht, Sir“, antwortete ich immer noch leicht verdutzt.

„Sagen Sie bloß, Sie haben ihn in die Flucht geschlagen. Einen Tag hier und schon werden den Jungen die Köpfe verdreht.“ Er schien sich selbst über seinen Witz zu amüsieren.

Ich jedoch ignorierte seine Aussage, nahm das kleine Fläschchen vom Tisch und begab mich dann wieder zu Mike, der mich mit einem skeptischen Blick musterte. „Jetzt nicht“, antwortete ich nur knapp und setzte mich.

„Ich wollte doch gar nichts sagen“, verteidigte er sich. Nach einigen Momenten des Schweigens breitete sich jedoch ein Grinsen auf seinen Lippen aus und er flüsterte: „Wie schon gesagt... Die Cullens sind schräg.“
Ich unterdrückte ein Seufzen.

 

Verdammt, wo waren denn jetzt nochmal meine Autoschlüssel? Während ich quer über den Parkplatz lief, kramte ich in meiner Tasche. Ich war mir sicher, dass ich ihn hier irgendwo hingesteckt hatte. Am liebsten hätte ich jetzt die verschiedensten Verwünschungen ausgesprochen, doch ich beherrschte mich. Es würde lächerlich aussehen, wenn ich jetzt mitten auf dem Platz einen Anfall bekommen würde.

Vor ein paar Minuten hatte ich mich erst von den anderen verabschiedet. Wir hatten noch kurz unsere Wochenendplanung besprochen – ausnahmslos alle wollten an den Strand von La Push… und das im Oktober. Eric, Mike und Tyler wollten surfen. Ich war mir zu 99% sicher, dass sie danach krank im Bett liegen würden. Ich hatte sie noch versucht umzustimmen, aber nein… Es war beschlossene Sache und entweder kam ich mit oder nicht.

Ach, Gott verdammt, der kann doch nicht einfach Beine gekriegt haben und aus meiner Tasche gehüpft sein. Na also… da war er doch.

„Kann ich mal kurz mit dir sprechen?“, ertönte eine tiefe Stimme hinter mir. Ich erschrak mich dermaßen, dass ich einen Satz nach vorne machte, laut aufschrie und alles, was ich in der Hand hatte, losließ. Zum Glück konnte ich meine Tasche gerade noch festhalten, doch meine Schlüssel landeten auf dem Boden. Besser gesagt in einer kleinen Pfütze. Na toll, dachte ich mir, bückte mich und wollte sie soeben herausfischen, als eine mir bekannte Hand hervorschnellte und dies für mich erledigte.

Ich blickte auf und sah Emmett ins Gesicht. „Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken“, sagte er monoton, konnte sich jedoch ein kleines Grinsen nicht verkneifen.

„Schon in Ordnung“, lächelte ich. Mein Herz hatte sich glücklicherweise wieder beruhigt. „Du wolltest mit mir sprechen?“

„Ja. Es geht um vorhin.“

„Vorhin?“, fragte ich nach und durchstöberte mein Gedächtnis nach Erinnerungen. „Meinst du die Sache in Chemie?“ Er nickte nur. „Was ist damit?“ Interessiert blickte ich ihn an. Über seiner Stirn bildete sich eine kleine Falte und er begann meinen Schlüssel, den er mir noch nicht zurück gegeben hatte, in den Händen hin und her zu drehen.

„Ich wollte mich entschuldigen, dass ich einfach so raus gestürmt bin.“

Belustigt lächelte ich. „Da bist du aber bei der falschen. Ich glaube, du solltest dich eher bei Mr. Wentorf entschuldigen, als…“

„Nein“, unterbrach er mich. Mein Blick wurde wieder verwirrt. Aus diesem Jungen sollte einer schlau werden. „Ich wollte nur sagen, dass das nichts mit dir zu tun hatte. Mir war schon den ganzen Tag nicht so gut und ich musste einfach an die frische Luft.“

„Oh“, entkam es mir. Ihnen konnte es schlecht gehen? Ich dachte sie seien tot. Das einzige Bedürfnis, welches sie hegten, war ihren Durst zu stillen. Hatte er etwa…?

„Ach ja… und das mit der Tischplatte…“

„WARTE, WARTE, WARTE!“, sagte ich plötzlich.

„Was?“ Seine Augen wurden vor Verwunderung größer.

„Könntest du mir bitte vorher meinen Autoschlüssel wiedergeben, bevor du den auch noch kaputt machst? Ich kann ja schließlich schlecht nach Hause fahren, wenn er in der Mitte durchgebrochen ist“, sagte ich leicht belustigt. Während Emmett nämlich nach den richtigen Sätzen gesucht hatte, hatte er durchweg mit den Schlüssel gespielt und dabei erheblichen Druck auf sie ausgeübt.

Emmetts Augen wanderten kurz zu seiner Hand herunter, dann streckte er sie aus und ließ den Schlüssel in meine Hand fallen. „Danke“, lächelte ich und senkte den Blick. Keine Kratzer? Nicht verbogen? Es war noch alles ganz. „Also, was wolltest du eben…“, hob ich wieder den Kopf, doch Emmett war bereits verschwunden.

Verwirrt blickte ich mich auf dem gesamten Parkplatz um, doch außer ein paar Trödler, die langsam zu ihren Wagen gingen, war niemand zu sehen. Ich zuckte nur mit den Schultern und lief dann eilig den restlichen Weg zu meinem Wagen.

 

Es war Freitag und zusammen mit meinen neuen Freunden betrat ich die Cafeteria. Die restliche Woche war genau so verlaufen, wie sie angefangen hatte. Ich hatte es sogar geschafft, den Stoff nachzuholen und konnte so mit einem guten Gefühl aus dem Englischtest rausgehen. Einen Unterschied gab es allerdings. Am Mittwoch war zum ersten Mal, seit ich in Forks war, die Sonne längerfristig herausgekommen. Offensichtlich hatte sie den Kampf gegen die riesigen Massen an Regen und Wolken gewonnen, was meine Laune nur noch mehr hob. Auch wenn ich weder etwas gegen Kälte, noch gegen Nässe hatte, so waren mir doch warme Sonnenstrahlen lieber, die meine Haut kitzelten. Ich bekam ein kleines bisschen das Gefühl der Heimat, schließlich war das Wetter in New Orleans um einiges besser gewesen.

Jeder Schüler hier schien die Abwechslung zu genießen, vor allem Mike, Jessica, Tyler, Eric und Angela. Immerhin wollten sie am Wochenende zum Strand und was könnte es besseres geben als Sonnenschein zum Surfen? Die einzige, die sich anscheinend nicht über das gute Wetter freute, war Bella – und das war verständlich. Denn sie waren nicht da.

Jessica hatte mir erzählt, dass Dr. Cullen – ihr Vater – sie immer bei gutem Wetter aus der Schule nahm und mit ihnen wandern ging. Ich bezweifelte jedoch, dass sie das Haus verließen. Immerhin wäre es fatal, würde sie jemand bei Sonnenschein sehen. So saß Bella ganz allein an ihrem Stammplatz und starrte verträumt aus dem großen Fenster. Ich war mir sicher, dass sie in Gedanken bei Edward war. Ob sie wusste, was er war? Konnte sie es sich vorstellen?

Wir hatten uns gerade hingesetzt, da begann Mike prompt mit einer Story, die er erst gestern erlebt hatte. In Gedanken versunken musterte ich ihn. Es war ihm anzusehen, dass er eine Schwäche für Bella hatte, immerhin missfiel es ihm, dass sie ihre Zeit lieber mit Edward verbrachte, als mit ihren alten Freunden. Doch jetzt waren sie nicht da und trotzdem saß sie ganz allein, nur ein paar Tische von unserem entfernt. Was war vorgefallen, dass ihre Freunde sie ignorierten? Oder sie zumindest nicht an ihren Tisch ließen? Es konnte doch nicht einzig und allein der Grund sein, dass sie sich verliebt hatte. Was war das für eine Strafe, dass man sich mit jemandem verbunden fühlte?

Ich seufzte kurz und betrachtete sie. Ihr Essen stand immer noch vollkommen unberührt vor ihr auf dem Tisch. >>So<<, dachte ich mir. >>Das ist mir jetzt echt zu bunt.<< Kurzerhand stand ich auf, nahm mein Tablett in die Hand und ging schnurstracks zu ihr rüber. Was für Mike und die anderen galten, musste ja nicht auf mich zutreffen.

Ich blieb kurz vor ihr stehen und blickte sie an. Einen Augenblick lang schien sie nicht realisiert zu haben, dass jemand zu ihr getreten war. Doch dann hob sie den Kopf und sah mich leicht verwirrt an.

„Hi“, lächelte ich freundlich.

„Hi“, antwortete sie.

„Darf ich mich zu dir setzen?“

Ihr Blick glitt kurz an mir vorbei. Offensichtlich sah sie zu den anderen. Dann zuckte sie mit den Schultern und starrte wieder aus dem Fenster. Ich stellte mein Tablett ab und ließ mich direkt ihr gegenüber auf den Stuhl nieder. „Schönes Wetter, nicht wahr?“, fragte ich, während ich mich meinem Mittagessen zuwandte.

Ihr Blick beinhaltete Verwunderung und sie hob skeptisch eine Augenbraue. Einen Augenblick lang sahen wir uns an. Dann, ganz plötzlich, musste ich lachen. „Oh Gott. Das hört sich ja jetzt wie ein schlechter Flirt an. Ich versuche dich in ein Gespräch zu verwickeln und frage dich über das Wetter aus.“

Ein kleines Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, doch man sah ihr auch an, dass meine Ehrlichkeit sie leicht verwirrte. Doch sie sagte nichts.

„Wenn du Edward so sehr vermisst, warum bist du dann nicht bei ihm?“

Ihre Augen weiteten sich leicht. „Woher willst du wissen, dass ich ihn vermisse?“

Ich lächelte wieder. „Ich sehe es an deiner Haltung. Ich sehe es daran, dass du nichts isst. Vor allem aber sehe ich es in deinen Augen und dem verträumten Blick, den du trägst, wenn du aus dem Fenster starrst. Dann wünschst du dir nichts sehnlicher, als bei ihm zu sein.“

Sie errötete leicht. Es war ihr unangenehm, dass jemand fast vollkommen fremdes, ihre Gefühle so einfach erraten hatte.

„Wenn du nicht willst, musst du nicht antworten. Ich weiß, es geht mich im Grunde nichts an, immerhin kennen wir uns nicht wirklich. Aber…“, ich machte eine kleine Pause, dann fuhr ich fort. „Mir gefällt es nicht, dass du hier ganz alleine sitzt. Das würde Edward bestimmt auch nicht wollen.“

Für einen kurzen Augenblick sah sie wieder aus dem Fenster. Dann antwortete sie: „Sie sind wandern. Edward und sein Familie. Das machen sie immer, wenn es schönes Wetter ist.“

„Ich weiß“, lächelte ich. „Jessica hat mir davon erzählt.“

Sie nickte. „Ich bin kein wirklich geschickter Mensch.“ Verwirrt sah ich sie an. Als sie meinen Blick sah, lächelte sie leicht. „Naja, um es genau zu sagen, ich bin sehr tollpatschig. Es muss nur ein klitzekleiner Stein auf dem Weg liegen. Glaube mir, ich finde ihn und stolper auch noch darüber.“

Ich lachte kurz und auch sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Also befürchtet Edward, dass du über jede Wurzel stolperst, die auf deinem Weg liegt?“

„So in der Art.“ Ihr Lachen war ehrlich. Und es stand ihr so viel besser, als diese ernste Miene. „Was denkst du über Emmett?“

Mit ihrer Frage brachte sie mich kurze Zeit aus dem Konzept. Was für ein komischer Themenwechsel… Erwartungsvoll sah sie mich an. Unser beider Mittagessen war mittlerweile vergessen. Ich überlegte kurz. Was dachte ich über Emmett? So richtig Gedanken darüber hatte ich mir eigentlich noch nicht gemacht.

„Ich weiß, dass er einen schlechten ersten Eindruck gemacht hat“, fügte Bella hinzu.

„Wieso schlecht?“

„Ist er nicht plötzlich aus dem Raum gerannt, als ihr euch gerade unterhalten habt?“

„Naja… unterhalten hatten wir uns nicht. Wir standen nur zufällig zusammen vorne am Lehrerpult. Und er hatte doch auch einen guten Grund dafür, dass er so plötzlich verschwand. Er sagte mir, dass ihm schlecht gewesen sei.“

„Und die Sache am Auto, kurz danach?“

„Ich denke mal, auch dafür hat er einen guten Grund. Wahrscheinlich musste er los.“

Interessiert musterte sie mich. „Du denkst nur an das Gute im Menschen, oder?“

Einen Moment herrschte Stille. Dann antwortete ich. „Natürlich.“ Ein breites Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Sie nickte, erwiderte jedoch nichts. „Warum kommst du nicht mit zum Tisch der anderen?“

Ein Schulterzucken, dann starrte sie wieder aus dem Fenster. „Ich bin nicht erwünscht“, murmelte sie. Fast hätte ich es nicht gehört.

„Wieso?“, fragte ich verwirrt. Ihr Blick schwenkte zu den anderen, die uns die ganze Zeit interessiert musterten. „Sie mögen es nicht, wenn ich mit Edward meine Zeit verbringe“, war ihre Antwort.

„Warum nicht?“

„Vielleicht weil sie anders sind“, schoss es aus ihrem Mund. Dann sah sie mich leicht entgeistert an. Offensichtlich hatte sie ihrer Meinung nach zu viel gesagt.

Ich jedoch ignorierte ihre letzte Aussage. „Aber du kannst doch trotzdem zu uns kommen, wenn Edward und die anderen nicht da sind. Angela wird sich bestimmt freuen. Und Mike und die anderen auch“, lächelte ich.

„Ja, aber..“, fing sie an, doch ich unterbrach sie, indem ich aufstand, sie hochzog und sie zum Tisch der anderen hinterher zog. Unsere Tabletts hatte ich schlichtweg stehen lassen.

„Vertrau mir“, lächelte ich ihr zu. Bella schluckte kurz. „Hey Leute“, lächelte ich in die Runde. „Seht mal, wen ich mitgebracht habe.“

„Bella“, strahlte Mike und sprang sofort auf, um ihr Platz zu machen. Dankend setzte sie sich und er zog einen Stuhl von einem anderen Tisch zu uns heran. „Wie geht es dir?“, fragte Mike sofort.

„Ganz gut“, antwortete sie und lächelte. „Hey, hast du Lust morgen mit zum Strand von La Push zu kommen? Das Wetter soll über das Wochenende noch anhalten. Was meinst du?“ Verlegen blickte sie in die Runde.

„Ach komm schon“, mischte sich Angela ein. „Das wird bestimmt lustig. Wie sonst auch immer.“ Bella lächelte zögernd. Dann nickte sie.

„Super“, meinte Mike und grinste breit. Das gleiche dachte ich auch, nur aus einem anderen Grund. Ich hatte es geschafft, Bella wieder zu integrieren.

Surfing in La Push

„Hey Mädels.“ Ich hatte gerade meinen Wagen neben dem von Mikes geparkt, als wir schon freudig von ihm begrüßt wurden. Es war Samstagnachmittag und wie vorhergesehen war das Wetter einfach herrlich. Die Sonne strahlte unermesslich und der Strand sah einfach einladend aus.

Mit einem fröhlichen Lächeln öffnete ich den Kofferraum und überreichte Jessica und Angela unser Gepäck. „Ich hab es euch doch gesagt“, strahlte Mike und breitete die Arme aus. „Perfektes Wetter zum Surfen. Und du warst erst noch skeptisch, Amy.“

„Warte, bis du merkst, wie kalt das Wasser ist“, antwortete Jessica für mich.

Ich grinste nur und schüttelte leicht den Kopf. Bepackt mit den Boards und Sachen für den Strand, gingen wir die Treppen hinunter und suchten uns einen schönen Platz zum ausruhen. Obwohl die Sonne unermesslich schien, war es dennoch recht kalt und ich zog meine Jacke ein wenig fester um meinen Körper.

„Du bist das Klima hier noch nicht gewöhnt, nicht wahr, Amy?“, grinste Jessica mich an und breitete eine Decke aus.

„Nicht wirklich, nein“, lächelte ich zur Antwort.

„Das kommt mit der Zeit, glaub mir. Bella war auch am Anfang total abgeneigt. Aber jetzt kann sie sich keinen besseren Ort vorstellen, wo sie lieber wäre, stimmt‘s?!“

„Ja“, antwortete sie zögerlich.

„Wobei ich aber glaube, dass das nicht unbedingt am Wetter oder an der Natur liegt.“ Jessica lachte und Bella sah peinlich berührt zur Seite. „Jetzt ist nur noch der gute alte Emmett frei. Vielleicht sollte ich ihn mir schnappen.“

„Das meinst du doch nicht ernst, oder?“, mischte sich nun Angela mit ins Gespräch ein.

„Warum nicht? Er ist groß und stark. Er kann mich auf Händen tragen. Nun gut, er sieht vielleicht nicht so gut wie seine Brüder aus, aber die sind ja alle schon vergeben.“ Bei dem letzten Teil des Satzes grinste sie zu Bella. Diese sah sie nur ungläubig an. „Ach komm, Bella. Das wäre doch lustig. Dann könnten wir zu viert immer was machen.“

Verwirrt betrachtete ich die Szene von außen. War das wirklich ihr ernst?

Bella wandte ihren Blick mir zu und sah mich mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck an. Was wollte sie mir damit sagen? „Das muss Emmett entscheiden“, entgegnete sie dann und wandte sich wieder Jessica zu. Diese zuckte jedoch nur mit der Schulter und legte sich flach auf den Bauch hin. Es sah aus, als wollte sie sich sonnen, was bei ihrer dicken Jacke jedoch schwierig werden würde. Bei dem Gedanken schmunzelte ich.

„Ich dachte, du und Emmett, ihr versteht euch so gut?“, wandte sich Angela plötzlich an mich.

Verwundert sah ich sie an. „Wie kommst du darauf?“

Sie zuckte mit den Schultern und lächelte. „Ich hab gesehen, wie ihr euch letztens auf dem Parkplatz unterhalten habt. Ich glaube, das war Dienstag.“

„Ach so, das meinst du“, erwiderte ich. „Er wollte sich nur bei mir entschuldigen.“

„Wofür?“, nuschelte Jessica in ihren Ärmel, während sie ihren Kopf auf ihrem Arm gelegt hatte.

„Für sein Benehmen in Chemie.“

„Ihr habt zusammen Chemie?“ Jessica setzte sich auf. Ich nickte. „Sitzt du neben ihm?“ Interessiert sah sie mich an.

„Nein, neben Mike“, lächelte ich immer noch.

Ihre linke Augenbraue hob sich skeptisch und ich wusste genau, was in ihr vorging. Mike oder Emmett, weswegen sollte sie mehr auf mich sauer sein. Wen von beiden wollte sie mehr, wenn man einmal davon ausging, dass ihre Aussage vorhin über Emmett ernst gemeint war. „Und was ist vorgefallen?“ Sie hatte ihre perfekte Miene wieder aufgesetzt und lächelte erneut. Auch Angela und Bella musterten mich interessiert.

Verwirrt schluckte ich. Ich kam mir vor wie bei einem Verhör. „Ihm wurde plötzlich schlecht und er ist raus gerannt.“

„Wie raus gerannt?“

„Er hat den Unterricht verlassen.“

„Und warum?“ Langsam zweifelte ich daran, dass mir Jessica ernsthaft zuhörte.

„Weil es ihm schlecht ging. Jedenfalls hat er das gesagt.“

„Und warum entschuldigt er sich dann bei dir?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Er dachte, ich hätte es falsch verstanden. Deswegen hat er mich am Dienstag auf dem Parkplatz angesprochen. Er wollte sich entschuldigen, sollte es den Eindruck erweckt haben, dass er wegen mir raus gerannt sei.“

Jessica konnte sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. Offensichtlich amüsierte sie die Vorstellung. „Und wie kam er darauf?“ Angela warf Jessica einen missbilligenden Blick zu und lächelte dann mich wieder an.

„Ähm… wir standen zusammen vorne am Lehrertisch und wollten Chemikalien für ein Experiment holen. Einen Augenblick später war er auch schon weg.“

„Oh der große, böse Cullen. Verlässt einfach den Unterricht von Mr. Wentorf, ohne vorher etwas zu sagen. Mysteriös, mysteriös“, sagte Jessica mit übertrieben gespielter Stimme und lachte lauthals los. Auch Angela und ich konnten nicht umhin, als kurz zu lachen. Nur Bella schien bei diesen Worten in Gedanken versunken zu sein. „Ach komm schon Bella, das war lustig“, versuchte Jessica sie aufzuziehen. „Sag bloß du verstehst keinen Spaß mehr?“

„Hey Mädels, was los?“ Mike legte sein Board neben unseren Sachen ab und setzte sich zu uns.

„Iiiih, du bist klitschnass“, meckerte Jessica und kassierte einen Schwall Wassertropfen ins Gesicht, als Mike absichtlich seinen Kopf, wie ein Hund, schüttelte.

„Hey Newton. Sag bloß du bist schon aus der Puste?“ Tyler und Eric standen knietief im Wasser und blickten zu uns herüber.

„Nö, ich komm gleich wieder“, grinste er, dann sah er mich an. „Hey Amy, soll ich dir surfen beibringen?“
Ich lachte. „Das meinst du doch nicht ernst?!“

„Doch.“ Sein Grinsen wurde noch eine Spur breiter.

„Das Wasser ist viel zu kalt“, sagte ich immer noch belustigt.

„Ach, nach ‘ner Weile merkt man das gar nicht mehr. Spätestens dann, wenn alles abgefroren ist.“

„Das kann ich mir vorstellen“, erwiderte ich und Mike musste lachen.

„Also, was ist nun?“

Lächelnd schüttelte ich den Kopf. „Ich hab keine Schwimmsachen bei.“

„Was?“, entsetzt sah er mich an. „Wir gehen zum Strand und du hast keine Sachen zum Schwimmen mitgenommen?“

„Weil ich von vornherein wusste, dass ich nicht ins Wasser gehe. Es soll heute noch regnen.“
Sein Blick glitt zum Himmel. „Ich sehe davon nichts.“

„Sie haben es im Wetterbericht angesagt. Habt ihr Schwimmsachen mitgenommen?“, wandte ich mich den anderen zu. Angela und Bella schüttelten den Kopf.

„Ja, ich“, grinste Jessica und stand auf. "Willst du mir surfen beibringen?"

Etwas traurig sah mich Mike einen kurzen Augenblick an, dann nickte er. „Ja, klar.“

 

Doch der Wetterbericht sollte Recht behalten. Kaum war Jessica ein paar Minuten im Wasser, zogen langsam ein paar Wolken vom Meer zu uns herüber und eine halbe Stunde später goss es auch schon wie aus Eimern. Gerade noch rechtzeitig hatten wir es geschafft unsere Sachen einzupacken und zum Wagen zu stürmen. Als ich hinterm Steuer Platz nahm, war ich schon vollkommen durchgeweicht. Na toll, dachte ich, hoffentlich holte ich mir keine Erkältung. Nur Jessica schien das wenig zu stören. Immerhin war sie ja schon von Anfang an nass gewesen.

„So, wen soll ich als erstes absetzen?“, fragte ich in die Runde und verflocht meine nassen Haare zu einem Zopf.

„Mich bitte. Ich wohne am nächsten“, antwortete Jessica und ich nickte.

Von den Jungs konnten wir uns nicht mehr verabschieden, so winkten wir nur kurz, als wir vom Parkplatz fuhren. Die Fahrt dauerte nicht lange. Jessica unterhielt sich die ganze Zeit mit Angela über das Surfen. Diese schien erleichtert zu sein, als wir endlich bei Jessica ankamen.

„Dann bis Montag!“, rief sie noch und war dann auch schon verschwunden.

Ich war gerade wieder auf der Hauptstraße, da durchbrach Angela die Stille. „Ich muss noch Mathe und Englisch machen“, sagte sie und sah mich durch den Rückspiegel an.

„Englisch? Was haben wir denn da auf?“, fragte Bella.

„Wir sollen doch jetzt Romeo und Julia lesen und dann mit Hamlet vergleichen."

Plötzlich klingelte Bellas Handy und sie ging ran. Ihre Miene hellte sich schlagartig auf und ich war mir sicher, wer dran war.

„Hast du es schon gelesen?“, fragte ich Angela, um Bella ein wenig Privatsphäre einzuräumen.

„Angefangen. Ich bin ungefähr bei der Hälfte. Aber es würde mich nicht wundern, wenn Mr. Berty die Notizen einsammelt.“

„Aber er hat doch gerade einen Test geschrieben.“

„Du kennst Mr. Berty nicht“, lachte Angela und ich musste grinsen. Fünf Minuten später hielt ich vor ihrem Haus und wir verabschiedeten uns. Zur gleichen Zeit beendete Bella ihr Telefonat.

Kaum fuhr ich wieder an, rutschte sie nervös auf dem Beifahrerplatz hin und her und starrte aus dem Fenster. „Soll ich dich zu ihm fahren?“, durchbrach ich die Stille. Verwirrt sah sie mich an. „Edward hat doch angerufen, oder?“

„Woher weißt du das?“

Ich zuckte mir den Schultern und lächelte. „Es gibt nur einen, bei dem du so nervös wirst. Jedenfalls, soweit ich weiß.“ Sie schmunzelte. „Also, was ist nun? Soll ich dich zu ihm fahren? Du willst ihn doch bestimmt so schnell wie möglich wiedersehen und es wäre schneller, wenn ich dich zu ihm fahre, als wenn ich dich erst zu Hause absetze.“

Einen kurzen Augenblick schien sie zu überlegen, dann lächelte sie. „Danke, das wäre nett.“

Ich nickte. „Jetzt musst du mir nur noch sagen, wie ich zu ihnen komme.“

Das Haus der Cullens war nicht weit von meinem Zuhause entfernt und dennoch hätte ich es vermutlich nie gefunden, hätte Bella mir nicht den Weg beschrieben. Wir folgten eine Weile einer Straße nach Norden durch den regenverhangenen Wald, bis mir Bella plötzlich anwies, nach rechts abzubiegen. Etwas ungläubig folgte ich ihrer Aufforderung.

 

Die letzten Anzeichen von Zivilisation hatten wir bereits vor zehn Minuten hinter uns gelassen, nun fuhren wir einen unasphaltierten Weg entlang, der zwischen den dichten Bäumen kaum sichtbar war. Skeptisch blickte ich Bella an. „Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“

Sie lächelte und nickte. „So wie du, habe ich anfangs auch gekuckt. Man würde hier nie ein Haus vermuten.“ Und damit hatte sie vollkommen recht. Der Weg, den wir langsam entlangfuhren war schmal und trotz des eingeschalteten Lichtes kaum sichtbar. Die Bäume rings um uns herum standen dicht aneinander und ließen so gut wie kein Tageslicht durch. Hätte ich es nicht besser gewusst, würde ich sagen, es wäre Nacht. Die Tatsache, dass es regnete und somit der Waldboden rutschig wurde, ließ mich nicht gerade aufatmen. So tastete ich mich langsam voran.

„Und, hat es dir heute wenigstens ein bisschen Spaß gemacht?“, fragte ich Bella, die gedankenverloren aus dem Fenster starrte.

„Hm“, machte sie nur. „Ich weiß, Jessica hat sich heute etwas daneben benommen. Aber wem sage ich das, du kennst sie ja besser als ich“, lächelte ich.

Ich bekam keine Antwort. Hatte sie mir überhaupt zugehört? Oder war sie in Gedanken schon wieder bei Edward. Verübeln konnte ich es ihr nicht, immerhin hatte sie ihn 5 Tage lang nicht gesehen. Sie musste ihn wohl von ganzem Herzen lieben…

„Was empfandest du eigentlich, als Jessica darüber redete, sich an Emmett ranzumachen?“

Verwirrt sah ich sie an. „Wie meinst du das?“

„Naja, warst du vielleicht sauer… oder hast du gar nichts empfunden?“

Einen Moment dachte ich nach. „Ich war etwas überrascht. Ich hätte nicht gedacht, dass Emmett ihr Typ wäre. Ich dachte eher, sie steht auf Mike.“

Bella lachte kurz. „Das tut sie im Grunde auch. Aber er nicht wirklich auf sie.“

„Ich weiß.“

„Er hat eher ein Auge auf dich geworfen“, fügte Bella hinzu.

Vollkommen überrascht sah ich sie kurz an. „Auf mich? Ich dachte, er steht auf dich.“

„Das war einmal. Jetzt, wo ich mit Edward meine Zeit verbringe, ist er nicht mehr so gut auf mich zu sprechen.“

„Aber er hat dich ganz begeistert begrüßt, als ich dich mit zu unserem Tisch gebracht habe.“

„Ja, und dir wollte er surfen beibringen“, grinste sie.

„Letztendlich hat er es dann Jessica beigebracht“, schmunzelte ich und Bella lachte kurz auf.

„Nein, jetzt mal Spaß beiseite. Glaubst du wirklich, Jessica hat das mit Emmett ernst gemeint?“

„Warum nicht? Sie hat doch anscheinend Interesse gezeigt.“

„Und wenn das nicht echt war, sondern nur eine ihrer Launen?“, fragte sie skeptisch.

„Wieso sollte sie so etwas machen?“, fragte ich wieder verwirrt.

Bella antwortete nicht. Erneut sah sie stumm aus dem Fenster. „Und was empfindest du dabei?“

„Ich freu mich für sie, sollte es klappen.“ Ruckartig wandte sie ihren Kopf wieder mir zu und sah mich entgeistert an. „Was?“, fragte ich verwirrt. „Hab ich was Falsches gesagt?“

„Willst du mir sagen, du empfindest für ihn nichts?“

Jetzt war ich noch verwirrter. Wovon handelte dieses Gespräch nochmal? „Was hat das eine jetzt mit dem anderen zu tun?“

„Beantworte einfach meine Frage“, erwiderte sie nur knapp.

Ein Lachen entfuhr mir. „Ich weiß echt nicht, wie du auf so etwas kommst.“ Bella sagte nichts, sondern sah mich stattdessen nur interessiert an. Mein Blick wanderte vom Weg zu ihr und wieder zurück. Mein Lachen stellte sich langsam ein. „Du meinst es ernst?!“ Sie nickte.

Ich sah wieder auf den Weg vor mir und dachte kurz über ihre Frage nach. Ich kannte Emmett nicht. Außer seinem Namen wusste ich nichts über ihn. Außerdem verhielt er sich mir gegenüber merkwürdig. Mal war er freundlich, dann wieder vollkommen ernst.

„Ich… ich weiß es nicht“, antwortete ich ehrlich. Bella sagte nichts. Sie musterte mich noch kurz, dann wandte sie sich wieder um und blickte erneut aus dem Fenster.

Nach einer knappen Viertelstunde lichtete sich endlich der Wald und gab den Blick auf ein dreistöckiges Haus frei. Was auch immer ich erwartet hatte, das war es definitiv nicht gewesen. Das gesamte Anwesen war weiß angestrichen, eine Veranda schlängelte sich um das Erdgeschoss, große Fenster ließen das Haus noch zeitloser erscheinen. Es hätte sowohl aus dem 17., als auch aus dem 21. Jahrhundert stammen können. Vorsichtig hielt ich in einigem Abstand vor dem Haus an.

„Das ist es?“, fragte ich und starrte beeindruckt aus dem Fenster.

„Jepp, das ist es“, antwortete Bella und fischte nach hinten, um ihre Sachen von der Rückbank zu nehmen.

„Wow.“

Bella lachte. „Das war auch das erste, was ich dachte. Also danke für’s Herbringen. Wir sehen uns ja dann Montag.“ Mit diesen Worten öffnete sie die Tür.

„Keine Ursache“, erwiderte ich und lächelte sie an. „Bis Montag.“

Während sie die Beifahrertür wieder zumachte, versuchte sie gleichzeitig sich ihre Tasche schützend über ihren Kopf zu halten, um nicht ganz so nass zu werden. Hastig lief sie zum Haus, wo Edward schon sehnsüchtig in der Tür auf sie wartete. Kurz wandte er mir den Blick zu – eine Spur Skepsis und Verachtung lag in ihm.

Verwirrt legte ich den Rückwärtsgang ein und wendete. Warum verhielten sich die Cullens mir gegenüber so merkwürdig? Erst Emmett, jetzt Edward. War es, weil ich mit Bella unterwegs gewesen bin? Mochte er es nicht, wenn jemand anderes außer ihm Zeit mit ihr verbrachte? Befürchtete er, dass zwischen ihr und Mike etwas gelaufen sei, als wir am Strand waren? Wenn es darum ging, dann könnte er doch einfach in ihren Gedanken lesen und sehen, dass nichts gewesen war. Oder wusste er vielleicht, wer ich war? Zähneknirschend hielt ich und legte den ersten Gang ein. Wenn dem so wäre, dann hätte er mich doch längst darauf angesprochen… Oder?

Ich seufzte und wollte gerade losfahren, als etwas meine Aufmerksamkeit weckte. Im Nachhinein konnte ich nicht genau sagen, was es gewesen war. Ich nahm weder eine Bewegung, noch ein Geräusch wahr. Es war eher eine Art Drang, der mich dazu brachte, meinen Blick zu heben. Und dann sah ich ihn. Er stand am Fenster im ersten Stock und musterte mich. Es war nur ganz kurz, im Bruchteil einer Sekunde, für das menschliche Auge kaum wahrnehmbar. Als ich blinzelte war er auch schon wieder verschwunden.

Kopfschüttelnd fuhr ich los und manövrierte meinen Wagen wieder den Weg, Richtung Hauptstraße, entlang. Aus denen sollte einer schlau werden.

 

 

Emmetts Sicht

 

Ich stand oben am Fenster und blickte zu ihr herunter. Obwohl der Abstand zu ihr so groß war und der Regen noch zusätzlich die Sicht verschlechterte, konnte ich dennoch jedes winzige Detail von ihr wahrnehmen. Ihre kalten blauen Augen, die in einem starken Kontrast zu ihrem freundlichen Ausdruck standen. Ihre perfekten roten Lippen, die sich leicht kräuselten, wenn sie über etwas nachdachte. Die kleinen Grübchen, die sich bildeten, als sie lachte. Ihr Haar, das bei jeder Bewegung kleinste Tänze vollführte. Ihr Geruch, der bei diesem Anblick wieder in mein Gedächtnis gerufen wurde. Sie sah aus, wie ein Engel.

„Sie ist hübsch“, sagte Esme von unten. Ich schnaubte leise. Hübsch? Das war gar kein Ausdruck.

„Seit wann geht sie auf eure Schule?“, fragte Carlisle.

„Seit einer Woche“, antwortete Edward knapp. Kurz herrschte Stille, jeder schien seinen Gedanken nachzuhängen.

„Und, ist sie nett?“, fragte Carlisle weiter.

„Bestimmt“, antwortete Esme. „Sie sieht so freundlich aus und sie hat Bella hergebracht.“ Ich unterdrückte ein Lachen. Das war wieder einmal typisch Esme. Sie sah jemanden und dachte gleich wieder das Beste. Würde man vom Aussehen gehen, dann hätte ich vermutlich den Charakter eines Teddybären.

„Nur weil sie freundlich aussieht, muss das noch lange nicht heißen, dass sie auch freundlich ist“, erwiderte Carlisle. Wow, er widersprach ihr. Das musste ich mir gleich im Kalender markieren.

Kurze Zeit herrschte wieder Stille. Ich konnte sie nicht sehen, aber ich war mir sicher, dass Esme ihn missbilligend ansah.

„Carlisle hat Recht“, fügte Edward hinzu. „Wenn dem so wäre, dann müsste Em ja ein Teddybär sein.“ Ich grummelte einen leisen Fluch. Manchmal konnte es echt nerven, einen gedankenlesenden Bruder zu haben. Vor allem dann, wenn dieser mir meine Witze klaute. Alle lachten, was mich noch ein weiteres Mal grummeln ließ.

„Ich freue mich, dass er endlich auch jemanden gefunden hat“, sagte Esme glücklich. Momentchen mal, was sollte das heißen… gefunden?

„Warum lädt er sie nicht einmal zu uns ein?“ Und was dann? Peinliche Familiensituationen mit einer Person, deren Namen ich gerade mal kannte? Wegen der ich Hals über Kopf aus dem Chemieunterricht geplatzt war und auch noch eine Tischplatte fast entzweigebrochen hätte?

„Ich glaube nicht, dass Emmett das machen würde“, antwortete ihr Edward. Genau. Danke, Bruderherz.

„Wenn er es nicht macht, dann tu ich es halt“, trällerte Alice. Wie bitte?! „Ich habe bereits gesehen, dass wir sehr gute Freundinnen werden. Und nur weil Emmett zu schüchtern ist, um den ersten Schritt zu machen, muss ich ja nicht warten, bis sie alt und gebrechlich ist.“ Schüchtern? Wer war hier schüchtern?!

„Emmett ist schüchtern? Das wusste ich ja noch gar nicht“, erwiderte Esme. „Das würde man ihm gar nicht ansehen. Unser großer Junge und schüchtern.“ Na wunderbar… das würde Esme mir vermutlich noch Jahrzehnte vorhalten.

„Glaubst du, das wäre eine so gute Idee?“, fragte Edward nach einer Pause.

„Wieso denn nicht?“, antwortete ihm Alice. Offensichtlich hatte sie an etwas gedacht, was er missbilligte.

Gespannt horchte ich auf, obwohl ich das eigentlich nicht brauchte. Mein Gehör war so gut, ich hätte sie auch gehört, selbst wenn ich in mein Zimmer gegangen wäre und Musik angemacht hätte.

„Wir haben Bella da schon mit reingezogen. Wenn ich mir vorstelle, was sie alles wegen mir durchmachen musste.“ Edwards Stimme brach.

„Also zuerst möchte ich klarstellen, dass das überhaupt nichts mit mir zu tun hat“, erwiderte Bella plötzlich.

Ich hatte gar nicht gewusst, dass sie noch unten war. „Und zweitens… ich würde das immer wieder tun.“

„Bella, erinner‘ dich daran, was passiert ist. Du wurdest drei Mal fast umgebracht… und zwar von Wesen, wie wir es sind. Das erste Mal wurdest du sogar gebissen, beim zweiten Mal konnten wir dich nur da raus kriegen, weil Alice sich auf eine ihrer Visionen konzentriert hat und beim dritten Mal war sogar eine ganze Horde hinter dir her.“

„Das wäre es nicht gewesen, hättest du mich verwandelt.“

„Darüber haben wir schon gesprochen, Bella“, sagte Edward jetzt eine Spur schärfer. „Und darum geht es auch überhaupt nicht. Erinner dich daran, was du durchgemacht hast… Willst du, dass ihr das gleiche widerfährt?“ Einen Moment herrschte Stille.

„Amylin ist anders als ich. Stärker… selbstsicherer… und bestimmt auch mutiger.“

„Das weißt du nicht genau, Bella. Du kannst nicht mit Sicherheit sagen, dass sie in einer solchen Situation mutig oder stark reagieren würde. Es ist immerhin keine Situation, wie du sie jeden Tag erlebst.“

„Woher nimmst du dir eigentlich das Recht über sie zu entscheiden?“ Es war kein Streit… eher eine Meinungsverschiedenheit. Und dennoch spürte ich die Spannung in der Luft. „Es ist genau wie damals. Als du mich einfach verlassen hattest, weil du dachtest, ich sei dann besser dran. Aber da hast du dich geirrt. Wie du weißt, ging es mir mies. Und ich habe dumme Ideen gehabt, nur um dir nah zu sein. Warum also solltest du dich nicht auch bei ihr irren? Außerdem gibt es Victoria jetzt nicht mehr. Was sollte ihr bitteschön schaden, außer vielleicht Emmett, der über sie herfällt?“ Jasper und Carlisle lachten.

„Die Volturi werden es nicht gut heißen. Sie waren bei dir schon…“

„Wer hat denn was von den Volturi gesagt? Ich verlange ja nicht, dass ihr gleich zu ihnen rennt und sie in das Familienregisterbuch einschreibt. Aro und der Rest muss davon überhaupt nichts erfahren.“

„Es ist einfach zu riskant. Carlisle, sag doch auch mal was.“ Einen kurzen Augenblick herrschte Stille. Sie alle schienen auf eine Antwort von ihm zu warten. Ich konnte mir denken, wie das Szenario unten aussah. Bella und Alice, die ihn voller Erwartung ansahen, Esme schon fast flehend. Jasper, der sich betont im Hintergrund aufhielt, bereit im Notfall einzugreifen und die Stimmung zu bessern. Edward, wie er Carlisle vorwurfsvoll ansah, in der Hoffnung, einen Verbündeten zu finden. Doch er wurde ein weiteres Mal enttäuscht.

„Edward. Ich verstehe deinen Standpunkt und ich stimme in all deinen Äußerungen mit dir überein.“ Eine Pause entstand, in der er offensichtlich nach den richtigen Worten suchte. „Aber das was Bella sagt, ist mir naheliegender.“

„Du willst also auch ihr Leben zerstören?“, knurrte er schon fast. Ich verstand das Verhalten seines Bruders nicht. Wieso kümmerte es ihn, was mit ihr passierte? Bei Bella hatte ich es verstanden. Sie war halt sein Ein und Alles. Aber ein vollkommen fremdes Mädchen?

„Von zerstören ist überhaupt nicht die Rede“, antwortete Carlisle sanft. „Alice hat gesehen, wie sie und diese Amylin gute Freunde werden."

„Ja, weil sie sich von Anfang an dazu entschieden hatte, sich mit ihr anzufreunden. Du weißt ganz genau, dass ihre Visionen nicht immer zutreffen müssen.“

„Ich weiß. Sie zeigen eine Möglichkeit, die es gibt, neben Tausenden von anderen, je nachdem, wie man sich entscheidet. Doch warum lassen wir uns nicht darauf ein? Wo liegt das Problem, wenn wir zulassen, dass sie sich mit Alice und Bella und vielleicht sogar mit uns anfreundet?“

„Weil wir keine Ahnung von den Konsequenzen haben. Weil wir nicht wissen, wer sie ist.“

„Ich glaube nicht, dass sie irgendetwas ausplaudern würde, wenn sie etwas wüsste… Falls sie etwas wüsste“, fügte Bella hinzu.

„Edward, ich glaube nicht, dass es dir darum geht, dass ihr das gleiche passieren könnte, wie Bella, nicht wahr?“ Stille. Offensichtlich schien Edward mit sich zu ringen. Ich hielt den Atem an, was eigentlich überaus sinnlos war, da ich schon die ganze Zeit nicht atmete.

„Ich kann ihre Gedanken nicht hören“, sagte er dann nach einer langen Pause.

„Und wo liegt das Problem?“, fragte Bella erstaunt. „Meine kannst du doch auch nicht lesen.“

„Es ist aber nicht wie bei dir.“ Er atmete tief ein.

„Wie meinst du das?“, fragte Carlisle. Edward seufzte.

„Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll. Es ist halt anders, als bei Bella. Wenn ich versuche ihre Gedanken zu lesen, dann ist da nichts. Überhaupt nichts. Würde Bella hinter mir stehen und würde ich sie nicht hören, wie sie atmet, wie ihr Herz schlägt, dann wüsste ich nicht einmal, dass sie da wäre. Doch Amylin ist anders.“

„Wie anders?“ Wieder eine kurze Pause. Edward schien nach den richtigen Worten zu suchen.

„Ich nehme ihre Gedanken war, aber ich kann sie nicht hören.“

„Soll das jetzt witzig sein?“, giftete Alice plötzlich. Ich unterdrückte ein Lachen.

„Ich hab doch gesagt, dass es schwierig ist, es in Worte zu fassen. Es ist, als würde sie direkt vor mir stehen und mich anschweigen. Ich würde es merken, wenn sie hinter mir steht und ich sie nicht hören könnte. Bei Bella nicht, aber bei ihr. Einfach weil ich ihre Gedanken wahrnehme. Man kann es vielleicht mit einem Stummen vergleichen. Wenn er versucht zu reden, würde sich sein Mund bewegen, seine Lippen würden die Wörter formen, doch kein Ton würde aus ihnen herauskommen. So ist das auch bei Amylin. Ich weiß, sie denkt an etwas, aber diesen Gedanken fehlt jegliche Frequenz. Als würde eine Mauer sie einschließen und so verhindern, dass etwas durchkommt. Es ist, als würde sie absichtlich ihre Gedanken vor mir abschirmen.“ Schweigen. Niemand sagte etwas. Es schien fast wie Minuten, die verstrichen, dabei waren es in Wirklichkeit nur ein paar Sekunden.

„Meinst du das ernst?“, fragte Carlisle.

„Ja. Also ich weiß nicht, ob sie das mit Absicht macht oder nicht. Ich weiß ja nicht einmal den Grund, warum ich Bella nicht hören kann. Aber es ist trotzdem komisch. Ich kann es nicht genau beschreiben.“

„Nun dann sollten wir sie besser kennenlernen.“ Alice schien wieder vor Energie zu sprühen.

„Hast du mir eben gerade nicht zugehört, sie…“

„Oh, doch, das habe ich. Du hast ein komisches Gefühl, weil du ihre Gedanken nicht hören kannst, es aber anders ist als bei Bella. Doch ich wüsste nicht, was da dagegen spricht. Wenn wir uns mit ihr anfreunden, lernen wir sie besser kennen und vielleicht erfährst du dann, warum du ihre Gedanken nicht hören kannst.“

„Außerdem wäre es Emmett gegenüber nicht Recht“, mischte sich Esme wieder in das Gespräch mit ein.

Ein Grummeln kam aus Edwards Mund, dann sagte er: „Wisst ihr eigentlich, ob Emmett das will? Ich meine, er hat sich ihr gegenüber zwar einmal unkontrolliert verhalten und wenn ich seine Gedanken in letzter Zeit höre, sind sie meistens voll von ihr. Aber vielleicht will er sie in die ganze Sache nicht mit reinziehen, so wie ich damals.“

„Hast du das in Emmetts Gedanken gelesen?“

„Nein, aber…“

„Dann lass ihn uns fragen, wenn es dich so sehr kümmert“, meinte Alice. „Obwohl ich nicht weiß, was Emmett es angeht, ob Bella und ich mit ihr befreundet sind oder nicht.“

„Emmett?“, rief Esme plötzlich. In ihrer Stimme klang ein Hauch von Aufregung.

„Du brauchst nicht so zu rufen“, sagte Edward leicht belustigt. „Er hört uns eh die ganze Zeit schon zu.“

Ein leiser Fluch, trat über meine Lippen. Sollte diese Amylin wirklich mit Absicht ihre Gedanken verbergen, dann musste ich sie unbedingt fragen, wie sie das machte. Kaum eine Sekunde später war ich auch schon unten bei den anderen. „Ja?“, fragte ich so, als wäre er gerade jetzt erst dazugekommen.

„Was hältst du davon?“

„Wovon?“, versuchte ich den Unwissenden zu spielen.

Edward grinste. „Du weißt ganz genau, was wir meinen.“

Ich zuckte nur mit den Schultern. „Wir wollen nur, dass du glücklich bist“, sagte Esme zärtlich und lächelte mich liebevoll an.

„Bin ich doch. Ich könnte mir keine bessere Familie vorstellen. Eine Schwester, gegen die Wetten sinnlos ist, noch eine, die man am liebsten Essen möchte… einen Bruder, der…“

„Das meinen wir nicht“, sagte Carlisle und unterdrückte ein Schmunzeln. „Was Esme sagen will ist, du sollst dich nicht für etwas entscheiden, was moralisch gesehen vielleicht richtig, für dich persönlich aber nicht gut ist. Wir wissen alle, dass Edwards Argumente die richtigen sind und sie zu befolgen das Beste wäre. Aber sie wären vermutlich nicht das Beste für dich.“

Mein Blick glitt über die Gesichter der anderen. An Alice blieb ich hängen. Sie bedachte mich mit zusammengekniffenen Augen und einem gekräuselten Mund. „Wenn du ablehnst, dann bist du derjenige, der mit mir shoppen gehen muss und nicht sie“, flüsterte sie.

Ich lachte kurz auf. Ja… meine Familie war die beste, die ich mir hätte wünschen können. „Von mir aus“ grinste ich und konnte nicht leugnen, dass sich dabei meine Laune ein wenig mehr hob.

Nightmares

Sie waren krank. Eric, Mike und Tyler… Alle hatten sie gesurft. Alle waren sie krank. Ein Wunder, dass Jessica gesund war, wenn man davon absah, dass sie alle zehn Minuten ein neues Taschentuch hervorkramte und sich lautstark die Nase schnaubte. Ich hatte es ja gesagt. Wer ging denn bitteschön freiwillig im Oktober surfen, geschweige denn schwimmen? Aber sie alle mussten es ja besser wissen. Das hatten sie nun davon.

Einen kurzen Blick zur Tafel, dann sah ich wieder auf mein Blatt und schrieb ein paar Formeln auf. Etwas gelangweilt hatte ich den Kopf auf meiner linken Hand abgestützt. Der Platz rechts neben mir war frei. Sonntagabend hatte Mike mich angerufen und mir mitgeteilt, dass er Montag nicht in die Schule kommen würde und ich doch bitte für ihn mitschrieben möge. Naja… er hatte es wohl eher versucht, denn nach jedem zweiten Wort hat er einen Schwall von Husten über mich ergehen lassen. Kurzzeitig hatte ich befürchtet, die Bakterien könnten durch das Telefon auf mich übergreifen. Ich hatte es mir verkniffen, ihn darauf hinzuweisen, dass ich von Anfang an dagegen gewesen war. Aber ich empfand es als nicht angemessen in Anbetracht seiner Lage. So wünschte ich ihm nur gute Besserung und hoffte, dass er bald wieder da sein würde. Über den letzten Teil schien er sich besonders zu freuen.

„Hast du was von Mike gehört?“ Jessica hatte sich auf ihrem Platz zu mir herumgedreht und sah mich mit roter Nase und leicht tränenden Augen an.

„Er hat gesagt, dass er sich erkältet hat und vermutlich erst Mittwoch wiederkommt.“

Jessica stöhnte. „Das habe ich alles nur ihm zu verdanken. Hätte er mich nicht dazu überredet mit surfen zu gehen, würde es mir jetzt nicht so schrecklich gehen.“ Er hatte sie überredet? Wenn ich mich recht erinnerte, dann war sie doch bereitwillig aufgesprungen. Doch ich schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Sie tat mir einfach nur leid.

Ich fragte mich, wie es Bella ging. Angela hatte ich bereits heute Morgen kurz gesehen gehabt. Trotz dessen, dass sie traurig darüber war, dass es Eric nicht gut ging, schien sie Kern gesund zu sein. Nur bei Bella war ich mir nicht sicher. Sie sagte, sie sei ein Tollpatsch – vielleicht hatte sie ja auch ein schwaches Immunsystem und war durch ein wenig Regen schon krank geworden?

Doch meine Sorgen waren unberechtigt. Als ich nämlich mit der schniefenden Jessica und Angela die Cafeteria betrat, erblickte ich sie wie üblich am Tisch der Cullens sitzen und sich mit Edward unterhalten. Kurz trafen sich unsere Blicke; ich lächelte ihr zu und sie erwiderte es.

„Bäh, ich kann überhaupt nichts schmecken“, meckerte Jessica und holte erneut ein Taschentuch hervor.
„Ich bitte dich, Jessica“, sagte Angela. „Musst du ausgerechnet vor dem Büfett deine Nase schnauben? Willst du deine ganzen Bakterien überall verteilen?“

Genervt erwiderte Jessica den Blick. „Und was soll ich deiner Meinung nach machen?“

„Warte. Ich trage dein Tablett. Sag mir einfach, was du haben willst, ich pack es dir rauf. Dann kannst du dich schon mal an den Tisch setzen“, erwiderte ich.

„Ich nehm‘ einen Salat und ein Wasser.“

„Bist du wieder auf Diät?“, fragte Angela.

„Nein“, erwiderte Jessica trocken. „Aber da ich ja eh nichts schmecken kann, bringen mir leckere Sachen nichts, also kann ich auch was Einfaches essen.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging zu einem freien Tisch.

„Wenn sie krank ist, kann sie ziemlich unausstehlich sein“, murmelte Angela und nahm sich ihr Mittagessen.

„Sieh es ihr nicht nach. Sie fühlt sich miserabel. Da kann jeder Mal gereizt sein“, antwortete ich ihr und füllte ein Tablett mit Jessicas Bestellung.

„Aber wenn es ihr so schlecht geht, dann soll sie zuhause bleiben. Nachher steckt sie noch die anderen an oder kippt noch um.“

„Du weißt, sie ist ein bisschen stur.“

Sie lachte kurz. „Oh ja, das ist sie.“ Wir wandten uns von der Vitrine ab und gingen zum Tisch, an dem Jessica schon sehnlichst auf uns wartete. Sie hatte ihren Kopf in ihre Hände gestützt und sah uns mitleidig an.

Ich seufzte. „Wenn es dir so schlecht geht, dann solltest du vielleicht wirklich nach Hause gehen“, sagte ich besorgt.

„Nein nein, geht schon“, sagte sie und musste plötzlich niesen. Ich hob skeptisch eine Augenbraue. Einen Moment sahen wir uns an, dann gab sie sichtbar nach. „Ok, ok. Wenn du darauf bestehst.“

Ich nickte lächelnd. „Das tue ich.“

„Warte, ich begleite dich zur Sekretärin“, sagte Angela und drückte mir ihr Tablett in die Hand.

„Soll ich auch mitkommen?“, fragte ich.

Jessica schüttelte den Kopf. „Es muss keiner mitkommen.“ Sie schnaubte in ihr Taschentuch.

„Ich komme aber trotzdem vorsichtshalber mit. Wartest du hier auf mich?“, wandte sich Angela danach an mich.

Ich nickte lächelnd und machte den beiden Platz, damit sie ungehindert Richtung Tür gehen konnten. Kurze Zeit sah ich ihnen noch nach. Jessica tat mir wirklich leid, aber warum hatte sie sich dann in die Schule geschleppt? Es würde mich nicht wundern, wenn es dadurch nur noch schlimmer werden würde.

„Geht es ihr gut?“, fragte eine liebliche Stimme hinter mir. Leicht erschrocken drehte ich mich um und blickte in Bellas Gesicht. Sie lächelte zögernd.

„Wie man’s nimmt“, antwortete ich und sah zurück zu Angela und Jessica, die aus der Cafeteria traten. „Jessica hat sich erkältet und ist trotzdem gekommen. Jetzt bringt sie Angela zum Sekretariat.“

„Das ist irgendwie etwas typisch für Jessica.“

Ich lachte. „Ja, das hat Angela auch gesagt.“

„Willst du dich vielleicht zu uns setzen?“, fragte sie zögernd.

Einen Moment sah ich sie verwirrt an. Dann lächelte ich. „Gerne.“

Sie erwiderte das Lächeln und nahm mir eines der Tabletts ab. „Bist du gestern noch gut nach Hause gekommen?“, fragte sie mich, während wir zum Tisch der anderen gingen.

„Wenn man davon absieht, dass ich vollkommen durchnässt war und ich eine Stunde ein Bad nehmen musste, um meine Knochen wieder zu spüren, dann ja.“ Sie lachte. „Und du?“, fragte ich sie.

Sie zuckte kurz mit den Schultern. „Carlisle ist Arzt, er hat mir was gegeben, dass eine Erkältung vorbeugt.“

„Carlisle?“

„Edwards Dad“, antwortete sie knapp. Ich nickte.

Wir kamen am Tisch der anderen an und als wir davor standen, blickten alle auf. Edward musterte mich mit zusammengekniffenen Lippen. Es schien ihm nicht zu gefallen, dass ich hier war. Ganz im Gegensatz zu einem Mädchen mit tiefschwarzen, kurzen Haaren. Sie sprang freudestrahlend auf und umarmte mich herzlich. „Hi Amylin. Ich bin Alice.“ Etwas verwirrt und überrascht zugleich, erwiderte ich die Umarmung kurz. „Und das ist Jasper“, deutete sie auf einen Jungen, der neben ihr gesessen hatte. Das erste, was mir an ihm auffiel, war sein leidender Gesichtsausdruck. Es schien ihm am meisten Schwierigkeiten zu bereiten, sich in Anwesenheit so vieler Menschen zu beherrschen. Ich lächelte ihm zögernd zu und er nickte nur knapp. „Und Emmett und Edward kennst du ja bereits.“

Bella hatte sich wieder neben Edward gesetzt und stieß ihn auffordernd in die Seite. „Hallo“, sagte er knapp und Emmett folgte seinem Beispiel.

„Hi“, lächelte ich.

„Setz dich doch!“, bedeutete mir Alice und ich leistete ihrer Aufforderung folge. Sie ließ sich auf den Platz links neben mir nieder, während Edward etwas entfernt rechts von mir saß. Betretende Stille herrschte, weil niemand wusste, was er sagen sollte. Ich hatte mich meinem Mittagessen zugewannt und nahm einen Bissen vom Salat, der eigentlich für Jessica bestimmt war.

Nach ein paar Augenblicken jedoch, hielt es Alice nicht mehr aus. „Ach Herrgott nochmal. Wir benehmen uns ja wie kleine Kinder.“ Überrascht sah ich sie an und sie lächelte mir freudestrahlend zu. „Wie lange bist du schon in Forks?“

Ich schluckte und antwortete ihr: „Seit zwei Wochen.“

„Und wie gefällt es dir?“ Ich zuckte lächelnd mit den Schultern.

„Es ist ganz nett.“

„Ganz nett?“, platze es amüsiert aus Emmett heraus und ich sah ihn an. Er grinste mich ungläubig an.

Meine Mundwinkel bewegten sich unkontrolliert nach oben. „Nein, falsch“, antwortete ich und musste bei der Erinnerung noch mehr lächeln. „Es ist aufregend… super… ereignisreich… traumhaft… und sonnig.“ Emmett lachte.

Alice Blick wanderte in der Zwischenzeit von ihm zu mir und wieder zurück. Irgendetwas schien sie zu freuen, das sah ich in ihrem Gesicht.

Plötzlich merkte ich, wie Edward erneut versuchte meine Gedanken zu lesen. Ruckartig wandte ich den Kopf zu ihm um und starrte ihn verwundert an. Seine Augen verengten sich leicht und der Druck in meinem Kopf wurde stärker. Wenn er nicht bald damit aufhörte, dann würde ich…

„Warst du eigentlich schon mal in Seattle?“, riss mich Alice wieder aus meinen Gedanken. Ich wandte mich ihr zu und konnte gerade noch sehen, wie sie Edward einen wütenden Blick zuwarf, dann lächelte sie mich wieder an.

„Nein“, antwortete ich ehrlich.

„Hättest du mal Lust, mit Bella und mir dahin zu fahren? Ich wollte nächstes Wochenende shoppen gehen.“ Bella seufzte. Sie schien von der Idee nicht sehr angetan zu sein, sagte jedoch nichts.

„Klar, warum nicht“, antwortete ich lächelnd.

„Super!“, strahlte Alice und blickte kurz Edward an. Sie schien an etwas zu denken, denn Edward verdrehte nur kurz die Augen und wandte sich dann wieder Bella zu.

„Wo hast du eigentlich vorher gelebt?“, fragte mich Alice weiter. Sie schien brennend daran interessiert zu sein, mehr über mich zu erfahren. Und nicht nur sie, auch die anderen hörten mir gespannt zu.

„Ursprünglich komme ich aus New York. Dort habe ich mit meinen Eltern gelebt, bis ich 14 war. Danach lebte ich ungefähr 3 Jahre in New Orleans. Und jetzt bin ich halt hier in Forks“, antwortete ich lächelnd.

„Wie kommt es, dass ihr von zwei Großstädten plötzlich in eine so kleine Stadt wie Forks gezogen seid?“, fragte Edward mich.

Ich wandte mich ihm zu. „Gewisse Umstände zwangen mich dazu“, erwiderte ich lächelnd.

„Was für Umstände?“, fragte er kühl.

Ich fühlte mich plötzlich wie bei einem Verhör, und nicht nur mir schien der Unterton in Edwards Stimme aufgefallen zu sein. Alice warf ihm einen warnenden Blick zu und Bella stieß ihn kurz in die Seite, obwohl ich mir sicher war, dass er das vermutlich nicht einmal gespürt hatte. Ich lächelte freundlich. „Wenn ich gewollt hätte, dass du es weißt, dann hätte ich es dir gesagt.“

Einen Moment herrschte Stille, dann, ganz plötzlich, lachte Emmett lauthals los. „Mit so einem Kontra hast du wohl nicht gerechnet, nicht wahr Ed“, presste er zwischen seinem Lacher hervor.

Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Die Antwort war nicht gerade freundlich und auch nicht typisch für mich. Aber schließlich war er derjenige, der versuchte, unerlaubt meine Gedanken zu lesen…

 

Schweigend lief ich neben Emmett her. Vor ein paar Minuten hatte es zum Ende der Mittagspause geklingelt. Die anderen hatten sich von uns verabschiedet, da jeder von ihnen etwas anderes gewählt hatte – Edward und Bella Biologie und bei Alice und Jasper war ich mir nicht sicher. Da ich jedoch mit Emmett Chemie hatte, ließ es sich nicht vermeiden, zusammen zum Unterricht zu gehen. Im Grunde hatte ich eigentlich nichts dagegen. Er schien nett zu sein, wenn man sich von der muskulösen Statur nicht einschüchtern ließ. Doch sein Verhalten mir gegenüber verwirrte mich immer mehr. Ich hatte geglaubt, nach der Sache beim Mittagessen, wäre er ein bisschen mehr aufgetaut und lockerer mir gegenüber geworden. Doch Fehlanzeige. Seit wir die Cafeteria verlassen hatten, hatte er kein einziges Wort gesagt und er schien auch nicht danach auszusehen, sich überhaupt mit mir unterhalten zu wollen. Also ließ ich ihn in Ruhe. Bei Edward war es mir relativ egal. Ich hatte mich daran gewöhnt, dass er offensichtlich gegen jeden etwas hatte, der Bella auch nur auf einem Meter zu nahe kam. Doch bei Emmett war das irgendwie anders. Ich konnte nicht so genau sagen, was es war oder warum ich so fühlte, jedenfalls hatte ich das Bedürfnis mit ihm zu reden. Ein leiser Seufzer entfuhr meinen Lippen.

„Alles in Ordnung?“, fragte er mich und ich blickte auf. In seinem Gesicht lag ein besorgter Ausdruck.

Ich lächelte. „Ja.“

Er nickte kurz und wandte sich dann wieder ab. Mittlerweile waren wir am Chemieraum angekommen und Emmett trat einen Schritt vor und hielt mir die Tür auf. Ich bedankte mich und betrat den Raum. Es waren noch nicht viele anwesend und somit kam ich relativ unbemerkt an meinem Platz an. Ich stellte meine Tasche auf den Tisch, holte meine Notizen hervor und setzte mich dann. Der Platz wirkte relativ leer ohne Mike. Hoffentlich würde er bald wieder gesund sein, ich war es gewohnt, ihn um mich zu haben. Er wusste, wie man einen zum Lachen brachte.

Die Schulglocke ertönte ein weiteres Mal und deutete so den Unterrichtsbeginn an. „Ruhe bitte!“, sagte Mr. Wentorf laut in die Klasse. Sofort wurde das Getuschel eingestellt. „Ich habe Ihre Protokolle durchgesehen“, sagte er nur knapp. Im Raum wurde spürbar die Luft angehalten.

Interessiert ließ ich meinen Blick über die anderen schweifen und blieb schließlich an Emmetts Gesicht hängen. Er hatte sich mir zugewannt und starrte mich ebenfalls an. Als sich unsere Blicke trafen, grinste er plötzlich. Ich wusste nicht genau warum, aber ich konnte nicht anders, als zurückzulächeln. „Ja, Miss Lamar. Sie und Mr. Cullen sind die einzigen, die vielleicht etwas zu lachen haben.“ Ruckartig wandte ich meinen Kopf wieder nach vorne und blickte in Mr. Wentorfs Gesicht, der mich skeptisch musterte. „Wer von Ihnen hat eigentlich das Protokoll geschrieben? Mr. Newton oder Sie?“

„Ich war das“, antwortete ich leicht lächelnd. „Mike hat experimentiert und ich habe das Protokoll angefertigt.“

Er nickte. „Hätte mich auch gewundert, wenn es anders herum gewesen wäre.“ Mit diesen Worten kam er auf mich zu und gab mir das Protokoll wieder. Oben in der rechten Ecke konnte ich ein A erkennen.

„Zu Ihnen muss ich wohl nichts mehr sagen“, meinte Mr. Wentorf zu Emmett und trat auf ihn zu. „Vielleicht wäre es gut, wenn Sie heute mit Miss Lamar arbeiten. Wir werden ein weiteres Experiment machen und ich denke, wenn sie beide zusammenarbeiten, kann das nur von Vorteil sein. Obwohl ich hoffe, dass Mrs. Lamar Ihnen dieses Mal nicht den Kopf verdrehen wird. Letztens sind Sie ja ganz plötzlich aus meinem Unterricht gerannt und haben sich für den Rest der Woche nicht mehr blicken lassen.“

Ich sah in Emmetts Gesicht, dass er gut und gerne auf ihn losgegangen wäre. Doch er beherrschte sich, indem er nur zähneknirschend das Blatt entgegen nahm und dann wieder aus dem Fenster blickte.

 

Ich konnte mich nicht mehr so genau daran erinnern, wie ich in diese Situation gekommen war. Lag es an Mr. Wentorf, der mich dazu verdonnert hatte? Lag es an mir, dass ich im Moment so sehr von meinen Albträumen geplagt wurde, dass ich mich kaum noch konzentrieren konnte? Oder lag es an Emmett, der es einfach nicht hinbekam, eine einfache Titration durchzuführen?

„Nicht noch einen Tropfen“, sagte ich, doch da war es schon zu spät. Die dunkelblaue Flüssigkeit änderte sich plötzlich zu scharlachrot. Ich seufzte und ließ mich zurückfallen.

„Was denn?“, fragte Emmett und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. So langsam bekam ich das Gefühl, er machte das mit Absicht.

„Wir sitzen hier seit einer geschlagenen Viertelstunde und kriegen eine einfache Titration nicht hin“, antwortete ich. Emmett sagte nichts, sondern hielt sich die Hand vor den Mund. „Hör auf zu lachen“, sagte ich, konnte aber nicht verhindern, dass meine Mundwinkel nach oben wanderten.

„Du lachst doch selbst“, grinste er.

„Gar nicht wahr“, erwiderte ich und drehte mich zum Fenster, damit er nicht sah, dass er recht hatte.

„Nein, überhaupt nicht.“ Auch wenn ich ihn nicht sah, wusste ich, dass er grinste.

Ich wandte mich wieder um und nahm ihm die Pinzette ab. „Du kannst das nicht, gib das her“, sagte ich nur.

„Sehr wohl“, antwortete er knapp. Dann stützte er mit der rechten Hand seinen Kopf ab und betrachtete mich interessiert, wie ich mit einer anderen Pinzette etwas Baselösung aufnahm. Vorsichtig hielt ich es über das Becherglas und ließ einen kleinen Tropfen hineinfallen. Kurz bildete sich ein blauer Schleier, danach wurde es wieder rot. Mit einem kleinen elektronischen Gerät, messte ich den pH-Wert. 6,3. Sollte ich oder sollte ich nicht? Ein Tropfen? Oder doch lieber ein halber?

„Du machst daraus echt eine Wissenschaft, oder?“, schüttelte Emmett amüsiert den Kopf.

Ich lächelte ihn an. „Chemie ist eine Wissenschaft.“ Kurz sah ich ihn an, nicht fähig den Blick zu senken. Heute waren seine Augen am hellsten.

„Wie weit sind Sie, Mr. Cullen?“, riss mich Mr. Wentorf aus meinen Gedanken. Den Blick von Emmett abwendend, sah ich in seine grauen Augen.

„Es geht voran“, antwortete Emmett knapp, ohne den Blick von mir abzuwenden.

„Was meinen Sie? Das Experiment oder Ihre kläglichen Flirtversuche?“ Er mochte es offensichtlich nicht, dass man ihn ignorierte.

„Beides“, antwortete Emmett und grinste weiter vor sich hin. Was meinte er denn jetzt auf einmal damit? Verwirrt sah ich ihn wieder an.

„Nun, wenn das so ist, wo ist dann Ihre neutrale Lösung? Vielleicht war es doch nicht so gut, dass ich Miss Lamar zu Ihnen gesetzt habe. Vielleicht wäre es besser, ich würde sie wieder auf ihren eigentlichen Platz schicken.“ Er schien es offensichtlich genau so wenig zu mögen, wenn man ihm widersprach.

Doch Emmett antwortete nichts, sondern nahm mir nur das Becherglas und die Pinzette ab und ließ einen präzise gewählten Tropfen in die Flüssigkeit hinab laufen. Sofort färbte sich die Lösung grün. Überrascht sah ich ihn an. Er hatte es doch tatsächlich vorhin mit Absicht gemacht.

Breit grinsend und vermutlich auch etwas herausfordernd, hielt Emmett unserem Chemielehrer die neutrale Lösung hin. „Hier ist sie“, sagte er nur.

Mr. Wentorfs schürzte kurz die Lippen, danach ging er weiter, um die nächsten beiden Laborpartner zurechtzuweisen. Mit einem Grinsen auf den Lippen stellte Emmett die Utensilien wieder auf den Tisch. Leicht amüsiert schüttelte ich den Kopf. Wie schon gesagt… Aus dem sollte einer mal schlau werden.

 

Seine Augen waren rot.

Das war das erste, was ich von ihm wahrnahm. Und das war auch das erste, was ich sah, wenn ich an ihn dachte. Blutrot… genau wie meine.

Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Es sollte freundlich sein… beruhigend. Doch das war es nicht, denn in seinem Blick konnte ich seine Gier sehen. Seine Gier und den heimtückischen Plan, den er hatte.

„Du enttäuscht mich, meine Kleine.“ Irgendwie passte dieser Satz nicht zu seinem Lächeln. „Ich hatte große Hoffnungen in dich gesetzt.“

Mein Hals brannte und ich schluckte ein paar Mal. Doch es nützte alles nichts. Es gab nur eine Sache, die diesen Schmerz lindern konnte. Bei dem Gedanken daran wurde mir schlecht.

„Ich dachte, ich hätte dir deine Situation deutlich genug gemacht. Ich wollte dir eine Möglichkeit geben, dich freiwillig dafür zu entscheiden. Weißt du, mich verlangt es nicht danach Gewalt anzuwenden.“ Sein Lächeln wurde eine Spur freundlicher, doch in seinen Augen konnte ich erkennen, dass er genau das von Anfang an geplant hatte. Dass der bloße Gedanke daran, ihn durstiger werden ließ. „Doch du lässt mir keine Wahl.“ Sein Mund verzog sich leicht. Es sollte wohl so aussehen, als würde er das alles sehr bedauern. Wie ein Kind, das um etwas trauerte, was es nicht bekommen hatte.

Ich schlucke erneut, doch dieses Mal nicht, um das Brennen zu lindern. Ich schluckte, weil ich befürchtete, sonst zu ersticken. Hätte ich ein Herz gehabt, hätte es jetzt vermutlich vor Angst und Panik schneller geschlagen. Doch da war nichts. Kein Herzschlag, kein Blut, das wie im Rausch durch meine Wehnen gepumpt wurde... Und auch keine Tränen. Nur ein ersticktes Wimmern.

„Du kannst es dir noch anders überlegen. Du musst nur zustimmen und alles, wovor du Angst hast, wird vorbei sein.“ Er erhob sich von seinem Platz und kam langsam näher.

Ich stand da wie eine Statue, unfähig mich zu bewegen. In meinem Kopf hörte ich eine Stimme, die sagte ich sollte wegrennen, versuchen zu fliehen, oder mich sogar auf ihn stürzen, in der Hoffnung gegen ihn anzukommen. Egal was, Hauptsache nur bewegen. Doch ich tat nichts. Ich stand einfach nur da.

Und dafür würde ich mich den Rest meines verfluchten Lebens hassen...

 

„Sag mal, Amy. Irgendwie haut da was nicht hin.“

„Wie bitte?“, verwirrt wandte ich mich um und blickte in Mikes Gesicht. Es war Dienstagnachmittag und er hatte mich gestern Abend angerufen und gefragt gehabt, ob er heute vorbei kommen und sich die Sachen abholen könnte, die ich im Unterricht für ihn mitgeschrieben hatte. Ich hatte zugestimmt, nicht ahnend, dass er es auch von mir erklärt bekommen wollte.

„Hier muss irgendwas falsch sein“, meinte Mike und hob seinen Block hoch.

Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, nahm ich ihn entgegen und ließ meinen Blick darüber schweifen. „Ja, du hast hier falsch gekürzt“, erwiderte ich und deutete auf eine falsche Rechnung.

Seine Stirn legte sich in Falten und er starrte angespannt auf das Blatt. „Ach so“, sagte er nur.

Ich legte ihm den Block wieder hin und erhob mich. „Wo willst du hin?“ Erschrocken blickte Mike von seiner Aufgabe auf.

„In die Küche. Ich wollte uns etwas Tee machen, es sei denn, du willst etwas anderes.“ Ein Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus.

„Nein, Tee wäre super.“ Ich nickte und ging dann in die Küche. Der Fußboden knarrte leicht unter meinen Füßen, als ich über die Holzdielen im Flur lief. Mit einem Handgriff hatte ich sowohl zwei Tassen, als auch Teebeutel aus den Schränken geholt. Danach setzte ich Wasser auf und während ich darauf wartete, dass es langsam zu kochen begann, starrte ich aus dem Fenster.

Jetzt suchten mich diese Albträume schon am helligten Tage heim. Es war schon schlimm genug, dass sie mir meine Nächte raubten. Lange würde ich dem nicht mehr standhalten können. Warum nur? Warum musste ich die ganze Zeit davon träumen? Sonst war es doch immer, wenn…

Meine Augen weiteten sich vor Entsetzen und ich sog hörbar die Luft ein. Das konnte nicht sein. Ich konnte es nicht vergessen haben. Eilig lief ich in den Flur und betrachtete den Kalender, der links neben dem Türrahmen hing. Heute war Dienstag. Mittwoch… Donnerstag… Freitag… Samstag… Sonntag… Sonntag, der 27. Oktober.

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und ich versuchte ihn herunterzuschlucken. Ich hatte es vergessen. Ich hatte es doch tatsächlich vergessen. Wie in Gottes Namen konnte ich so etwas nur vergessen? Schlüssel… Geburtstage… Arzttermine… alles Dinge, die einem leicht entfallen konnten. Aber das? Entsetzt starrte ich auf den Kalender.

„Was ist denn so wichtiges am 27. Oktober?“ Erschrocken fuhr ich herum und bemerkte Mike, der sich über meine rechte Schulter gebeugt hatte und auf den Kalender blickte.

„Nichts“, antwortete ich nur und schluckte.

„Und warum ist das dann so rot eingekreist?“ Er drehte seinen Kopf leicht und blickte mich mit seinen grünen Augen an. Ich schluckte erneut. Wie viel konnte ich ihm sagen? Er gehörte zu meinen engsten Freunden in Forks, auch wenn ich nicht viele besaß und ich ihm nicht alles anvertrauen würde. Doch seine Freundschaft war mit die längste, die ich hier hatte. Aber war das schon ein Grund, um ihm davon zu erzählen? Welche Konsequenten würde es nach sich ziehen? Vielleicht würde er es für sich behalten, wenn ich ihn darum bat.

„Was ist?“, grinste er wieder. Offensichtlich schien ihn mein Schweigen zu irritieren.

Ich schüttelte den Kopf und lächelte. „Nichts.“

„Also, was ist nun am Sonntag?“, wiederholte er die Frage.

Ich seufzte leise und blickte auf den rot umrandeten Tag. „Etwas Wichtiges.“

„Ja, das habe ich mir schon gedacht“, gluckste er. „Und was, wenn man fragen darf?“

„Etwas, was ich vergessen hatte“, antwortete ich leise. Aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, dass mich Mike leicht irritiert musterte. Dann, ganz plötzlich, lächelte ich ihm zu. „Ich glaube, das Wasser ist fertig.“

Ich wandte mich von ihm ab und ging wieder in die Küche. Es war besser, wenn er nichts davon wusste. Vorerst noch nicht. Auch wenn ich mir sicher war, dass ich ihm vertrauen konnte. Es war einfach ein zu großes Risiko, wenn er davon wusste. Ich wollte diese elendigen Fragen nicht hören. Und die Schwierigkeiten, die danach folgen würden. Vor allem, wenn der Schulleiter davon Wind bekam.

Vorsichtig goss ich das heiße Wasser in die Tassen ein. Vielleicht würde ich ihm irgendwann einmal davon erzählen. Wenn sich alles etwas beruhigt hatte und ich sicher in Forks sein konnte. Jetzt war es einfach noch zu früh. Je weniger sie wussten, desto besser war es letztendlich für sie. Mit den Tassen in beiden Händen drehte ich mich um und wollte zurück ins Wohnzimmer gehen, als ich Mike bemerkte, der dicht hinter mir stand. Nichts ahnend prallte ich mit ihm zusammen und ließ vor Schreck die beiden Tassen fallen.

„Entschuldigung“, nuschelte er und bückte sich sofort.

„Lass nur, sonst schneidest du dich noch“, antwortete ich und kniete mich ebenfalls hin.

Der Boden war übersät mit Tee und Tassensplitter. Doch er schien gar nicht daran zu denken. Eilig versuchte er die verstreuten Splitter einzusammeln und stieß dabei mehrmals mit mir zusammen. „Autsch. Sorry“, grinste er jedes Mal.

Nachdem ich die kaputten Tassen weggeworfen und den Tee aufgewischt hatte, wandte ich mich wieder Mike zu, der immer noch in der Küche stand und irgendwie recht fehl am Platze wirkte. „Ich setz nochmal Wasser auf“, lächelte ich.

„Nein, nein. Das musst du nicht“, hob er beschwichtigend die Hände. „Mach dir nur keine Umstände.“

Ich lachte kurz. „Aber das sind doch keine Umstände, wenn ich Wasser aufsetze.“

„Ein hübsches Haus. So geschmackvoll eingerichtet. Gefällt mir.“ Er grinste mich an und ich erwiderte leicht verwirrt das Lächeln. Worauf wollte er hinaus? „Deine Eltern sind nicht da?“

„Nein“, antwortete ich und hob leicht skeptisch eine Augenbraue.

„Du scheinst aber sehr glücklich mit ihnen zu sein. In jedem Zimmer steht ein Bild von ihnen. Aber von dir sehe ich kaum welche. Nur das eine hier in der Küche.“ Er deutete auf ein Foto, das an der Wand hing. Es zeigte ein kleines Mädchen im Alter von sechs Jahren mit einem rosa farbenem Kleid und in die Kamera strahlend. Beide Hände hatte sie in die viel größeren ihrer Eltern gesteckt, die ebenfalls glücklich lächelten.

Ich zuckte mit den Schultern und versuchte mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen. „Ich sehe mich halt nicht gerne. Außerdem sind meine Eltern sehr oft unterwegs. Die meiste Zeit bin ich also im Haus und da ist es relativ sinnlos, Bilder von mir aufzustellen.“

Mike nickte zur Bestätigung, dass er verstanden hatte. „Und dein Zimmer ist oben?“

„Ja“, antwortete ich nur.

„Darf ich es mir mal ansehen?“ Sein Grinsen wurde breiter.

„Wenn du unbedingt willst“, erwiderte ich und ging voraus, die Treppe hinauf. Oben angekommen wandte ich mich nach rechts, ging den kleinen Flur entlang und öffnete die linke der beiden Türen. Vorsichtig trat Mike ein, darauf bedacht, jedes noch so winzige Detail wahrzunehmen. „Cool“, sagte er nur. Er ging am Schreibtisch vorbei, besah sich die Bilder, die ich an der Pinnwand befestigt hatte, teils von meinen Eltern, teils auch von Freunden aus New Orleans. „Du spielst Keyboard?“, fragte er und deutete auf ein Keyboard, das in der Ecke stand.

„Eigentlich Klavier“, lächelte ich. „Aber ich habe schon Ewigkeiten nicht mehr gespielt. Vermutlich habe ich es schon längst verlernt.“

Er lachte. „Das glaube ich nicht. Du spielst bestimmt toll. Ich würde dich zu gerne mal spielen hören.“ Er zwinkerte mir zu, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Zimmer zu. „Du liest viel.“ Es war eher eine Feststellung, als eine Frage.

„Wenn ich Zeit dazu finde, dann ja.“

„Wow, hast du die alle gelesen?“ Interessiert las er die Buchrücken.

„Ja. Und noch viele andere. Die meisten Bücher sind drüben im Arbeitszimmer meines Vaters." Er nickte beeindruckt. Ich konnte in seinem Gesicht ablesen, dass er vermutlich gerade mal ein Fünftel so viele Bücher gelesen hatte.

„Man, dein Zimmer ist einfach nur geil.“ Erstaunt blickte er durch das Fenster und öffnete die Glastür, die zu einem kleinen Balkon führte. „Sogar mit eigener Romeo und Julia Szene.“ Ich lachte und betrat ebenfalls die Vorrichtung. „Es war die Nachtigall und nicht die Lärche“, sagte Mike mit theatraler, tiefer Stimme, wodurch ich nur noch mehr lachen musste. „Das war aber auch schon das einzige, an das ich mich aus dem Buch erinnere.“ Hätte mich auch gewundert, wenn nicht.

Ich blickte in den Wald hinein und nahm einen tiefen Atemzug. Der Geruch von Moos und Laub drang in meine Nase und ich schloss kurz die Augen. Es herrschte absolute Stille, nur das Rauschen des Windes war zu hören, der ab und zu durch das Blätterwerk streifte.

„Weißt du, Amy. Ich wollte dich was fragen.“ Ich hatte immer noch die Augen geschlossen und hörte ihm interessiert zu. „Also… Als du das erste Mal in unsere Schule kamst… da… nun ja… ich weiß nicht, wie ich das sagen soll“, stotterte er. Überrascht öffnete ich die Augen und sah ihn an. Um seine Nase herum war er rot angelaufen. Er rang nach den richtigen Worten. „Weißt du, du hast mich irgendwie fasziniert.“ Fragend blickte er mich an, doch ich verstand nicht, worauf er hinaus wollte. „Du bist echt… hübsch“, sagte er zögernd.

„Danke“, lächelte ich zur Antwort. Doch ich war mir nicht sicher, ob das die richtige war. Abgesehen von meiner Mutter und ein paar sehr guten Freunden hatte mir noch nie jemand so etwas direkt ins Gesicht gesagt. Er biss sich auf die Unterlippe und sah mich teils verzweifelt, teils hoffend an. Aber ich hatte immer noch nicht den leisesten Hauch einer Ahnung, was er mir damit sagen wollte.

Langsam kam er mit seinem Gesicht näher. Verwirrt blieb ich an Ort und Stelle. Was hatte er denn jetzt auf einmal vor? Seine Augen ruhten unverwandt auf den meinen und er war nur noch Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. Ging es ihm etwa nicht gut? „Weißt du Amy…“, flüsterte er und sein warmer Atem traf mich im Gesicht. Es kribbelte leicht und ich unterdrückte ein Niesen. „Ich fühl mich in deiner Gegenwart so frei und so geborgen.“ Vorsichtig nahm er mein Gesicht in seiner Hände und streichelte sanft über meine Wangen. Ok… das verwirrte mich jetzt noch mehr… „Du magst mich so, wie ich bin und das beruht auf Gegenseitigkeit. Ich weiß, dass da was zwischen uns ist.“ Das da was zwischen uns war? Was war denn zwischen uns? Irgendwie konnte ich ihm nicht so ganz folgen. „Ich mag dich, Amy. Ich mag dich sogar sehr.“ Bevor ich etwas erwidern konnte, hatte er schon vorsichtig seine Lippen auf die meinigen gelegt. Entsetzt und überrascht zugleich weiteten sich meine Augen. Oh… das meinte er mit zwischen uns.

Sanft und dennoch bestimmend drückte ich meine Hände gegen seine Brust und löste ihn somit von mir. „Ich… ähm…“, suchte ich nach den richtigen Worten. „Also, ich mag dich auch.“ Ein leichtes, mitfühlendes Lächeln stahl sich auf meine Lippen. „Nur… nicht so.“

Einen Moment sah Mike mir in die Augen. Dann verfärbte sich sein Gesicht knallrot. Sein Mund öffnete und schloss sich wieder, er wusste nicht, was er sagen sollte.

„Es tut mir leid“, sagte ich und biss mir leicht auf die Unterlippe.

„Ich dachte, du empfindest genau so wie ich“, kam es plötzlich aus ihm heraus. „Die Mittagessen, das Surfen, das heute hier.“

Etwas mitleidig sah ich ihn an. „Das machen Freunde nun mal so.“

„Lass mich raten. Die Cullens haben dich umgarnt, als ich nicht da war“, erwiderte er eine Spur kälter.

„Was haben den jetzt die Cullens damit zu tun?“

„Alles“, antwortete er sauer. „Das liegt in ihrer Natur. Sie können es einfach nicht lassen.“

„Ich kann dir irgendwie nicht ganz folgen, Mike.“

Er schnaubte und schüttelte den Kopf. „Ich wette du hast in Chemie neben ihm gesessen.“

„Ja“, antwortete ich. „Aber nur, weil wir experimentiert haben und Mr. Wentorf verlangt hat, dass wir zusammen arbeiten sollen.“

„Du hättest aber auch nein sagen können.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah mich an, als wäre ich an allem Schuld.

„Und warum hätte ich das tun sollen? Du bist schließlich derjenige von uns, der etwas gegen sie hat. Ich nicht, ich kenn sie schließlich nicht einmal.“

„Also standest du von Anfang an auf ihn?“

Entsetzt sah ich ihn an. Jetzt drehte er mir auch noch die Worte im Mund herum. „Ich steh auf niemandem.“

„Aber anscheinend kannst du dich auch nicht so wirklich von ihnen loseisen. Immerhin hast du Bella angesprochen. Sie ist schließlich die beste Verbindung zu ihnen.“

So langsam machte er mich echt wütend. Ich war normalerweise die Ruhe in Person. Aber so etwas Kindisches und Schwachsinniges zugleich, war jetzt wirklich nicht das, was ich bauchte. „Ja, weil ich dachte sie wäre eure Freundin und ich fand es schade, dass sie dann alleine da sitzt.“ Mike schnaubte und blickte zähneknirschend in den Wald hinaus. „Hör zu“, sagte ich jetzt wieder etwas sanfter. „Es tut mir wirklich leid, dass da zwischen uns dieses Missverständnis war. Du gehörst zu den engsten und längsten Freunden, die ich hier in Forks habe. Und wenn wir uns unter anderen Umständen kennengelernt hätten, dann…“

„Was für andere Umstände denn, Amy?“, wandte er mir den Kopf wieder zu. „Du bist nach Forks gezogen, in unsere Schule gekommen und wir haben uns im Unterricht kennengelernt. Was für andere Umstände, wenn nicht ganz normale wie diese? Vielleicht, wenn ich in einer Limo vorgefahren wäre und ich stinkreich wäre? Es tut mir leid, aber damit kann ich nicht dienen.“

„Das meinte ich auch nicht“, erwiderte ich sauer. Ich war enttäuscht, wie wenig mich Mike anscheinend kannte, wenn er glaubte, Reichtum wäre alles, was ich wollte. „Hätte ich danach verlangt, dann wäre ich garantiert nicht nach Forks gezogen.“

„Ach so, also sind wir dir jetzt nicht fein genug? Ist Forks also ein kleines heruntergekommenes Kaff?“ Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Es hatte mich zutiefst getroffen und offensichtlich bemerkte es Mike, denn einen Moment sah er mich leicht geschockt an. „Es tut mir leid… ich…“, begann er und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Ich sah ihn nicht an. Ich wusste auch nicht, was ich hätte sagen sollen. Das Ganze war einfach zu chaotisch.

„Ich werde um dich kämpfen, Amy“, sagte Mike jetzt mit fester Stimme. Entgeistert blickte ich auf. „Ich weiß, du bist kein Preis, den man einfach so gewinnen kann. Du hast deine eigenen Wünsche. Doch ich werde den Cullens nicht so einfach das Feld räumen. Sie haben mir schon einmal eine wichtige Person genommen. Das werden sie nicht noch einmal.“

Ich seufzte. Warum musste sich eigentlich alles immer um die Cullens drehen? Jedes Gespräch handelte von ihnen. Sei es, weil er sie hasste, oder weil sie alle umgarnten. Sei es, weil sie ihm Bella weggenommen hatten. Cullens hier, Cullens da.

„Ich muss dann auch schon los. Wir sehen uns ja dann morgen in der Schule. Danke für deine Hilfe.“ Mit diesen Worten war er auch schon aus meinem Zimmer raus und die Treppe runter. Eine Minute später hörte ich die Haustür zuschlagen. Vorsichtig ließ ich mich an der Hauswand herunter gleiten und starrte gedankenverloren in den Wald. Vielleicht hätten wir ja wirklich… unter anderen Umständen…

 

 

Emmetts Sicht

 

Ein ohrenbetäubendes Knacken fuhr durch den Wald, als der Ast unter meiner Hand zerbrach. Wie konnte er es wagen? Wie konnte dieser giftige Zwerg, dieser halbe Meter es nur wagen sie zu küssen? Am liebsten würde ich von meinem Versteck springen, mich auf ihn stürzen und meine Zähne ganz tief in sein wehrloses Fleisch vergraben. Er sollte die Gefahr kommen sehen. Er sollte wissen, wer oder besser gesagt was ihn tötete.
Ein zweiter Ast zerbrach und fiel dumpf zu Boden. Oder aber ich könnte ihm ein wenig Angst einjagen. Ein bisschen mit den Zähnen fletschen, die Augen zu schmalen Schlitzen und eine kurze Demonstration meiner Kraft würden ausreichen und dieser Newton würde sich vor Angst in die Hosen machen. Und hoffentlich auch nie wieder wagen ihre sanften Lippen mit seinen dreckigen zu besudeln.

Knacks. Der dritte Ast war entzwei. Wenn ich so weitermachte, wäre bald der ganze Wald kahl. Ich malte mir viele Möglichkeiten aus, diesen Newton von ihr fern zu halten, eine schöner als die andere. Doch ich blieb in meinem Versteck, ungefähr 100 Meter von ihrem Haus entfernt. Durch die Blätter sah ich, wie sie immer noch an der Hauswand angelehnt saß, die Beine angewinkelt und den Kopf in ihre Knie gelegt. Zu sehr würde ich jetzt am liebsten zu ihr herüber gehen und sie einfach in meine Arme nehmen. Der Drang nach ihrer Nähe, nach ihrer Wärme, nach ihrem Geruch war so immens. Jetzt wusste ich, wie sich Edward damals gefühlt haben musste, als er Bella zum ersten Mal erblickt hatte. Ich hätte nie geglaubt jemals so etwas Ähnliches fühlen zu können. Hatte nie verstanden, wie man nur bereit sein konnte, für einen Menschen einfach alles zu opfern. Doch jetzt verstand ich es. Jetzt wusste ich, wie es war, einen Menschen so sehr zu begehren. Und das nicht nur auf geschmacklicher Ebene.

Sie seufzte leise. Offensichtlich schien sie das eben erlebte sehr mitzunehmen. Einen Grund mehr diesen Newton den Hals umzudrehen. Wie kam er nur auf den absurden Gedanken, sie hätte Interesse an ihm? Kein Mensch, der noch bei Verstand war, würde sich auf Mike Newton einlassen. Abgesehen von Jessica Stanley, aber die war ja auch alles andere als normal.

Amylin seufzte erneut und hob ihren Kopf. Ihr Blick glitt durch den Wald. Einen Moment befürchtete ich, sie könnte mich sehen, doch das war absurd. Um mich sehen zu können, müsste sie schon die Sinne eines Vampirs haben. Ihre Augen hatten einen traurigen Ausdruck und ich musste mich krampfhaft zurückhalten, nicht wirklich einfach zu ihr hinzugehen. Ich konnte es nicht ertragen, sie so zu sehen. Es schnürte mir auf merkwürdige Weise den Hals zu.

Dieser Newton wollte um sie kämpfen. Ich unterdrückte ein Lachen. Mit wem wollte er kämpfen? Mit mir? Glaubte er wirklich, er könnte es mit mir aufnehmen? Ich, der an Kraft jedem Vampir überlegen war? Nun gut… Edward und Jasper hatten mich ein paar Mal besiegt. Aber das war ein unfairer Kampf gewesen. Edward hatte seine Fähigkeit und Jasper seine Erfahrung, das hatte mit Kraft und Stärke überhaupt nichts zu tun.

Plötzlich erhob sich Amylin und ging wieder zurück in ihr Zimmer. Sie ließ die Balkontür offen, hing noch für einen kurzen Augenblick ihren Gedanken nach und wandte sich dann endgültig ab. Einen Moment später war sie auch schon aus dem Zimmer verschwunden. Ich wartete ungefähr zehn Sekunden, zumindest glaubte ich das, denn schließlich hatten wir ein vollkommen anderes Zeitgefühl. Danach sprang ich und landete auf einem dicken Ast, 20 Meter von meinem alten Versteck entfernt. Hier nahm ich ihren Geruch noch intensiver war und ich konnte nicht umhin, meine Augen kurz zu schließen und mich diesem Duft hinzugeben. Kurz darauf schüttelte ich den Kopf.

>>Klare Gedanken, Em. Du brauchst klare Gedanken.<<

Ich machte einen weiteren großen Satz und befand mit nur noch 50 Meter von ihrem Haus entfernt. Vorsichtig blickte ich durch die Blätter. Ich kam mir ziemlich bescheuert vor, wie ich hier so in einem Ast saß und ein Mädchen bespannerte, dessen Namen ich gerade mal kannte. Ed würde sich vermutlich kugeln vor Lachen. Obwohl… er war ja auch nicht gerade besser gewesen. Ist einfach so mir nichts dir nichts in Bellas Zimmer spaziert, während sie schlief. So weit würde ich nicht gehen. Oder?

Ein Grummeln kam mir über die Lippen. Jetzt verhielt ich mich sogar schon wie Ed. Na besten Dank auch. Ein paar Augenblicke lang beobachtete ich Amylins Zimmer. Als ich sicher sein konnte, dass sie so schnell nicht wiederkommen würde, überbrückte ich den restlichen Abstand zu ihrem Haus und befand mich im nächsten Moment auf ihrem Balkon. Vorsichtig blickte ich durch die geöffnete Tür.

Im ersten Moment dachte ich: >>Wow was für ein winziges Zimmer.<< Die Wände waren in einem freundlichen hellgrün gehalten. Das verwunderte mich nun doch. Bella hatte sich immer über das ganze grün beschwert und Amylin malte sogar ihr Zimmer damit an. Ihr Bett füllte den gesamten Raum aus. Es war einfach riesig. Vermutlich hätte ich darauf mit einem Grizzly kuscheln können und wäre trotzdem nicht heruntergefallen. Es war mit dem Kopfende an die Wand links von mir gestellt worden und dahinter befand sich ihr großer Kleiderschrank. Die spiegelglatte Oberfläche reflektierte meine Silhouette.

Doch dann realisierte ich, dass das nicht ihr gesamtes Zimmer war. Mein Blick glitt nach rechts und ich bemerkte, dass die Wand in der Mitte eine Öffnung von vielleicht anderthalb Metern hatte. Dahinter konnte ich flüchtig den restlichen Teil ihres Zimmers erkennen. Doch um alles sehen zu können, müsste ich hinein gehen.

Missmutig wandte ich meinen Blick nach unten und starrte auf die Schwelle zwischen Balkon und Zimmer. Es war nur ein kleiner Schritt. Einer kleiner Schritt und ich wäre in ihrem Zimmer. Nichts einfacher als das. Doch das war irgendwie leichter gesagt als getan. Wenn ich diesen einen Schritt machen würde, wäre ich nicht besser als Ed. Dabei hatte ich ihn damals damit aufgezogen, Bella zu bespannern.

Meine Lippen kräuselten sich. Das konnte doch nicht wahr sein. Fast jede Woche kämpfte ich mit Grizzlys, schlug ihnen die Köpfe ein und jagte sie, aber ein kleiner Schritt in ein stinknormales Zimmer bereitete mir solche Schwierigkeiten. Ich biss mir auf die Unterlippe und horchte auf. Geräusche drangen an mein Ohr, die sich stark nach Geschirrklappern anhörten. Amylin musste im Moment in der Küche sein. Ich könnte also nur ganz kurz hineingehen, nachschauen und ein paar Sekunden später wäre ich auch schon wieder verschwunden. Ich schüttelte fassungslos den Kopf.

>>Wenn Ed das je herausbekommen würde…<<, dachte ich und trat den ersten Schritt in ihr Zimmer. Wie ein harter Schlag ins Gesicht traf mich die Welle ihres Geruchs. Ich hatte nicht mit einberechnet, dass er in ihrem Zimmer so immens sein würde. Unwillkürlich ballte ich meine Hände zu Fäusten und widerstand dem Drang nach unten zu rennen und meiner Kehle Erlösung zu verschaffen. Es war von Anfang an eine schlechte Idee gewesen, hierhergekommen zu sein. Eigentlich wollte ich Grizzlys jagen, ich hatte etwas Ablenkung nötig. Stattdessen sind meine Beine wie von selbst hierher gerannt, diesem köstlichen Geruch folgend. Doch jetzt war es auch egal. Wenn ich schon mal hier war…

Meinen Kiefer fest aufeinanderpressend ging ich um ihr Bett herum und blickte mich um. Ihr Bett, und somit auch ich, befand sich auf einer Anhöhung, während der restliche und viel größere Teil ihres Zimmers hinter zwei dünnen Abtrennwänden, die ich anfangs für eine Wand gehalten hatte, verborgen war. Ich trat einen kleinen Schritt nach unten und war aus dem Schlafbereich ausgetreten. Rechts von mir konnte ich eine Leseecke finden. Regale, die bis unter die Decke reichten, standen an der Wand und davor befand sich eine bequeme Sitzmöglichkeit. Interessiert las ich die Buchrücken. Von Shakespeare über Dumas bis hin zu Ken Follet und Tolkien hatte sie so gut wie jede Literatur, die man in jedem Haushalt wiederfand. Ob sie die wohl alle gelesen hatte? Gegenüber der Leseecke konnte ich ihren Schreibtisch erkennen. An ihrem Computerbildschirm klebten lauter Fotos und Notizzetteln und darüber hing eine Pinnwand, ebenfalls mit Fotos bestückt. Amüsiert glitt mein Blick über die einzelnen Bilder. Die meisten zeigten Amylin mit ein paar anderen Mädchen und Jungen, vermutlich ihre Freunde aus New Orleans und New York. Die restlichen schienen etwas älter, denn auf denen war sie etwas jünger, vermutlich erst 13 oder 14 und stand mit ihren Eltern vor diversen Sehenswürdigkeiten auf der ganzen Welt. Dem Eiffelturm, der Chinesischen Mauer, dem Tokio-Tower. Ich musste mir ein Lachen verkneifen, als ich sah, wie Amylin, im Alter von vielleicht zehn Jahren, von einer riesigen Micky Maus umarmt wurde. Im Hintergrund konnte ich den Schriftzug Disney World Paris erkennen.

Ich wandte mich von den Fotos ab. In einer Ecke stand ein altes, schon leicht verstaubtes Keyboard, verschiedene Bilder hingen an den Wänden, eine Buddhastatue stand auf einem kleinen Tisch. Ein Grinsen huschte mir über das Gesicht. Über allem lag ein Hauch von grün. Sie musste ziemlich vernarrt in diese Farbe sein. Ihre Musikanlage stand auf der linken Seite, direkt neben der Tür. Meine Augen glitten über ihre CDs. Der größte Teil ihrer Sammlung bestand aus Soundtracks, das bemerkte ich, als ich die Titel diverser Filme widererkannte. Dabei hatte sie nicht einmal wenig. Ein weiteres Merkmal, dass mir so nie an ihr aufgefallen wäre. Es juckte mich in den Fingern ihre Anlage anzumachen. Zu gerne hätte ich gewusst, welche Musik sie im Moment gerne hörte, welches Lied ihr nicht mehr aus dem Kopf ging. Doch auch wenn ich mich wöchentlich mit Grizzlys anlegte, so lebensmüde war ich dann doch nicht. Schließlich war Amylin nur eine Etage weiter unten und würde es vermutlich hören, wenn ich hier oben die Musik laufen lassen würde.

Plötzlich vernahm ich ein lautes Klirren. Erschrocken wandte ich den Kopf zu Tür. Es hatte sich angehört, als wäre etwas zu Bruch gegangen. Schnell hatte ich die Tür geöffnet und war bereits einen Schritt im Flur, als ich mich noch gerade so zurückhalten konnte.

>>Em, du hattest dir vorgenommen, nur ihr Zimmer zu sehen. Ein paar Sekunden, nicht mehr.<< Meine Kiefer waren immer noch fest aufeinander gepresst. Zum einen, weil ich mich selbst über meine Schwäche ärgerte, zum anderen weil ich nicht wusste, wie ich sonst ihrem Geruch standhalten konnte. >>Geh zurück, Em. Geh zurück. Du hast hier nichts zu suchen.<< Ich schloss die Augen und konnte hören, wie jemand in einem der unteren Räume mit einem Besen hantierte. Und wenn ich mich nur kurz informierte, dass es ihr gut ging? Nur ein kurzer Blick, der mir versicherte, dass sie durch den Angriff von Mike vorhin jetzt nicht vollkommen am Ende ist? >>Schwächling<<, sagte die Stimme in meinem Kopf. Ein leises Knurren kam mir über die Lippen. >>Wenn du wirklich so stark wärst, wie du immer behauptest, würdest du dich jetzt einfach umdrehen und nie wieder zurückkommen.<< Ich wusste, dass das der einzig vernünftige Weg war. Dass es für alle Beteiligten am besten war. Schade nur, dass ich noch nie ein Moralapostel war. Das hatte ich bislang immer Carlisle und Edward überlassen.

Mit einem Grinsen auf den Lippen ging ich nach rechts. Ich lief an ihrem Bad vorbei, die Tür stand offen, also spähte ich kurz hinein. Nichts Außergewöhnliches. Eine Dusche, ein Badewanne, zwei Waschbecken, Toilette und Schränke. Am Treppenansatz blieb ich stehen und horchte auf. Amylin schien noch immer in der Küche zu sein, denn ich konnte den Wasserhahn hören. Ohne auch nur ein einziges Geräusch zu machen, war ich innerhalb von einer Sekunde am unteren Absatz der Treppe. Der Flur war relativ schmal. Mir gegenüber befand sich in einiger Entfernung die große Eingangstür, daneben standen eine Kommode und ein Kleiderständer. Ein Durchgang auf der rechten Seite verband das Wohnzimmer mit dem Flur und schien ein Teil dessen zu sein. Ich erblickte einen marmornen Kamin, einen Fernseher, mehrere Sitzmöglichkeiten und etliche Bilder. Die meisten waren eingerahmte Fotos. Mein Blick glitt nach links und ich erkannte in zwei Meter Entfernung einen weiteren Durchgang. Aus dieser Richtung kamen die klappernden Geräusche. Interessiert ging ich einen Schritt vorwärts. Dann lugte ich vorsichtig, ein Grinsen nicht verkneifend, um die Ecke. Die Musik von Mission Impossible erklang in meinem Kopf.

Amylin stand mit dem Rücken zu mir und trocknete ein paar Teller und Tassen ab. Sie schien ihren Gedanken nachzuhängen, denn sie hatte nicht bemerkt, dass der Teller, über den sie gerade mit einem Handtuch strich, bereits trocken war. Ich hätte ihr stundenlang zusehen können. Keine Ahnung warum. Es war nicht gerade eine spannende Sache, jemanden beim Geschirr abtrocknen zuzusehen. Doch die Tatsache, dass es sich dabei um Amylin handelte, bannte meine Aufmerksamkeit. Unwillkürlich prägte ich mir jedes Detail ein. Wie sie stand, wie sie den Teller hielt, wie sie mit dem Handtuch darüber strich, wie sie ihren Kopf leicht nach rechts gebeugt hatte.

Ein paar Augenblicke später stellte sie den Teller in einen der Schränke, hängte das Handtuch an einen Haken, direkt neben der Terrassentür, drehte sich um und kam in meine Richtung. Hastig zog ich den Kopf zurück, wandte mich um und wollte die Treppe wieder hoch. Kurz verweilte mein Blick an einem Kalender, für Menschen zu kurz, doch für mich lang genug, um ein winziges Detail wahrzunehmen.

Der Sonntag dieser Woche war rot umkreist. Und neben der 27 war ein kleines Kreuz gemalt worden. Es erinnerte mich irgendwie an ein christliches.

Im nächsten Moment war ich schon oben und ging den Flur entlang zu ihrer Tür. Schnell öffnete ich sie und wollte gerade eintreten, als ich plötzlich stockte. Das war ganz und gar nicht Amylins Zimmer. Zwar war dieses auch in einem hellen grün gehalten, aber im Gegensatz zu ihrem war es viel kleiner. Es befanden sich nur ein großes Doppelbett und ein Schrank darin. Stirnrunzelnd verweilte ich einen Moment. Hatte ich mich etwa in der Tür geirrt? Doch das war unmöglich. Schließlich war ich doch ihrem Geruch gefolgt.

Ich vernahm Geräusche von der Treppe. Amylin war auf den Weg nach oben. Eilig schloss ich die Tür wieder und öffnete die Gegenüberliegende. Dieses Mal war ich richtig. Ich lief quer durch das Zimmer, auf den Balkon und sprang von da in einen der Bäume. Ich bemühte mich schnellstmöglich den größten Abstand zwischen ihrem Haus und mir zu bekommen, ohne groß Aufsehen zu erregen. Erst als ich mein altes Versteck mit den abgebrochenen Ästen erreichte, erlaubte ich mir innezuhalten und zurückzuschauen.

Ein paar Sekunden später betrat Amylin ihr Zimmer. Sie schaltete ihren Computer an und schloss danach die Balkontür. Sie schien nichts bemerkt zu haben. Es war schon seltsam, was im Moment mit mir los war. Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich mich so für einen Menschen interessiert. Noch nie hatte ich ein anderes Geschöpf so detailliert wahrgenommen wie Amylin. Ich ertappte mich, wie mein Blick in der Schule an ihr haftete und ihr folgte. Ich wusste, wo sie Unterricht hatte und nahm kleine Umwege in Kauf, nur um sie von weitem kurz sehen zu können. Würde ich es nicht besser wissen, würde ich sagen ich verhielt mich wie ein verliebter Narr. Doch das konnte nicht sein… Oder?

Missmutig wandte ich mich von ihr ab und lief eilig zurück nach Hause. Es gab etwas, was ich Carlisle erzählen wollte. Doch ich war mir nicht sicher, ob das wirklich wichtig war oder nur pure Einbildung. Etwas hatte mich stutzig werden lassen, als ich vorhin in das falsche Zimmer getreten war. Etwas, wovon ich nicht genau wusste, ob das eher Illusion oder Wirklichkeit war.

Den einzigen Geruch, den ich in ihrem Haus wahrgenommen hatte, war ihr eigener gewesen. Selbst, als ich das Zimmer ihrer Eltern betreten hatte.

Chemistry

 Mit einem Seufzen schloss ich die Autotür und blickte auf. Der Himmel war grau und etliche Wolken bedeckten die Sonne. Ich vermutete, dass es heute noch regnen würde. Betrübt ließ ich meinen Blick über den Parkplatz der Forks High wandern. Ich wusste nicht, wie ich Mike heute gegenübertreten sollte. Das ganze Missverständnis hatte mich gestern noch bis tief in die Nacht beschäftigt. War es nicht schon schlimm genug, dass mich meine Albträume um den Schlaf brachten? Musste ich mich jetzt auch noch mit anderen Dingen rumschlagen? Dinge, die mir eigentlich Halt geben sollten?

Ich erblickte meine Freunde in einiger Entfernung. Wie üblich standen sie um Mikes Chevy herum und warteten darauf, dass es Zeit für den Unterricht wurde. Sie alle lachten und schienen eine Menge Spaß zu haben. In diesem Moment hatte ich das Gefühl nicht wirklich zu ihnen zu gehören. Ich konnte es nicht genau erklären. Aber mir wurde bewusst, dass immer eine Grenze zwischen uns liegen würde. Eine Grenze, derer ich nicht fähig war, sie zu überschreiten. Verärgert schüttelte ich den Kopf. Wie kamst du nur auf solche Gedanken, Amylin? Natürlich gehörst du zu ihnen. Sie sind deine Freunde. Und daran wird sich nie etwas ändern.

Ich atmete einmal tief durch, verdrängte das beklemmende Gefühl und schritt mit einem Lächeln auf sie zu. Ich hoffte nur, dass es nicht so verklemmt aussah, wie es sich anfühlte.

„Ah, unsere Amy ist da“, rief Tyler und deutete in meine Richtung.

Mein Lächeln wurde breiter. „Morgen“, rief ich in die Runde.

„Morgen Amy“, strahlte Mike mich an. Verwundert musterte ich ihn. Ich hatte befürchtet, nach der gestrigen Aktion wäre er nicht besonders gut auf mich zu sprechen. Würde mich ignorieren, mir wütende Blicke zuwerfen oder den anderen sogar raten, sich von mir fern zu halten. Doch nichts. Keine Anzeichen dafür, dass ich ihn gestern verletzt hatte. Keine Anzeichen von Enttäuschung, Trauer oder Missmut. Mike war wie immer. Ob das wohl mit seiner Kampfansage zu tun hatte?

„Ihr seid wieder gesund“, strahlte ich und blickte dabei Tyler, Eric, Mike und Jessica der Reihe nach an.

„Jepp“, antwortete mir Tyler. „Uns kriegt so schnell keiner klein, nicht wahr?“ Eric und Mike bejaten im Chor.

Amüsiert hob ich eine Augenbraue. „Ach ja? Dafür scheint es euch aber ganz schön erwischt zu haben, wie ich gehört habe.“ Ein Grinsen bereitete sich auf meinem Gesicht aus.

„Naja… also…“, begann Tyler, doch Mike unterbrach ihn. „Ja, aber weißt du Amy, andere hätten vermutlich Wochen im Bett gelegen und sich die Seele aus dem Leib gekotzt. Wir aber nicht. Wir sind echte Männer. Wir kennen keinen Schmerz“, sagte er und legte einen Arm um meine Schulter.

Ich konnte nicht anders und musste lauthals lachen. Sein Gesichtsausdruck sah einfach zu komisch aus. Jessica rollte nur mit den Augen und Angela schüttelte lächelnd den Kopf. Die anderen Jungen lachten ebenfalls. Mike wandte sein Gesicht mir zu und grinste mich an. Ich war froh, dass sich anscheinend nichts zwischen uns verändert hatte. Er verhielt sich wie immer. Zwar ein bisschen aufdringlich… aber das war nun einmal Mike. Und ich konnte es ihm nicht verübeln. Dafür war er mir als Freund zu wichtig. Nachdenklich wandte ich den Blick von seinem Gesicht ab und starrte kurz über seine Schulter. Ich hoffte nur, dass die Kampfansage von gestern ein Spaß gewesen war. Ich meinte, die Cullens hatten doch mit all dem hier nichts zu tun.

Ein großer Jeep fesselte plötzlich meine Aufmerksamkeit. Ich war mir sicher, dass ich ihn hier noch nie gesehen hatte. Er war rot und daneben stand eine Person, die ich nur allzu gut kannte. Zumindest vom sehen.
Emmett Cullen lehnte sich gegen die Fahrertür und sah mit einem missmutigen Blick zu uns herüber. Als sich unsere Blicke trafen, grinste er und nickte kurz mit dem Kopf wie zur Begrüßung. Dann ganz plötzlich verfinsterte sich sein Blick und ich spürte den Arm auf meiner Schulter noch ein wenig deutlicher.

„Hey Amy, lass uns zu Mathe gehen.“ Ich wandte mich Mike zu und nickte kurz. Danach blickte ich ihm noch einmal über die Schulter, doch Emmett war bereits verschwunden. Ein Seufzer kam mir über die Lippen. „Alles ok?“, riss mich Mike erneut aus den Gedanken und folgte meinem Blick.

In diesem Moment war ich froh, dass Emmett so zwiespältig und bereits verschwunden war. Er war wie immer und nichts sehnlicher wollte ich, dass es so blieb. Ich wollte mir nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn Mike auf Emmett getroffen hätte.

Etwas erleichtert lies ich mich von Mike in unsere erste Unterrichtsstunde bringen. Doch ich hatte mich geirrt. Mike war ganz und gar nicht wie immer. Klar, er machte Scherze, lachte viel und war genau so anhänglich wie an unserem ersten Tag. Doch ich spürte auch seine Anspannung. Ich merkte, wie er sich des Öfteren umsah, nach dem kleinsten Anzeichen von Gefahr suchend. Ich bemerkte auch, wie er das Thema Cullens konsequent ignorierte. Dabei war ich es gewohnt, dass er jeden Tag mindestens einmal über sie herzog.

Am deutlichsten jedoch wurde es, als uns in einer Pause Alice und Jasper entgegen kamen. Schon von weitem sah ich ihr strahlendes Gesicht und als sie mich bemerkte, winkte sie mir herzlich zu und wollte auf dem direkten Wege auf uns zukommen, da wurde ich schon grob am Arm gepackt und in den nächsten Gang gezogen. Verwirrt blickte ich Mike an, der nur etwas von „Abkürzung“ murmelte. Dabei war ich mir sicher, dass wir länger zum Unterrichtsraum brauchten, als gewöhnlich.

In Englisch saß ich nachdenklich an meinem Platz und starrte aus dem Fenster. Wie üblich war der Platz neben mir frei. Bereits am ersten Tag hatte Mike wie auch in Mathe versucht, den Lehrer zu überreden, sich neben mich setzen zu dürfen. Doch im Gegensatz zu Mr. Cabot, hatte sich dieses Mal der Lehrer nicht überzeugen lassen und so saß ich allein in der vorletzten Reihe. Ich hatte den Kopf mit meiner linken Hand abgestützt und starrte unverwandt den Baum an, der direkt vor den Fenstern stand. Leicht wippten die Blätter im Takt des Windes und hatten eine beruhigende Wirkung. Ich spürte, wie meine Augenlider schwer wurden und musste mich zusammenreißen, nicht plötzlich einzuschlafen. Eine Qual, denn in der Nacht war ich vielleicht gerade mal zu drei Stunden Schlaf gekommen, wenn überhaupt.

Es war alles zu viel für mich. Ich wusste nicht, wie lange ich das noch aushalten würde. Jedes Jahr war es das Gleiche. Jedes Jahr wiederholte es sich. Doch so schlimm wie dieses Jahr war es noch nie. Meine Freunde hatten mir sonst immer Halt gegeben. Zwar wusste niemand auch nur irgendetwas, doch immerhin konnten sie mich ablenken und mir so einen Teil der Anspannung nehmen. Doch wenn ich an Forks dachte… Mike war im Moment zu sehr damit beschäftigt, sich gegen die Cullens zu behaupten. Ein unmögliches Unterfangen, wenn er mich fragte. Warum konnte er nicht einfach akzeptieren, dass er so, wie er war, vollkommen in Ordnung war? Dass er nicht besser sein musste, als die Cullens, denn er hatte Eigenschaften und Qualitäten, die sie nicht hatten. Doch er sah sie nicht ein.

Missmutig stützte ich meinen Kopf nun mit beiden Händen ab. Dann war da noch Jessica. Manchmal fragte ich mich, ob ich sie eigentlich wirklich kannte. Wenn ich das Gefühl hatte, sie zu durchschauen, dann sagte oder tat sie etwas, was mich vollkommen aus der Bahn warf und mich wieder an meinen Menschenkenntnissen zweifeln lies. Tyler kannte ich bisher noch nicht so gut wie die anderen. Eric und Angela schienen mir von allen am Vernünftigsten zu sein, doch leider hatte ich mit ihnen in der Schule nicht so viel zu tun, als dass sie mich wirklich hätten ablenken können. Und dann waren da noch die Cullens.

Ein pochender Schmerz durchzog meinen Kopf. Warum sah Edward mich nur die ganze Zeit so missbilligend an? Ging es ihm um Bella? Mochte er es nicht, wenn ich mit ihr zusammen war? Bislang schien es mir nicht, als würde sie sich in meiner Gegenwart unwohl fühlen. Ich hatte sogar den Eindruck, dass es ihr letztens am Strand ein wenig Spaß gemacht hatte. Jasper war für mich genau so wenig durchschaubar wie Jessica. Sein Ausdruck änderte sich nie. Auch nicht, wenn er mit Alice redete. Ich habe ihn ehrlich gesagt noch nie lächeln sehen, geschweige denn irgendetwas sagen hören. Er hatte immer nur diesen leidenden Gesichtsausdruck. Es schien ihm vermutlich am schwersten zu fallen, den hunderten von Gerüchen, die hier in der Luft lagen, zu widerstehen. Alice war genau das Gegenteil von ihm. Man konnte ihr förmlich im Gesicht ablesen, was sie gerade dachte. Sie schien die aufgeweckteste von allen zu sein. Immer hatte sie ein Lächeln auf den Lippen und versuchte die anderen zu motivieren. Sie schien das Herzstück der Gruppe zu sein. Und dennoch, obwohl sie so klein und zierlich wirkte, war ich mir sicher, dass mit ihr in manchen Situationen nicht gut Kirschen essen war. Ein leichtes Lächeln stahl sich bei diesen Gedanken auf meine Lippen. Und dann war da noch… Emmett.
Augenblicklich tauchte sein Gesicht in meinem Kopf auf. Er grinste breit und entblößte so eine Reihe perfekt weißer Zähne. Im nächsten Augenblick verfinsterte sich seine Miene wieder. Ein erneutes Pochen in meinem Kopf. Ich konnte es nicht erklären, aber irgendwie beschäftigte mich Emmett am meisten. Sogar mehr als Mike oder meine anderen Freunden. Lag es vielleicht an seinen ständigen Stimmungsschwankungen? Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, er wäre eine Frau. Letztens in Chemie, da war er so vollkommen anders. Offen und gut gelaunt. Er lachte, hatte Witze gemacht und ich hatte geglaubt, dass diese Spannung, die sonst immer zwischen uns war, nun endgültig vorbei war. Ich hatte gehofft, man könnte eine normale, freundschaftliche Beziehung aufbauen. Doch wenn ich mich an heute Morgen erinnerte.

Ich seufzte leise und presste meine Hände gegen die Schläfen. Warum nur? Warum nahm mich sein Verhalten so mit? Warum interessierte es mich so sehr, was er von mir dachte? Warum konnte es mir nicht egal sein, dass er mir ständig vollkommen anders gegenüber trat? In New Orleans hatte es viele solcher Typen gegeben und sie alle hatten mich nicht so mitgenommen wie Emmett. Warum nur? Vor Schmerz kniff ich die Augen zusammen und presste die Hände noch tiefer gegen meinen Kopf. Der Druck in meinem Kopf war mittlerweile unerträglich.

Sonntag… ich musste nur bis Sonntag durchhalten. Danach wäre alles endlich vorbei.

Doch ich konnte es nicht mehr aushalten. Manchmal brauchte man ein Ventil. Ein Ventil, um all das loszuwerden, was einem im Kopf herum spukte. Und nichts sehnlicher brauchte ich, als dieses Ventil.

Gemeinsam mit den anderen betrat ich die Cafeteria und machte mich auf den Weg zur Essensausgabe. Meine Kopfschmerzen waren immer noch unerträglich, doch ich hatte zu keinem ein Wort gesagt. Sie würden sich nur unnütze Sorgen machen und das letzte, was ich brauchte, war eine Krankenschwester, die mir sinnlose Fragen stellte. Ich nahm mir nur einen Salat und einen Orangensaft. Was anderes, würde ich im Moment einfach nicht runter kriegen. Mike neben mir sah mich besorgt an. Dann, ganz plötzlich, änderte sich seine Laune schlagartig und er starrte verbittert zum Eingang der Cafeteria. Dort waren soeben die Cullens durch die Tür getreten und sahen sich jetzt flüchtig im Raum um. Mike konnte sich einen leisen Fluch nicht verkneifen. Alice bemerkte uns als erstes. Als sie mich sah, strahlte sie förmlich und kam eilig auf uns zugeschwebt, Jasper hinter sich her ziehend. Die anderen folgten ihr in einigem Abstand.

„Hallo Amylin“, lächelte sie und umarmte mich herzlichst. Etwas verwundert erwiderte ich die Umarmung. Ich spürte, wie sich Mike hinter mir verkrampfte. „Kommst du wieder mit an unseren Platz?“, fragte sie und lächelte mich unverwandt an.

„Also...“, begann ich, doch ich wurde unterbrochen.

„Sie sitzt bei uns“, erwiderte Mike nur knapp. Man konnte den Abscheu in seiner Stimme deutlich hören.

Etwas verwirrt blickte ihn Alice an, dann wandte sie sich wieder mir zu. „Aber das mit dem Shoppen am Wochenende bleibt doch noch, oder?“ Shoppen? Wochenende? Irgendetwas klingelte da. „Wir wollten doch nach Seattle.“ Ich erinnerte mich. Das Thema hatten wir am Montag angesprochen gehabt. Aber, dass sie es wirklich ernst gemeint hatte, überraschte mich nun doch.

„Ich... also…“, doch erneut unterbrach mich Mike. „Amylin, kommst du jetzt?“, fragte er mich, wartete jedoch nicht auf eine Antwort meinerseits ab, sondern nahm mich einfach bei der Hand und führte mich zu unserem Tisch. Verwundert blickte ich von Mike zu Alice, die uns stirnrunzelnd ansah. Danach flüsterte Edward ihr etwas zu. Ihre Augen nahmen kurz einen traurigen Ausdruck an, dann hatte sie sich jedoch wieder gefangen und nahm sich vergnügt ihr Mittagessen.

Mittlerweile hatte Mike mich an meinen Platz verfrachtet und unterhielt sich angeregt mit den anderen, die von der Situation eben gerade nichts mitbekommen hatten. Erschöpft stocherte ich in meinem Salat herum. Wann würde das wohl endlich vorbei sein? Wann würde Mike sich wieder ganz normal verhalten? So wie früher? Vielleicht sollte ich…

Doch ich verwarf den Gedanken sofort wieder. >>Nein, Amylin, du hast dir geschworen, es nie wieder zu machen. Nie wieder.<< Ich führte einen kleine Tomate in meinen Mund und spürte sofort Übelkeit in mir aufsteigen. Na toll, dachte ich, schluckte angestrengt die Tomate herunter und schob den Salat dann ein paar Zentimeter von mir weg. Weil ich mich an dem Gespräch der anderen nicht beteiligen wollte, wanderte mein Blick durch den Raum. Ich bemerkte einen Fleck an der Decke, der mir vorher noch nie aufgefallen war. Sah irgendwie nach einem Obstfleck auf. Ob jemand einmal einen Apfel oder eine Banane an die Decke geworfen hatte?

Mein Blick glitt weiter und blieb plötzlich an einem Paar karamellfarbener Augen hängen. Ich wusste sofort, wem diese Augen gehörten. Emmett starrte mich unverwandt an. Anfangs war sein Gesicht ausdruckslos, dann grinste er plötzlich und sah mich schief an. Das Pochen in meinem Kopf wurde stärker und ich verkniff mir ein Seufzen. Und dann, als hätte ich es geahnt, verfinsterte sich seine Miene plötzlich.

Da war es. Das, was das Fass zum Überlaufen und mein Kopf regelrecht zum Explodieren brachte. Mein Ventil.
Kurzerhand stand ich auf und ignorierte den Stuhl, der dabei umfiel. Mit hämmerndem Kopf und wutverzerrtem Gesicht ging ich schnurstracks auf ihn zu. Ich sah die Überraschung in seinem Gesicht und wusste, dass ich vermutlich in diesem Moment eine Grenze überschritt, doch das war mir egal. Ich konnte nicht anders. Ich musste das alles jetzt einfach raus lassen.

„Du. Ich. Reden. Sofort!“, presste ich zwischen den Lippen hervor.

Einen Moment sah Emmett aus, als wüsste er nicht, ob er jetzt lachen sollte oder lieber nicht. Als er jedoch das Funkeln in meinen Augen wahrnahm, wurde seine Miene schlagartig ernst und er erhob sich ohne zu zögern. Resignierend wandte ich mich um und lief zum Ausgang der Cafeteria, die Blicke der Schüler ignorierend. Emmett folgte mir. Mein Kopf fühlte sich mittlerweile an, als würde er in zwei Teile gespalten werden, doch ich verdrängte das Gefühl. Ich durfte mir jetzt keine Schwäche erlauben. Ich musste standhaft bleiben und ihm einfach mal meine Meinung sagen. Ich wusste, im Nachhinein würde ich es vermutlich bereuen. Normalerweise fuhr ich nie so schnell aus der Haut. Ich war die Ruhe in Person. Doch die ganze Aufregung in der letzten Woche und dann noch die Alpträume… es war einfach alles zu viel für mich.

Als wir außer Sichtweite waren, wirbelte ich plötzlich herum und blickte Emmett wutverzerrt an. „Was soll das?“, fragte ich ihn wütend.

„Was?“, erwiderte er und musste unwillkürlich Grinsen.

„Diese ganzen Gefühlsschwankungen.“ Emmett sah mich nur verwirrt an. „Dieses ständige hin und her. Es bringt mich um den Verstand, es raubt mir den letzten Nerv und meinen Schlaf.“

Ein Grinsen trat auf sein Gesicht. „Ich raube dir den Schlaf? Welch ein Kompliment.“

Dafür hätte ich ihm am liebsten eine gescheuert. Doch ich wusste, dass ich mir eher den Arm brechen würde, als ihm auch nur den Hauch einer Verletzung zuzufügen. „Ja, das tust du. Wo liegt dein Problem, Emmet?“

„Problem? Was für ein Problem?“

„Du musst doch irgendein Problem mit mir haben, sonst würdest du nicht dauernd deine Meinung ändern.“

„Amylin, ich weiß ehrlich nicht, wovon du sprichst.“

Ich rollte mit den Augen. „Weißt du, ich verstehe dich nicht. In dem einen Moment bist du fröhlich, gut gelaunt, grinst und machst Witze und im nächsten Augenblick siehst du aus, als würdest du mir die Pest an den Hals wünschen. Ich verstehe dich nicht, Emmett. Wir kennen uns überhaupt nicht, wir haben einmal in Chemie zusammen gearbeitet und ich fand da lief es gut und man könnte normal miteinander umgehen. Doch als ich deinen Blick heute Morgen gesehen habe, hast du mich wieder vollkommen aus dem Konzept gebracht.“ Ich redete mich in Rage. Das passierte mir eigentlich nie. „Ich habe tierische Kopfschmerzen deswegen und meine andauernden Albträume reichen mir schon, als dass ich mich gerne auch noch mit solchen Kleinigkeiten wie deinen Gefühlszuständen rumschlage. Mike hast du schon provoziert, sodass er dir am liebsten an die Gurgel springen würde.“

Emmett gluckste. „Das will ich sehen.“

„Wir wissen beide, dass er das nicht überleben würde“, fauchte ich. Einen Moment war er perplex. „Autsch“, fluchte ich und presste kurz meine Hände gegen die Schläfen. Dieser Schmerz war einfach unerträglich.

„Alles in Ordnung, Amylin?“, fragte Emmett besorgt, trat einen Schritt auf mich zu und streckte seine Hand nach mir aus. Ich schlug sie weg.

„Nein, verdammt, nichts ist in Ordnung. Wenn es das wäre, würde ich jetzt nicht hier mit dir stehen und diese dämliche Diskussion führen. Sag mir einfach wo dein Problem liegt.“ Während ich weiterhin meine Schläfen mit den Händen massierte, beobachtete ich Emmett genau.

Eine Weile schwieg er. Er schien vermutlich das Für und Wider abzuwägen. „Ich habe kein Problem“, erwiderte er nur.

Ich öffnete den Mund, um zu kontern, als mir bewusst wurde, dass ich keine Antwort darauf hatte. Etwas verdutzt sah ich ihn an. „Kein Problem?“ Er schüttelte den Kopf und grinste. „Und warum starrst du mich dann immer so verschieden an?“

„Die Blicke gelten nicht dir. Jedenfalls nicht der, der so aussieht, als würde ich dir die Pest an den Hals wünschen.“

„Und wem dann?“ Dieses Gespräch entwickelte sich in eine komische Richtung.

„Der Person, die dauernd um dich rumschleicht“, erwiderte er nur.

Verwirrt sah ich ihn an. Was sollte das nun wieder heißen? Die Person, die um mich rumschlich? Wer konnte das sein? Einen Moment überlegte ich. Wer war denn die ganze Zeit mit mir zusammen? Ganz plötzlich tauchte ein Gesicht in meinem Kopf auf und ich seufzte innerlich.

Ich wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, da wurde ich plötzlich an den Oberarmen gepackt und sanft gegen die nächste Wand gedrückt. Verwundert blickte ich auf und sah in Emmetts karamellfarbene Augen. Er stützte sich mit beiden Händen neben meinem Kopf ab und grinste herausfordernd. Was sollte das denn jetzt? „Ich bin also der Traum deiner schlaflosen Nächte, ja?“

Aaaargh! Warum musste dieser Idiot mir eigentlich immer die Wörter im Mund umdrehen?

„Das ehrt mich jetzt aber“, grinste er weiterhin und kam mit seinem Kopf auf meine Höhe.

„Bilde dir jetzt bloß nichts darauf ein. Das hat gar nichts mit dir zu tun.“

„Ach nein? Aber hast du nicht gesagt, warte… ich zitiere…“

„Ja ja, schon gut“, unterbrach ich ihn. Emmett grinste noch eine Spur breiter. „Aber ich meinte damit nicht dich persönlich. Ich meinte, dass die kurze Zeit, in der ich Schlaf bekommen würde, in der ich von Albträumen vielleicht mal verschont bleibe, ich letztendlich dann damit verbringe, mir Gedanken darüber zu machen, dass ich meine Freunde nicht verliere, weil sie irgendetwas gegen dich und deine Familie haben.“

„Albträume?“, fragte Emmett und ignorierte den restlichen Teil.

„Ja“, erwiderte ich nur kurz. „Ich hab seit kurzem Albträume die mich heimsuchen. Aaargh… warum erzähle ich dir das eigentlich?“

Emmetts Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an. Seine Augen wandten unverwandt auf meinen. Verwunderung machte sich in mir breit. „Alles in Ordnung?“, fragte ich ihn, weil mich seine Reaktion etwas verwirrte.

Ein Grinsen stahl sich wieder auf sein Gesicht. Er war nur ein paar Zentimeter von mir entfernt und ich konnte seinen Geruch wahrnehmen. Er war angenehm und hatte eine beruhigende Wirkung. Genau wie seine Augen. Diese Farbe… dieser Ausdruck… Ich hatte das Gefühl, dass, wenn ich mich dort hineinlegen würde, alle Sorgen vorbei wäre. Dass mich dort keine Albträume heimsuchen würden. Ich hatte das Gefühl, dass im Moment seine Augen der sicherste Ort auf der Welt waren. Verdutzt schüttelte ich kurz den Kopf. Was dachte ich denn da auf einmal?

Plötzlich löste Emmett sich von der Wand und brachte so etwas mehr Abstand zwischen uns. Die Wirkung seiner Augen ließ schlagartig nach. „Also, dann…“, begann ich, doch Emmett unterbrach mich. Kurz hob er seine Hand und strich über meine Schläfe. Ich konnte die Kälte spüren. Sie hatte etwas Wohltuendes für meinen Kopf, der sich durch die ganzen Schmerzen glühend heiß anfühlte. Im nächsten Augenblick grinste er wieder. „Wir sehen uns ja dann in Chemie.“ Danach ging er zurück zur Cafeteria.

Etwas verwirrt blieb ich an Ort und Stelle stehen und sah ihm hinterher. Meine Kopfschmerzen waren verschwunden.

 

 

Emmetts Sicht

 

Kaum hatte ich unseren Tisch wieder erreicht, bemerkte ich Alice breites Lächeln auf dem Gesicht. Ich rollte nur mit den Augen und versuchte so gut es ging, ihre gute Laune zu ignorieren. Es war natürlich klar, dass sie wusste, was eben vorgefallen war. Nicht umsonst hatte sie die Gabe, in die Zukunft zu schauen. Ich hätte es jedoch bevorzugt, wenn sie mir vorher Bescheid gegeben hätte. Dann hätte ich mich darauf vorbereiten können, aber nein. Vielleicht sollte ich ihr dafür heute Abend…

„Wag es ja nicht, Emmett!“, unterbrach sie mich in meinen Gedanken und funkelte mich kurz an. Ich schnaubte nur. Dann, ganz plötzlich, strahlte sie. „Und? Was wirst du jetzt machen?“ Aufregung und eine Spur Vorfreude blitzte in ihren Augen auf. War ja klar, dass sie nicht lange beim Thema bleiben würde…

Ich zuckte kurz mit den Schultern. Keine Ahnung, was sollte ich denn ihrer Meinung nach jetzt tun?

„Na, du musst doch irgendeinen Plan haben“, redete sie weiter. „Mike Newton wird so schnell nicht aufgeben, dass sehe ich. Ich hab dich vor dem Kuss gewarnt. Aber wenn ich sehe, was er noch so alles vorhat.“ Ein tiefes Knurren kam aus meiner Kehle. Sollte er es auch nur wagen, ihr zu nahe zu kommen…

„Sei froh, dass du seine Gedanken nicht hören musst“, erwiderte Edward missmutig und hob eine Augenbraue. Danach wandte er sich wieder vollkommen Bella zu. Ja, das war wirklich ein Glück. Ein Glück für ihn. Sonst hätte ich vermutlich schon viel zu oft meine Beherrschung verloren und ihm den Hals umgedreht.

„Weißt du, Emmett, Wir würden uns alle freuen, vor allem Esme, wenn du jemanden finden würdest. Jemanden, der dich seelisch berührt, der bereit ist, sein Leben für dich zu geben…“ Edward räusperte sich vernehmlich „… und für den du das Wichtigste auf der Welt bist. Doch wir wollen dich nicht drängen. Es ist deine Entscheidung, wie weit du gehen willst und wie nah du jemanden an dich heran lassen möchtest. Obwohl du eigentlich davor nicht fliehen kannst, denn ich habe es schon längst gesehen“, trällerte sie den letzten Teil.

Ich seufzte leise, konnte aber nicht umhin, dass mir dabei gewisse Bilder im Kopf herum schwirrten. Bilder, in denen sie und ich alleine waren, Bilder in denen ich das tat, was dieser verfluchte Newton letztens gemacht hatte. Edward räusperte sich erneut und ich grinste. Etwas Wohliges hatte sich in meinem Körper ausgebreitet, als ich das gesehen hatte. Etwas, was sich nicht so leicht ignorieren ließ.

Plötzlich klingelte es und ich erhob mich augenblicklich. „Wir sollten zum Unterricht“, sagte ich nur und rückte den Stuhl zurück an den Tisch. Ich konnte nicht leugnen, dass ich schnellstmöglich zu Chemie wollte, immerhin sah ich sie dann wieder.

„Alice, was ist los?“, hörte ich Jasper aufgeregt fragen und ich wandte meinen Kopf verwirrt zu ihm um. Alice saß da, vollkommen angespannt und mit vor Schrecken geweiteten Augen. Ich sah sofort, dass sie eine Vision hatte.

„Alice?“, fragte Jasper eine Spur besorgter.

Sie schüttelte den Kopf. „Amylin…“, keuchte sie nur.

 

 

Amylins Sicht

 

Kurz nach Emmett betrat auch ich dann wieder die Cafeteria. Ich hoffte, dass die Neugierde der Schüler mittlerweile verklungen war, die uns auf dem Weg nach draußen so offenkundig begegnet war. Und glücklicherweise waren es nur ein paar, die mir kurz mit ihren Blicken folgten und sich dann wieder ihren eigenen Sorgen zuwandten.

Doch leider begegnete mir diese Gleichgültigkeit nicht an meinem Platz. Kaum hatte ich mich wieder auf meinen Stuhl gesetzt, stürzten hunderte von Fragen auf mich ein.

„Was hast du mit Cullen besprochen?“

„Kennt ihr euch etwa?“

„Hast du uns etwas verschwiegen, Amy?“

„Seid ihr zusammen?“

„Warum starrt er dich die ganze Zeit an?“

„Sag bloß, du stehst auf ihn? „Wird er jetzt in den Mittagspausen bei uns sitzen?“

Wie ein Pistolenfeuer schossen die einzelnen Fragen aus den Mündern meiner Freunde. Ich konnte letzten Endes nicht einmal mehr sagen, wer welche gestellt hatte. Es war ein heilloses Durcheinander. Doch meine Aufmerksamkeit war auf Mike gerichtet. Verkrampft hatte er seine Gabel umklammert und stocherte wütend auf seinem Mittagessen herum. Seine Lippen waren zu einer schmalen Linie verzogen und über seiner Stirn bildete sich eine Zornesfalte.

Etwas mitleidig sah ich ihn an und sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen. Ich hätte nicht rausgehen sollen. Ich hätte nicht mit Emmett reden sollen, auch wenn es gut getan hatte, endlich mal einen bedrückenden Teil loszuwerden und die Kopfschmerzen dadurch verschwunden waren. Mike hatte ich damit wieder verletzt. Und das wollte ich nicht.

Vorsichtig streckte ich die Hand nach ihm aus. Doch bevor ich ihn berühren konnte, klingelte es plötzlich. Erleichtert erhob er sich vom Platz. „Amy und ich müssen jetzt zu Chemie“, grinste er in die Runde und versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Doch ich wusste, dass diese Fragerei eben seine persönliche Hölle gewesen war. Denn es waren die gleichen Fragen, die vermutlich auch ihm jetzt durch den Kopf gingen. „Kommst du, Amy?“, fragte er mich, sah mich jedoch nicht an.

Etwas überrascht erhob ich mich und nahm das Tablett vom Tisch. Seit wann war er so distanziert? Sonst hatte er mich doch nicht gefragt, sondern einfach an der Hand genommen. Nicht, dass mir das etwas ausmachte…

Ich folgte ihm zu unserem nächsten Unterrichtsraum. Den ganzen Weg über sprach keiner ein Wort. Ich wollte etwas sagen, doch ich wusste nicht was. Ich hatte das Gefühl, egal was ich sagen würde, es würde letzten Endes nur noch schlimmer werden. Doch auch wenn ich nichts sagte… Es wurde trotzdem schlimmer.
Als wir den Klassenraum erreicht hatten, kam uns Emmett mit blassem Gesicht entgegen. Wundern sollte es mich eigentlich nicht, denn es war üblich, dass Vampire blass waren. Doch irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass er bleicher war als sonst… schon fast kalkweiß. Mike neben mir konnte nicht umhin, einen leisen Fluch auszusprechen. Er beschleunigte seine Schritte und kam so schneller an der Tür an als Emmett. Einen kurzen Moment befürchtete ich, er würde auf ihn losgehen. Alle Vorsicht fahren lassen und einfach mal alle Wut, die sich in ihm angestaut hatte, freien Lauf lassen. Doch glücklicherweise schien Mike heute einigermaßen vernünftig zu sein.

Ohne mit der Wimper zu zucken betrat er den Raum und ging schnurstracks auf seinen Platz zu. Ich folgte ihm in einigem Abstand. Ein Seufzen kam über meine Lippen. Wie konnte ich das nur je wieder gut machen? Ich hatte das Gefühl, dass alles, was ich machte, die Situation verschlimmerte. Dass ich Bella angesprochen hatte und somit mit den Cullens involviert wurde. Dass ich versuchte, es allen Recht zu machen und somit doch wieder irgendwen verletzte. Ich hatte das Gefühl, dass meine bloße Anwesenheit ein Fehler war. Vielleicht hätte ich nie hierherkommen sollen. Forks war mir wie ein sicherer Ort vorgekommen. Die kleine Fläche… die geringe Einwohnerzahl… die Abgeschiedenheit durch die großen Wälder… Das genaue Gegenteil von New Orleans oder New York. Und deswegen perfekt. Doch wenn ich die jetzige Situation betrachtete…

Ich hatte meinen Platz erreicht und wollte mich gerade auf meinen Stuhl setzen, als mich plötzlich eine eiskalte Hand am rechten Handgelenk packte. Verwirrt drehte ich mich um und sah in Emmetts aschfahles Gesicht. Seine Augen waren angsterfüllt auf mich gerichtet. Verwundert sah ich ihm einen Moment an. Er schien nicht wirklich zu wissen, was er gerade machte. Er sah eher so aus, als wäre er in Gedanken versunken. Und diese Gedanken machten ihm anscheinend eine Höllenangst.

„Emmett?“, fragte ich leicht besorgt. Als würde er aus einem Traum aufwachen, schüttelte er kurz den Kopf und sah mich dann verwundert an. Danach senkte sich sein Blick zu seiner Hand herab, die immer noch meine umklammerte und als er realisierte, was er da gerade tat, zog er sie augenblicklich zurück. „Entschuldigung“, nuschelte er und ging dann eilig an mir vorbei zu seinem Platz.

Verdutzt blickte ich ihm hinterher. Seine Berührung konnte ich immer noch zu deutlich an meinem Handgelenk spüren. Was sollte das denn jetzt? Als ich mich wieder umwandte, bemerkte ich Mikes hasserfüllten Blick. Einen Moment blieb ich stehen und betrachtete ihn betrübt, während er mich konsequent ignorierte. Danach seufzte ich ein weiteres Mal und setzte mich endlich an meinen Platz. Na das konnte ja eine lustige Stunde werden. Vor allem, wenn wir experimentierten.

In diesem Augenblick läutete es zum Unterricht und Mr. Wentorf betrat das Büro, einen Krug mit einer hellgelben, fast klaren Flüssigkeit in den Händen. Vorsichtig stellte er ihn auf seinem Pult ab und wandte sich dann uns zu.

„Guten Morgen“, sagte er und die Schüler antworteten im Chor. „Damit der Stoff auch schön hübsch in Ihren  kleinen Köpfchen bleibt, werden wir heute noch eine Reihe weiterer Experimente durchführen.“ Was hatte ich gesagt? „Kann mir einer sagen, was das hier…“, er hob den Krug hoch, „…für eine Lösung ist?“ Erwartungsvoll sah er uns an.

Verdutzt blickten die Schüler zurück. Ich schüttelte nur leicht amüsiert den Kopf. Das konnte alles Mögliche sein. Von gefärbtem Wasser über Salpetersäure und Natronlauge bis hin zu Ethanol. Es könnte auch gelöster Zucker sein oder ein anderes Kohlenhydrat. „Keiner?“

Unwillkürlich drehte ich meinen Kopf nach hinten. Keine Ahnung warum. Es war wie damals, beim Haus der Cullens. Irgendeine Art Drang zwang mich, dies zu tun. Und als ich mich umsah, blickte ich wieder in diese Karamellaugen. In diese Augen, die ich überall wiedererkennen würde.

Emmett starrte mich an und sein Gesicht zierte einen konzentrierten Ausdruck, der sich nicht veränderte. Egal, wie lange ich ihn ansah. Ob er sich meine Aussage von vorhin zu sehr zu Herzen genommen hatte? Jedenfalls sah es danach aus, wenn man bedachte, dass er weder den Blick abwandte, noch seine Miene änderte. Er hätte eine Statue sein können, hätte ich nicht gewusst, dass er lebte. Oder… zumindest so etwas in der Art.

Ich versuchte den Blick wieder abzuwenden, was mir nicht so einfach gelang. Ich konnte es nicht genau beschreiben, aber seine Augen… Sie wirkten so anziehend und fesselnd. Ich hätte sie stundenlang betrachten können und wäre vermutlich nie müde geworden.

Verwirrt über meine eigenen Gedanken zwang ich mich dem Lehrer zuzuhören. „Das hier…“, er tippte ein paar Mal mit dem Finger gegen den Krug, „… ist hochprozentige Salzsäure. Um genau zu sein, 90%ige“, sagte Mr. Wentorf fachmännisch.

„Und warum nicht 100%ige?“, warf ein Schüler in den Raum.

Mr. Wentorf wandte sich ihm zu und betrachtete ihn eine Weile. Danach, ohne den Blick abzuwenden, fragte er: „Mrs. Lamar? Würden Sie diese Frage bitte beantworten?“

Ich? Wieso ich? Verdutzt sah ich ihn an, während er langsam seine Aufmerksamkeit von dem Schüler abwandte und mich mit einer hochgezogenen Augenbraue erwartungsvoll ansah. „Hm?“, machte er nur.

„Ähm...“, erwiderte ich, „… weil 100%ige Säure vollkommen rein wäre und das mit einfachen schulischen Mitteln nicht möglich ist. Die Luft verunreinigt einiges… der Behälter kann durch diverse Rückstände die Flüssigkeit auch verunreinigen. Um eine vollkommen reine Säure zu erhalten und mit dieser zu experimentieren, bräuchte man schon sterilisierte Räume und Gerätschaften.“

Mr. Wentorf schürzte die Lippen. „Nicht sehr fachmännisch, aber im Grunde haben Sie es erfasst. Gibt es noch weitere Fragen, oder darf ich dann kommentarlos fortfahren?“ Sein Blick glitt über die Köpfe der Schüler. Keiner sagte ein Wort. „Sehr schön. Also wie bereits gesagt werden wir heute mit einer hochprozentigen Säure arbeiten. Da eine winzige Menge ausreicht, um erheblichen Schaden auf Ihrer Haut anzurichten und der gesamte Liter, den wir hier haben, Sie etwaige tödlich verätzen könnte, verlange ich von Ihnen ein sehr aufmerksames und vor allem gesittetes Experimentieren. Sie sind jetzt in einem Alter, wo man so etwas von Ihnen verlangen kann.“ Mr. Wentorf schaute in die Runde. Er tat ja gerade so, als verhielten wir uns im Unterricht wie Raubtiere bei der Fütterung.

Obwohl meine Augen unverwandt auf das Geschehen an der Tafel gerichtet waren, spürte ich dennoch den stechenden Blick in meinem Nacken. Zu gerne hätte ich mich umgedreht und mich vergewissert, dass es immer noch diese Karamellaugen waren. Diese warmen Augen, die mich vorhin mit Sicherheit und Geborgenheit gelockt hatten…

Energisch schüttelte ich den Kopf. Was soll das, Amylin? Warum denkst du nur so etwas die ganze Zeit? Du hast wirklich etwas Schlaf nötig.

„Bilden Sie bitte Zweier-, maximal Dreiergruppen und experimentieren Sie so, wie ich es Ihnen auf den Arbeitsblättern beschrieben habe.“ Mr. Wentorf ging durch die Reihen und teilte Blätter aus. „Schutzbrillen sind wie immer Pflicht und ich würde Ihnen auch raten, einen Kittel anzuziehen. Sicher ist sicher.“ Er reichte mir zwei Blätter und ich gab eines davon Mike, der es kommentarlos entgegennahm, ohne mich ein einziges Mal anzusehen.

Enttäuscht wandte ich mich den Aufgaben zu. Ich hoffte, dass er sich im Laufe des Unterrichts wieder fangen würde. Auch wenn seine anhängliche Art manchmal etwas zu viel des Guten war, es war nun mal ein Teil von ihm und deswegen mochte ich ihn. Ich wollte den alten Mike wiederhaben.

Kurz überflog ich die Aufgaben. Ich hatte etwas davon in einem der Chemiebücher gelesen, die ich zu Hause hatte. Der Stoff war mir also nicht allzu fremd, obwohl er nicht so sicher verankert war, wie der den ich bereits in New Orleans hatte.

„Ich würde heute gerne mit euch zusammenarbeiten“, sagte eine tiefe Stimme. Ich wusste sofort, wem sie gehörte und hoffnungsvoll blickte ich auf. Wie erwartet starrte ich in dieses Karamell, das mich musterte und mir erneut das Gefühl gab, dass ein Teil der Last von meinen Schultern verschwand. Emmett grinste mich an und ich konnte nicht umhin, das Lächeln zu erwidern.

„Nein“, entgegnete Mike scharf. Genervt wandte Emmett seinen Blick von mir ab und musterte ihn.

„Mit dir habe ich auch nicht gesprochen, Kleiner.“ Mike schnappte hörbar nach Luft und in seinen Augen konnte ich sehen, dass er vor Wut schäumte.

„Tja, da ich aber ein Teil dieser Gruppe bin, habe ich ein gewisses Mitspracherecht“, giftete er. „Und ich sage: Nein.“

„Da ich aber glaube, dass du eher der passive Teil bist, da du eh nie etwas auf die Reihe bekommst, liegt das größere Mitspracherecht bei Amylin“ Er grinste mich an und zwinkerte.

„Vergiss es, Cullen. Such dir eine andere Gruppe.“

„Ah, Mr. Cullen. Schön, Sie arbeiten also heute mit Mrs. Lamar und Mr. Newton?“, sagte Mr. Wentorf dicht hinter ihm. Es war eher eine Feststellung, als eine Frage.

Herausfordernd grinste Emmett Mike an, dann wandte er sich wieder mir zu. „Darf ich mich zu dir setzen?“

„Klar“, antwortete ich nur. Was war das denn jetzt für eine Frage? Wir arbeiteten zusammen, da musste er sich schließlich zu uns setzen.

Kurzerhand hatte er einen Stuhl herangezogen und setzte sich neben mich. Er war mir bedenklich nahe, sein Oberkörper trennte nur wenige Zentimeter von meinem und er grinste mich die ganze Zeit an. Ich konnte seinen unglaublichen Geruch wahrnehmen und für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass meine Beine weich wurden. Zum Glück saß ich.

Angestrengt wandte ich den Blick ab und versuchte mich wieder auf die Aufgaben zu konzentrieren, doch keines der Wörter, die ich las, ergaben irgendeinen Sinn für mich.

„Ich soll dir von Alice sagen, dass sie dich am Samstag früh abholt“, sagte Emmett leise, damit uns niemand hörte. Verwirrt blickte ich ihn an. Samstag?

„Wir sollen experimentieren“, grummelte Mike rechts neben mir, doch ich nahm es kaum wahr. Zu sehr wurde ich von diesen Augen gefesselt.

„Samstag?“, fragte ich ihn und versuchte mich einigermaßen auf das zu konzentrieren, was er mir gleich sagen würde. Was war heute nur los mit mir?

„Ihr wolltet doch nach Seattle“, grinste er. Seattle? Seattle? Unaufhörlich ratterte es in meinem Kopf. Oh Gott… diese Augen. Ich schluckte kurz und atmete einmal tief ein.

„Wir sollen experimentieren“, wiederholte Mike eine Spur energischer.

Dieses Mal hörte ich ihn. Ich wollte mich ihm gerade zuwenden und etwas erwidern, als Emmett dazwischenredete. „Vielleicht solltest du mal die Klappe halten, wenn sich zwei erwachsene Menschen unterhalten.“ Sein Blick war kalt. Keine beruhigende oder fesselnde Wirkung mehr… keine Wärme.

Mike schnaubte. „Du und erwachsen? Dass ich nicht lache.“

„Im Gegensatz zu dir schon“, entgegnete Emmett nur.

„Weißt du?“, motze Mike ihn an. „Typen wie du kotzen mich echt an. Die glauben, sie könnten alles haben und ein einziger Blick genügt und jedes Mädchen ist ihnen verfallen.“

„Was für ein Glück, dass das bei mir keine Einbildung ist“, grinste er wieder herausfordernd.

Mike sah aus, als würde er ihm gleich an die Gurgel springen und Emmett belustigte dies. „Glaubst du echt, Amy steht auf solche hirnlosen Muskelpakete, wie du eins bist?“, giftete er. Ich? Was hatte ich denn jetzt schon wieder damit zu tun?

„Ich weiß es nicht, aber mit Sicherheit steht sie nicht auf anhängliche, kleine Hunde, die jedes Mal, wenn sie vorbeikommt, mit dem Schwanz wedeln.“

„Immerhin sind Hunde treu“ Mikes Augen sprühten Funken.

Emmetts Miene wurde wieder kalt. „Willst du auf irgendwas Bestimmtes hinaus, Zwerg?“

„Mit euch Muskelprotzen ist es doch immer das Gleiche. Ihr wechselt eure Freunde schneller als andere ihre Unterwäsche.“

Jetzt sah Emmett so aus, als würde er ihm gleich an die Gurgel springen. Ich musste eingreifen, bevor noch etwas Schreckliches passierte. „Immerhin bedränge ich Amylin nicht und bilde mir auf ein Hallo gleich einen Heiratseintrag ein.“

„Jungs?“, mischte ich mich ein, doch sie ignorierten mich.

„Das mache ich auch nicht. Ich versuche sie nur vor miesen Typen wie dir fern zu halten.“

„Jungs?“

Emmett lachte kurz. „Du solltest sie eher vor dir selbst schützen. Wer zerrt sie denn überall hin, ohne auf ihre eigene Meinung zu achten?“

„Jungs?“

„Das mache ich nur, damit hirnverbrannte Typen wie du, ihr nicht in die Quere kommen. Ich versuche sie nur vor Dummheiten zu beschützen.“

„Jungs!“, sagte ich jetzt energischer. Emmett hielt in seiner Erwiderung inne und starrte mich verwundert an, ebenso Mike. Leicht gereizt sah ich zwischen ihnen hin und her. „Wir sollen hier experimentieren und ihr benehmt euch wie ein Haufen hormongesteuerter Teenager, die sich um das gleiche Paar Schuhe streiten.“ Ein Wunder, dass der Rest der Klasse noch nichts mitbekommen hatte. Mike wollte etwas sagen, doch ich fuhr ihm dazwischen. „Mr. Wentorf hat gesagt, dass Emmett mit uns zusammenarbeitet, also werden wir das machen. Aber ich bezweifle, dass wir das hinbekommen, da ihr eher so ausseht, als würdet ihr euch die Säure gegenseitig über den Kopf schütten, als mit ihr zu experimentieren.“ Vorwurfsvoll sah ich sie abwechselnd an. Emmett schürzte kurz die Lippen, danach lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. „Meinetwegen könnt ihr euch in der Pause gegenseitig die Köpfe einschlagen. Ich bezweifle zwar, dass es etwas bringt, aber wenn es euch danach besser geht.“ Mike schnaubte nur und lehnte sich ebenfalls mit verschränkten Armen zurück. „Ich werde jetzt nach vorne gehen und ein wenig von der Säure zum Experimentieren holen. Und wenn ich wiederkomme, will ich einen Arbeitsplatz vorfinden, an dem man wirklich arbeiten kann. Das heißt Schutzbrillen, Kittel und Gerätschaften. Und das alles in einem tadellosen Zustand und nicht zerbrochen irgendwo in eurem Körper steckend.“ Oder zumindest in einem.

Um meine Wörter noch etwas mehr zu unterstreichen, stand ich kurzerhand auf und ging zum Lehrerpult. „Hey Amylin, warte kurz“ Emmett sprang ebenfalls auf und kam mir hastig hinterher. „Ich mach das mit der Säure.“

„Nein danke. Ich glaube, ich bin alt genug und werde das auch noch selbst hinkriegen“, antwortete ich leicht belustigt. „Du holst die Geräte.“

„Ich sagte, ich mach das!“ Er griff nach meiner Hand und wirbelte mich herum. Entsetzt sah ich ihn an. Sein Blick war wütend, aber ich konnte Besorgnis in seinen Augen erkennen. Was hatte er denn jetzt schon wieder?

„Autsch“, sagte ich, weil er meine Hand so fest umklammerte, dass es wehtat. Er ließ augenblicklich los. „Danke“, sagte ich und strich kurz mit der anderen Hand über das gerötete Handgelenk. Einen Moment sahen wir uns in die Augen. Ich verwirrt, er sichtlich beängstigt.

„Ich mache das mit der Säure“, sagte er leise.

Stirnrunzelnd sah ich ihn an. Was sollte das denn jetzt werden? Ein erneuter Machtkampf? Darauf hatte ich nun wirklich keine Lust. „Emmett, ich möchte jetzt nicht darüber diskutieren, wer von uns beiden, den stärkeren Willen hat und das bessere Durchsetzungsvermögen hat, aber ich habe gesagt, dass…“

In diesem Moment hörte ich einen spitzen Schrei. Verwirrt blickte ich nach rechts und Emmett folgte meinem Beispiel.

Sarah, ein Mädchen aus der zweiten Reihe hatte den Krug mit der Säure vom Pult genommen und wollte ihn anscheinend an ihren Platz tragen, um dort eine Probe zu entnehmen. Als sie sich umdrehte, lief unweigerlich ein anderer Schüler in sie hinein, und der Krug viel ihr aus den Händen. Vor Entsetzen weiteten sich meine Augen, als ich realisierte, was hier gerade geschah.

Es passierte alles wie in Zeitlupe. Ich sah, wie der Krug hoch flog. Wie sich die hellgelbe Flüssigkeit langsam ihren Weg aus dem Gefäß erkämpfte und sich immer weitere ausbreitete. Genau auf mich zu.

Mein Atem beschleunigte sich, mein Puls explodierte fast in meinen Adern. Ich spürte, wie die Mauern meines Geistes zusammenbrachen, wie die Kapsel in meinem Körper, welches das größte Unheil auf der Welt verbarg, einen Riss bekam.

Es war zu spät. Zu spät zum Ausweichen. Selbst wenn ich einen Adrenalinschub bekommen hätte. Vor meinem geistigen Auge erschienen Bilder aus den letzten Wochen. Der Umzug, Forks, mein neues Zimmer, Mike und die anderen, Bella, die Cullens, meine schrecklichen Albträume… Emmett.

Unweigerlich sah ich wieder seine warmen Augen vor mir. Wo war der Schutz, den sie mir versprochen hatten? Wo war die Sicherheit, mit der sie mich gelockt hatten?

Man sagte ja bekanntlich, dass wenn man starb, einem das ganze Leben noch einmal vor Augen geführt wurde… Ich schloss die Augen und wartete darauf, was passieren würde. Wartete darauf, wer letztendlich gewann. Das Monster, das sich über mich ergießen wollte oder das, was tief in mir schlummerte… Ich wartete… wartete darauf, dass sich etwas Kaltes über mich ergießen würde und ein brennender Schmerz sich in meinem gesamten Körper ausbreitete.

Doch nichts dergleichen geschah. Ein kalter Windhauch traf mich am Körper und das nächste, was ich spürte, war ein stechender Schmerz am Rücken. Ich keuchte und öffnete verwirrt die Augen.

Da waren sie. So warm… so beschützend… so sicher. Sie hatten ihr Versprechen eingehalten.

Ein leiser Fluch drang an mein Ohr. Ich kniff kurz die Augen zusammen und öffnete sie wieder. Ich blickte direkt in Emmetts wutverzerrtes Gesicht. Erst jetzt realisierte ich, dass ich am Boden lag und er sich mit einer Hand neben mir abstütze, während die andere kalt unter meinem Rücken lag. Verwirrt blickte ich um mich und was ich sah, ließ mich erschauern.

Offensichtlich war Emmett nicht so bewegungsunfähig wie ich gewesen. Jedenfalls hatte er sich kurzerhand über mich geworfen, als die Säure im Begriff war, sich über mich zu ergießen. Jetzt lief sie Quer über seinen gesamten Rücken und bereitete sich teilweise noch auf dem Boden aus. Ich konnte ein Zischen hören, als sie sich einen Weg durch Emmetts T-Shirt erkämpfte. Panisch versuchte ich mich aufzusetzen. Er musste schnellstmöglich die Kleidung loswerden und die Säure abwaschen. Gab es nicht über jeder Tür einen Duschkopf, den man betätigen konnte, wenn ein Schüler plötzlich Feuer fing? Wenn er sich schnell darunter stellte, wären die Verätzungen vielleicht nicht so gravierend.

Doch Emmett hielt mich krampfhaft fest und ich konnte mich keinen Zentimeter vom Platz bewegen. „Was…?“, begann ich, doch ich wurde unterbrochen. „Geht es dir gut?“, keuchte er.

Ich sah die Besorgnis in seinen Augen, auch wenn sein Gesicht vor Anstrengung immer noch verzerrt war. Ich ignorierte seine Frage und versuchte erneut, mich aufzusetzen. „Emmett, du musst sofort…“

„Geht es dir gut?“, fragte er jetzt eine Spur energischer.

Verdutzt sah ich ihn kurz an, dann nickte ich. „Ja.“

Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen, doch es war anders, als die bisherigen, die ich von ihm kannte. Nicht amüsiert, auch nicht wissend oder herausfordernd. Es war, als wäre er erleichtert.

Erst jetzt nahm ich auch unsere Umgebung war. Alle Schüler hatten sich vor Schreck erhoben und standen um uns herum. Sarah hielt sich die Hand vor der Mund und unterdrückte einen erneuten Schrei. Mr. Wentorf war der einzige, der sprach. „Oh mein Gott, jemand muss sofort den Notarzt informieren. Bleiben Sie ruhig liegen!“

Doch Emmett dachte nicht daran. Kurzerhand löste er sich von mir, erhob sich und schritt augenblicklich aus dem Klassenraum. „Wo wollen Sie hin? Sie brauchen ärztliche Behandlung!“, rief ihm Mr. Wentorf noch hinterher, doch er ignorierte es. Die Tür fiel mit einem lauten Krachen ins Schloss. Einige Schüler hatten sich mittlerweile mir zugewandt, denn ich lag immer noch vor Schreck auf dem Boden und starrte die Tür an, durch die Emmett gerade verschwunden war. Mike trat neben mich, mit kalkweißem Gesicht und Panik in der Stimme.

"Um Himmels Willen, geht es dir gut?“, fragte er, doch ich ignorierte ihn.

„Dieser verdammte Idiot muss ins Krankenzimmer“, sagte ich nur, sprang auf und lief ebenfalls aus dem Raum. Meine einzigen Gedanken kreisten in diesem Moment nur um Emmett. Warum hatte er das gemacht? Was hatte ihn dazu veranlagt, sich über mich zu werfen?

Panisch sah ich mich um Flur um. Verdammt, wo war er hingegangen? „Emmett?“, rief ich und lief nach rechts. Ich hoffte, dass ich ihn auf diesem Wege fand. Ich wusste nicht warum, aber der Gedanke, dass ihm etwas Schwerwiegendes zugestoßen war, machte mir Angst. Wenn es jetzt bleibende Schäden gab… und alles nur wegen mir. Ich hatte es gewusst. Es war nicht gut, dass ich hier in Forks war. Ich hätte nie hierherkommen dürfen. Und wenn ich nicht so stur gewesen wäre...

Ich trat in den nächsten Korridor, doch auch hier war Emmett nirgends zu sehen. „Verdammt“, entfuhr es mir und dann rief ich wieder. „Emmett?“ Mir war es egal, dass ich vermutlich gerade sämtlichen Unterricht störte. Ich musste Emmett finden, so schnell es ging.

Plötzlich würde ich an der Hand gepackt und in einen kleinen Gang zwischen zwei Unterrichtsräumen gezogen. Starke Arme umschlangen mich von hinten und augenblicklich spürte ich die Kälte, die von ihnen ausging. Mein Herz setzte vor Schreck einen kurzen Moment aus, doch als ich seinen Geruch wahrnahm, wusste ich, wer hinter mir stand und beruhigte mich wieder.

Jedoch nur für einen kurzen Augenblick, danach errangen die Sorgen wieder die Oberhand. „Emmett… du musst ins Krankenzimmer“, sagte ich und versuchte mich irgendwie von ihm zu lösen, um ihn ansehen zu könne. Ich wollte mich vergewissern, dass es ihm gut ging.

Doch sein Griff war zu fest, er ließ mir keinen Freiraum. Sein Geruch drang unaufhörlich in meine Nase und ich musste mich zu klaren Gedanken regelrecht zwingen. „Emmett. Du musst behandelt werden, sonst können diese Verätzungen einen erheblichen Schaden auf dich ausüben.“

Ich spürte, wie sein Oberkörper an meinem Rücken vibrierte. Offensichtlich versuchte er ein Lachen zu unterdrücken. Ich stemmte mich erneut gegen seine Arme und versuchte loszukommen, doch er ließ es nicht zu. „Nicht“, flüsterte er neben meinem Ohr und augenblicklich lief mir ein angenehmer Schauer über den Rücken. „Nur einen kurzen Moment. Bleib so, nur für einen kurzen Moment.“

„Emmett, ich…“, begann ich, doch ich verstummte, als er seinen Kopf auf meiner rechten Schulter ablegte und mich noch eine Spur fester umklammerte. Leicht wandte ich den Kopf zur Seite und versuchte ihn anzusehen, doch ich sah nur seinen Haarschopf und sein Geruch trat noch intensiver in meine Nase, jetzt, wo ich ihn so direkt einatmete. Ich musste mich beherrschen, nicht plötzlich nachzugeben und einzuknicken, so betörend war er. Ich hatte noch nie etwas Vergleichbares gerochen. Noch nie hatte etwas so eine Wirkung auf mich gehabt. Ich schluckte. >>Klare Gedanken, Amylin. Du brauchst klare Gedanken.<<

„Ich hatte Angst um dich.“ Emmetts Stimme war so leise, dass ich fast gar nicht verstand, was er sagte.
„Was?“, fragte ich, um mich zu vergewissern, dass ich richtig gehört hatte. Doch Emmett erwiderte nichts, sondern ließ seinen Kopf immer noch auf meiner Schulter verweilen. So langsam reichte es mir. Warum musste dieser Idiot so dickköpfig sein? Ich wusste nicht was das bringen sollte, ich wusste nur, dass je mehr Zeit verstrich, die Säure mehr und mehr seinen Körper angriff. „Emmett, du musst wirklich ins Krankenzimmer.“ Er schüttelte an meiner Schulter den Kopf. Ich seufzte. „Dann zieh dir wenigstens dein T-Shirt aus.“ Ein kleines Lachen entfuhr ihm.

Dann, ganz plötzlich, ergriff er meine beiden Handgelenke, wirbelte mich herum und presste mich gegen die Wand, meine Hände über den Kopf festhaltend. Sein Gesicht war bedenklich nah an meinem und er grinste süffisant. „Du gehst aber ganz schön ran. Ich soll mich für dich ausziehen?“ War ja klar. Selbst in so einer Situation konnte er es sich nicht verkneifen und musste mir die Worte im Mund umdrehen.

„So habe ich das nicht gemeint. Dein Shirt trieft bestimmt vor Säure und je länger du es anhast, desto schlimmer wird es für deinen Rücken.“

Sein Grinsen wurde breiter. Sein Gesicht war nur ein oder zwei Zentimeter von meinem entfernt und er sah mir tief in die Augen. Sein Atem traf mich und hinterließ ein angenehmes Kribbeln. Augenblicklich schlug mein Herz ein wenig schneller. „Dann zieh es mir doch aus“, flüsterte er leise und löste sich sanft von mir. Er trat einen Schritt zurück und grinste mich herausfordernd an.

Einen Moment sah ich ihn nur verwirrt an. Dann drangen seine Worte zu mir durch und sofort schoss mir eine leichte Röte ins Gesicht. Mein Herz schlug wieder schneller. Warum reagierte ich so komisch auf seine Aufforderung? Ich sollte ihm dabei helfen, das Shirt auszuziehen. Offensichtlich war sein Rücken so stark verletzt, dass er es nicht alleine konnte, also warum hatte ich dieses komische Gefühl?

Bestimmt und die verwirrenden Gedanken verdrängend trat ich auf ihn zu und hob meine Hände. Sie zitterten leicht.

>>Oh Gott, Amylin, jetzt stell dich nicht so an.<<

Ich schluckte und blickte noch einmal kurz zu Emmett hoch. Er grinste und ich konnte in seinen Augen sehen, dass er bemerkte, was in mir gerade vorging. Na toll, dachte ich. Peinlicher ging es ja gar nicht mehr. Schnell wandte ich den Blick ab, griff nach dem Saum seines T-Shirts und zog es hoch. Um es über seinen Kopf zu bekommen, musste ich mich auf Zehenspitzen stellen, wobei unsere Gesichter wieder erdenklich nah kamen. Schnell, für mich ehrlich gesagt etwas zu schnell, hatte ihm ich das T-Shirt ausgezogen und versuchte die Bereiche nicht zu berühren, die mit der Säure in Kontakt getreten waren. Fast schon bedauerte ich es, dass ich mir beim Ausziehen nicht etwas mehr Zeit gelassen hatte. Erschrocken über meine eigenen Gedanken, ließ ich das Shirt plötzlich fallen.

„Alles in Ordnung? Hast du dich verätzt?“, fragte Emmett besorgt und griff nach meinen Händen. Er untersuchte sie gründlich, fuhr hier und da mit dem Daumen über sie herüber. Als er sicher war, dass ich mich nicht verletzt hatte, lächelte er und führte sie kurz an seinen Mund. Kalte Lippen trafen auf meine warme Haut. Dann ließ er sie los und grinste mich frech an. „Ich glaube, das mit dem Ausziehen, sollten wir noch mal üben. Beim nächsten Mal kannst du dir ruhig etwas mehr Zeit lassen.“ Er zwinkerte.

Verdutzt sah ich ihn an und wieder zog sich ein leichter Rotschimmer über meine Wangen. Meine Reaktion schien ihn noch mehr zu belustigen. „Ich fahr zu Carlisle und lass mich untersuchen, wenn es dich beruhigt“, sagte er. Carlisle? Ach ja, das war ja ihr Vater. „Du solltest zurück zum Unterricht gehen.“ Er hob sein Shirt vom Boden auf und wollte sich gerade zum Gehen umdrehen, als er noch einmal kurz stoppte und sich zu mir umwandte. „Pass auf dich auf, wenn ich weg bin. Vor allem vor Hunden solltest du dich in Acht nehmen. Die sollen in dieser Gegend sehr tollwütig sein.“ Er zwinkerte mir noch kurz zu und ich wusste, worauf er hinaus wollte. Danach drehte er sich um und lief fast schon gemütlich den Gang entlang. Ich starrte auf seinen Rücken, der vollkommen makellos war. Keine Verätzung oder dergleichen. Ich schüttelte über mich selbst den Kopf. Warum hatte ich mir eigentlich Sorgen gemacht? Vampire waren tot und ihre Haut war härter als Granit. Die Säure konnte ihm also nichts anhaben. Egal wie hochprozentig sie war.

Mein Herz schlug wieder schneller, als mir erneut Bilder in den Kopf schossen. Bilder, in denen ich ihm das Shirt auszog. Wo er halb entblößt vor mir stand. Ich hatte seine Muskeln gesehen, seinen trainierten Bauch. Die Shirts, die er immer trug, ließen vieles vermuten, aber auch sie hatten einiges versteckt. Sein breites Kreuz… seine starken Arme…

Unwillkürlich entfuhr mir ein leiser Seufzer und ich erschrak erneut über meine Gedanken. Was war plötzlich auf einmal los mit mir?

Highway to hell

Erschöpft ließ ich die Haustür ins Schloss fallen. Es war Freitagnachmittag und die Schule war gerade zu Ende. Der restliche Teil der Woche war der schlimmste überhaupt gewesen. Zum einen hatten mich ständig irgendwelche Schüler auf den Fluren angesprochen und von mir verlangt, dass ich ihnen genau erzählte, was im Chemieunterricht passiert war. Schüler, die ich teilweise überhaupt nicht kannte.

Zum anderen wurden die Albträume immer schlimmer. Selbst wenn ich nur im Bett lag, die Augen offen hatte und an die Decke starrte, tauchten immer wieder diese erschreckenden Bilder auf. Egal wo ich hinsah, egal was ich machte. Diese roten Augen folgten mir auf Schritt und Tritt. Es ging sogar soweit, dass ich einmal vor Schreck laut geschrien hatte, als mich jemand vorsichtig an der Schulter berührte. Dabei war es nur Mike gewesen, der mich davor bewahren wollte, gegen einen Pfeiler zu laufen.

Mike… Irgendwie hatte dieser Vorfall am Mittwoch auch etwas Gutes. Seitdem redete er wieder mit mir und nicht nur das. Er fragte mich ständig nach meinem Befinden und befürchtete, ich würde jeden Augenblick in Ohnmacht fallen. Seine Wut über Emmett hatte er vergessen, stattdessen sorgte er Rund um die Uhr für mich. Er rief mich sogar teilweise nach der Schule an und war des Öfteren drauf und dran gewesen, mich zu besuchen. Doch ich konnte ihn jedes Mal vom Gegenteil überzeugen. Es war anstrengend. Aber es war ein Preis, den ich in Kauf nahm, wenn er dafür nur wieder mit mir redete.

Emmett hingegen hatte ich seither nicht mehr gesehen. Gestern und heute war er nicht in der Schule gewesen. Ich vermutete, dass Carlisle ihn zu Hause behielt. Aus Sicherheitsgründen, falls ihm doch etwas fehlen sollte. Obwohl… es ging ihm am Mittwoch doch relativ gut nach dem Unfall. Keine Verätzungen oder sonstige Verletzungen. Also warum dann?

Bei der Erinnerung an seinen makellosen Körper schlug mein Herz wieder schneller und mein Gesicht wurde warm. Ich konnte mir diese Reaktion nicht erklären. Genauso wenig, wie ich mich immer wieder dabei ertappte, mich auf den Fluren umzusehen, in der Hoffnung ihn zu sehen. Ich seufzte und schüttelte energisch den Kopf. Nicht jetzt… nicht heute… und gewiss nicht am Sonntag. Ich wollte davon jetzt Ruhe.

Ich zog mir meine Jacke aus, hängte sie an die Garderobe und ging hoch in mein Zimmer. Als ich die Tür öffnete, traf mich ein kühler Windhauch. Ich seufzte. Schon wieder das Fenster aufgelassen. Das passierte mir in letzter Zeit häufig, obwohl ich mir eigentlich sicher war, dass ich es heute Morgen nicht einmal aufgemacht hatte. Auf dem Weg zum Fenster stoppte ich an meinem Schreibtisch und schaltete meinen PC ein.

Kurz verweilte mein Blick auf dem durchdringenden Braun des Waldes. Die meisten Blätter waren schon zu Boden gefallen, nur vereinzelt konnte man hier und da ein paar gelbe oder rote erkennen. In der Luft hing dieser typische Geruch von Winter. Es würde sicherlich bald schneien. Kurzerhand machte ich das Fenster zu und setzte mir an meinen Schreibtisch. Ein Pling ertönte und teilte mir mit, dass ich neue Nachrichten in meinem E-Mail Postfach hatte. Ein Schmunzeln breitete sich auf meinen Lippen aus, als ich feststellte, dass meine Freunde aus New Orleans mir geschrieben hatten.

 

„Hey Lynn!
Sag mal, lebst du noch? O.o
Wir haben soooooooo lange nichts mehr von dir gehört. Schäm dich! ^^
Hoffentlich ist Forks besser, als wir es uns vorstellen. Sag mal, regnet es da wirklich so oft, wie alle immer sagen oder ist das noch untertrieben? ;)
tell dir mal vor, Jenny und Luke… sie haben es endlich geschafft!!! Unsere andauernden Kuppelversuche haben zum Schluss doch noch Früchte getragen. Und ich hatte so langsam schon die Hoffnung aufgegeben. Wie lange hat das jetzt gedauert, bis sie endlich gecheckt haben, was sie füreinander empfinden? Ich glaube anderthalb Jahre, oder so. Man… bei denen ist echt Hopfen und Malz verloren… ^^
Autsch! Jenny hat mir gerade in die Seite geboxt. Sie sitzt neben mir, während ich dir schreibe. Um ehrlich sind alle da – Jenny, Luke, Josh, Marcus und Livi. Das müsstest du mal sehen, wie wir uns alle in meinem kleinen Zimmer tummeln und sie alle gebannt über meine Schulter auf den Bildschirm starren. Ich hab kaum Platz zum Atmen! xD
Ich soll dir von Josh schöne Grüße ausrichten, Marcus hätte mal wieder Lust ‘ne Runde Billard mit dir zu spielen und Livi fragt, ob die Typen in Forks wenigstens heiß sind. Um das kalte Wetter auszugleichen, meint sie. Ja ja… wer’s glaubt! ^^
Stell dir mal vor… Jaden und Cecillia haben sich getrennt! Das gab ‘ne riesen Szene in der Cafeteria, du hättest mal sehen sollen, wie sie ausgetickt ist und ihn zur Schnecke gemacht hat. Angeblich soll er mit einer anderen rumgemacht haben. Naja… wäre ja mal nicht verwunderlich, nicht wahr? Des Öfteren schaut Jaden zu uns herüber oder er fragt sogar, ob wir was von dir gehört haben und wie es dir geht und so… Aber wir ignorieren ihn meistens oder geben irgendwelche kalten Antworten. Ich glaube, er vermisst dich, fast genau so wie wir. Aber es war trotzdem gut, dass du dich damals von ihm getrennt hast! Obwohl ich glaube, dass du die einzige warst, die ihn so wirklich unter Kontrolle hatte… bei der er wirklich Gefühle hatte.
Aber naja… das gehört jetzt nicht hierher! Jenny schnauzt mich deswegen schon wieder voll, weil ich mit dem Thema angefangen habe. Ich glaube, so viel wie sie schreit, krieg ich bestimmt noch Tinitus! ;)
Autsch… noch ein Schlag.
un gut… anbei schicken wir dir noch ein paar Bilder, die wir in der letzten Zeit gemacht haben. Wir hoffen, dass es dir gut geht in Forks und dass du eventuell mal die Zeit findest uns zu besuchen! Oder wir könnten auch bei dir vorbei schauen. Wie wäre das? ;)
Bald sind Ferien, mal schauen was unsere Eltern dazu sagen… Nun gut… Melde dich bitte!
Wir lieben dich alle wahnsinnig und vermissen dich!
Dicker Knutscher von deinen 6 verrückten Freunden aus dem sonnigen New Orleans!
Hailey“

 

Ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Körper aus, als ich meinen alten Spitznamen las. Ich vermisste sie alle mindestens genau so wie sie mich. Doch um ehrlich zu sein, in der ganzen Aufregung durch den Umzug und den Albträumen hatte ich sie glatt vergessen. Ja, ich sollte mich wirklich schämen.

Als ich las, dass Jenny und Luke endlich zusammen waren, fiel mir ein Stein vom Herzen. Sie waren so ein süßes Paar und uns war allen klar, was sie füreinander empfanden. Aber irgendwie hatten die Beiden es nie bemerkt und sich auch nie getraut, sich ihre Gefühle zu gestehen. Egal wie oft ich auf Jenny oder Luke eingeredet hatte, sie hatten mir beide nie geglaubt und immer beteuert, dass ich mir das alles nur einbildete. Ein um das andere Mal hatte ich das Gefühl, sie nahmen uns alle auf den Arm, so blind wie die sein mussten. Umso mehr freute ich mich, dass sie es endlich geschafft hatten.

Bei Jadens Namen hatte ich nicht ganz so reagiert, wie ich eigentlich geglaubt hatte. Normalerweise fuhr mir ein kalter Stich durch meinen Körper und die schmerzliche Erinnerung, als ich ihn mit einer anderen erwischt hatte, tauchte sofort in meinem Kopf auf. Doch dieses Mal war da nichts. Kein Bedauern, kein Schmerz und kein Bild. Vermutlich hing das mit den Albträumen zusammen… oder ich hatte es endlich geschafft, mich komplett von ihm zu lösen.

Als ich die Bilder öffnete, musste ich lachen. Sie ähnelten denen, die ich bereits an meiner Pinnwand zu hängen hatte – chaotisch, aufgedreht und totaler Quatsch. Wie meine Freunde und ich eben waren. Kurz glitt mein Blick zur Uhr. Es war halb vier. Für eine Antwort hatte ich also noch Zeit.

Als ich fertig war und die Mail abgesendet hatte, schaute ich erneut auf die Uhr und musste feststellen, dass ich für meine Antwort eine knappe Viertelstunde gebraucht hatte. Seufzend erhob ich mich und wandte mich meinem Kleiderschrank zu. Ich holte diverse Kleidungsstücke hervor… Hosen, T-Shirts, Pullover und Jacken, Unterwäsche und Socken. Im Badezimmer klaubte ich mein Waschzeug zusammen und nahm auch noch ein paar Handtücher mit. Genug für eine Woche unterwegs sein.

All dies packte ich in eine kleine Reisetasche und legte oben noch ein Bild von meinen Eltern drauf. Dann vergewisserte ich mich, dass ich nichts vergessen hatte, überprüfte noch einmal, ob auch alle Fenster richtig verschlossen waren und ging dann mitsamt Gepäck runter in die Küche. Traurig blieb mein Blick an dem Kalender hängen und für einen Moment hing ich meinen Gedanken nach. Nicht mehr lange… nicht mehr lange und alles hätte ein Ende.

Auf dem Küchentisch fand ich alles vor, was ich heute Morgen hinterlegt hatte. Einen Zettel, der mich an die Reisenahrung im Kühlschrank erinnerte, eine Karte von den USA und eine Wegbeschreibung. Ich packte die Nahrung in die eine, die Karte und die restlichen Unterlagen in die andere Seitentasche meines Gepäcks. Zwei große Flaschen Wasser legte ich oben drauf. Im Kopf ging ich noch einmal alles durch, was ich eingepackt hatte und überprüfte dann auch im Erdgeschoss, dass jedes Fenster verriegelt und sicher war. Ich wollte nicht, dass in meiner Abwesenheit jemand unerlaubt in mein Haus eindrang oder es gar hineinregnete. In Forks war das nicht gerade unüblich… zumindest nicht das zweite.

Meine Wohnungs- und Autoschlüssel nahm ich vom Haken, ebenso wie meine Jacke. Danach zog ich mir die Schuhe an, verabschiedete mich noch von meinen Eltern und trat dann wenige Augenblicke später wieder aus dem Haus. Meine Sachen verfrachtete ich auf die Rückbank. Als ich die Fahrertür öffnete, blieb mein Blick für einen kurzen Moment am Haus hängen. Drei Wochen war ich hier gewesen und schon hieß es wieder Abschied nehmen. Seufzend stieg ich ein und startete den Motor. Danach fuhr ich rückwärts aus der Einfahrt und auf die unbelebte Straße.

Knapp zwei Tage würde ich brauchen. Zwei Tage, in denen ich Quer durch den gesamten Staat fuhr. Zurück nach New Orleans… zurück nach Hause.

 

Die Fahrt war anstrengend und ohne wirkliche Beschäftigung oder Ablenkung kam sie mir länger vor als sie eigentlich dauerte. Am Freitag kam ich noch relativ zügig voran. Ich fuhr die ganze Nacht durch, machte nur zwischendurch drei Mal eine Pause um auf Toilette zu gehen und mir ein bisschen die Beine zu vertreten. Am Samstagmorgen, so gegen 4 Uhr, checkte ich in einem kleinen Motel in Billings ein. Nachdem ich die ganze Nacht durchgefahren war, wollte ich ein wenig Schlaf nachholen, damit ich dann den ganzen Tag bis morgen durchfahren konnte. Außerdem befürchtete ich, am Steuer einzuschlafen und ein Unfall passte im Moment überhaupt nicht in meinen Terminplan.

Erschöpft warf ich meine Reisetasche auf einen Stuhl in der Ecke und ließ mich mitsamt Klamotten auf das Bett fallen. In weniger als ein paar Minuten war ich auch schon eingeschlafen. Jedoch hatte ich einen unruhigen Schlaf. Wie bereits befürchtet suchten mich meine Albträume immer wieder heim und ließen mich ein ums andere Mal schweißgebadet aufschrecken. So war ich relativ verspannt, als ich um 12 Uhr wieder aufstand. Ich nahm eine warme Dusche, obwohl es diesen Namen überhaupt nicht verdiente und aß ein klägliches Frühstück in einem kleinen Restaurant, gleich in der Nähe. Der Kaffee war gut und hielt mich bei Laune. So fühlte ich mich schon ein bisschen besser, als ich mich wieder in meinen Wagen setzte und den Motor anließ.

Am Abend fing es an zu regnen und ich musste mein Tempo ein wenig drosseln. Das verschlechterte meine Laune, da ich geglaubt hatte nachts etwas schneller fahren zu können, aufgrund des geringen Verkehrs. Jedoch wurden die Landstraßen teilweise durch den Regen so aufgewühlt, dass mir nichts anderes übrig blieb.
Des Öfteren drifteten meine Gedanken ab und ich dachte über meine verbliebenen Freunde in Forks nach. Was sie wohl in diesem Moment machten? Vermutlich schlafen, denn es war 2 Uhr morgens. Angela hatte wahrscheinlich wieder bei Eric übernachtet. Jessica und Mike wären bei sich zu Hause. Ich befürchtete, dass Mike einem Nervenzusammenbruch nahe stand. Seit ich losgefahren war, hatte ich mein Handy ausgeschaltet und war so für niemanden mehr erreichbar. Vermutlich hatte er aus lauter Sorge schon die Polizei informiert. Ein unangenehmes Gefühl bereitete sich in meinem Körper aus, als ich daran dachte, dass mich bei meiner Heimkehr vermutlich eine Horde Polizisten begrüßten. Allesamt genervt von dem vollkommen hysterischen Mike, der um sie herum wuselte. Ich seufzte. Das würde eine große Mahnung mit sich ziehen. Vielleicht aber konnte Bellas Vater in beruhigen? Jessica hatte mir erzählt, dass er der zuständige Polizeichef in Forks war und ich hoffte auf sein kompetentes Verhalten, in Stresssituationen ruhig zu bleiben und eventuell auf den Gedanken zu kommen, ich sei nur verreist.

Doch die meisten meiner Gedanken kreisten um Emmett. Ich wusste nicht warum, aber wo ich auch hinsah, überall tauchten seine karamellfarbenen Augen auf. Und dann dieses Grinsen. Beides hatten Wirkungen auf mich, die ich mir nicht erklären konnte. Ob er am Montag wieder zur Schule kommen würde? Zu gerne würde ich mich dessen vergewissern, aber vor Dienstag würde ich nicht wieder zu Hause sein. Immer wieder fragte ich mich, warum er sich damals über mich geworfen hatte. Klar, sein Körper war nahezu unverwundbar, die Säure hatte ihm, im Gegensatz zu mir, nichts anhaben können. Aber war nicht gerade das der springende Punkt?

Ich seufzte laut, was in dem Song An End has a Start von The Editors unterging. Eigentlich sollte mein Kopf in diesem Moment vollkommen frei sein. Frei jeglicher Gedanken oder Gefühle. Einfach nur wartend auf das, was mich letzten Endes in New Orleans erwartete. Doch ich konnte Emmett nicht aus meinem Kopf verbannen. So sehr ich mich auch bemühte, immer wieder tauchte sein Gesicht auf oder hörte ich seine, mir nur allzu bekannte Stimme.

Ein Grummeln kam mir über die Lippen. Ich wurde aus seiner Aktion nicht schlau. Was war ich für Emmett Cullen? Oder viel wichtiger… was war Emmett Cullen für mich? Mein Magen fühlte sich an, als würde er einen Salto rückwärts machen bei diesen Gedanken. Ich schüttelte verbissen den Kopf. Das lag alles nur am Stress. Wenn diese Albträume endlich ein Ende hatten, wenn ich den Sonntag hinter mich gebracht hatte, würde ich wieder vollkommen die Alte sein. Ruhig… einfühlsam… und vielleicht auch ein wenig undurchschaubar und durcheinander… vollkommen normal.

26 Stunden ging letztendlich der restliche Teil der Fahrt. Erleichtert atmete ich auf, als ich gegen 14 Uhr das Schild Willkommen in New Orleans sah. Ab hier brauchte ich keinen Wegweiser mehr. Ab hier wusste ich, wo ich lang zu fahren hatte. Sehnsüchtig sah ich die großen Häuser an, von denen eines mal meiner Familie und mir gehört hatte.

Mit jedem Meter, den ich fuhr, wurde ich angespannter und nervöser. Die Müdigkeit von der Fahrt war verflogen, stattdessen pumpte mein Blut immer schneller durch meine Venen und mein Adrenalin stieg an. Je näher ich meinem Ziel kam, desto unruhiger wurde ich, und desto mehr schienen meine geistigen Mauern zu wanken. Mit zitternden Händen schaltete ich den Motor ab, als ich mein Ziel erreicht hatte.

Vorsichtig stieg ich aus. Die Sonne brannte selbst zu dieser Jahreszeit unerlässlich herab, ganz im Gegensatz zu Forks. Doch ich wollte jetzt nicht an Forks denken. Ich wollte auch nicht an meine Freunde von hier, an Mike, Jessica, Bella, Alice oder Edward denken. Auch nicht an Emmett.

Mit trübem Blick betrat ich den Ort, den ich jedes Jahr, seit vier Jahren, am gleichen Tag heimsuchte. Ich betrat meine persönliche Hölle.

 

New Orleans ist einer der wenigen Orte auf der Welt, wo die Toten nicht unter der Erde begraben werden. Die sogenannten Städte der Toten, wie die Friedhöfe hier genannt werden, bestehen ausschließlich aus Mausoleen, denn der Wasserspiegel ist zu hoch, als dass eine Erdbestattung möglich wäre.

Eine dieser Städten, betrat ich nun – das St. Louis Cemetery No. 1. Ich schluckte einmal, um den beklemmenden Kloß in meinem Hals loszuwerden und suchte mir meinen Weg durch die verschiedenen Grabstätten. Ich beachtete sie nicht großartig, nahm ihre Pracht und Aufmachung gar nicht wahr. Zu sehr wurde ich von einem einzigen gefangen genommen, in dessen Bann gezogen und wie von Geisterhand dahin geleitet. Aus meinem Gesicht war jeglicher Ausdruck verschwunden. Gefühle oder Gedanken hatten keinen Platz mehr in meinem Kopf. Vollkommene Leere füllte mich aus.

Ungefähr zehn Minuten bahnte ich mir meinen Weg durch das Labyrinth der Toten, dann blieb ich vor einem Mausoleum stehen und starrte eine Weile auf dessen hölzerne Tür. Als würde ich hoffen, dass sie sich nur mit Hilfe meiner Gedanken öffnete. Da dies jedoch nicht der Fall war, zog ich kurzerhand einen Schlüssel aus meiner Hosentasche und öffnete damit die Tür. Ein Knarren drang an mein Ohr und kaum hatte ich sie um ein paar Zentimeter geöffnet, schlug mir kalte, muffige Luft entgegen. Ich schluckte kurz, atmete einmal tief ein und öffnete sie dann komplett.

Nur spärliches Licht, traf auf den marmornen Boden und ließ erahnen, was sich im Inneren befand. Kurzerhand zündete ich zwei große Kerzen an, die zu beiden Seiten der Tür standen. Dann schloss ich die Tür hinter mir und vollkommene Stille umschlang mich. Sie war so erdrückend…

Langsam ging ich auf die gegenüberliegende Wand zu, meine Schritte hallten von den Wänden wieder. Obwohl der Raum klein war, kam es mir dennoch wie eine Ewigkeit vor, bis ich letzten Endes vor zwei Messingschildern, die in die Wand eingelassen worden waren, stehen blieb. Sanft strich ich über die Einkerbung.


Elizabeth Lamar (1969 – 2000) und Daniel Lamar (1964 – 2000)


Dann gab ich nach. Dem Widerstand… dem Schmerz… der Verzweiflung… Die Mauern meines Geistes brachen zusammen, die Trauer überrollte mich wie eine Flutwelle und ließ nur ein Häufchen Elend zurück. Tränen strömten mir über das Gesicht, mein Atem ging stoßweise und ein klagender Laut kam über meine Lippen. Ich sackte auf die Knie, hämmerte für kurze Zeit gegen die Gedenkschrift, wie im Wahn, als könnte ich dadurch die dahinter liegenden wieder zum Leben erwecken. Doch ich wusste genau, dass das nicht ging. Denn der Raum dahinter, war leer.

Von Verzweiflung übermannt schrie ich meinen Schmerz aus voller Kehle heraus, versuchte mich an den kalten Messingschildern festzuklammern, in der Hoffnung, sie würden mir Halt geben. Mein Atem ging stoßweise, mein Kopf drohte regelrecht zu explodieren, jetzt wo ihn die geistigen Mauern nicht mehr beschützten. Bilder über Bilder strömten auf mich ein, eins schlimmer als das andere. Sie alle zogen mich tiefer… tiefer hinein in den Abgrund, der mich verschlang. Schlussendlich brach ich vollkommen zusammen, zitterte am ganzen Körper und ließ mich einmal, nur ein einziges Mal von meiner Schwäche überrollen.

 

 

Flashback

 

Nervös und ängstlich ging ich im Raum auf und ab. Meine Umgebung nahm ich kaum wahr. Ignorierte, dass das Zimmer, in welches sie mich gebracht hatten, einem König gebühren könnte.

Unaufhörlich lief ich von der einen Wand zur anderen. Warum? Warum hatten sie mir das angetan? War ich nicht genau wie sie? Ich konnte das nicht. Ich konnte das nicht tun, was sie von mir verlangten. Ich hatte es nicht unter Kontrolle. Wusste nicht, wie man es benutzte. Warum also, konnten sie mich nicht in Ruhe lassen?

Verzweifelt schlug ich auf die marmorne Wand ein und hinterließ eine tiefe Einkerbung. Fast schon sehnsüchtig wartete ich auf den Schmerz in meiner rechten Hand, der jetzt eigentlich folgen sollte. Doch er blieb aus.

Am liebsten hätte ich geweint. Auch wenn es bedeutete, dass ich dadurch Schwäche ihnen gegenüber zeigte. Auch wenn man mir immer wieder sagte, ich müsse stark bleiben. Doch ich konnte es nicht. So sehr ich mich auch bemühte, so sehr ich mir meine aussichtslose Lage auch vor Augen führte...

„Du wirst erwartet“, drang eine kalte Stimme an mein Ohr. Ruckartig wandte ich mich um und sah einen Mann, nicht älter als Ende 20 im Raum stehen. Sein Blick glitt zu der Wand, in der ich mich vor einigen Augenblicken verewigt hatte. Doch er sagte nichts. Seine Miene blieb kalt und unberührt, als er sich wieder mir zuwandte, mich mit seinen stechend roten Augen ansah. Doch sie waren nichts im Vergleich zu seinen Augen.

Einen Moment sahen wir uns schweigend an. Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht durch diese Tür gehen. Ich wusste nur zu genau, dass ich dadurch meinem Verderben in die Arme lief. Ich machte einen Schritt zurück und versuchte so, meine Position deutlich zu machen. In weniger als einer Sekunde stand er hinter mir. Ich konnte seinen stechenden Blick in meinem Nacken spüren und wusste, dass er in diesem Moment kein Nein erduldete. Ich schluckte.

„Du wirst erwartet“, wiederholte er mit der immer noch gleichen ruhigen Stimme. Meine Gedanken überschlugen sich. Ich versuchte mir auszurechnen, wie weit ich kommen würde, wenn ich jetzt einfach losrannte. Vermutlich nicht einmal bis zur Tür. Und selbst wenn… ich konnte nicht fliehen. Ich konnte nicht einfach von hier weggehen, denn sie hatten etwas, was mir mehr bedeutete, als mein Leben.

So nickte ich nur und ließ mich aus dem Zimmer führen. Ich versuchte ein ernstes und entspanntes Gesicht aufzusetzen. Ich wollte nicht, dass sie sahen, wie sehr sie mir zusetzten. Sie sollten glauben, dass ihre Drohungen nicht wirkten, dass sie so nicht weiter kommen würden. Doch ich bezweifelte, dass es mir gelang.

Angespannt lief ich neben dem großen Mann her. Er trug eine schwarze Robe und führte mich durch zahllose Gänge. Sie alle sahen gleich aus. Hoch, mit Säulen an den Wänden, marmornem Böden und großen Fenstern. Wäre ich nicht in dieser aussichtslosen Lage, hätte es mich vielleicht interessiert, wo wir uns befanden. So fand ich nur einen Begriff, der mir bei diesem Szenario in den Sinn kam – Hölle.

Wir hielten vor einer großen hölzernen Tür an, die sich wie ein Tor bis unter die Decke erstreckte. Ich widerstand dem Drang meinen Kopf in den Nacken zu legen und mich dessen zu vergewissern. Obwohl… würde das nicht so aussehen, als interessiere ich mich mehr für die Architektur, als für das Spektakel, was mich gleich erwartete? Würde somit mein Standpunkt von Desinteresse und Gleichgültigkeit nicht noch mehr deutlich gemacht werden? Doch noch bevor ich auf meine Gedanken Taten folgen lassen konnte, öffneten sich bereits beide Türflügel und gaben so langsam den Blick auf einen großen Saal frei, der noch prächtiger war, als alle, die ich bisher in diesem Gebäude gesehen hatte. Er erinnerte mich irgendwie an eine Kapelle.

Sanft, aber bestimmend wurde ich am Rücken in den Raum geschoben. Mit zusammengepresstem Kiefer und Anspannung am ganzen Körper, leistete ich dieser Aufforderung folge und ging ein paar Schritte hinein. Ich versuchte mir meine Angst und meine Verzweiflung nicht ansehen zu lassen. Doch ich war mir sicher, dass er mich bereits durchschaut hatte. Denn seine Augen hafteten unverwandt auf den meinigen. Sie durchbohrten mich regelrecht und hinterließen so das Gefühl, dass es für mich kein Entkommen gab.

In der Mitte des Raumes blieb ich schlussendlich stehen. Kurz wagte ich einen Blick zu den anderen Anwesenden. Hinter ihm saßen zwei weitere, die ähnlich gekleidet waren wie er. Der eine hatte etwas längere, blonde Haare. Der andere kurze und dunkle. Ich hatte ihre Namen vergessen, auch wenn ich wusste, dass er sie mehr als einmal direkt angesprochen hatte. An der rechten Seite konnte ich ein Mädchen erkennen. Sie war etwas älter als ich, ich schätzte drei Jahre, vielleicht sogar vier. Neben ihr stand ein Junge. Er blickte nicht ganz so kalt, wie das Mädchen und dennoch lief mir ein kleiner Schauer über den Rücken, als ich in seine Augen sah. Von ihnen ging nichts Gutes aus, das hatte ich schon bemerkt gehabt, als ich sie das erste Mal gesehen hatte.

Der Mann, der mich hergeführt hatte, gesellte sich nun zu einem anderen, der auf der linken Seite auf ihn wartete. Mit einem Grinsen auf dem Lippen sah er mich begierig an und ich musste mich regelrecht zwingen nicht plötzlich panisch woanders hinzusehen, sondern seinen Blick für einen Moment standzuhalten und erst dann meine Aufmerksamkeit dem stechenden Paar Augen vor mir zuzuwenden.

„Guten Morgen, Amylin“, sagte er mit einer engelsgleichen Stimme und lächelte mich freundlich an. „Ich hoffe, du hattest eine angenehme Nacht? Wir haben dir extra eines unserer besten Zimmer zur Verfügung gestellt.“ Erwartungsvoll sah er mich an.

Verlangte er jetzt wirklich darauf eine Antwort? Oder war das eine typische Höflichkeitsfloskel, um mich zu testen? Ich vermutete das letztere. Dennoch antwortete ich: „Ich kann mich nicht beklagen.“ Ich musste aufpassen, dass sich meine Stimme nicht überschlug.

Sein Lächeln wurde breiter. „Das freut mich. Dennoch glaube ich, dass das unsere anderen Gäste nicht bestätigen können.“ Sein Blick wanderte kurz hinter mich.

Zögerlich drehte ich mich um und was ich sah, war wie ein kalter Schlag ins Gesicht. „Mom…“, keuchte ich und machte ein paar Schritte in ihre Richtung.  Doch sofort hielten mich zwei große, kräftige Arme zurück. Voller Schrecken blickte ich auf und sah in das Gesicht des Mannes, der mich eben gerade noch süffisant betrachtet hatte. Jetzt grinste er erneut.

Mein Blick glitt wieder zurück zu meiner Mutter. Ein Mann, der ebenfalls eine schwarze Robe trug, hatte sie fest im Griff und ihr eine Hand auf den Mund gelegt. Ihr Atem ging stoßweise und ihr Haar war zerzaust. Vermutlich hatte sie sich krampfhaft versucht zu wehren. Doch gegen ein solches Monster hatte sie keine Chance. Jetzt verhielt sie sich ruhig und ihre Augen verweilten unverwandt auf mir. Was war das für ein Blick, mit dem sie mich ansah? Liebe? Hass? Besorgnis? Verzweiflung? Angst? Ich konnte es nicht genau sagen.

Panisch versuchte ich mich zu wehren. Den Typen, der mich festhielt, von mir zu stoßen und meiner Mutter zur Hilfe zu eilen. Fast wäre es mir auch geglückt, hätte mich kurze Zeit später nicht ein weiterer Arm grob gepackt und meinen Hals fest umklammert. Sofort stellte ich meine Bemühungen ein und blickte auf. Der Mann, der mich vorhin hergebracht hatte, stand auf der anderen Seite von mir. Gegen zwei Arme hätte ich noch ankommen können… aber gegen vier?

Ich schluckte und unterdrückte den Drang, ihm diverse Flüche und Verwünschungen an den Kopf zu werfen. Es hätte meinen gebrochenen Zustand nur zu deutlich gemacht.

„Was für ein Wiedersehen“, drang seine kalte Stimme an mein Ohr. Die beiden Typen, die mich umklammert hatten, drehten mich um und zwangen mich so, ihn anzusehen. Er lächelte ununterbrochen und schaute neugierig, schon fast wie ein Kind, zwischen mir und meiner Mutter hin und her. „Eigentlich bin ich eher ein Typ von herzergreifenden Momenten. Glaube mir, nur zu gerne würde ich dich in die Arme deiner Mutter lassen. Doch ich glaube, dann würdest du mir nicht mehr richtig zuhören.“ Er legte seinen Kopf zur Seite und lächelte schief. „Hast du über mein Angebot nachgedacht, Amylin?“, fragte er.

„Fahr zur Hölle!“, kam es mir urplötzlich über die Lippen, ohne wirklich darüber nachgedacht zu haben. Im nächsten Moment hätte ich mir auf die Zunge beißen können. Damit machte ich es doch nur noch schlimmer.

Er lachte kurz. „Da bin ich bereits, keine Sorge“, erwiderte er lieblich. „Aber ich glaube, du bist dir deiner Situation nicht bewusst.“ Erneut blickte er kurz hinter mir. Dann konnte ich das unterdrückte Schreien meiner Mutter hören und unweigerlich versuchte ich gegen die klammernden Griffe, die mich festhielten, anzukommen. Doch egal, wie sehr ich mich bemühte, egal wie sehr ich mich zur Wehr setzte… sie waren einfach viel zu stark.

Plötzlich hob er die Hand und die Schreie meiner Mutter wurden verstummten. Nur ihren gepressten Atem konnte ich wahrnehmen. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und gesehen, ob alles in Ordnung mit ihr war. Doch die festen Griffe um meinen Körper und an meinem Hals zwangen mich dazu, weiterhin ihn anzusehen.

Er lächelte fortwährend. Fast so, als wäre all das hier ein lustiges Spiel und nicht bitterer Ernst. „Möchtest du dir deine Antwort vielleicht noch einmal überdenken? Du weißt, wir haben nicht lange gebraucht, um deinen Vater zu brechen. Hm… sein Blut war wirklich köstlich. Was deine Mutter wohl jetzt über dich denken wird? Immerhin bist du Schuld an seinem Tod.“ Jedes Wort von ihm war wie ein Messerstich in meine Brust. Es ließ mich zittern und verwandelte meinen Widerstand in ein Meer aus Nichts. „Wenn du uns hilfst, uns stets zur Seite stehst, werden wir deiner Mutter nichts tun. Wir schicken sie sicher nach Hause und sie wird glücklich und lange bis an ihr Lebensende leben. Naja… zumindest lange.“ Sein Lächeln wurde wieder breiter. „Du musst nur zustimmen."

Hinter mir konnte ich unverständliche Worte hören. Es war, als würde meine Mutter versuchen zu reden, doch die Hand auf ihrem Mund verhinderte dies. Verzweifelt sah ich ihn an. Was sollte ich sagen? Wie sollte ich mich entscheiden? „Ich würde es ja machen…“, begann ich, doch meine Stimme brach.

Mit großen Augen sah er mich an. „Aber?"

„Ich weiß nicht wie!“, erwiderte ich panisch. „Ich habe keine Ahnung, wie man es kontrolliert. Ich weiß nicht, wie man es benutzt. Bitte, glaubt mir doch! Ich würde alles tun, um meine Mutter zu retten - alles! Doch ich weiß nicht, wie man es gebraucht. Bitte, ich flehe euch an. Bitte. Bitte!“ Jetzt war es doch passiert. Ich hatte ihnen meine Schwäche gezeigt, hatte ihnen offenbart, wie sehr sie mich bereits in der Hand hatten. Ich war gebrochen. Und das wusste er ganz genau.

„Du enttäuscht mich, meine Kleine“, sagte er mit einem Lächeln im Gesicht. Irgendwie passte dieses Lächeln nicht zu seiner Aussage. „Ich hatte große Hoffnungen in dich gesetzt. Ich dachte, ich hätte dir die Situation deutlich genug gemacht. Ich wollte dir eine Möglichkeit geben, dich freiwillig dafür zu entscheiden. Weißt du, mich verlangt es nicht danach, Gewalt anzuwenden.“ Sein Lächeln wurde eine Spur freundlicher, doch in seinen Augen konnte ich erkennen, dass er genau das von Anfang an geplant hatte. Dass er nie beabsichtigt hatte, meine Mutter gehen zu lassen. Dafür wusste sie einfach zu viel. „Doch du lässt mir keine Wahl.“ Sein Mund verzog sich leicht, es sollte wohl so aussehen, als würde er das alles sehr bedauern. Wie ein Kind, das um etwas trauerte, was es nicht bekommen hatte.

Ich schluckte und versuchte das brennende Gefühl in meinem Hals zu lindern. Doch es half alles nichts. Hätte ich ein Herz gehabt, hätte es jetzt vermutlich vor Angst und Panik schneller geschlagen. Doch da war nichts… Kein Herzschlag, kein Blut, das wie im Rausch durch meine Wehnen gepumpt wurde. Und auch keine Tränen. Nur ein ersticktes Wimmern.

„Du kannst es dir noch anders überlegen. Du musst nur zustimmen und alles, wovor du Angst hast, wird vorbei sein.“ Er erhob sich von seinem Platz und kam langsam näher. Ich stand da wie eine Statue, unfähig mich zu bewegen. In meinem Kopf hörte ich eine Stimme, die sagte ich sollte wegrennen, versuchen zu fliehen, oder mich sogar auf ihn stürzen, in der Hoffnung gegen ihn anzukommen. Egal was, Hauptsache nur bewegen. Doch ich tat nichts. Ich stand einfach nur da. Und dafür würde ich mich den Rest meines verfluchten Lebens hassen...

Sanft legte er seine Hand auf meine und sah mich durchdringend an. Einen Moment sagte keiner von uns ein Wort. Selbst wenn ich es gewollt hätte, ich hätte nicht sprechen können. Seine Miene veränderte sich. Aus dem Lächeln wurde ein Bedauern. „Schade“, sagte er nur. Dann ließ er mich los und schritt an mir vorbei.

Wohl wissend, was jetzt kam, stemmte ich mich voller Panik gegen die Hände und Arme, die mich festhielten. So einfach würde ich nicht kampflos aufgeben. Mit wutverzerrtem Gesicht bekam ich den einen am Kragen zu fassen und schleuderte ihn gute fünf Meter quer durch den Raum. Ich wirbelte herum, wollte den anderen weg stoßen, um meiner Mutter zur Hilfe zu kommen, als mich zwei starke Arm an den Schultern hochrissen und mich hart auf den Boden aufschlugen ließen. Keuchend strömte die Luft aus meinen Lungen und meine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Für einen kurzen Moment war ich wie benebelt. Ein Gefühl, dass ich schon fast vermisst hatte.

Dann wurde ich auf die Knie gezogen und mein Kopf an den Haaren zurückgezogen, sodass ich gezwungen war, das Spektakel anzusehen. Scharf sog ich die Luft in meine Lungen auf und ein erneutes Wimmern kam mir über die Lippen. Er selbst schien sich für das eben Geschehene nicht interessiert zu haben. Stattdessen begutachtete er ausgiebig meine Mutter. Der Mann, der sie festgehalten hatte, war verschwunden. Jetzt stand sie vollkommen schutzlos da und ihr Blick hing immer noch auf mir.

Verzweifelt sah ich sie an. Ich versuchte mich stumm für das zu entschuldigen, was ich ihr und Dad angetan hatte. Ich sah in ihre Augen. In ihre liebevollen, zärtlichen, braunen Augen. Ihr Blick beinhaltete so viel Wärme, so viel Liebe. Und dennoch passte es nicht hierher. Dennoch zerriss es mir das Herz. Sie hätte mich anschreien müssen, mir den Teufel auf den Hals hetzen sollen. Ich hätte es sogar begrüßt, wenn sie auf mich eingeschlagen hätte. Alles wäre besser gewesen. Alles – nur das nicht.

„Weißt du, es ist fast schon schade um so ein liebliches Geschöpf“, riss er mich aus meinen Gedanken und grinste mich süffisant an. Kalt erwiderte ich seinen Blick. Fast schon amüsiert blickte er zwischen meiner Mutter und mir hin und her. „Faszinierend diese Ähnlichkeiten, die ihr Menschen an den Tag legt.“ Langsam schritt er vorwärts, direkt auf meine Mutter zu. Genüsslich setzte er einen Schritt vor den anderen und kam schließlich hinter ihr zum Stehen.

Panisch blickte ich sie an. Ein leichtes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Scharf sog ich die Luft ein, versuchte das Brennen zu unterdrücken, dem Monster, welches tief in mir schlummerte, keine Macht zu geben. Mein ganzer Körper bebte.

„Ssht“, machte sie und ihr Blick wurde noch eine Spur wärmer. „Es wird alles gut, mein Schatz.“ Dann entfuhr ihrem Mund ein Schmerzensschrei, als sich seine Zähne tief in ihr Fleisch bohrten.

Ihr Schrei vermischte sich mit meinem, ihr Schmerz wurde zu meinem. Mein Mund war weit aufgerissen, ich hatte das Gefühl, dass es nicht weit genug war, um meine Verzweiflung, meinen Schmerz, meine Wut und den Hass der Welt entgegen zu schreien.

An diesem Tag hatte er mir alles genommen. Mein Herz… meine Seele… mein Leben… meine Familie. Nichts von all dem war mehr übrig. Wie ein Haufen Glassplitter lagen die Scherben meiner Existenz vor mir. Wie ein hämisches Grinsen schienen sie mir die Ausweglosigkeit meiner Situation präsentieren zu wollen. Er hatte mir alles genommen. Dafür würde ich ihn den Rest meines verfluchten Lebens hassen.

Alles von ihm würde mich Jahr für Jahr zur gleichen Zeit heimsuchen. Seine Augen… sein süffisantes Lächeln… die Art wie er sprach und wie er sich bewegte… Er würde mir keine Ruhe mehr geben, bis nicht einer von uns diese Welt für immer verlassen hatte.

Sein Name war… Aro.

 

Flashback Ende

Coming home

Das erste, was ich spürte, war Schmerz... und nichts machte mich im diesen Moment glücklicher. Ich hatte also nicht vollkommen die Kontrolle verloren.

Langsam öffnete ich die Augen. Ich befand mich immer noch im Mausoleum. Mein Blick haftete auf der alten Holztür, die einen Spalt warmes Sonnenlicht am Boden hereinließ. Wie spät es wohl war?

Mit einem Stöhnen setzte ich mich auf und lehnte mich an die kalte Marmorwand hinter mir. Ein stechender Schmerz durchzog meinen gesamten Rücken und ich musste unwillkürlich Keuchen. Kein Wunder, wenn man bedachte, dass ich vermutlich für mehrere Stunden auf dem harten Boden gekauert hatte. Doch die kalte Wand hatte eine wohltuende Wirkung, sowohl für meinen Rücken, als auch für meinen Kopf, der sich anfühlte, als hätte man ihn ausgequetscht. Ich fühlte mich schlapp und wäre am liebsten wieder an Ort und Stelle eingeschlafen. Doch ich durfte mich jetzt nicht noch einmal so gehen lassen.

Mühselig holte ich mein Handy aus meiner Hosentasche hervor und schaltete es wieder ein. Mir war unwohl zumute bei dem Gedanke, wie viele Nachrichten ich wohl hatte. Und ich wurde nicht enttäuscht. 23 ungelesene SMS, davon waren gerade mal zwei von Angela. Den Rest hatte Mike verfasst. Meine Mailbox sah nicht besser aus. 74 Mal hatte man versucht mich anzurufen.

Erschöpft seufzte ich und ignorierte alles. Ich würde sie mir später anhören. Nun starrte ich auf das Display. 10:23 Uhr. Na toll. Dann hatte ich ja die ganze Nacht hier verbracht. Ich seufzte und öffnete meine Kontaktliste. Nur wenige Leute hatte ich in meinem Handy gespeichert. Meine Freunde von hier, dann Mike, Jessica, Angela, Eric, Tyler und… Verdutzt starrte ich auf den Namen. Bella? Seit wann hatte ich denn Bella in meinen Kontakten? Angestrengt versuchte ich mich zu erinnern. Vielleicht hatten wir ja die Nummern ausgetauscht, als wir in La Push waren.

Ich ging die Liste immer weiter durch, bis ich schließlich auf die Nummer meiner Schule traf und dort anrief. Es war wohl besser, wenn ich mich gleich abmeldete, sonst gingen wieder die kuriosesten Gerüchte um. Nach dem dritten Klingeln wurde abgenommen. „Forks High School, Mrs. Cope am Apparat, was kann ich für Sie tun?“, ertönte die monotone Stimme der Sekretärin.

„Guten Morgen, hier ist Amylin Lamar.“ Ich hoffte, dass meine Stimme sich genau so erschöpft anhörte, wie ich mich fühlte. Das würde meine Lüge, die jetzt folgte, glaubhafter machen.

„Mrs. Lamar? Sie sind heute Morgen nicht zum Unterricht erschienen.“

„Ja, deswegen rufe ich an. Mir geht es seit dem Wochenende nicht so gut. Der Arzt sagte, ich hätte eine Lebensmittelvergiftung und müsste noch ein paar Tage zuhause bleiben. Ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich voraussichtlich bis Mittwoch nicht in die Schule kommen kann.“ Ich schluckte einmal und wartete gespannt auf ihre Reaktion. Hoffentlich nahm sie mir meine kleine Notlüge ab und stellte keine Fragen.

Meine Gebete wurden erhöht. „Gut, dann weiß ich Bescheid, Mrs. Lamar. Ich wünsche Ihnen eine gute Besserung.“
„Danke“, erwiderte ich nur und legte auf.

Seufzend lehnte ich den Kopf zurück an die Wand und starrte an die Decke. Die Kühle der Grabstätte verursachte eine kleine Gänsehaut auf meinem Körper und ich zitterte leicht.

„Es war einfacher gewesen, als ich gedacht hatte, Mum“, sagte ich leise. „Weißt du…“ Ich wandte meinen Kopf zur Seite und starrte die Inschrift an „… ich habe das Gefühl, so langsam renkt sich mein Leben wieder ein.“ Stille herrschte und für einen kurzen Moment hing ich meinen Erinnerungen nach. „Es tut mir leid, dass ich euch in letzter Zeit nicht mehr so oft besucht habe. Aber ich habe euch ja erzählt, dass ich nach Forks ziehe. Es ist wirklich schön dort, auch wenn es den ganzen Tag fast nur regnet.“ Beim letzten Satz musste ich unwillkürlich lächeln. Meinen Blick hatte ich mittlerweile wieder der Decke zugewannt. „Überall nur Wald, soweit das Auge reicht. Du trittst aus dem Haus und wirst regelrecht davon erschlagen.“ Ein erneuter kleiner Lacher entfuhr meinen Lippen.

„Das Haus würde euch gefallen. Da bin ich mir sicher. Es sieht genauso aus wie unser altes. Nur die Räume sind anders aufgeteilt. Euer Zimmer ist genau gegenüber von meinem. So, wie du es immer haben wolltest, Mum. Du brauchst nur zwei Schritte machen und schon wärst du bei mir. Ich wünschte, ihr könntet es sehen.“ Ein Seufzer kam über meine Lippen.

Außenstehende würden mich vermutlich für verrückt halten, wie ich hier so saß und mit meinen toten Eltern redete. Früher war ich regelmäßig hierhergekommen, doch seit ich in Forks wohnte, was das nicht mehr möglich. Unbeirrt fuhr ich mit meiner Erzählung fort. Auch wenn sie tot waren, wollte ich sie an meinem Leben teilhaben lassen.

„Ich habe schon viele Freunde kennengelernt. Mike würdet ihr mögen. Er ist zwar manchmal ziemlich anhänglich, aber ich glaube, das macht er nur, weil er um mich besorgt ist. Du würdest ihn vermutlich für den perfekten Schwiegersohn halten, Dad, denn er passt immer auf mich auf. Jessica und Angela sind ebenfalls tolle Freundinnen, obwohl sie beide das komplette Gegenteil sind. Angela ist eher ruhig und vernünftig und bedenkt alles lieber noch ein zweites Mal, bevor sie es tut. Und Jessica lebt geradeheraus. Sie ist bei allem dabei und macht keinen Hehl daraus, ihre Meinung zu sagen.“

Ich hörte, wie einige Menschen vor dem Mausoleum vorbeiliefen und sich unterhielten. Mein Blick hing an einer der zwei Kerzen, die ich beim hineinkommen angezündet hatte. Sie war fast vollständig abgebrannt. „Es gibt da eine Familie…“, begann ich nach einiger Zeit des Schweigens „… sie sind… anders.“ Ich atmete tief ein. „Sie heißen Cullen und… sind Vampire. Doch ich… ich weiß nicht… sie sind nicht wie sie. Sie geben sich mit Menschen ab. Einer von ihnen ist sogar mit einem Menschen zusammen und wenn ihr sehen würdet, wie er sie immer behandelt. Man kann in seinen Augen sehen, dass er alles für sie tun würde. Dass er bereit wäre, für sie zu sterben.“ Kurzerhand ließ ich meinen Kopf auf meine angewinkelten Knie fallen und seufzte laut. „Ich werde aus ihnen nicht schlau. Sie unterscheiden sich in allem von ihm. Ich glaube nicht, dass sie Menschenblut trinken. Und ich glaube auch nicht, dass sie irgendwem Schaden zufügen wollen. Ich glaube… sie wollen einfach nur in Ruhe leben. Einer von ihnen ist in meinem Chemiekurs. Sein Name ist Emmett. Er hat mich letztens gerettet, als eine Schülerin aus Versehen hochprozentige Säure verschüttete. Wäre er nicht gewesen, würde ich jetzt mit den schlimmsten Verätzungen im Krankenhaus liegen.“ Ungläubig und belustigt zugleich schüttelte ich den Kopf. „Könnt ihr euch das Vorstellen? Er hat sich einfach so über mich geworfen. Als hätte er nichts zu verlieren. Als wäre das nur Wasser, was sich über seinen Rücken ausbreitet. Und all das nur wegen mir.“

Kurz schwelgte ich in der Erinnerung. „Edward, sein Bruder, versucht immer meine Gedanken zu lesen. Es ist teilweise amüsierend zu sehen, wie es ihn beschäftigt, wenn es ihm nicht gelingt. Doch ich befürchte, dass ich ihn dadurch verärgere und er distanziert mir gegenüber wird...“

Sehnsüchtig strich ich über die Inschrift. Elizabeth Lamar.

Ein kalter Stich fuhr durch meine Brust und Tränen sammelten sich in meinen Augen. „Du hast gesagt, ich solle stark sein. Du hast gesagt, was auch passiert, lass dich nicht unterkriegen. Doch das ist leichter gesagt als getan. Wie soll ich mit etwas leben können, was mich gleichzeitig zerstört?“ Mein Stimme brach und ich spürte den ersten warmen Tropfen meine Wange hinunterlaufen. Ich hatte geglaubt, dass ich nach gestern nicht so schnell mehr weinen könnte, dass mein Bestand an Tränen aufgebraucht war. Doch da hatte ich mich getäuscht. „Ich wünsche mir jeden Tag, dass ich nie geboren worden wäre. Oder dass ich damals in diesem Wald wirklich gestorben wäre. Ihr würdet noch leben…“ Auf die erste Träne folgte eine zweite.

„Warum? Warum muss ausgerechnet ich das haben? Früher hast du immer gesagt, die eigenen Gedanken sind das wichtigste. Das, was wir fühlen, was wir begehren, was wir lieben… unsere Entscheidungen machen uns zu dem, was wir sind. Doch, wenn das stimmt… warum habe ich dann diese… Gabe?"

Ich kniete mich vor die Gedenktafel meiner Mutter und starrte sie an, fast so, als könnte ich dadurch ihre Antwort erzwingen. Doch alles blieb still. „In mir ist ein Monster. Ein Monster, das nicht besser ist, als das, was euch getötet hat. Ein nach Blut dürstendes, verfluchtes Monster. Ich bin nicht besser als er. Und dennoch… dennoch habt ihr mich geliebt. Dennoch habt ihr zu mir gehalten, auch wenn ihr wusstet, dass wir nie ein normales Leben führen könnten. Auch wenn euch bewusst war, dass nur ein winziger Augenblick genügt hätte und ich hätte euch getötet. Oder gar zu dem gemacht, was ich bin.“

Meine Hände hatte ich an der Wand abgestützt und mein Kopf hing herunter. Ich unterdrückte ein Schluchzen, versuchte meiner Stimme nicht zu viel Anklage mitschwingen zu lassen. Sie waren schließlich nicht Schuld an der Situation.

„Ein Jahr… nur ein einziges Jahr. Hätte er mir nicht ein einziges Jahr mehr Zeit geben können? In dem ich lernte, wie man damit umging. In dem ich wusste, wie man es kontrollierte… Wie ich andere kontrollierte…“ Beim letzten Satz fuhr mir ein Schauer über den Rücken und die Bandbreite meiner… Macht wurde mir ein weiteres Mal bewusst. „Ich habe mich immer an deine Anweisung gehalten, Mum. Was auch passiert, sie dürfen diese Fähigkeit nicht haben. Sie dürfen nicht in der Lage sein, in die Köpfe eines jeden einzudringen und sie nach ihrem Belieben zu kontrollieren. Du wusstest, wenn er diese Gabe erhält, würde alles im Chaos versinken. Niemand, nicht einmal Gott, dürfe in der Lage sein, jedes Lebewesen in seinen Gefühlen, seinen Gedanken, seinem ganzen Wesen zu beeinflussen. Niemand dürfte die Gabe haben, sich in die Köpfe eines jeden einzudringen und es nach Belieben zu manipulieren und zu kontrollieren. Unser Innerstes ist das einzige, was uns wirklich gehört. Doch auch wenn du mich dafür vermutlich hassen würdest… Ich würde alles geben… Ich würde selbst diese Gabe in seine Hände legen, wenn ich dafür nur ein Mal… nur ein einziges Mal mit euch sprechen könnte… und euch sagen könnte, dass es mir leid tut.“

Plötzlich klingelte mein Handy. Genervt schaute ich auf den Display. Mike Newton

Und dann… ganz plötzlich überrollte mich solch eine Wut und Hass, dass ich kurzerhand mein Handy nahm und es quer durch den gesamten Raum warf. Es zersplitterte in viele kleine Teile, als es auf die Wand traf und das Klingeln verstummte schlagartig. Doch es war nicht genug.

Kurzerhand stand ich auf und lief verzweifelt hin und her. „Ein Jahr!“ schrie ich. In diesem Moment war ich so wütend, dass ich nicht anders konnte. „Nur ein einziges, verfluchtes Jahr hatte ich gebraucht, um diese Fähigkeit zu beherrschen, um zu wissen, wie man sie benutzte! Um sie sogar so weit zu nutzen, dass ich dieses verdammte Gift in meinem Körper unterdrücken konnte! Was hätte ihm ein Jahr schon ausgemacht?“ Kurz blieb ich stehen, schnappte nach Luft und sah das Grab meiner Eltern vorwurfsvoll an. „Ein Jahr… und ich konnte das Monster in mir unterdrücken, es in eine Kapsel einsperren und wieder leben. Ein Jahr… ein Jahr…“

Ich fuhr mir verzweifelt mit den Händen durch die Haare und versuchte mich zu beruhigen. „Aber ihr musstet euch ja Quer stellen“, sagte ich leise. „Ihr musstet ja die Helden spielen. Ihr musstet ja der Überzeugung sein, dass eure Opfer angemessen sind, wenn ihr andere dafür rettet. Doch was ist mit mir? Welches Opfer muss ich denn noch bringen? Reicht es nicht, dass ich zusehen musste, wie man euch umbrachte? Reicht es nicht, dass ich euch hätte retten können, wenn ich ja gesagt hätte, ihr es mir aber verboten hattet? Ich will das alles nicht. Ich will weder ein blutrünstiges Monster sein, noch irgendwen kontrollieren können. Wisst ihr wie oft ich mit dem Gedanken gespielt habe, euch in meinem Kopf wieder zum Leben zu erwecken? Meinen Kopf so weit zu beeinflussen, dass ich wirklich glaubte, ihr würdet leibhaftig vor mir stehen? Mit mir sprechen, mich anlächeln und wir einfach nur eine Familie wären? Selbst wenn es imaginär wäre? Ich kann nicht mehr, Mum. Ich kann nicht mehr. Diese Flucht… das Verstecken… wie lange wird es dieses Mal dauern, bis er weiß, wo ich bin?“ Ich schloss die Augen und atmete einmal tief ein. Meine Wut verebbte langsam, umso mehr breitete sich Reue in mir aus. Ich besuchte das Grab meiner Eltern und hatte nichts Besseres zu tun, als sie für alles verantwortlich zu machen. Ich hasste mich selbst dafür.

Einen Moment herrschte Stille. Immer wieder fuhr ich mir durch die Haare und versuchte klare Gedanken zu fassen. Doch in meinem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander. „Ich darf nie die Kontrolle verlieren. Nur ein klitzekleiner, unachtsamer Moment und die Kapsel bricht auf und das Gift breitet sich erneut aus… verschlingt mein Herz… mein Leben… meine Seele. Nur ein winziger Augenblick.“ Erschöpft ging ich zu dem Überbleibsel meines Handys und sammelte die Teile zusammen. Ein paar Mal setzte ich zum Sprechen an, verstummte jedoch immer wieder.

Dann fasste ich einen Entschluss und sperrte die schmerzhaften Erinnerungen in einen riesigen Käfig ein. „Ich hab euch lieb, Mum… Dad. Und ich werde mich an eure Anweisungen halten. Ich werde dafür sorgen, dass er diese Fähigkeit nie bekommen wird, selbst wenn es heißt, dass ich jeden Monat umziehen muss.“ Ich seufzte und starrte auf die Überreste meines Handys in meiner Hand. Es war schwer diese Entscheidung zu akzeptieren. Immerhin bedeutete es, dass ich nie wirklich irgendwo sesshaft werden konnte. Dass ich vermutlich nicht einmal eine eigene Familie gründen konnte. Denn ich musste immer Angst um sie haben. Angst, dass auch sie mir genommen werden konnten.

Ich wandte mich wieder dem Grab meiner Eltern zu. „Ich muss los. Die Fahrt zurück nach Forks ist lang und sehr zeitaufwendig. Ich versuche, euch so schnell es geht wieder zu besuchen. Bis bald.“ Flüchtig setzte ich einen Kuss auf die Gedenktafel. Dann wandte ich mich ab, löschte die Kerzen und trat hinaus ins Freie. Die Sonnenstrahlen schmerzten einen Moment und ich kniff reflexartig die Augen zusammen. Mein kaputtes Handy warf ich in den Mülleimer und so ging ich den Weg durch die Reihen der Toten entlang. Mein Geheimnis hinter mir lassend. Das Geheimnis, dass diesen kleinen Raum hinter mir, nie verlassen würde. Das Geheimnis, dass niemals jemand erfahren durfte.

Das Geheimnis, dass ich ein Vampir war… und die Gabe hatte, sie alle zu kontrollieren.

 

 

 

Anmerkung des Autors zu Amylin

Hallöchen, ;) Einige von euch sind zu mir gekommen und haben mich gefragt, was Amylin jetzt nun eigentlich ist, da sie das nicht so genau verstanden hatten. Da ich zugeben muss, das meine Erklärung im Text etwas zu kurz und oberflächlich geraten ist (Tschuldigung^^), werde ich an dieser Stelle noch einmal genau erklären, um was es sich bei Amylin handelt.
Amylin ist ein Vampir. Ein voller Vampir. Sie wurde mal gebissen, hat sich dann verwandelt und so weiter und so fort. Das kommt alles noch später.^^ Dadurch, dass sie zum Vampir wurde, hat sie eine Gabe erhalten oder wie auch immer man das nennt.
Sie hat die Fähigkeit, in die Köpfe eines jeden einzudringen und dort zu machen, was sie will. Sie kann denjenigen denken lassen, was sie will, dass er denkt. Sie kann denjenigen tun lassen, was sie will. Sie kann Gefühle manipulieren und verändern. Sie kann Erinnerungen, an die derjenige selbst sich gar nicht mehr erinnert, sehen und sie löschen oder verändern. Sie kann auch den Kopf so manipulieren, dass derjenige etwas sieht, was in Wirklichkeit gar nicht da ist, so eine Art Illusion eben. Sie kann also mit dem Kopf, sprich dem Gehirn (ich weiß, klingt komisch^^) machen was sie will. Sie kann es kontrollieren und somit die Person selbst kontrollieren.
Zum Beispiel könnte sie Carlisle dazu bringen Menschenblut zu trinken, auch wenn er es nicht wollte. Deswegen konnte sie eine eine Art "Mauer" um ihren Geist/Kopf ziehen, wie auch immer man das nennen will, wodurch Edward nicht ihre Gedanken lesen kann. Und sie sperrt die schmerzhaften Erinnerungen an das Geschehen mit Aro auch hinter eine Mauer, damit sie nicht tagtäglich daran denken muss.
Und so ähnlich hat sie das mit dem Gift gemacht, was sie zum Vampir werden ließ.^^ Da das Gehirn den Körper steuert, kann sie im Grunde auch den Körper kontrollieren. Und sie hat, als sie fähig war, ihre Gabe gezielt einzusetzen, das Gift an einen Teil ihres Körpers gesammelt und dann eine Art "Schützhülle" darum gemacht, damit es wirkungslos wurde. Dann brachte sie ihr Herz wieder zum Schlagen, das Blut floss wieder und sie lebte wieder, so wie sie es sagte.^^
Deswegen glauben die Cullens, sie sei ein Mensch, was sie ja im jetzigen Zeitpunkt auch ist. Sie muss atmen, sie muss essen, ihr Herz schlägt und sie altert, weil der ganze biologische Prozess in ihrem Körper ja abläuft. Aber im Grunde ist sie ein Vampir, der das Vampir-Sein nur unterdrückt. Und sollte irgendwann die Hülle wieder aufbrechen, breitet sich das Gift wieder aus und sie wird wieder zum Vampir mit dem Verlangen nach Blut, etc.
So, das war jetzt eine ganz schön lange Erklärung, aber ich denke, ihr habt das jetzt eigentlich alle verstanden, oder?! ;)
glg euer Früchtchen =)

 

 

 

Amylin

Der Rückweg war genau so beschwerlich wie die Hinfahrt. Mit dem Unterschied, dass ich jetzt noch erschöpfter war als am Anfang. Die Nacht auf dem kalten Marmorboden hatte nicht wirklich etwas zur Besserung meines Zustandes beigebracht. Doch ich wollte mich nirgendwo lange aufhalten, um mich gegebenenfalls zu erholen. Ich wollte einfach nur zurück nach Forks.
Bevor ich New Orleans verließ, machte ich noch einmal kurz Stopp in einem Einkaufszentrum und kaufte mir ein neues Handy. Es war das gleiche Modell und da glücklicherweise die Sim-Karte beim Aufprall nicht beschädigt worden war, benötigte ich nur die elektronische Hülle. Auf der Rückfahrt machte ich in denselben Motels Rast wie auf der Hinfahrt. Einige schienen sich an mich zu erinnern, andere sahen so aus, als würden sie mich zum ersten Mal sehen. Mir war beides Recht, solange niemand irgendwelche Fragen stellte.
Mit einer großen Erleichterung stelle ich fest, dass meine Albträume verschwunden waren. Jedes Jahr, wenn der Todestag meiner Eltern näher rückte, wurde ich von den schmerzhaften Erinnerungen heimgesucht und jedes Mal verschwanden sie, wenn der Tag vorüber war. Jetzt füllte mich eine große Leere und ich fühlte mich trotz meiner Erschöpftheit vollkommen entspannt. Ich glaubte, selbst Emmett und seine komischen Gefühlszustände könnten mich jetzt nicht mehr aus der Ruhe bringen. Und ich war mir sicher, dass ich die Sache mit Mike auch irgendwie wieder einrenken konnte.
Am Mittwoch gegen zwei Uhr in der früh erreichte ich Forks nach einer langen und ermüdenden Fahrt. Als ich das Ortseingangschild sah, lief mir ein wohliger Schauer durch meinen Körper bei dem Gedanken an mein weiches Bett. Ich würde vermutlich nicht einmal mehr die Kraft finden mich umzuziehen. Doch das war mir egal. Hauptsache ich war wieder zuhause.
Beim Gedanken an das letzte Wort, seufzte ich kurz. Es stimmte, dass dies jetzt mein neues Zuhause war. Doch für wie lange? Wie lange würde es dauern, bis Aro mich fand? Das letzte Mal hatte er fast 2 1/2 Jahre gebraucht. Doch er hatte mich schon einmal gefunden. Er konnte es sicherlich ein zweites Mal.
Mit einem unerklärlichen Gefühl von Geborgenheit parkte ich meinen Wagen vor meinem Haus und stieg aus. Ich fischte meine Tasche von der Rückbank und während ich den kurzen Weg zur Haustür entlanglief, kramte ich nach meinen Schlüsseln. Je näher ich dem Haus kam, desto sicherer und heimischer fühlte ich mich, was mich irgendwie verwirrte. So etwas hatte ich noch nie gefühlt, wenn ich mein Haus betreten hatte, im Gegenteil. Es war eher so, als würde ich tagtäglich das Zuhause eines Fremden betreten. Ein Haus, in dem ich nur zu Gast war. Doch heute… Das lag bestimmt nur an meiner Müdigkeit.
Ich wollte gerade den Schlüssel ins Schloss stecken, da wurde meine Tür auch schon aufgerissen und eine Gestalt stand im Türrahmen. Einen Moment glaubte ich, es wäre Mike und er hätte sich so sehr Sorgen um mich gemacht, dass er schlussendlich sogar in mein Haus einbrach. Dann jedoch merkte ich, dass die Silhouette viel größer und kräftiger war als die von Mike.
Verwirrt stand ich einen Moment da. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Dann, im Bruchteil einer Sekunde, wurde ich grob am Arm gepackt und ins Haus gezogen. Die Tür viel hinter mir ins Schloss und wenige Augenblicke später fand ich mich auch schon in einer kräftigen Umklammerung wieder. Überrascht und mit der Situation einen Moment überfordert, stand ich einfach nur da und tat nichts.
Dann wurde ich wieder Herr meiner Sinne und versuchte mich verzweifelte aus der Umklammerung zu befreien. Wer war das? Ein Einbrecher? Einer Vergewaltiger? Vielleicht auch ein Mörder? Oder war es gar Aro? Mein Herz hämmerte gegen meine Brust, mein Atem ging stoßweise und eine Welle der Panik überschwemmte mich. Immer kräftiger stemmte ich mich gegen diesen steinernen Körper und versuchte mich zu befreien, doch vergebens. Der Griff war zu fest.
„Ich hatte mir solche Sorgen um dich gemacht“, drang eine mir bekannte Stimme an mein Ohr. Es war kaum mehr als ein Flüstern. Vollkommen überrumpelt setzte mein Herz für einen kurzen Augenblick aus. Meine Angst war verschwunden, stattdessen hob ich überrascht und erschrocken zugleich den Kopf und versuchte das Gesicht zu identifizieren.
„Emmett?“, brachte ich hervor. Meine Augen weiteten sich vor Ungläubigkeit und mein Mund öffnete und schloss sich wieder, nicht fähig die richtigen Worte zu finden. Ich bekam keine Antwort, stattdessen wurde ich nur noch eine Spur fester gegen seine Brust gedrückt. „Emmett“, wiederholte ich immer noch ungläubig. Zur Antwort bekam ich nur ein tiefes Brummen. „Was…? Wie…? Wann…?“ Ich konnte kaum einen klaren Gedanken fassen, so überrascht war ich von der Tatsache, dass er sich in meinem Haus befand. „Was machst du hier? Wie kommst du überhaupt rein?“
„Fenster“, erwiderte er nur.
Ich seufzte. War ja klar. Anscheinend konnte keiner von ihnen eine normale Tür benutzen. „Ist es wenigstens noch ganz?“, fragte ich und wollte es im Grunde gar nicht wissen.
„Hm“, machte er nur. Ich nickte und seufzte dann ein weiteres Mal. Einen Moment blieben wir so stehen, ich vollkommen regungslos, während er seine Arme um mich geschlungen hatte. Keiner sagte ein Wort, die Dunkelheit schien uns regelrecht zu verschlingen.
Nach einer Weile jedoch brach ich das Schweigen. „Wie lange willst du noch so stehen?“ Ich spürte wie er mit den Schultern zuckte. Ungläubig hob ich eine Augenbraue, aber ich war mir nicht sicher, ob er es sehen konnte. Doch ich sagte nichts dagegen. Ich wusste nicht warum, aber irgendwie hatte ich nichts gegen diese Umarmung. Es war nicht wie bei Mike, wo ich schnellstmöglich etwas Abstand zwischen uns bringen wollte. Es war irgendwie… anders.
„Können wir dann wenigstens das Licht anmachen?“ Er zögerte kurz, dann löste er einen Arm von mir und betätigte den Lichtschalter. Reflexartig kniff ich die Augen zusammen, denn die Helligkeit brannte und machte mich für kurze Zeit blind. Ich hätte mir am liebsten die Hände auf die geschlossenen Lider gelegt, doch Emmetts fortwährende Umklammerung vereitelte dies.
Ein paar Mal öffnete und schloss ich die Augen in kurzen Abständen, dann hatte ich mich an das Licht gewöhnt und blickte auf. Emmett hatte seinen Blick starr auf die Wand hinter mir gerichtet. In seinen Augen konnte ich sehen, dass er gerade einen innerlichen Kampf ausübte. Offensichtlich war er sich sicher, dass er eine Grenze überschritten hatte. Ich seufzte. „Da wir also vermutlich eine Weile so stehen bleiben…“ Er senkte den Blick und ich lächelte ihn an, „Was führt dich hierher?“
„Du“, sagte er ohne zu zögern. Etwas perplex von seiner plötzlichen Antwort blickte ich in seine Augen. Sie waren pechschwarz. Irgendetwas sagte mir, dass das nichts Gutes bedeutete. Irgendetwas sagte mir, dass es besser wäre so schnell wie möglich Abstand zwischen uns zu bringen.
Doch es gelang mir nicht. So sehr ich auch befürchtete in Gefahr zu sein… ich war einfach viel zu müde. Und irgendwie… vertraute ich ihm. „Und warum ich?“
Sein Gesicht spannte sich an, ich konnte sehen, wie er die Kiefer aufeinander presste. „Du bist am Samstag nicht da gewesen, als Alice dich abholen wollte.“ Ach ja… sie wollte ja nach Seattle. „Und als du am Montag nicht in der Schule warst, da hab'… ich mir Sorgen gemacht. Edward meinte, du seist krank… eine Lebensmittelvergiftung und ich wollte nachschauen wie es dir geht. Doch dein Haus war immer noch verlassen. Ich hatte schon das Schlimmste befürchtet. Nirgendwo hattest du eine Nachricht hinterlassen, keiner wusste Bescheid. Es war, als wärst du vom Erdboden verschluckt worden.“ Sein Griff wurde fester und seine Augen hatten einen undefinierbaren Ausdruck, trotz ihrer beängstigenden Farbe.
„Es tut mir leid“, kam es mir über die Lippen, obwohl ich nicht einmal genau wusste, wofür ich mich entschuldigte. Seine Arme hielten mich immer noch fest umklammert. Sie waren kalt und steinern, dennoch konnte ich nicht umhin, mich in seiner Umarmung geborgen und sicher zu fühlen. Ich konnte es mir nicht erklären, aber in diesem kurzen Moment hatte ich das Gefühl, dass sich die Angelegenheiten mit Aro irgendwie von selbst lösen würden und der Gedanken an ihn bereitete mir nicht mehr solche Angst. „Emmett?“, fragte ich leise. Es wurde immer schwerer für mich, die Augen offen zu halten und einen klaren Gedanken zu fassen.
„Hm?“, brummte er.
„Danke“, flüsterte ich. Dann übermannte mich die Müdigkeit und ich sackte in seinen Armen zusammen. 

 

 

Emmetts Sicht

 

Endlich war sie wieder da. Ich hatte mir solche Sorgen gemacht. Als Alice am Samstagnachmittag mich anrief und mir sagte, dass Amylin nicht zuhause war, hatte ich schon ein komisches Gefühl bekommen. Ich hatte versucht mir einzureden, dass sie es durch die Aufregungen am Freitag vielleicht vergessen hatte und selbst irgendwo hingegangen war. Dennoch konnte ich nicht umhin, noch am gleichen Tag bei ihr vorbeizuschauen. Die ganze Nacht hatte ich auf einem Ast in der Nähe ihres Hauses verbracht und auch den ganzen Sonntag durch. Doch sie blieb verschwunden.

Irgendwann hatte ich es nicht mehr ausgehalten und war durch ein Fenster im ersten Stock hereingeklettert. Auch wenn es verriegelt war, für unser eins war es ein leichtes, so etwas zu öffnen. Ich durchsuchte das ganze Haus, jeden Zentimeter, nach einem Hinweis, wo sie sich hätte aufhalten können. Unweigerlich kamen mir der Kalender und der rot umrandete Sonntag wieder in den Sinn. Mit einem beklemmenden Gefühl hatte ich ihn angestarrt. Neben der Zahl hatte sie ein Kreuz gemalt. Was, wenn das wirklich ein christliches sein sollte? Was, wenn es den Tod symbolisierte?

Mein Herz hätte vor Angst vermutlich schneller geschlagen, doch das tat es schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Was, wenn sie sich das Leben nehmen wollte? Unaufhörlich war ich in ihrem Haus auf und ab gegangen, hatte die verschiedensten Möglichkeiten in Erwägung gezogen. Doch nichts konnte mich auch im Entferntesten beruhigen.

In die Schule gehen, konnte ich nicht. Auch wenn mich Carlisle darum bat und mir versprach, mich zu kontaktieren, sollte sie plötzlich im Krankenhaus auftauchen. Mir war klar, dass ich mich im Moment vermutlich wie ein Idiot benahm und es für die anderen nur eine weitere Bestätigung dafür war, dass Amylin weitaus mehr für mich war als nur eine Schulkameradin. Doch glücklicherweise besaßen sie so viel Taktgefühl und ließen mich in Ruhe.

Alice kam einmal vorbei und sagte mir, dass sie nicht wisse wo sie sei. Sie hatte keinerlei Visionen in der letzten Zeit von ihr gehabt, was meine Befürchtungen, sie könnte tot sein, nur noch mehr bestätigte. Edward rief mich an und erzählte mir, dass sie am Montag in der Schule angerufen und sich aufgrund einer Lebensmittelvergiftung abgemeldet hatte. Im ersten Moment verspürte ich Erleichterung. Sie hatte am Montag angerufen. Das hieß, dass sie noch am Leben war. Doch sofort machte sich wieder Besorgnis in mir breit. Wenn sie noch lebte, wo war sie dann? Definitiv nicht mehr in Forks. Jasper und Edward hatten mir zuliebe alles durchsucht. Ich hatte sie zwar nicht darum gebeten, aber ich wusste, sie wollten mir einen Gefallen tun und einmal mehr war ich in diesem Moment froh, solch eine unterstützende Familie zu haben.

Am Dienstag war ich dann letztendlich nichts weiter als ein Wrack. Ich hatte nicht gejagt und mein Hals brannte schlimmer denn je, doch das war mir egal. Es war nichts im Vergleich zu dem Schmerz, der mich vermutlich überkommen würde, wenn Amylin für immer verschwunden blieb. Mittlerweile hatte ich mich an diese Gedanken gewöhnt. Wenn sie mich anfangs noch schockiert und teilweise auch verwirrt hatten, war ich mir jetzt durchaus bewusst, was ich Amylin gegenüber empfand. Sie war etwas Besonderes für mich. Wie besonders, dessen war ich mir noch nicht sicher. Aber ich wusste, dass ich so viel Zeit wie möglich mit ihr verbringen wollte. Denn in ihrer Nähe fühlte ich mich so… menschlich. Ich fühlte mich nicht als Tier oder gar als blutrünstiges Monster. Wenn ich mit ihr zusammen war und in ihre strahlenden Augen blickte. Jedes Mal wenn sie lächelte, dann hatte ich das Gefühl, dass ich im Moment nichts weiter als ein ganz normaler Mensch war.

Und jetzt… jetzt nach Stunden der Warterei und des Verzweifelns, war sie endlich wieder in meinen Armen. Ich hatte sie fest umklammert, wollte mich vergewissern, dass sie noch lebte, ihr Blut immer noch durch ihre Venen gepumpt wurde. Als ihr Herz vor Angst schneller schlug, war es wie eine Erleichterung gewesen. Niemals hätte ich geglaubt, dass ein vor Angst schneller schlagendes Herz sich so beruhigend anhören konnte.

Sie blickte mich unverwandt an. In diesem Moment hätte ich sie am liebsten wieder losgelassen und so schnell wie möglich den größten Abstand zwischen uns gebracht. Sie musste es gesehen haben. Sie musste gesehen haben, dass meine Augen pechschwarz waren und nicht wie sonst in einem hellen Braunton. Doch so sehr mir mein Verstand auch sagte, ich solle verschwinden, blieb ich dennoch an Ort und Stelle stehen und hielt sie weiterhin umklammert.

„Es tut mir leid“, kam es plötzlich über ihre Lippen. Leicht verwirrt sah ich sie an. Ihre Augen waren glasig, sie schien in ihren Gedanken versunken zu sein. Des Weiteren spürte ich, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Was war plötzlich los mit ihr? „Emmett?“, fragte sie leise. Zur Antwort gab ich nur ein kleines Brummen von mir. „Danke“, flüsterte sie und den Bruchteil einer Sekunde stahl sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Dann knickten ihre Beine ein und sie sackte zusammen. Glücklicherweise hielt ich sie in meinen Armen, so fiel sie nur lediglich gegen meine Brust.

Verwirrt und besorgt zugleich, sah ich auf sie hinab. „Amylin?“, flüsterte ich und legte eine Hand auf ihre Wange. Ich hob ihren Kopf und versuchte mich zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Verdammt! Wo war sie gewesen? Was hatte sie gemacht? War ihr etwas zugestoßen? Fest umklammerte ich ihren Körper, der in meinen Armen so zerbrechlich wirkte. Hilfe suchend sah ich mich im Raum um.

Sollte ich Carlisle anrufen und ihn bitten herzukommen? Das war das Beste. Doch wo war das Telefon? Oh mein Gott, mir lief die Zeit davon. Wenn sie jetzt vielleicht innere Verletzungen hatte und sie nicht sofort ärztliche Behandlung bekam, dann…

Ich stockte und sah verwirrt auf Amylin herab. Ihr Gesicht wirkte so friedlich, ihre Brust hob und senkte sich gleichmäßig und ihr Herz hatte einen normalen Rhythmus. Ein erleichtertes Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Wie sie in solch einer Situation nur einschlafen konnte. Offensichtlich hatte sie in den letzten fünf Tagen viel durchgemacht.

Vorsichtig und darauf bedacht sie nicht zu wecken, hob ich sie auf meine Arme und war in weniger als fünf Sekunden schon oben in ihrem Zimmer. Sanft legte ich sie auf ihrem Bett ab und zog die große Decke über sie herüber. Sie seufzte leise, krallte sich in die Decke und rollte sich zusammen. Ein Anblick, der ein Grinsen in mein Gesicht verursachte. Dann ließ ich mich auf einem Sessel in ihrem Zimmer nieder und beobachtete sie beschützerisch, während ich gleichzeitig Carlisle anrief und ihn bat, so schnell wie möglich herzukommen.

„Du solltest jagen gehen“, murmelte Carlisle, als er sich gerade leicht über Amylin beugte. Aus meinen Gedanken gerissen, blickte ich auf. Es hatte nicht lange gedauert, bis er hier gewesen war. Glücklicherweise hatte er keine Fragen gestellt, sondern war meiner Bitte widerstandslos nachgekommen. Offensichtlich nahm ihn mein Zustand so mit, dass er in diesem Moment alles für mich getan hätte. Und ich? Ich bereitete ihnen solche Schwierigkeiten.

„Was fehlt ihr?“, ignorierte ich seine Aussage.

Carlisle seufzte leise. „Das kann ich jetzt noch nicht sagen, Emmett. Ich habe gerade erst mit der Untersuchung angefangen.“ Mit diesen Worten holte er ein Stethoskop aus seiner Tasche hervor und hob ihr T-Shirt leicht an, um den Herzschlag abzuhören. Ich unterdrückte ein Knurren. >>Bleib ruhig, Em. Es ist nur eine normale Untersuchung.<< Doch warum wühlte es mich innerlich so auf, dass Carlisle ihr so nahe kam?

„Ist das wirklich nötig?“, brummte ich. Obwohl er nicht wie Edward Gedanken lesen konnte, wusste er ganz genau, worauf ich hinaus wollte.

Ein mitfühlendes Lächeln umspielte seine Lippen. „Willst du mir jetzt erklären, wie ich meinen Job zu machen habe?“ Ich grummelte nur etwas zur Antwort und Carlisle lachte leise. Dann sagte er: „Emmett, du hast mich angerufen und mich gebeten, sie zu untersuchen. Das mache ich auch. Würde ich es nicht tun und mich nur auf meine Instinkte verlassen, würdest du mich vermutlich rüpeln, weil ich nicht mit der nötigen Ernsthaftigkeit an die Sache heran gehe.“

„Ja ja, du hast ja Recht“, erwiderte ich nur und Carlisle setzte seine Untersuchung fort. Ich beobachtete jede seiner Bewegungen genau, versuchte aus seinem Gesicht abzulesen, wie es ihr ging. Noch nie hatte mich Carlisles Arbeit so sehr gefesselt. Vielleicht hätte ich auch Medizin studieren sollen, dann würde ich mir jetzt nicht so nutzlos vorkommen.

„Ich meine es ernst, Emmett“, unterbrach er nach einer Weile die Stille. „Es wäre besser, wenn du jagen gehen würdest.“

„Nein, nein. Geht schon“, erwiderte ich nur und hatte meine Aufmerksamkeit vollkommen Amylin zugewandt, die sich jetzt auf die andere Seite drehte.

Carlisle hielt in seiner Bewegung inne und sah mich skeptisch an. „Emmett, das war keine Bitte. Es geht mir hier weniger um dich, als um sie.“ Verwirrt sah ich ihn an. Ein verständnisvolles Lächeln trat auf sein Gesicht. „Du wirst ihr keine besonders große Hilfe sein, wenn du hungrig vor ihr sitzt.“

Missmutig presste ich meine Lippen aufeinander. Ich wusste, dass er Recht hatte. Doch ich konnte Amylin nicht einfach so alleine hier lassen. Nicht, solange ich nicht wusste, was mit ihr passiert war.

„Geh. Ich passe in der Zwischenzeit auf sie auf.“

Einen kurzen Moment zögerte ich, dann gab ich der Vernunft nach und nickte. „Sei bitte vorsichtig.“ Skeptisch hob er eine Augenbraue. „Ich will nur nicht, dass sie aufwacht“, erwiderte ich.

„Keine Sorge. Ich werde es so unauffällig und angenehm wie möglich machen. Sie wird nicht merken, dass ich da war.“ Ein knappes Nicken meinerseits, dann blickte ich noch ein letztes Mal auf Amylins friedliches Gesicht.

„Ich beeile mich.“

„Sorge lieber dafür, dass dein Durst ordentlich gestillt wird“, flüsterte Carlisle zur Antwort und fuhr mit seiner Untersuchung fort.

Ich unterdrückte ein Grummeln, wandte mich dann jedoch vom Geschehen ab und sprang in die dunkle Nacht hinaus. Schnell lief ich durch den Wald, die Bäume flogen an mir vorbei. Ich hatte mich vollkommen meinen Instinkten hingegeben. Das erstbeste, was mir über den Weg lief, würde ich nehmen. Ich hatte keine Zeit, um nach Grizzlys zu suchen, auch wenn die meinen Durst am besten stillten. So schnell wie möglich wollte ich zu Amylin zurück und da war mir auch ein kleines Kaninchen Recht. Egal, was Carlisle sagte.

Mehrere Minuten lief ich durch den Wald. Dann, ganz plötzlich, nahm ich den Geruch von Wild war. Kurz hielt ich inne, versuchte den Geruch zu identifizieren und zu lokalisieren. Es war eine Herde Rehe, keine zwei Kilometer von hier entfernt. Eilig setzte ich meine Jagd fort, bahnte mir meinen Weg durch das Labyrinth aus Holz und Moos und versuchte jeden weiteren Gedanken zu verdrängen. Was jetzt zählte war die Beute. Nichts weiter durfte existieren. Nichts weiter durfte mich ablenken.

Ich spürte das Tier in mir, welches bedrohlich knurrte, als es seiner Beute immer näher kam. Der Geruch wurde intensiver, das Brennen in meinem Hals war mittlerweile kaum noch auszuhalten. Nur der Gedanken an Linderung, der Gedanke an warmes Blut, was mir gleich die Kehle hinab laufen würde, machte es erträglicher.

Es dauerte nicht lange, da hatte ich die Herde erreicht und mein erstes Opfer gefunden. Ruckartig stieß ich meine Zähne in das Fleisch unter mir. Es zappelte und versuchte sie aus meiner Umklammerung zu befreien, doch ein kleiner Knacks und sein Genick war gebrochen. Gierig saugte ich den roten Lebenssaft in mir auf, ignorierte das aufgeschreckte Rudel, das zu allen Seiten davon strömte und gab mich diesen köstlichen Geschmack hin. Doch so viel ich auch trank, es konnte meinen Durst nur teilweise lindern.

Teilnahmslos lies ich den toten Körper auf den Boden fallen und leckte mir über die Lippen. Sobald ich mich einigermaßen beruhigt hatte, schossen meine Gedanken sofort zurück zu Amylin. Doch ein mulmiges Gefühl machte sich in meinem Körper breit. Ein Gefühl, das mir beim Anblick des toten Tieres Übelkeit verschaffte. Es war so einfach gewesen. Anschleichen, springen, Genick brechen. Wie ein kleiner Zahnstocher, der mit Leichtigkeit gebrochen wurde. Was, wenn ich in Amylins Gegenwart einmal meine Kontrolle verlor? Was, wenn irgendwann einmal sie vor mir lag? Tot, genau wie dieses Reh?

Hastig sprang ich auf den Balkon und war einige Augenblickte später an Amylins Seite. Nach dem Reh hatte ich mich sofort auf den Weg zurück gemacht. Auch wenn ich roch, dass noch einige weitere in der Nähe waren, so war mir Amylins Befinden doch wichtiger als mein eigenes. Auf dem Rückweg hatte ich noch einen kleinen Bau mit einem Fuchs aufgespürt und so hoffte ich, dass ich gegenüber Carlisle einigermaßen gesättigt wirkte, obwohl ich noch mehrere Stunden hätte weiter jagen können.

„Und?“, fragte ich ihn, ohne den Blick von Amylin abzuwenden. Carlisle saß in einem Sessel und beobachtete sie mit ernstem Gesicht. Es dauerte eine Weile bis er mir antwortete. Eine Weile, die mich innerlich fast zerriss.

„Es geht ihr soweit ganz gut“, erwiderte er ruhig. Ich konnte seinen Blick auf mir spüren und wusste, dass er mich ganz genau beobachtete und meinen Zustand analysierte. Offensichtlich glaubte er nicht, dass ich die Jagd ernst genommen hatte. Wie konnte ich auch, wenn ich nicht genau wusste, wie es ihr ging?

„Was heißt soweit?“ Ein leiser Seufzer kam über Amylins Lippen und sie kuschelte sich noch ein Stück weiter in die Decke. Ich unterdrückte ein Lachen. Ob sie immer noch so friedlich schlafen konnte, wenn sie wüsste, wer oder besser gesagt, was in ihrem Zimmer war?

„Nun…“, riss Carlisle mich ein weiteres Mal aus meinen Gedanken. „Ich konnte keine vollständige Untersuchung machen. Immerhin kann ich ihr nicht so einfach Blut abnehmen, das würde sie vermutlich merken. Gesundheitlich geht es ihr gut. Sie ist nur erschöpft.“

„Das ist alles?“ Er machte eine Pause, bevor er mir antwortete.

„Ja.“ Ich nickte und blickte weiterhin Amylin an. Carlisle erhob sich und gesellte sich zu mir. „Was sie im Moment braucht, ist Ruhe, Emmett. Ich weiß nicht, was sie in den letzten paar Tagen gemacht hat, aber es hat ihr sehr viel Kraft gekostet. Sie ist vollkommen erschöpft. Ein Wunder, dass sie es überhaupt nach Hause geschafft hat.“

Ein Grummeln kam mir über die Lippen. Wo war sie gewesen? Was hatte sie gemacht? Hatte ihr vielleicht jemand anderes irgendetwas angetan?

„Sorge dafür, dass sie sich ausschläft.“ Verwundert sah ich Carlisle an, der mich aufmunternd anlächelte. „Selbst wenn ich dich drum bitten würde, würdest du nicht mit nach Hause kommen, oder?“ Ich schüttelte den Kopf und sein Lächeln wurde eine Spur breiter. „Vielleicht ist es auch ganz gut, wenn du bei ihr bleibst. Ich weiß nicht, wie es ihr gehen wird, wenn sie aufwacht. Vielleicht braucht sie etwas zu essen oder dergleichen. Sie sollte auf jeden Fall nicht aufstehen.“ Ich nickte zur Bestätigung. Wenn Carlisle so redete, hörte er sich eher wie ein Arzt an und nicht wie ein fürsorglicher Vater. „Ich stelle euch beiden eine Krankschreibung aus. Edward hat etwas von einer Lebensmittelvergiftung erzählt?“

„Sie hatte am Montag in der Schule angerufen gehabt und sich entschuldigt“, erwiderte ich nur.

Carlisle nickte. „Heute sollte sie auf jeden Fall nicht in die Schule gehen. Vermutlich wird sie den ganzen Vormittag durchschlafen. Du…“

„Ich werde nicht gehen“, unterbrach ich ihn.

Er lachte. „Das habe ich mir gedacht. Nun denn, meine Arbeit ist getan.“ Er nahm seine Tasche von Nachttisch und wandte sich zum Gehen ab.

„Danke“, sagte ich leise, doch ich wusste, dass er es gehört hatte.

Kurz hielt er inne. „Keine Ursache. Du weißt, wir sind immer für dich da.“ Dann war er auch schon verschwunden.

Ich seufzte kurz und blickte wieder auf Amylin herab. In letzter Zeit war so viel passiert. Unsere erste Begegnung, wo ich beinahe die Kontrolle verloren hatte. Der Chemieunterricht und unser gemeinsames Experiment. Mikes Verhalten ihr gegenüber und was es letzten Endes in mir ausgelöst hatte. Vor gerade mal zwei Wochen war sie an unsere Schule gekommen und dennoch… es fühlte sich so an, als würde ich sie schon eine Ewigkeit kennen.

Vorsichtig strich ich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Ein leichtes Lächeln trat auf ihre Lippen und es sah aus, als würde sie sich der Berührung hinstrecken. Ruckartig zog ich meine Hand zurück und betrachtete sie aufmerksam. Glücklicherweise wachte sie nicht auf.

Mein Verlangen unterdrückend wandte ich mich von ihr ab und setzte mich auf den Platz, an dem vorher bereits Carlisle gesessen hatte. Es war das Beste, wenn ich sie von hier aus beobachtete. So würde sie keinen allzu großen Schreck bekommen, wenn sie aufwachte und feststellte, dass ich noch da war. Auch wenn mein ganzer Körper danach schrie, sich neben sie zu legen und sie in meine Arme zu nehmen.

 

 

Amilyns Sicht

 

Das erste, was ich sah, als ich meine Augen aufschlug, war Grün. Verwundert kniff ich sie wieder zusammen und öffnete sie. Ich konnte einige Konturen erkennen: Wände… Fenster… ein Nachttisch mit einer Stehlampe. Ohne mich zu bewegen, ließ ich meine Augen soweit es ging durch den Raum wandern. Es dauerte nicht lange, bis ich realisiert, dass ich mich in meinem Zimmer befand. Was war mit mir passiert? Das letzte, an das ich mich erinnerte war, dass ich nach Hause gefahren bin. Ich hatte mein Auto abgestellt, war ausgestiegen und hatte die Tür... Emmett.

Ruckartig setzte ich mich auf. Und da saß er. In einem Sessel aus meiner Leseecke und beobachtete mich. Ich hätte fast einen spitzen Schrei ausgestoßen, so erschrocken war ich über seine Anwesenheit. Als er bemerkte, dass ich wach war, veränderte sich seine Miene und ein besorgter Ausdruck trat auf sein Gesicht. „Wie geht es dir?“ Hastig sprang er vom Stuhl auf und kam zu mir ans Bett.

Leicht verwirrt sah ich ihn an. „Ganz gut… denke ich“, antwortete ich nach einer Weile.

Sein Blick haftete kontinuierlich an meinem Gesicht. „Hast du Schmerzen?“

„Nein.“ „Bist du irgendwo verletzt?“

„Nicht, dass ich wüsste.“

„Hast du Hunger oder soll ich dir etwas zu trinken bringen?“ Leicht skeptisch blickte ich ihn an. So aufgebracht kannte ich ihn ja gar nicht. Sonst war er immer der unnahbare und ernste Typ. Jemand, der seine Gefühle nicht gerade offen zur Schau stellte. Doch jetzt wirkte er regelrecht aufgewühlt.

„Emmett?“

„Ja?“ Er sah mich erwartungsvoll an.

„Geht es dir gut?“ Einen Moment war er perplex, dann brach er plötzlich in schallendes Gelächter aus. Verwundert sah ich ihn an. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Während ich darauf wartete, dass er sich beruhigte, robbte ich zum Rand meines Bettes und versuchte aufzustehen.

„Nicht“, erwiderte Emmett jetzt wieder vollkommen ernst und drückte mich sanft zurück.

„Aber…“, begann ich zu protestieren, doch er schüttelte lächelnd den Kopf.

„Du solltest noch eine Weile liegen bleiben.“ Verwundert blickte ich in seine Augen. Sie waren karamellfarben, genau wie immer und hatten ein gewisses Funkeln. Sofort füllte mich eine innere Ruhe und ich gab meinen Widerstand auf und lies mich in die Kissen zurücksinken. „Wenn du etwas essen möchtest, bringe ich dir etwas.“ Emmett wirkte Recht fehl am Platze, wie er da so neben meinem Bett stand und nicht wusste, war er machen sollte.

„Nein, danke“, erwiderte ich. Er nickte nur und setzte sich dann wieder in den Sessel. Einige Minuten lang sagte keiner ein Wort. Dann hielt ich die Stille nicht mehr aus und richtete mich erneut auf. „Was machst du eigentlich hier?“, fragte ich ihn.

„Hatten wir das nicht gestern schon geklärt gehabt?“, erwiderte er nur.

Angestrengt versuchte ich mich zu erinnern, doch nur Bruchstücke kamen in mein Gedächtnis. Ich war offensichtlich zu müde gewesen. Ich schüttelte mit dem Kopf und er seufzte.

„Nun, du bist am Samstag nicht da gewesen, als Alice dich abholen wollte. Und am Montag und Dienstag kamst du nicht zur Schule. Als man uns sagte, dass du mit einer Lebensmittelvergiftung im Bett zuhause liegst, wollte ich nach dir schauen. Doch du warst nicht da.“

Ich nickte zur Bestätigung und spielte dann mit meiner Decke herum. „Wie lange habe ich geschlafen?“, fragte ich leise und hörte mich fast an wie jemand, der gerade aus dem Koma erwacht ist.

„Knapp 14 Stunden. Es ist jetzt fast 4 Uhr.“

„Und warum bist du noch nicht nach Hause gegangen?“ Irgendwie interessierte mich die Antwort auf diese Frage am meisten. Was hatte ihn dazu veranlasst bei mir zu bleiben und offensichtlich die ganze Nacht über hier zu verharren.

„Nun, was hätte ich sonst machen sollen? Ich hatte mir Sorgen um dich gemacht“, antwortete er ehrlich. Mein Herz schlug ein wenig schneller und ich konnte nicht umhin, mich darüber innerlich zu freuen. Doch warum? „Und als du dann früh morgens aufgetaucht bist und mir dann noch einfach so vor Erschöpfung in die Arme fällst und ich nicht den blassensten Schimmer hatte, wo du warst oder ob dir jemand etwas angetan hatte, blieb mir wohl nichts anderes übrig, als auf dich aufzupassen.“ Ein Grinsen trat auf sein Gesicht.

Gedankenverloren starrte ich auf meine Hände. Eigentlich hatte ich vermutet, dass Mike zuhause auf mich warten würde. Vor allem, nachdem ich ihn nicht angerufen hatte und er sich nach der Sache am Freitag schon eh so viele Sorgen um mich gemacht hatte. Doch jetzt, wie es der Zufall so wollte, saß Emmett in meinem Zimmer und beobachtete mich genau. Offensichtlich vermutete er, dass ich jeden Augenblick wieder umkippen würde. Doch mir ging es gut. Seit langem fühlte ich mich wieder vollkommen erholt und irgendwie auch ein bisschen schwerelos. Die Albträume waren verschwunden, ich konnte mich wieder voll und ganz anderen Dingen zuwenden.

„Wo bist du gewesen?“, riss er mich aus meinen Gedanken. Die Stimme war so nah, dass ich erschrocken aufsah. Emmett hatte sich, ohne dass ich es mitbekommen hatte, von seinem Platz erhoben und war wieder neben mir ans Bett getreten. Es dauerte eine Weile, bis ich mich beruhigt hatte und seine Frage zu mir durch drang.

Nachdenklich biss ich mir auf die Unterlippe. Wie viel konnte ich ihm anvertrauen? Wie viel würde er verstehen? Wenn ich ihm die Wahrheit sagte, würde er dann einfach gehen und nie wieder einen Gedanken an mich verschwenden? Würde er mir überhaupt glauben oder mich für verrückt erklären? Konnte ich ihm überhaupt etwas erzählen, was ich selbst vor Mike geheim hielt?

Erwartungsvoll sah er mich an. Ich schluckte einmal schwer und dann, ich wusste nicht ob es an seinen betörenden Augen lag, erwiderte ich: „Ich war in New Orleans.“

„Und was hast du da gemacht?“ Sanft ließ er sich auf der Bettkante nieder und blickte mich unverwandt an. Seine Augen zogen mich mehr und mehr in ihren Bann. Was für eine Wirkung hatte er auf mich? Wieso konnte ich mich ihm nicht entziehen? Wieso hatte ich das Gefühl, als ob ich ihn schon seit Ewigkeiten kannte? Ein Blick in seine Augen genügte und fühlte mich so frei, wie nie zuvor.

„Ich war beim Grab meiner Eltern“, sagte ich nur. Es ging einfacher, als ich gedacht hatte. Normalerweise spürte ich einen Kloß in meinem Hals, wenn ich nur daran dachte. Doch jetzt…

Emmetts Ausdruck entglitt ihm und für einen kurzen Moment sah er mich ungläubig an. Dann hatte er sich wieder gefangen und sein Blick hatte etwas Trauriges. Zögernd streckte er seine Hand aus und strich mir sanft über die Stirn. Als seine kalte Haut über meine streifte, durchzuckte es mich am ganzen Körper und eine Welle der der Kraftlosigkeit überrollte mich. Ich fühlte mich schlapp, in meinem Bauch kribbelte es und mein Herz schlug viel zu schnell. Hastig griff ich nach Emmetts Hand und drückte sie weiterhin auf meine Stirn. Fast so, als wollte ich mich an ihr festklammern. Mein Atem ging stoßweise. Was war nur los mit mir? Solch ein intensives Gefühl hatte ich noch nie gespürt.

„Amylin?“, fragte Emmett besorgt, doch ich schüttelte nur mit dem Kopf.

„Gleich“, flüsterte ich nur. Gierig sog ich die Luft ein und versuchte wieder Herr meiner Sinne zu werden. Langsam schlug mein Herz wieder ruhiger, ich schloss einen Moment die Augen und meine Atmung beruhigte sich. Ein leichtes Lachen kam mir über die Lippen. In letzter Zeit spielte mein Körper völlig verrückt.

Emmett befreite sich aus meinem Griff und legte seine Hände sanft auf meine Wangen. Leicht hob er meinen Kopf und zwang mich so in seine Augen zu sehen. „Was…?“, begann ich, doch er schüttelte nur mit dem Kopf. Seine Augen blickten unverwandt die meinigen an, durchbohrten sie regelrecht und versuchten herauszufinden, was mit mir los war. „Alles in Ordnung?“, fragte er nur.

„Ja“, lächelte ich.

„Habe ich dir irgendwie wehgetan?“

Beruhigend schüttelte ich mit dem Kopf. „Nein, eher im Gegenteil. Deine Berührung hatte etwas Wohltuendes.“

Seine Augen weiteten sich leicht und er kam mit seinem Gesicht ein Stück näher dem meinigen. Ein flüchtiges Grinsen stahl sich auf seine Lippen. „Hat es dir gefallen?“, fragte er weiter.

Verwundert sah ich ihn an. Was war das denn jetzt für eine Frage? „Ähm… ja“, erwiderte ich und lächelte zur Bestätigung.

Er beugte sich noch ein Stück vor und ich spürte seinen kalten Atem auf meiner Haut. Ein angenehmes Kribbeln lief durch meinen gesamten Körper. Was machte er da? Seine Hände lagen unverwandt auf meinen Wangen. Irgendwie kam mir diese Position bekannt vor. Und dann erinnerte ich mich. Mike hatte genau das gleiche getan, kurz bevor er mich…

Schlagartig schoss mir die Röte ins Gesicht und mein Herz schlug wieder schneller. Wollte er mich etwa küssen?
„Entschuldige,“, murmelte er. „Aber ich kann… mich nicht… mehr…“ Sein Gesicht war nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt. Ich spürte, wie sich ein angenehmes Gefühl in mir breit machte, mich vollkommen willenlos werden ließ und nur darauf wartete, dass diese weichen Lippen die meinigen trafen. Ich atmete seinen Geruch ein. Er benebelte mich auf seltsame Weise und automatisch streckte ich mich ihm ein wenig entgegen. Unwillkürlich schloss ich meine Augen und spürte, wie Stromstöße durch meinen Körper fuhren, als mich eine sanfte Berührung an der Oberlippe liebkoste.

 

Ein Klingeln durchschnitt die Stille, die uns umgab und brachte mich in die Realität zurück. Verwundert und auch ein wenig erschrocken öffnete ich die Augen. Emmetts Gesicht war nur Millimeter von meinem entfernt, sein Mund berührte sanft meine Oberlippe, als wir auch schon unterbrochen wurden.

Erwartungsvoll sah ich in sein Gesicht. Er hatte die Augen weiterhin geschlossen, eine kleine Falte hatte sich an seiner Stirn gebildet. Er musste das Klingeln gehört haben. Doch es schien ihn anscheinend nicht zu interessieren, denn er regte sich kein Stückchen. Erneut drang das Klingeln an meine Ohren. Jemand stand vor der Tür.

Unwillkürlich wollte ich meinen Kopf in die Richtung drehen, aus der das Geräusch kam, doch Emmett vereitelte dies. Sein Griff war fest und hinderte mich somit, mich auch nur um Zentimeter zu bewegen. „Emmett?“, fragte ich leise.

Sein ganzer Körper verkrampfte sich und urplötzlich legte er seine Stirn gegen meine. Ich sah, wie seine Augen sich zusammenpressten, sein Mund war zu einer schmalen Linie verzogen. Er sah aus, als hätte er Schmerzen. Erneut erklang das Klingeln, doch dieses Mal wollte es partout nicht aufhören. Wer auch immer vor der Tür stand, würde so schnell nicht verschwinden.

Emmett entfuhr ein leises Knurren, sein Mund öffnete sich und er sog scharf die Luft ein. Kurz fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. Würde ich es nicht besser wissen, würde ich sagen, er fletschte die Zähne. Dann, ganz plötzlich, öffnete er die Augen.

Hatte mich das warme Karamell seiner Augen vorher in einen magischen Bann gezogen, so schrak ich jetzt davor zurück. Aus seinen Augen war jeglicher Glanz verflogen. Kein Leuchten war mehr in ihnen, kein Anzeichen eines Lächelns oder von Freude. Sie wirkten leblos und kalt, trotz ihrer hellen Farbe.

Ich schluckte ein paar Mal, um den beklemmenden Kloß in meinem Hals loszuwerden. „Emmett? Ist alles in Ordnung mit dir?“

Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen. Doch es war nicht das typische Emmett-Grinsen, was ich so mochte. Es war kalt und hämisch. Ich schluckte erneut. Dieses Grinsen hatte nichts Gutes zu bedeuten. „Emmett. Was…?“

Sein Gesicht wanderte weiter. Er löste sich von meiner Stirn und sah mir tief in die Augen während er sich langsam nach unten bewegte. Je tiefer er kam, desto mehr öffnete er den Mund. Und dann passierte es. Ohne auch nur den Hauch einer Ahnung zu haben, was geschehen würde, drehte er meinen Kopf plötzlich leicht nach rechts und fuhr mir mit seiner Zunge über meinen Hals. Es war eine kurze Geste. Eine kurze und zugleich kalte Berührung. Und dennoch war es, als würde sie mir den Boden unter den Füßen wegreißen. Ein Spalt tat sich auf, ein großer Riss, der mich mehr und mehr zu verschlingen drohte.

Ich war hin und her gerissen zwischen den Gefühlen, die mit solch einer Wucht auf mich einstürzten, dass ich urplötzlich nach Luft schnappen musste. Abneigung gegen Verbundenheit. Ekel gegen Verlangen. Hass gegen Zuneigung. Diese kleine Berührung brachte all das wieder zum Vorschein, was ich so krampfhaft versuchte zu vergessen. Was ich in den hintersten Teil meiner Seele, dick hinter Mauern verschlossen hatte und nie daran denken wollte.

Ich konnte das Moos riechen, als ich durch den dunklen Wald gerannt war. Ich hörte unwillkürlich die Schreie der anderen. Seine roten Augen, die mich begierig verfolgt hatten. Ich hatte diese Berührung schon ein Mal gespürt. An genau der gleichen Stelle. Kalte Lippen, die auf meinen Hals trafen. Sie hatten mir letzten Endes das genommen, woran ich geglaubt hatte. Wofür ich gelebt hatte. Ich sollte sie hassen. Ich sollte sie verabscheuen und ihnen die Pest an den Hals wünschen. Und dennoch… dennoch konnte ich nicht verleugnen, dass mein Herz bei dieser kleinen Berührung kurz aussetzte. Und das nicht vor Angst.

Ich wusste ganz genau, diese Berührung war alles, wovor ich wegrannte. Weswegen ich mich hier in Forks versteckte und hoffte, dass Aro mich nicht fand. Und trotzdem verlangte ein Teil meines Körpers nach mehr. Erhoffte sich Heilung von den Wunden, die mir tief im Inneren zugefügt wurden. Ich spürte einen tiefen Zwiespalt in mir drin. Und ich wusste nicht, für welche Seite ich mich letzten Endes entscheiden sollte.

„Ich bring den Typen um.“ Emmetts tiefe Stimme drang an mein Ohr und brachte mich so in die Realität zurück. Ich hörte, wie immer noch jemand ununterbrochen den Klingelknopf betätigte und anscheinend nicht müde wurde, das zu tun. Was erhoffte sich derjenige davon?

Emmett musterte mich kurz. Der Ausdruck von vorhin war verschwunden. Stattdessen hatten seine Augen wieder dieselbe warme Farbe wie vorher. Ohne etwas zu sagen, löste er sich plötzlich von mir und verschwand dann aus dem Zimmer. Etwas verwirrt sah ich ihm hinterher. Ich hörte, wie er die Haustür aufmachte, das Klingeln endete abrupt und einen kurzen Augenblick herrschte Stille.

Dann sprachen plötzlich zwei Stimmen gleichzeitig. „DU!“ Wer auch immer es war, sie spuckten sich regelrecht die Worte entgegen.

„Was suchst du hier, du Hund?“ fragte Emmett wütend. Es hörte sich eher nach einem Knurren an.

„Das gleiche könnte ich dich fragen!“ Überrascht horchte ich auf. Ich kannte diese Stimme. Das war Mike.

„Wo ist Amylin?“, fragte er wütend. Ich nahm einen Hauch von Besorgnis in seiner Stimme wahr, aber ich war mir nicht sicher.

„Ich wüsste nicht, was dich das angeht“, erwiderte Emmett kalt.

„Geh mir aus dem Weg.“ Offensichtlich versuchte Mike an ihm vorbeizukommen, doch Emmett schien standhaft zu bleiben. Ein Lachen entrann seiner Kehle.

„Amylin?“, brüllte Mike jetzt. „Amylin bist du da?“

„Warum rennst du nicht gleich mit einer riesigen Leuchtreklame rum, wenn du dir schon die Mühe machst und die halbe Nachbarschaft störst“, gluckste Emmett, doch Mike ließ sich nicht beirren. „Amylin?“, brüllte er wieder.

„Jaaa!“ antwortete ich und sprang aus dem Bett. Einen kurzen Augenblick schien es so, als würden meine Beine mich nicht halten und ich krallte mich unwillkürlich an meiner Trennwand fest. Krampfhaft setzte ich einen Fuß vor den anderen und zwang sie somit, wieder zu ihrer normalen Kraft zu finden.

„Jetzt lass mich endlich rein, du hirnloser Muskelprotz“, fauchte Mike. Kurz herrschte Stille und ich befürchtete schon das Schlimmste. Noch etwas wackelig auf den Beinen, verließ ich mein Zimmer und ging eilig die Treppen herunter, darauf bedacht mich gut am Geländer festzuhalten.

Kaum hatte Mike mich erblickt, änderte sich sein Gesichtsausdruck schlagartig. Während er vorher noch Emmett wutverzerrt angesehen hatte, so strahlte er mich jetzt förmlich an und schien sich riesig zu freuen mich zu sehen. Auch ich freute mich irgendwie ihn zu sehen und ohne groß darüber nachzudenken, tauchte ich unter Emmetts Arm hindurch und umarmte ihn. Einen kurzen Moment war er perplex, dann erwiderte er die Umarmung freudig. „Geht es dir gut, Amylin?“, fragte er und drückte mich noch eine Spur fester an sich.

Ich hörte, wie Emmett hinter uns einen leisen Fluch aussprach, doch ich ignorierte es. Ich war in diesem Moment so froh Mike zu sehen. Ich wusste selbst nicht einmal warum. Vielleicht lag es daran, dass ich mich jetzt wieder mehr ich selbst fühlte. Keine Albträume, die mich plagten oder an meinen Nerven nagten. Vielleicht war ich aber auch nur froh, dass in meiner Abwesenheit nichts passiert war. So genau konnte ich das nicht sagen.

„Das reicht jetzt“, stieß Emmett hervor, packte mich am Oberarm und zog mich aus Mikes Umarmung. Verdutzt fiel ich mit dem Rücken gegen Emmetts Brust und er legte einen Arm um mich. „Ich hab dir gesagt, du sollst im Bett bleiben“, flüsterte er nahe an meinem Ohr und ein erneuter, wohliger Schauer lief mir über den Rücken. Ein Lächeln umspielte meine Lippen. Er machte sich Sorgen um mich…

Mike vor mir verkrampfte sich. „Wo warst du die letzten Tage? Ich habe versucht dich zu erreichen, aber du bist nicht an dein Handy gegangen. Ich bin jeden Tag hierhergekommen und wollte nach dir sehen, doch du warst nicht da. Ein Glück geht es dir gut.“ Während er sprach, hatte er die Hände zu Fäusten geballt. Ging es ihm nicht gut?

„Es tut mir leid, ich hätte dir was sagen sollen“, lächelte ich aufmunternd.

„Schon gut“, versuchte er ebenfalls ein Lächeln. Dann wandte er sich genervt an Emmett, der mich immer noch an seine Brust gedrückt hatte. „Herrgott, kannst du sie nicht mal loslassen? Sie kriegt bestimmt keine Luft mehr.“

„Hm“, erwiderte Emmett nur und beugte sich zu mir herunter. Sein kalter Atem traf auf meine rechte Wange und mein Herz schlug wieder bedeutend schneller. Was machte er nur, dass ich mich plötzlich so komisch in seiner Gegenwart fühlte? Ich spürte seinen Blick auf mir, doch ich traute mich nicht ihn anzusehen, aus Angst, welche Reaktion mein Körper dann auf ihn zeigen würde. So ließ ich meinen Blick über die Veranda schweifen.

„Ich denke nicht, dass sie Atemprobleme hat“, erwiderte Emmett und richtete sich dann wieder auf. Auch wenn ich es nicht sah, wusste ich, dass er grinste. Und da war es wieder. Dieses Gefühl von Zerrissenheit. Die Stimme, die mir sagte, ich sollte von hier verschwinden. Und die andere, etwas leisere, die mich versuchte zu beruhigen, dass ich in Emmetts Armen am sichersten war.

Um mich davon abzulenken, fragte ich Mike: „Willst du nicht reinkommen?“ Ich fand es unhöflich, ihn einfach so draußen auf der Veranda stehen zu lassen. Immerhin hatte er sich extra den weiten Weg auf sich genommen und war zu mir gefahren, um nach dem Rechten zu sehen.

„Gerne“, strahlte dieser. Offensichtlich missfiel ihm der Gedanke, dass Emmett und ich allein gewesen waren. Er wollte gerade eintreten, da versperrte Emmett ihm den Weg, in dem er die freie Hand ausstreckte und sich am Türrahmen festhielt. Mikes Gesicht wurde puterrot vor Zorn.

„Aber…“, begann ich, doch Emmett unterbrach mich. „Amylin braucht Bettruhe. Sie ist ziemlich erschöpft. Du willst doch nicht, dass sie umkippt, nur weil du ihr auf die Pelle gerückt bist, oder?!“ Ein kleines Lachen entfuhr ihm.

Mike ballte seine Hände zu Fäusten. „Sie hat mich herein gebeten, also ist das wohl ihre Angelegenheit. Außerdem hältst du sie von ihrer Erholung doch wohl mehr ab, als ich. Ich an deiner Stelle hätte sie schon längst wieder ins Bett verfrachtet.“

„Gut, dass du das erwähnst, Kleiner. Einen schönen Tag noch.“ Und bei diesen Worten hob mich Emmett plötzlich hoch und warf mich über seine Schulter. Mit einem lauten Lachen warf er die Tür ins Schloss und ging wieder zurück die Treppe hoch.

Verdutzt starrte ich zuerst die Tür an, gegen die Mike jetzt wie im Wahn hämmerte und versuchte mich dann zu Emmett umzudrehen. Doch er hielt mich am Rücken fest. „Du kannst ihn doch nicht einfach so da stehen lassen“, sagte ich immer noch überrascht.

„Oh doch, das kann ich“, lachte Emmett weiter.

„Aber das ist mein Haus und ich hab ihn hereingebeten“, erwiderte ich und versuchte mich gegen seine Schulter zu stemmen, doch es gelang mir nicht. Er war einfach viel zu stark.

„Und ich bin der Doktor und sage, du brauchst Ruhe und Erholung und garantiert keinen tollwütigen Köter.“
„Aber Emmett, wir können ihn doch nicht einfach…“

„Und ob wir das können“, unterbrach er mich. Mit diesen Worten packte er mich an der Hüfte und legte mich sachte in mein Bett zurück. Wohlwissend grinste er mich an, während er fürsorglich die Decke über mich zog. „Du bleibst hier und ruhst dich aus. So, wie ich es gesagt habe. In der Zwischenzeit schaue ich mal, ob ich etwas essbares hier finde.“

Mein Mund klappte unwillkürlich auf, doch kein Ton kam heraus, so verdutzt war ich von dieser ganzen Situation. Er lachte über meinen Gesichtsausdruck, dann wandte er sich ab und verließ erneut das Zimmer. So ganz auf mich allein gestellt und von vollkommener Stille umgeben, drangen plötzlich die Gedanken von vorhin in mein Gedächtnis.

Was hatte das alles nur zu bedeuten? Mussten diese ganzen Erinnerungen und Träume nicht endlich vorbei sein, jetzt wo ich den Tag endlich hinter mich gebracht hatte? Waren sie nicht wieder hinter Schloss und Riegel, gefangen und darauf wartend, dass sie nächstes Jahr zur gleichen Zeit wieder hervorkommen durften? Warum hatte ich mich dann bei Emmetts Berührung daran erinnert? War es vielleicht nicht gut, dass er in meiner Nähe war? Würde es jetzt immer so sein, wenn ich ihn ansah oder ihn berührte? Wäre es dann nicht besser, mich von ihm fern zu halten? Meiner selbst wegen, um letzten Endes nicht daran noch zugrunde zu gehen…

Unwillkürlich erinnerte ich mich an etwas, das meine Mutter mir immer gesagt hatte, als ich noch klein gewesen war. Den genauen Grund, warum sie mir das gesagt hatte, wusste ich nicht mehr. Aber ich erinnerte mich noch ganz genau an ihre Worte.

 

„In unserem Leben begegnen wir vielen Menschen. Zu einigen fühlen wir uns hingezogen, gegen andere hegen wir eine tiefe Abneigung. Auch die Intensität der Gefühle, die wir füreinander empfinden, werden von wichtiger Rolle für die Entwicklung unseres Charakters und letztlich unserer selbst sein.
Doch es wird nur eine Person geben… nur eine einzige, zu der wir uns mehr hingezogen fühlen, als zu allen anderen. Die wir nicht einfach nur lieben und achten. Sie wird mehr sein. Sie wird ein Teil unserer Seele sein.
Und sie wird auch die einzige sein, die uns letztendlich aus allen Gefahren retten kann. Die uns beschützt und dafür sorgt, dass das Leid auf der Welt uns nichts anhaben kann. Sie wird die Person sein, die wir gerne auch einmal als Engel bezeichnen.“

 

Als Emmett mich berührt hatte, hatte ich nicht nur Abneigung gespürt. Ich hatte auch das Verlangen nach Halt und Geborgenheit gefühlt. Ich wollte mehr, wollte in diesen großen Armen versinken und nie wieder daraus hervorkommen. Ich wollte in ihnen Schutz suchen. War Emmett vielleicht derjenige, den meine Mutter mit Engel gemeint hatte? War er der Teil meiner Seele und derjenige, der mich vor allen Gefahren beschützen konnte? War er der eine, der mich aus meinem dunklen Verließ retten konnte und mir zeigte, wie man wirklich lebte?

I'm sorry

Am Donnerstagmorgen betrat ich pünktlich um 7:52 Uhr die Schule und machte mich auf den Weg zu meiner ersten Stunde Mathe. Emmett war heute Morgen nicht mehr dagewesen. Nachdem ich gestern eingeschlafen war, als er mir über sein Leben erzählt hatte, hatte ich die ganze Nacht durchgeschlafen und war erst heute um fünf Uhr in der früh wieder aufgewacht. Als ich meine Augen aufgeschlagen hatte, war der Sessel neben meinem Bett leer und ich bekam auch keine Antwort, als ich seinen Namen rief. Vermutlich war er in der Nacht nach Hause gegangen. Das war nicht verwunderlich, immerhin musste er auch nach Hause und konnte nicht einfach so die ganze Nacht bei einer Klassenkameradin verbringen.

Ein kleines Lächeln stahl sich auf meine Lippen bei der Erinnerung an sein fürsorgliches Verhalten von gestern. Zwar war ich anfangs noch etwas sauer gewesen, weil er Mike einfach so vor der Tür hatte stehen lassen. Als er jedoch eine halbe Stunde später mit ein paar Sandwiches hochkam und meinte, er würde Mike erst rein lassen, wenn ich aufgegessen hatte, war meine Empörung verflogen und eine Art Glücksgefühl machte sich in mir breit, wie ich es bislang noch nicht kannte. Natürlich war Mike bereits verschwunden, als ich mit meinem Mahl fertig war. Aber ich glaubte, das war Emmett bewusst, als er grinsend wieder hochkam.

Und als ich heute Morgen meine Küche betrat, wusste ich auch, warum er eine geschlagene halbe Stunde gebraucht hatte, um mir die Sandwiches zu machen. Es sah aus wie auf einem Schlachtfeld. Etliche benutzte Pfannen und Töpfe waren im ganzen Zimmer verteilt, auf dem Tresen fand ich verschüttet verschiedene Arten von Soßen und im Mülleimer entdeckte ich etwas, was ich zweifelsohne als Nudeln identifizieren konnte. Stark verbrannte Nudeln, um genau zu sein. Mit einem Seufzer hatte ich alles so belassen wie es war. Ich hatte weder Zeit noch Lust vor der Schule meine Küche wieder auf Vordermann zu bringen. Mir grauste es schon vor der Vorstellung, heute den ganzen Nachmittag mit Putzen beschäftigt zu sein. Doch ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, bei dem Gedanken, wie Emmett gestern in meiner Küche hantiert hatte und anscheinend vollkommen überfordert gewesen sein musste. Er war anscheinend schon ziemlich lange ein Vampir, sonst wüsste er noch, wie man einen Herd richtig benutzte.

In Gedanken versunken, betrat ich den Matheraum und setzte mich an meinen Platz in der letzten Reihe. Mike war noch nicht da. So hatte ich noch etwas Zeit nach den passenden Worten zu suchen, um das Geschehene gestern zu erklären. Ich wollte mich entschuldigen, für das was Emmett getan hatte. Es war unhöflich von ihm gewesen, ihm einfach die Tür vor der Nase zuzuschlagen, nachdem ich ihn schon herein gebeten hatte. Und vor allem, nachdem er sich solche Sorgen um mich gemacht hatte. Ein leiser Seufzer kam mir über die Lippen. Ich bereitete meinen Mitmenschen nur Kummer und Sorgen, das war schon immer so.

Eine Gestalt ließ sich auf den Platz neben mir nieder und packte seine Bücher auf den Tisch. Ich sah Mike nicht an und konzentrierte mich nur auf das, was ich sagen wollte. Hoffentlich würde er mir verzeihen. „Weißt du, Mike“, begann ich, ihn immer noch nicht ansehend. „Es tut mir leid, was da gestern passiert ist. Ich weiß, du hast dir Sorgen um mich gemacht und es war verantwortungslos von mir, dir nicht Bescheid zu sagen, wo ich in den letzten Tagen war. Es ging alles drunter und drüber und ich hatte es schlichtweg vergessen. Und das mit Emmett gestern, das war…“ Genau in diesem Moment sah ich Mike direkt ins Gesicht. Oder besser gesagt in das Gesicht, was ich ursprünglich für Mikes hielt.

Verwundert und überrascht zugleich, weiteten sich meine Augen und ich war für einen Moment perplex. „Morgen“, grinste Emmett mich vergnügt an.

„Morgen“, erwiderte ich verwirrt. Seit wann war Emmett in meinem Mathekurs? „Ähm…“, begann ich, nicht wissend, was ich eigentlich sagen wollte. Meine Gedanken überschlugen sich regelrecht. „Was machst du hier?“, bekam ich zögerlich hervor.

„Ich habe den Kurs gewechselt“, grinste er. Wie er das sagte. Es klang so selbstverständlich, als wäre es das Normalste auf der Welt.

„Oh... ok“, erwiderte ich nur. Nach einer Pause fügte ich hinzu. „Und warum?“

Emmett zuckte mit den Schultern. „Mr. Cabot ist der bessere Lehrer.“

Ich nickte zur Bestätigung. Ging das so einfach? Konnte man einfach zur Sekretärin gehen und sie um den Wechsel eines Kurses bitten, nur weil man den einen Lehrer für besser befand? Dann, ganz plötzlich, kam mir Mike wieder ins Gedächtnis. „Ähm, entschuldige, aber der Platz ist besetzt“, lächelte ich.

„Von wem?“, fragte er und lehnte sich demonstrativ in seinem Stuhl zurück.

„Mike“, erwiderte ich nur und sah ihn gefesselt an. Ich konnte nicht sagen warum, aber ich war einfach nicht fähig den Blick von seinen Augen zu nehmen. Je länger ich sie ansah, desto mehr war ich in ihnen gefangen. Gefangen – schon wieder.

„Oh, ich glaube das Problem hat sich erübrigt“, grinste Emmett jetzt wieder und machte mit seinem Kopf eine ruckartige Bewegung in Richtung Tafel.

Ich folgte dieser Bewegung und sah Mike, wie er am Lehrerpult stand und offensichtlich eine hitzige Auseinandersetzung mit Mr. Cabot führte. Irgendetwas schien ihm zu missfallen, doch Mr. Cabot interessierte das wenig. Er forderte Mike auf, sich auf einen Platz in der dritten Reihe zu setzen und nur widerwillig leistete dieser folge. Während er zu seinem neuen Platz ging, warf er kurz einen Blick zu mir herüber. Seine Miene verfinsterte sich, er schäumte regelrecht vor Wut und knallte seine Bücher etwas zu hart auf den Tisch. Dann wandte er sich demonstrativ ab und setzte sich grummelnd.

Ich unterdrückte einen Seufzer, als meine Laune sich schlagartig verschlechterte. Erneut machte sich ein schlechtes Gewissen in mir breit. Ganz gleich, was ich tat, je mehr ich versuchte, alles gerade zu biegen, desto schiefer verlief es. Es war zum Verrücktwerden. Als wären wir vom Schicksal auserkoren, nicht befreundet sein zu dürfen. Kaum ein Tag verging, an dem Mike nicht wegen irgendetwas sauer auf mich war, dabei hatte ich größten Teils doch gar keine Schuld. Was konnte ich dafür, wenn Emmett den Kurs wechselte und sich neben mich setzte? Warum war er deswegen überhaupt wütend? Was hatte er nur gegen Emmett? Es konnte doch nicht mit Bella zusammenhängen. Wenn dem so wäre, dann müsste er doch eher auf Edward sauer sein und nicht auf Emmett oder mich.

Das Klingeln riss mich aus meinen Gedanken und ich versuchte Mike erst einmal zu verdrängen und mich auf den Unterricht zu konzentrieren. In der Pause konnte ich ihn ja zur Rede stellen und mich gegebenenfalls entschuldigen. Als Mr. Cabot begann ein paar Rechnungen an die Tafel zu schreiben, kramte ich meinen Notizblock hervor und schrieb die Gleichungen ab. Emmett neben mir machte jedoch keinerlei Anstalten das Gleiche zu tun. Schon fast gelangweilt hatte er sich in seinem Stuhl zurückgelehnt und sah mich unverwandt an. Ich konnte seinen Blick spüren, wie er mich regelrecht durchbohrte. Wäre es nicht besser, er würde sich auf den Unterricht konzentrieren als auf mich?

Es vergingen mehrere Minuten, in denen keiner von uns etwas sagte. Die Stille kam mir irgendwie fremd vor. Auch wenn wir im Unterricht saßen und Unterhaltungen nicht angebracht waren. Nachdem was gestern geschehen war, fand ich dieses Schweigen irgendwie komisch und fremd.

Plötzlich lehnte Emmett sich in meine Richtung und flüsterte mir ins Ohr: „Du wolltest vorhin etwas sagen.“ Verwirrt und überrascht zugleich sah ich ihn an. Was meinte er denn jetzt damit? Ich wollte vorhin etwas sagen? Was genau denn? Er schien bemerkt zu haben, dass ich ihm nicht ganz folgen konnte, denn er grinste breit und fügte hinzu: „Du wolltest vorhin etwas über mich sagen.“

Sein kalter Atem traf auf meine Wange und meine Haut brannte merklich. Er war mir so nah, allein der Gedanke daran ließ mich wohlig erschauern. Ich schluckte und versuchte mich voll und ganz auf seine Worte zu konzentrieren. Was machte er nur mit mir? Warum klopfte mein Herz plötzlich in meiner Brust so schnell? Und wieso hatte ich das dringende Bedürfnis, mich mehr zu ihm herüber zu beugen?

Ich räusperte mich leise und versuchte mich regelrecht zu klaren Gedanken zu zwingen. „Über dich?“, flüsterte ich.

Zur Bestätigung brummte er nur. Unverwandt starrte ich auf die Notizen vor mir und widerstand der Versuchung, ihn anzusehen. Ich wusste nicht, was passieren würde, wenn ich ihm in die Augen sah. Würden sie mich dann wieder so fesseln? Angestrengt versuchte ich zu überlegen, was ich vorhin eigentlich sagen wollte. Im Grunde wusste ich es selbst nicht. Ich wollte Mike besänftigen, mich bei ihm entschuldigen und ihm die Sache mit Emmett erklären. Aber im Grunde gab es doch eigentlich nichts zu erklären, oder? Er hatte sich genau wie Mike Sorgen gemacht und war vorbei gekommen. Jedenfalls hatte er das gesagt. Was also wollte ich Mike über Emmett erzählen?

„Ähm… ich weiß es nicht mehr“, flüsterte ich zur Antwort, den Blick immer noch auf meine Notizen gerichtet.

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Emmetts Grinsen breiter wurde. „Wie kannst du etwas so wichtiges nur vergessen? Du wolltest Mike etwas zur Entschuldigung sagen. Wolltest du ihn beruhigen, indem du sagtest, dass zwischen uns nichts lief, obwohl das eigentlich nicht der Wahrheit entspricht?“ Ohne groß darüber nachzudenken, drehte ich meinen Kopf abrupt zu ihm um. Und das war ein Fehler.

Unsere Gesichter waren nur Zentimeter voneinander entfernt, er hatte sein typisches Grinsen aufgesetzt und erneut nahmen mich seine Augen gefangen. Dieses Braun. Dieses Karamell. Sie strahlten förmlich, hell und freundlich. Mein Kopf war plötzlich leer, kein einzelner Gedanke schwirrte darin herum. Vergessen waren Mike und der Streit. Vergessen war Emmetts Frage und die Tatsache, dass wir uns mitten im Unterricht befanden. In diesem Moment schienen nur seine Augen zu existieren, die mich unweigerlich nicht mehr gehen lassen wollten.

Ich wusste nicht, wie viel Zeit letzten Endes verstrichen war. Vielleicht waren es nur ein paar Sekunden, vielleicht aber auch ein paar Minuten oder gar eine Stunde. Jedenfalls räusperte sich Emmett leise und brachte mich so in die Realität zurück. „Du wirst aufgerufen“, flüsterte er und grinste.

Einen kurzen Augenblick war ich verwirrt, dann nahm auch ich die mittlerweile etwas gereizte Stimme meines Mathelehrers war. „Mrs. Lamar?“

„Ja?“, wandte ich mich erschrocken ab und sah ihn überrascht an.

„Würden Sie bitte Aufgabe 23 aus dem Buch an der Tafel vorrechnen?“, fragte Mr. Cabot so, als hätte er mich gerade erst angesprochen und nicht schon seit geschlagenen mehreren Minuten versucht, meine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Mein Gesicht brannte und ich war mir sicher, dass ich leicht rot anlief, als ich mir bewusst wurde, dass die ganze Klasse sich zu mir umgewandt hatte und mich anstarrte. Hatten sie etwa alle mitbekommen, wie ich von Emmetts Augen gebannt war?

„Natürlich“, sagte ich mit einem Lächeln, erhob mich und versuchte mir so gut es ging, nichts anmerken zu lassen. Ich hörte, wie Emmett leise lachte, als ich an ihm vorbei lief. Na immerhin einer schien sich zu amüsieren.
Während ich mit meinem Buch zur Tafel ging, folgten mir die Blicke der Schüler unaufhörlich. Einige begannen sogar zu tuscheln. Ich suchte Mikes Blick. Kaum hatten sich unsere miteinander gekreuzt, verzog sich sein Mund zu einer schmalen Linie und er wandte wütend seine Aufmerksamkeit von mir ab. Ich unterdrückte ein Seufzen. Das würde vermutlich viele Entschuldigungen nach sich ziehen.

 

Als der Matheunterricht vorbei war, packte ich schnell meine Bücher zusammen und eilte Mike hinterher aus dem Klassenzimmer. Ich wollte noch möglichst vor der nächsten Stunde mit ihm reden und alles klar stellen. Als ich jedoch auf den Flur trat, konnte ich ihn nirgends entdecken. Missmutig ließ ich die Schultern hängen. Ging er mir etwa aus dem Weg? Wie sollte ich mich denn dann jemals bei ihm entschuldigen?

Ein Seufzer kam mir über die Lippen und ich wollte mich gerade auf den Weg zu meiner nächsten Stunde machen, da wurde ich prompt von jemanden aufgehalten, der sich mir in den Weg stellte. Verwirrt sah ich auf und blickte in Emmetts Gesicht. Verschwunden war das Grinsen von vorhin, jetzt hatte er eine nachdenklich, ja fast schon missbilligende Miene aufgesetzt. Bitte, nicht er auch noch. „Warum rennst du ihm dauernd hinterher?“, fragte er und musterte mich durchdringend.

Ein leichtes Lächeln stahl sich auf meine Lippen. „Weil ich mich entschuldigen will.“

„Und warum willst du dich dauernd entschuldigen?“ Ich war mir nicht sicher, aber es schwang ein Hauch von Anklage darin.

Ich schluckte und versuchte den sich bildenden Kloß in meinem Hals loszuwerden. Reichte es nicht, wenn Mike mich schon verachtete, weil Emmett in meiner Nähe war? Musste Emmett sich jetzt genau so verhalten? Was war mit den beiden nur los? So langsam aber sicher raubten sie mir meinen letzten Nerv. Ich hatte gehofft, wenn die Albträume verschwunden waren, würde alles wieder seinen gewohnten Gang gehen. Mike und ich würden uns wieder vertragen und er würde akzeptieren, dass ich auch zu den Cullens eine Freundschaft aufbauen wollte. Doch es war schlimmer denn je. Und dabei hatte ich geglaubt, dass wenigstens Emmett mich nach gestern etwas mehr verstehen würde. Jetzt schien es, als würde er sich wieder zu dem alten zurückentwickeln. Zu dem Emmett, der in einem Augenblick fröhlich, im nächsten mich mit seinen Blicken zu töten versuchte.

Ich seufzte und sah ihm ins Gesicht. Offensichtlich wartete er auf eine ernsthafte Antwort von mir. „Ich will ihn nicht als Freund verlieren, darum“, erwiderte ich und trat an ihm vorbei.

Emmett schnaubte leicht belustigt und folgte mir. „Das nennst du einen Freund? Jemanden, dem du dauernd hinterher rennen und helfen musst, erwachsen zu werden?“

„Wenn das nötig ist, dann ja.“

„Und was hat er je für dich getan?“

Ich blieb abrupt stehen und sah in Gedanken versunken auf den Boden. Emmetts Frage war berechtigt. Was hatte Mike je für mich getan? Ich rannte ihm immer hinterher. Ich entschuldigte mich für alles und machte mir andauernd Gedanken darüber, wie ich unsere Freundschaft retten konnte. Ich half ihm im Unterricht und verbrachte meine Freizeit damit, ihm den verpassten Unterrichtsstoff zu erklären. Ich tat alles für ihn. Doch was hatte ich je von Mike als Gegenleistung bekommen?

Wütend über mich selbst, schüttelte ich den Kopf. Was dachte ich da nur? Darauf beruhte doch keine Freundschaft. Es hieß nicht einfach nur Geben und Nehmen. Manchmal war es einfach nur ein Geben. Und Mike gab mir etwas. Er war für mich da, er mochte mich, so wie ich war und er verzieh mir immer. Er war mein Freund, er sorgte sich um mich und ließ mich all die schrecklichen Dinge vergessen. War das nicht schon genug?

Ganz in Gedanken bemerkte ich nicht, wie Emmett dicht hinter mich getreten war. „Ich würde dir nie wehtun“, flüsterte er.

Zuerst erschrak ich leicht, dann stahl sich ein Lächeln auf meine Lippen. Genau das brauchte ich jetzt. Jemanden, der für mich da war, der mich schützte und alles Leid von mir fern hielt. Und irgendwie gefiel es mir, dass Emmett derjenige war. Ich wusste nicht genau warum. Vielleicht weil er groß und kräftig war und man ihm ansah, dass er dazu fähig war. Vielleicht aber, spielte auch etwas ganz anderes eine Rolle.

„Wir müssen los zu Englisch“, sagte Emmett jetzt wieder lauter. Verdutzt drehte ich mich zu ihm um. Was meinte er mit wir? Emmett grinste jetzt wieder und sah leicht belustigt zu mir herunter. „Ich hab den Kurs gewechselt“, war seine einzige Antwort, dann nahm er mich bei der Hand und zog mich leicht hinter sich her.
Ich bemerkte, wie einige Schüler uns anstarrten, als wir an ihnen vorbei liefen. Was sie jetzt wohl denken mochten? Doch etwas ganz anderes beschäftigte mich mehr. „Warum hast du den Kurs gewechselt?“, fragte ich, während ich versuchte mit seinen allzu großen Schritt mitzuhalten.

„Mr. Berty ist besser“, erwiderte er nur und lachte daraufhin kurz. Was war daran jetzt so witzig? Und woher wusste er, dass die einen Lehrer besser waren als die anderen?

Den ganzen Weg über ließ Emmett nicht meine Hand los. Auch als wir den Raum erreichten und sich alle Köpfe zu uns umwandten, führte er mich zu meinen Platz und ließ sich dann neben mir nieder. Ich spürte die durchbohrenden Blicke und wusste, welches Gesprächsthema heute Nummer eins während der Mittagspause sein würde. Als wenn ich nicht schon genug Probleme hätte.

 

Die Stunde zog sich zäh dahin. Emmett machte dieses Mal keinerlei Anstalten, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Er sah mich nicht einmal an. Die ganze Zeit über hatte er seinen Blick konsequent zur Tafel gerichtet und verfolgte Mr. Bertys Unterricht. Jedoch machte er sich auch dieses Mal keine Notizen.

Die darauffolgenden Stunden waren Geographie und Biologie und ich war froh, dass Emmett dieses Mal nicht mitkam. Auch wenn ich mich mittlerweile irgendwie an seine Gegenwart gewöhnt hatte und ich das Gefühl mochte, ihn um mich zu haben, wusste ich nicht, wie Mike reagieren würde, wenn er auch in Biologie neben mir sitzen würde. Während ich Mr. Banners Zeichnung über das menschliche Herz in meinen Block übernahm, konnte ich nicht umhin, ein ums andere Mal zu Mike herüber zu sehen. Er saß nur zwei Reihen vor mir und schien sich zu langweilen, denn er machte nicht einmal den Versuch, sich etwas zu notieren. Oder aber er schlief, so genau konnte ich das nicht sagen. Sehnlichst erwartete ich das Ende der Stunde. Danach war Mittagspause und hier konnte Mike mir nicht so einfach davonlaufen. Ich würde mich wie immer zu ihm und den anderen setzen und ihnen einfach alles erklären. Ich hatte es satt, immer davor wegzulaufen. Emmett wusste über meine Eltern Bescheid und vermutlich hatte er es seiner Familie erzählt. Also war es nur Recht, wenn ich es auch meinen anderen Freunden erzählte.

Mit neu gewonnenem Mut, betrat ich die Cafeteria. Ich hatte keinen Hunger, so ging ich einfach nur an der Essenausgabe vorbei und steuerte sofort den Tisch an, an dem wir immer saßen. Angela und Eric waren bereits dort und sie begrüßten mich freudig. „Hallo Amylin, geht’s dir wieder gut? Was war denn los mit dir?“ In Angelas Stimme schwang Besorgnis.

Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Sie war so gutherzig und freundlich, ohne sie würde hier etwas fehlen. Ich wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, da unterbrach mich jemand, der sich schwunghaft neben mich setzte. „Lebensmittelvergiftung, nicht wahr Amylin?!“ Mike grinste mich breit an und biss herzhaft in seinen Apfel hinein.

Ich war so verwundert über seine plötzliche Stimmungsänderung, dass ich ihn nur perplex anstarrte. Wieso war er auf einmal wieder so freundlich zu mir? Nicht, dass ich etwas dagegen hatte, im Gegenteil. Ich war froh darüber, wenn alles wieder so war, wie zu Beginn. Doch nachdem ich seine wütenden Blicke gesehen hatte, hatte ich mir die verschiedensten Entschuldigungen parat gelegt. Und jetzt brauchte ich sie gar nicht.

„Oh, das tut mir leid“, wandte sich Angela erneut an mich. Ein leichtes Lächeln stahl sich auf meine Lippen, als ich sie ansah. Vergessen war plötzlich, dass ich ihnen von meinen Eltern erzählen wollte. Mike war gut gelaunt und ich wollte es nicht damit zunichtemachen, indem ich ihnen davon erzählte. Vielleicht war es doch besser, wenn sie von nichts wussten.

„Ja, aber jetzt geht’s ihr wieder besser. Ich hab sie gesund gepflegt.“ Verwirrt wandte ich mich ihm wieder zu. Er zwinkerte kurz und machte sich dann über sein Mittagessen her. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie Jessica die Lippen schürzte und leicht missbilligend dreinsah.

Eric und Angela schienen genau so verwundert zu sein wie ich. „Ach?“, sagte Eric und sah mich fragend an.

Was sollte ich darauf nur antworten? Die Wahrheit? Aber dann wussten alle, dass Mike gelogen hatte und glaubten, er wolle sich nur aufspielen. Mike wäre dann vermutlich wieder sauer auf mich und ich wollte das nicht riskieren. Nicht wo wir wieder einen Moment hatten, indem alles vollkommen in Ordnung schien. Aber warum log er überhaupt?

„Ja“, erwiderte ich nur und wandte mich dann Eric zu. Im Grunde war das eigentlich nicht ganz gelogen. Mike hatte sich Sorgen um mich gemacht und war zu mir gefahren, um mir zu helfen. Wäre Emmett nicht da gewesen, dann hätte vermutlich er sich um mich gekümmert. Und es war doch der Gedanke, der zählte, oder?
Eric nickte zur Bestätigung, blickte jedoch immer noch etwas ungläubig drein. Dann wandte er sich wieder Angela zu. Ich ließ mir von Jessica und Mike abwechselnd erzählen, was ich in meiner Abwesenheit verpasst hatte. Eigentlich nicht viel. Den Unterrichtsstoff konnte ich leicht nachholen. Angela hatte für mich mitgeschrieben, zumindest in den Fächern, in denen wir gemeinsam Unterricht hatten. Bei den restlichen musste ich mich einfach bei den Lehrern erkundigen.

 

So flog nur die Pause dahin und ehe ich mich versah, klingelte es bereits. Gemeinsam mit Mike lief ich zu Chemie. Den ganzen Weg über redete er ununterbrochen, machte Grimassen und brachte mich somit zum Lachen. Seit langem hatte ich mich nicht mehr so wohl und frei gefühlt. Die Albträume hatten mir meine Kraft genommen und mich so ermüdet, dass ich meine Umgebung kaum noch wahrgenommen hatte. Doch jetzt, nachdem sie endlich vorbei waren, hatte ich das Gefühl wieder richtig zu leben. Mike war gut drauf und steckte mich regelrecht mit seiner guten Laune an. Es war perfekt. Ein wenig zu perfekt. Ich hätte eigentlich ahnen müssen, dass diese Glückseligkeit nicht lange anhalten würde. Das hatte sie ja bislang noch nie.

Mike nahm an unserem üblichen Tisch Platz und ich war gerade im Begriff mich neben ihn zu setzen, als mich eine kalte Hand von hinten am Arm packte und mich zurückhielt. Überrascht blickte ich auf und sah in Emmetts Gesicht. Er blickte zu mir herunter und lächelte mich leicht an. „Ab heute sitzt du neben mir“, sagte er nur.

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Mike sich plötzlich erhob. „Lass sie gefälligst los!“ Verschwunden war der gutgelaunte Mike, stattdessen war er wie vorhin. Wütend und mit funkelnden Augen starrte er Emmett an.

„Warum sollte ich?“, neckte Emmett ihn und grinste ihn süffisant an.

Mike ballte seine Fäuste. „Weil sie neben mir sitzt“, fauchte er.

„Nach der letzten Stunde garantiert nicht“, erwiderte Emmett kalt. „Ich will nicht, dass noch einmal solch ein Malheur passiert.“

„Ich war garantiert nicht schuld daran.“

„Nein, aber du konntest ihr auch nicht helfen. Jetzt überlege mal genau, wer sich über sie geworfen und die ganze Säure abbekommen hat, bevor du deinen Mund noch ein weiteres Mal aufmachst.“ Ein tiefes Knurren kam aus Emmetts Brust, doch ich war mir sicher, dass Mike es nicht hörte. Hätte er es gehört, hätte er sich vor Schreck vermutlich wieder hingesetzt. So aber stand er nur wütend da und wusste nicht, was er kontern sollte. „Wir können von Glück reden, dass ich mein Shirt rechtzeitig ausgezogen hatte, bevor sie auf meinen Körper übergriff“, bei diesen Worten grinste er mich wohlwissend an. „Aber selbst wenn nicht, wäre es ein Preis, den ich in Kauf genommen hätte.“

In Kauf genommen? Er hätte es in Kauf genommen, wenn sein kompletter Rücken von Säure überdeckt worden wäre? Warum?

„Ach, außerdem“, fügte Emmett gelassen hinzu. „Dein Laborpartner ist wieder gesund. Das heißt also, dass Amylin keinen mehr hat und somit neben mir sitzen kann.“ Ein Grinsen umspielte seine Lippen als er einen Jungen, den ich bislang noch nicht kannte, hinter seinen Rücken hervorschob und auf meinen Platz verfrachtete. Offensichtlich schien er etwas Angst vor Emmett zu haben. Jeder andere hätte sich vermutlich gewehrt, wenn man ihn einfach so zu seinem Platz geschoben hätte, doch er holte nur seine Bücher hervor und vermied es, uns seine Aufmerksamkeit zu schenken.

Emmetts Grinsen wurde noch eine Spur breiter, als er sah, wie Mike seine Niederlage zugab und sich setzte. Dann nahm er mich wie vorhin an die Hand und führte mich zu seinem Platz. Ich wandte mich noch einmal zu Mike um und versuchte mit den Lippen ein stummes "Entschuldigung" zu formen, doch er schüttelte nur grimmig den Kopf. Bitte nicht schon wieder.

Emmett zog den Stuhl neben sich nach hinten und bedeutete mir so, mich zu setzen. Etwas zögerlich leistete ich seiner Aufforderung folge. Mir blieb schließlich nichts anderes übrig, immerhin war dies der einzige noch freie Platz. Ich hatte ganz vergessen, dass ich eigentlich nur zeitweilig neben Mike sitzen konnte. Bei unserer ersten Stunde hatte er dem Lehrer gesagt, dass sein Laborpartner krank sei und demnach ich eine Weile neben ihm sitzen könnte. Mr. Wentorf hatte zugestimmt. Und irgendwie hatte ich es komplett vergessen gehabt.

Emmett links neben mir lehnte sich erneut in seinem Stuhl zurück und starrte aus dem Fenster. Nachdenklich beobachtete ich ihn. Ich konnte nicht leugnen, dass ein kleiner Teil von mir sich darüber freute, neben ihm zu sitzen. Genau der gleiche Teil, der sich immer wieder von seinen Augen in den Bann zogen ließ. Doch ich wusste immer noch nicht, warum.

„Du, Emmett?“, sprach ich ihn plötzlich frei heraus an, ohne groß darüber nachzudenken. „Warum machst du das eigentlich?“ Emmett wandte den Blick vom Fenster ab und sah mich durchdringend an. Und erneut konnte ich seinen Augen nicht widerstehen. Wieso machte er das? War es vielleicht seine… Gabe? Hatte er die Fähigkeit, Menschen in seinen Bann zu ziehen? Aber das war unmöglich. Dafür müsste er mich geistlich fesseln und eine dicke Mauer würde ihn daran hindern. Hätte er solch eine Gabe, wäre sie bei mir wirkungslos. Was also war es dann?

„Habe ich doch gesagt“, grinste er jetzt wieder. „Ich möchte nicht, dass so etwas noch einmal passiert.“

„Aber das ist doch unsinnig“, erwiderte ich. „Wie oft experimentieren wir schon mit hochprozentiger Säure? Und ganz gleich, wo ich gesessen hätte, im Endeffekt hätte es mich überall treffen können.“

Emmett schüttelte den Kopf und sah mich dann ernst an. „Es geht nicht um die Säure.“

„Um was dann?“ Verdutzt sah ich ihn an.

Zur Antwort seufzte er kurz und blickte dann an mir vorbei. Er schien in Gedanken zu sein, denn seine Augen nahmen einen glasigen Ausdruck an. Dann schürzte er die Lippen und wandte sich mir wieder zu. „Ich kann es nicht ertragen, wenn du nicht in meiner Nähe bist“, sagte er frei heraus.

Das war nicht ganz die Antwort gewesen, die ich vermutet hatte. Verwirrt und überrascht zugleich starrte ich ihn an und wusste nicht, was ich darauf hätte sagen sollen. Er konnte es nicht ertragen, wenn ich nicht in seiner Nähe war. Was meinte er damit?

„Amylin, ich…“, begann er, doch da wurde er plötzlich durch das Klingeln der beginnenden Unterrichtsstunde unterbrochen. Leicht genervt stöhnte er, dann blickte er mich noch einmal kurz an, bevor er sich wieder dem Fenster zuwandte. Aus einem unergründlichen Reflex hin griff ich plötzlich nach seinem Arm und zwang ihn mir wieder ins Gesicht zu blicken. Jedoch zog ich mich aufgrund der Widerstandsfähigkeit seines Körpers eher zu ihm heran, als dass er sich zu mir drehte. So hing ich halb über meinen Stuhl, immer noch seinen Arm festhaltend, während unsere Gesichter nah beieinander waren. Ich konnte Verwirrung in seinen Augen sehen und einen Moment starrte ich ihn nur an. Dann wurde mir bewusst, was ich da eigentlich tat. Augenblicklich ließ ich ihn los und wandte mich von ihm ab. Mein Herz klopfte wie wild in meiner Brust, mein Gesicht brannte und ich bekam das Bild seiner Augen nicht aus meinem Kopf. Warum hatte ich ihn zurückgehalten? Warum hatte ich nach seinem Arm gefasst und ihn gezwungen, mich wieder anzusehen? Er hatte etwas sagen wollen, als er plötzlich unterbrochen wurde. Etwas Wichtiges, wie ich an seiner Stimmlage und seinem Gesichtsausdruck vermutete. Ich hatte keine Ahnung, um was es sich dabei handeln konnte. Doch ich wusste, dass ich es unbedingt hören wollte.

 

„Mike, so warte doch bitte!“ Eilig lief ich ihm hinterher und versuchte mit ihm Schritt zu halten. Die letzte Stunde für heute war eben gerade zu Ende gegangen und jetzt strömten alle Schüler die Flure entlang und aus dem Gebäude heraus. Sie alle schienen so schnell wie möglich nach Hause zu wollen. Zwei dieser Schüler waren Mike und ich. Nach Chemie hatte er schnell seine Sachen zusammengepackt und war wieder verschwunden. So hatte ich keine Zeit mehr gehabt, mit ihm zu reden und ihm alles zu erklären. Mir blieb nichts anderes übrig als nach der letzten Stunde am Ausgang auf ihn zu warten. Doch er war einfach an mir vorbeigelaufen, ohne mich eines Blickes zu würdigen.

„Mike!“, rief ich ihm hinterher, doch er beachtete mich nicht. Hastig lief er durch die Reihen der parkenden Autos und steuerte geradewegs seinen Chevy an. „Ich bitte dich, Mike.“ Ich konnte kaum mit ihm Schritt halten, so schnell ging er. Mittlerweile hatte er seinen Chevy erreicht. Ich befürchtete, dass er einfach so davon fahren würde und ich nicht mehr die Möglichkeit hatte, mit ihm zu reden. So aufgebracht sollte er nicht Auto fahren. Wer wusste schon, was dann passierte?

„Mike!“, hörte ich plötzlich Erics Stimme. Überrascht drehte ich mich um und erblickte in einigem Abstand meine anderen Freunde. Sie schienen mitbekommen zu haben, dass mit Mike etwas nicht stimmte und waren genauso erpicht darauf, ihn zu besänftigen. Eric zog Angela an der Hand hinter sich her, während Jessica versuchte mit den beiden Schritt zu halten. Mittlerweile hatte ich auch den Chevy erreicht und Mike wollte gerade einsteigen, als ich ihm die Tür vor der Nase zuschlug.

„Was soll das, Mike?“, fragte ich ihn. Glücklicherweise waren wir etwas abseits vom Treiben der Schüler, so würde niemand unser kleines Szenario mitbekommen.

„Was das soll? Das sollte ich wohl eher dich fragen“, blaffte er mich an. Erschrocken zuckte ich zurück.

„Was meinst du?“

„Was ich meine? Das kann ich dir sagen. Was soll das, dass du die ganze Zeit mit diesem Cullen abhängst? Er wechselt die Kurse, nur um neben dir zu sitzen. Er beansprucht überall deine Aufmerksamkeit und du lässt es dir gefallen.“

„Das ist nicht wahr“, erwiderte ich. „Emmett hat die Kurse gewechselt, weil er der Meinung war, dass die Lehrer besser sind.“

Mike schnaubte. „Das glaubst du doch wohl selbst nicht.“

Ich wollte etwas erwidern, doch mein Mund öffnete und schloss sich wieder, während ich verzweifelt nach den richtigen Worten suchte. Wie kam er darauf, dass Emmett nur den Kurs gewechselt hatte, um neben mir zu sitzen? Wenn dem so wäre, dann hätte er auch in seinen Kursen bleiben können, immerhin hatte ich heute eh in Chemie mich zu ihm setzen müssen. Unweigerlich kamen mir seine Worte von vorhin wieder in den Sinn.

„Ich kann es nicht ertragen, wenn du nicht in meiner Nähe bist.“

War das der wahre Grund, warum er den Kurs gewechselt hatte? Weil er mich in seiner Nähe haben wollte? Aber warum? Es passierte nicht jeden Tag, dass jemand mit hochprozentiger Säure den Flur entlangging und sie mir dann ausversehen überschüttete. Eigentlich passierte das so gut wie nie. Warum dann also?

„Weißt du Amylin, du bist genau wie all die anderen Mädchen“, riss mich Mike aus meinen Gedanken. Verwundert sah ich ihn an und bemerkte Abscheu in seinem Blick. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. „Ich hatte geglaubt, du seist anders. Ich hatte gedacht, du gehörst nicht zu denjenigen, die sich von dem Charme der Cullens einfangen lassen und nicht mehr klar denken können. Aber anscheinend habe ich mich geirrt.“

„Was hat das denn jetzt damit zu tun?“, fragte ich schon leicht verzweifelt.

„Hör mal Mike…“, begann Eric plötzlich und trat einen Schritt auf ihn zu. Ich hatte ganz vergessen, dass sie auch da waren.

Doch Mike ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Halt dich da raus!“, fauchte er, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Stattdessen funkelte er mich an. „Es kotzt mich an. Du kotzt mich mittlerweile an. Dein freundliches Gehabe, das Lächeln, das ist doch alles nur aufgesetzt, damit die anderen dich mögen. Aber ich habe es satt. Du hast dein Ziel erreicht, herzlichen Glückwunsch.“

„Mike, das ist nicht nett. Du weißt, Amylin ist nicht so“, mischte sich jetzt auch Angela mit ein. Sie trat neben mich und fasste mich sanft am Arm. Offensichtlich wollte sie deutlich machen, dass sie zu mir stand. Ich spürte, wie der Kloß in meinem Hals dicker wurde. Jetzt war ich auch noch schuld, dass sie sich untereinander spalteten.

„Ach ja?“, meinte Mike spöttisch an Angela gewandt. „Dann lass Amylin doch mal erzählen, wer sie in Wirklichkeit gesund gepflegt hat.“ Herausfordernd sah er mich an.

Ich spürte, wie alle ihre Aufmerksamkeit mir zuwandten und mich verwundert ansahen. Der Reihe nach blickte ich in ihre Gesichter. Jessica hatte skeptisch ihre Augenbraue hochgezogen, Angela sah mich nur verwirrt an und Eric betrachtete mich eingehend. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Es war alles so durcheinander. Eigentlich hatte mich keiner gesund gepflegt, ich war ja nicht einmal krank. Doch sie glaubten es, nachdem Mike ihnen am Mittagstisch erzählt hatte, ich hätte eine Lebensmittelvergiftung. Und er selbst glaubte es ja auch.

Offensichtlich schien Mike mein Schweigen Antwort genug zu sein. „Tse“, machte er und schüttelte fast schon enttäuscht den Kopf. „Ich hab’s doch gewusst. Du bist echt das Letzte!“

Kaum hörbar keuchte ich nach Luft. Es war wie ein Schlag in den Magen. So entwaffnend und verletzend. Ich wusste nicht, was ich darauf hätte erwidern sollen. Was sollte man auch erwidern, wenn man als das Letzte bezeichnet wurde? Hatte ich nicht alles getan, um unsere Freundschaft zu retten? Hatte ich nicht dauernd nach Entschuldigungen gesucht, um alles wieder ins rechte Lot zu bringen? Nahm ich nicht all den Schmerz und die Verzweiflung auf mich, damit Aro nicht an meine Fähigkeit kam und sie alle somit sicher leben konnten?

Das nennst du einen Freund? Jemanden, dem du dauernd hinterher rennen und helfen musst, erwachsen zu werden?

Das waren Emmetts Worte gewesen. Und in diesem Moment legte sich plötzlich ein Schalter in meinem Kopf um. Ich wusste nicht warum, aber es war, als könnte ich zum ersten Mal klar denken. Vielleicht hatte Mike ja recht. Vielleicht war mein Lächeln nur eine Fassade. Eine Fassade dafür, dass niemand mir ansah, wie ich in Wirklichkeit eigentlich litt.

„Du hast doch keine Ahnung“, kam es mir plötzlich über die Lippen. Es war leise gewesen, fast nur ein Flüstern.

„Was?“, fragte Mike leicht überrascht, obwohl er immer noch versuchte wütend zu klingen.

„Du hast keine Ahnung“, betonte ich jedes Wort. Ich sah ihn nicht an, mein Blick war starr nach unten gerichtet. Ich war mir sicher, wenn das hier vorbei war, würde ich es vermutlich bereuen. So war ich nicht. Ich zog niemanden zur Rechenschaft und machte irgendwem Vorwürfe. Ich war ausgeglichen und ruhig und die einzigen Auseinandersetzungen, die ich je gehabt hatte, waren mit meinen Eltern gewesen, als ich noch ein kleines Kind war. Doch seit dem Vorfall von vor knapp fünf Jahren, war ich jeglichen Konflikten aus dem Weg gegangen. Denn ich hatte gesehen, wie kurzweilig das Leben sein konnte. Ich hatte es am eigenen Leib erfahren.

Doch jetzt konnte ich einfach nicht mehr. Ich wollte in diesem Moment nicht einfach nur alles herunter schlucken. Ich wollte, dass mich jemand verstand, mir die Hand auf die Schulter legte und sagte, dass er für mich da war. Jemand, bei dem ich Schutz suchen konnte und bei dem ich keine Angst haben musste, meine Schwäche zu zeigen. Jemanden wie Emmett.

„Ach, willst du mir jetzt vielleicht an den Kopf werfen, dass ich dumm bin?“, blaffte Mike mich weiter an.

Zornfunkelnd hob ich meinen Blick und sah ihm direkt ins Gesicht. „Du interessierst dich nur für dich selbst. Alles, was du tust, denkst und fühlst, läuft immer nur auf dich und das, was du willst hinaus.“ Einen Moment war er überrascht. Offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, dass ich mich so einfach zur Wehr setzte.

Doch er hatte sich schnell wieder gefangen. „Ach und sag bloß dieser Cullen ist anders.“

„Ja, dieser Cullen ist anders!“, schrie ich und Mike zuckte unwillkürlich zurück. „Ich habe es satt, Mike. Ich habe es wirklich satt. Jeden Tag streiten wir uns. Jeden Tag passiert irgendetwas, woraufhin du sauer auf mich wirst, mich ignorierst und mir missbilligende Blicke zuwirfst. Und ich bin letzten Endes diejenige, die sich Gedanken darum macht, wie sie alles wieder ins Lot bringen kann. Ich überlege mir, wie ich mich entschuldigen kann, für Dinge, an denen ich nicht einmal schuld bin. Und was machst du? Du machst es dir ganz einfach. Du ignorierst es und tust auf heile Welt. Du spielst den alten und gut-gelaunten Mike. Doch man löst keine Konflikte, indem man das Problem einfach ignoriert oder vergisst!“ Jeder von ihnen sah mich vollkommen überrascht und perplex an. Und ich konnte es ihnen nicht verübeln. Immerhin war ich im Moment nicht die Amylin, die ich sonst immer war.

„Ach? Ich ignoriere alles? Wer ist denn zu dem anderen gegangen und hat ihn besucht, als er krank war, du oder ich? Hast du dir überhaupt Gedanken gemacht, als ich mit einer Grippe im Bett lag?“

„Ich habe euch von Anfang an gesagt gehabt, dass es unsinnig ist im Oktober surfen zu gehen. Ihr wolltet ja nicht zuhören!“

„Und dennoch hättest du ja mal vorbeikommen können und dich erkundigen können, wie es mir so geht. Habe ich schließlich auch gemacht, als du angeblich mit einer Lebensmittelvergiftung im Bett lagst. Aber offensichtlich hast du dich lieber mit Cullen amüsiert.“

„Ich habe mich nicht mit Cullen amüsiert, ich war in New Orleans“, platzte es auch mir heraus.

Mike lachte. „Genau. Und vermutlich mit Cullen. Was habt ihr da so schönes getrieben, hä?“

„Ich habe meine Eltern besucht“, fauchte ich ihn an. „Und zwar alleine!“

Einen Moment war Mike perplex. Dann hatte er sich wieder gefasst. „ Warum besuchst du deine Eltern in New Orleans?“

„Weil ich sie dort begraben habe.“ Jetzt war es raus. Die Wahrheit. Die Wahrheit, vor der ich letzten Endes weggerannt war. Im Endeeffekt war es gar nicht so schlimm gewesen, wie ich eigentlich geglaubt hatte. Klar, die Reaktionen waren so, wie vermutet. Mikes Augen weiteten sich und er suchte offensichtlich nach den richten Worten. Angela neben mir keuchte und ich spürte, wie ihr Griff um meinen Arm ein wenig fester wurde. Auch Eric und Jessica stand der Schock ins Gesicht geschrieben. Sie alle reagierten so, wie ich es vorhergesehen hatte. Und dennoch war es nicht ganz so schmerzhaft, wie ich anfangs dachte.

„Das…“, begann Mike, jetzt peinlich berührt. Offensichtlich schien er seinen Wutausbruch zu bereuen. „Das wusste ich nicht.“

„Ja, das wusste keiner. Aber wenn du mir nur einmal zugehört hättest. Wenn du mir nur ein einziges Mal richtig zugehört hättest, dann hättest du es gewusst. Aber du warst immer nur mit dir selbst beschäftigt. Du bist den einfachen Weg gegangen. Hast dir Dinge ausgedacht, die gar nicht der Wahrheit entsprachen, nur weil es dir gerade in den Kram passte.“ Enttäuscht schüttelte ich den Kopf. „Ich hatte Emmett nicht darum gebeten, zu mir zu kommen oder mich gesund zu pflegen. Als ich am Mittwoch in der Früh nach einer 27-stündigen Fahrt nach Hause kam, war er einfach da gewesen. Ich war so erschöpft und vollkommen fertig, ich hatte keine Kraft mehr zu protestieren oder ihn zu bitten zu gehen. Er hatte sich genau solche Sorgen wie du gemacht und war vorbeigekommen, also was ist daran bitteschön falsch? Als ich am Nachmittag aufwachte war er immer noch da. Er hatte mich in mein Bett gebracht, als ich voller Erschöpfung im Flur zusammengebrochen war und die ganze Nacht für mich gesorgt. Das hättest du doch auch an seiner Stelle gemacht, also warum verurteilst du ihn jetzt? Und dann kamst du plötzlich und hast dir alles so zusammengesponnen, wie es dir gerade passte. Du hast mir nicht einmal die Chance gegeben, mich zu erklären.“ Verwirrt und überrascht von mir selbst, hielt ich plötzlich inne und versuchte zu einem vernünftigen Gedanken zu kommen. Ich wollte ihn doch gar nicht so anfahren. Aber er hatte mich mit seiner Äußerung so sehr verletzt, dass ich einfach nicht mehr klar denken konnte.

„Ich dachte wir wären Freunde“, erwiderte ich weiter. „Aber Freundschaft beruht auf Gegenseitigkeit. Ich kann nicht mehr, Mike. Ich will mir nicht mehr dauernd Gedanken darüber machen, wie ich dich am besten wieder positiv stimmen kann oder welche Entschuldigung die Richtige ist. Ich will mich nicht für Dinge rechtfertigen, für die ich gar nichts kann. Jeden Tag komme ich in diese Schule und weiß letzten Endes nicht, welchen Mike ich treffen werde. Den gut-gelaunten, der mich mit seinen Späßen zum Lachen bringt? Oder den mürrischen und gereizten Mike, der mir das Gefühl gibt, etwas falsch gemacht zu haben?!“

Missmutig ließ er den Kopf hängen. Einen Moment wartete ich, dass er etwas sagte. Eine Erwiderung, eine Entschuldigung. Meinetwegen hätte er mich auch wieder anfahren können. Nur er sollte irgendetwas sagen, dass mir zeigte, er hatte meine Worte verstanden. Doch nichts dergleichen. Er blieb stumm und vermied es vehement, mich anzusehen.

Ich seufzte leise, dann wandte ich mich mit einem zaghaften Lächeln an die anderen. „Es tut mir Leid, dass ihr das mit ansehen musstet. Ich wollte euch da nicht mit hineinziehen. Ihr solltet bei Mike bleiben“, flüsterte ich Angela zu, die mich nur verwundert ansah. „Er braucht euch glaube ich im Moment mehr als ich.“ Sie nickte zögerlich und lächelte mich dann an. „Also dann“, sagte ich in die Runde. „Wir sehen uns ja dann morgen.“ Und mit diesen Worten verabschiedete ich mich und machte mich auf den Weg nach Hause.

 

Seit einer geschlagenen halben Stunde stand ich gedankenverloren in der Küche und starrte auf den großen Topf in der Spüle. Im Radio lief gerade irgendein Lied, doch ich war innerlich viel zu sehr mit etwas anderem beschäftigt, als das ich es hätte hören können.

Jetzt war es raus. Jetzt wussten sie Bescheid. Mike, Angela, Jessica, Eric, Emmett… vermutlich auch Bella und der Rest der Cullens. Sie alle wussten nun, dass ich allein war… dass meine Eltern tot waren… Wie konnte ich ihnen je wieder unter die Augen treten? Ich hatte keine Ahnung, wie sie sich jetzt mir gegenüber verhalten würden. Reserviert? Mitfühlend? Übertrieben freundlich? Der Gedanke daran verursachte mir Übelkeit. Ich wollte nicht, dass sie Mitleid mit mir hatten. Ich wollte auch nicht, dass sie sich überhaupt anders mir gegenüber verhielten. Ich wollte, dass sie einfach so waren wie immer – gut gelaunt, freundlich, zu Scherzen aufgelegt, mich behandelnd, als wäre ich ein ganz normales Mädchen.

Ich schüttelte über mich selbst den Kopf und ein spöttisches Lächeln zierte meine Lippen. Normal? Ich und normal? Ich war alles andere als das. Normale Mädchen lebten nicht mit einer Lüge. Normale Mädchen waren nicht Schuld am Tod ihrer Eltern. Normale Mädchen hatten kein Monster tief in sich drin, eingeschlossen in einer kleinen Kapsel. Ein Grund mehr also, warum sie sich mir gegenüber nicht freundlich und gut gelaunt verhalten sollten. Vielleicht war es besser, wenn wir keine Freunde mehr wären. Vielleicht war es sogar besser, wenn ich schneller aus Forks verschwand, als ich es eigentlich geplant hatte. Vermutlich würde es eh nicht mehr lange dauern und Aro wusste, wo ich war. Wenn er nicht sogar schon auf dem Weg hierher war. Je schneller ich also wieder umzog, desto besser war es doch eigentlich… oder?

Plötzlich klingelte jemand an der Tür und ich wurde somit unsanft aus meinen Gedanken gerissen. Seufzend blickte ich mich in der Küche um und musste feststellen, dass ich noch kein bisschen voran gekommen war. Langsam lief ich zur Tür. Wer das wohl sein mochte? Vielleicht Mike, der sich zur Abwechslung mal entschuldigen wollte. Kaum hatte ich diesen Satz gedacht, bereute ich ihn auch schon wieder. Ich konnte Mike keine Vorwürfe machen. Immerhin hatte ich es nie geschafft, ihm zu erklären, wie die Situation wirklich war. Hätte ich von Anfang an mit offenen Karten gespielt, dann wäre das alles nie so weit gekommen. Da fiel mir ein… musste ich nicht noch ein Gespräch mit dem Schulleiter führen? Am ersten Tag hatte er um einen Termin mit meinen Eltern gebeten. Ich hatte ihn mit einem Telefonat vertröstet und es seither schlichtweg vergessen gehabt. Was sollte ich jetzt machen? Konnten Angela, Mike und der Rest meiner Freunde das Geheimnis für sich behalten oder wusste mittlerweile die halbe Stadt Bescheid? Bei der Vorstellung, wie ich morgen in die Schule ging und mich alle anstarrten, wurde mir erneut schlecht. Ja… es war wirklich besser, wenn ich so schnell wie möglich von hier verschwand.

Ein erneutes Klingeln riss mich aus meinen Gedanken. Überrascht starrte ich auf den Türknauf hinab, den ich bereits in der Hand, jedoch bislang keinerlei Anstalten gemacht hatte, diesen zu bewegen. Über mich selbst den Kopf schüttelnd, öffnete ich die Tür und blickte auf. Und dann sah ich erneut in diese fesselnden, karamellfarbenen Augen und mein Herz schlug wieder schneller. Einen Moment stand ich da, vom Anblick dieser zwei Seelen so sehr gebannt, als dass ich irgendetwas anderes hätte wahrnehmen können.

Ich wusste letzten Endes nicht, wie viel Zeit verstrichen war, in der ich nur diese Augen gesehen hatte, doch als ich ein tiefes Räuspern vernahm, nahm ich auch den Rest der vor mir stehenden Person war. Die blasse, porzellanartige Haut. Das schwarze, kurze Haar. Die vollen Lippen, die jetzt zu einem amüsierten Grinsen verzogen wurden.

„Gefällt dir, was du siehst?“, fragte diese kalte, raue Stimme.

Überrascht starrte ich wieder zu Emmetts Augen herauf und unwillkürlich antwortete ich: „Ja.“ Dann wurde mir schlagartig bewusst, was ich da eigentlich gesagt hatte und die Röte schoss mir ins Gesicht. „Also… ich… ähm… so wollte ich das jetzt gar nicht sagen…“, versuchte ich mich zu einer Erklärung, doch Emmett brach nur in schallendes Gelächter aus.

Memo an mich selbst: Ich sollte wirklich aufhören am Tage zu träumen.

Nachdem Emmett sich endlich beruhigt hatte und jetzt wieder sein amüsiertes Grinsen sein Gesicht zierte, kam er augenblicklich einen Schritt auf mich zu, beugte sich zu mir herab und sah mir tief in die Augen. Ich musste mich regelrecht an der Tür festkrallen, um nicht plötzlich an dieser runter zu rutschen. Wie um alles in der Welt konnten mich nur zwei normale Augen so mitnehmen? Warum fühlte ich mich in letzter Zeit in Emmetts Nähe immer so schwach und zittrig? Mein Herz begann schneller zu schlagen, ich musste mich gerade zu zwingen, Luft in meine Lungen zu saugen. Von meinem Magen wollte ich gar nicht erst anfangen. Was war nur los mit mir?

„Darf ich reinkommen?“, fragte Emmett nah an meinem Gesicht und grinste weiterhin.

„Natürlich“, erwiderte ich, versuchte ebenfalls ein Lächeln und hoffte so, meinen aufgewühlten Zustand zu überspielen. Ich trat einen Schritt zu Seite und ließ ihn herein. Danach schloss ich hinter ihm die Tür und ging zurück in die Küche. Emmett folgte mir.

Da ich nicht wusste, was ich sonst hätte tun sollen und ich befürchtete, dass er mich mit seiner Anwesenheit noch mehr aus dem Konzept brachte, wandte ich meine Konzentration wieder dem großen Topf in der Spüle zu und füllte Wasser und etwas Fit hinein. Ich spürte, wie Emmett mich beobachtete und versuchte so gelassen wie möglich zu sein. Es konnte doch nicht sein, dass ich bei der Anwesenheit einer einzelnen Person so nervös wurde. Lag das vielleicht daran, dass er wusste, was passiert war? Hatte ich Angst davor, wie er reagieren könnte oder sich mir gegenüber verhalten würde?

Während ich begann den Topf gründlich zu schrubben, ließ ich meinen Gedanken freien Lauf. Ja… das hatte ich. Ja, ich hatte Angst davor, was Emmett jetzt von mir denken würde. Ja, ich hatte Angst davor, wie er sich mir gegenüber verhalten würde. Doch warum?

„Ähm…“, räusperte sich Emmett plötzlich. „Tschuldige, für die Unordnung hier.“

Mit einem Lächeln drehte ich mich kurz zu ihm um. „Kein Problem. Hauptsache du hast die Küche nicht in Brand gesetzt.“

„Kann ich dir irgendwie helfen?“ Fast hätte ich gelacht. Emmett wirkte so fehl am Platze. Er kratzte sich leicht verlegen am Kopf und sah sich hilfesuchend im Raum um. Kurzerhand warf ich ihm ein Handtuch zu.

„Du kannst abtrocknen, wenn du möchtest.“ Danach konzentrierte ich mich wieder auf den Topf vor mir.

„Hast du keine Spülmaschine?“ Ein paar Augenblicke später war er neben mich getreten und sah mich von der Seite her an.

„Doch. Aber um all die Töpfe, die du benutzt hast, sauber zu bekommen, müsste ich schon drei oder vier Spülgänge benutzen und da nehme ich lieber nur einen und wasche den Rest so ab.“

„Es tut mir wirklich leid“, murmelte Emmett und ich musste unwillkürlich lachen.

„Ich habe dir doch gesagt, so schlimm ist es nicht. Wenn du mir hilfst, sind wir in ein oder zwei Stunden fertig.“

Die meiste Zeit über, während ich die Töpfe schrubbte und er sie abtrocknete, redeten wir kaum ein Wort miteinander. Ich wusste nicht, was ich hätte sagen sollen und Emmett schien es genauso zu gehen. Außerdem war ich wieder einmal zu sehr in meinen Gedanken versunken.

Wo konnte ich hinziehen? An welchem Ort würde Aro mich am wenigsten suchen? Zwei Großstädte hatte ich mittlerweile hinter mir – New York und New Orleans. Bei beiden hatte er mich gefunden. Deshalb war meine letzte Wahl auf Forks gefallen. Es war ein kleines Städtchen, weit außerhalb größerer Zivilisation. Zu klein, um von Aro die nötige Aufmerksamkeit zu bekommen. Es hatte perfekt für mich geklungen. Doch jetzt war ich mir dessen nicht mehr so sicher. Hier in Forks kannte jeder jeden. Neuigkeiten machten schnell die Runde, Aro müsste sich nur mit einen von ihnen unterhalten und er würde die nötigen Informationen über mich bekommen. In der Großstadt war es anders. Dort interessierte sich jeder nur für sich selbst. Man bekam nur die Aufmerksamkeit anderer, wenn man etwas Weltbewegendes getan hatte und im Tagesblatt auf der Titelseite stand. Vielleicht sollte ich wieder da hinziehen, wo viel los war. Da konnte ich mich dann auch leichter in der Masse verlieren. Vielleicht Florida oder Los Angeles. Vielleicht aber wäre es auch besser, wenn ich gar den Kontinent verließ. Europa? Asien? In einem Film, den ich mal mit meinen Eltern gesehen hatte, hatte ein Ganove mal gesagt, man übersieht immer das am einfachsten, was einem direkt vor der Nase lag. Ob Aro wohl damit rechnen würde, dass ich mich in Italien verstecken würde? Wohl eher nicht. Aber Aro war auch kein gewöhnlicher Ganove, geschweige denn ein Mensch. Mit Hilfe seiner Gabe wäre es wohl ein leichtes mich zu finden, sollte ich mich ernsthaft in Italien verstecken. Je mehr Distanz ich zu ihm hatte, desto besser war es für mich.

„Ich hab dich vorhin beobachtet gehabt.“ Zum dritten Male riss mich Emmett aus meinen Gedanken. Leicht verwundert starrte ich auf den Topf hinab und musste feststellen, dass es bereits der letzte war. Emmett stellte sich relativ geschickt beim Abtrocknen an, was ich anfangs gar nicht gedacht hatte. „Als du auf dem Parkplatz diesen Newton fertig gemacht hast.“ Jetzt grinste er mich breit an.

Kaum hatte Emmett Mikes Namen erwähnt, sank meine Laune schlagartig. Betrübt starrte ich auf den Topf herab und ein leiser Seufzer kam mir über die Lippen. „Alles in Ordnung, Amylin?“, fragte Emmett leise und versuchte meinen Blick einzufangen. Unwillkürlich drehte ich meinen Kopf weg und starrte stattdessen den Kühlschrank an. Ich wusste nicht warum, aber ich wollte nicht, dass Emmett mich so betroffen sah. Vielleicht hatte ich nur wieder einmal Angst davor, wie er reagieren würde. Angst… die verfluchte Angst. Würde sie jetzt mein ständiger Begleiter sein? Angst war es schließlich, was mich immer wieder dazu brachte, umzuziehen. Angst war es, was mich letzten Endes dazu veranlasste, wegzulaufen.

„Hey, Amylin, es war richtig, was du gemacht hast.“

„Ach ja?“, erwiderte ich spöttisch und starrte ihm jetzt direkt ins Gesicht. „Und warum fühlt es sich dann so verdammt falsch an?“ Seine Augen weiteten sich kaum merklich, doch sein Mund blieb stumm. Leise fügte ich hinzu. „Alles, was ich mache, was ich sage, es verletzt nicht nur Mike, es verletzt auch mich. Dauernd habe ich das Bedürfnis mich zu entschuldigen. Ich habe das Gefühl, je weiter ich laufe, desto mehr falle ich zurück.“

Kaum waren diese Worte aus meinem Mund, hatte Emmett mich bereits in eine feste Umarmung gezogen. Verwundert starrte ich ihn an oder besser gesagt sein T-Shirt. „Was…?“

„Warum musst du dauernd an Mike denken?“, fragte er ruhig, doch ich konnte spüren, dass er leicht zitterte. Verwirrt hob ich den Kopf und wollte ihn ansehen, doch in diesem Moment senkte er sich zu mir herunter und flüsterte dicht neben meinem linken Ohr. „Er weiß gar nicht, was für ein Glück er hat, dass er so viel Aufmerksamkeit von dir bekommt. Und wie dankt er es dir? Er verletzt dich. Er stellt dich hin, als wärst du an allem Schuld. Wenn ich derjenige wäre, der so viel Aufmerksamkeit von dir bekommen würde, ich würde…“

Abrupt brach er ab und legte seine Stirn auf meiner Schulter ab. Mit der Situation leicht überfordert starrte ich die Wand hinter ihm an und versuchte aus seinen Worten schlau zu werden. War das der Grund, warum er Mike nicht leiden konnte? Weil ich ihm mehr Aufmerksamkeit schenkte, als Emmett? „Ich hasse diesen verfluchten Köter“, knurrte er plötzlich. „Jedes Mal, wenn ich ihn in deiner Nähe sehe, befürchte ich, dass er dich wieder verletzen wird. Und jedes Mal, wenn er es tut, könnte ich ihm dafür den Kopf abreißen.“ Sein Griff um meinen Körper wurde eine Spur fester. Und in diesem Moment hätte ich einfach nur weinen können.

Ich spürte, wie sich die Tränen in meinen Augen sammelten, unterdrückte den Drang, ihnen freien Lauf zu lassen. Genau das war es, wonach ich all die Jahre gesucht hatte. Jemand, der mich hielt. Jemand, der mich davor beschützen wollte, dass ich verletzt wurde oder mir Schlimmes widerfuhr. Fast jeden Abend hatte mir meine Mutter von dieser Person erzählt, von dieser einzig wahren Person. Von unserem ganz persönlichen Engel. Und ich hatte das Gefühl, als wenn Emmett sich mehr und mehr diesen Platz erkämpfte. Mir ging es schlecht und er war hier und hielt mich, versuchte mir Geborgenheit und Sicherheit zu geben. In jedem seiner Blicke konnte ich es sehen. Jedes Mal, wenn ich in seine Augen sah. Er hasste Mike dafür, weil er mich verletzte. Und er wollte mich davor bewahren.

Unwillkürlich hob ich meine Arme und krallte mich an Emmetts Rücken fest, legte meine Stirn auf seine Schulter und atmete das erste Mal, das erste Mal seit fast fünf Jahren sicher ein und aus. Ich fühlte mich frei. Für einen kurzen Moment konnte ich die Mauern meines Geistes ablegen und mich all den Gefühlen, Erinnerungen, Gedanken hingeben, die ich seit Jahren verschlossen hielt. Denn ich wusste, jemand war da und würde mich halten.

Und zum ersten Mal, seit fünf Jahren, spürte ich, wie jemand die Hand durch die Gitterstäbe meines Gefängnisses ausstreckte und versuchte, mich zu erreichen.

Battlefield

Ich wusste nicht, wie viel Zeit letzten Endes verstrichen war. Waren es nur ein paar Sekunden? Oder vielleicht Stunden? Unablässig hielt ich mich an Emmetts Rücken fest und auch er schien nicht den Drang zu verspüren, seinen Griff zu lockern. Es fühlte sich gut an. Es fühlte sich so verdammt gut an. War das ein Fehler? Was das vielleicht falsch? Durfte ich das überhaupt? Ich war Schuld am Tod meiner Eltern, ich hatte ihnen so viel Kummer und Sorge bereitet. Und letzten Endes sahen sie sich verpflichtet, ihr Leben zu geben, um meines zu schützen. Durfte ich dann so etwas fühlen? Geborgenheit? Sicherheit? Vielleicht sogar… Liebe? Was war Emmett für mich? Ein Klassenkamerad, der mir im Unterricht half, wenn ich eine einfache Titration nicht hinbekam? Ein Freund, der mir sagte, er wäre immer für mich da, wenn ich ihn brauchte? Oder vielleicht mehr?

Mein Herz machte bei diesem Gedanken einen Hüpfer. Doch mein Kopf schrie etwas anderes. Ich durfte nicht. Ganz gleich, was ich empfand, es war nicht fair Emmett gegenüber. Ich könnte ihm nie die ganze Wahrheit erzählen. Ganz gleich, was auch passieren würde. Ich wäre nie stark genug, um ihm gegenüber Aro zu erwähnen. Und was wäre, wenn Aro herausfand, wo ich war? Was, wenn er herausfand, wer alles mit mir im engeren Kontakt stand? Als ich New Orleans verlassen hatte, wusste ich nicht, ob meine Freunde in Sicherheit wären. Ich hatte Angst um sie, befürchtete Aro könnte sie benutzen. Genau so, wie er meine Eltern damals benutzt hatte. Ich hätte ihre Gedächtnisse löschen können, hätte sie mich vergessen lassen können. Doch ich konnte nicht. Ich hatte meiner Mutter versprochen, niemals diese Gabe einzusetzen. Wie konnte ich dann dieses Versprechen brechen, wenn sie bereit war, ihr Leben dafür zu geben? War es mir dann überhaupt erlaubt, irgendetwas für Emmett zu empfinden?

„Die Küche sieht immer noch schrecklich aus“, brummte Emmett plötzlich. Verwundert und vollkommen aus meinen Gedanken gerissen, hob ich meinen Kopf und sah ihm ins Gesicht. Ein breites Grinsen zierte seine Lippen. Wie kam er denn jetzt plötzlich darauf?

Doch als ich mich umsah, wusste ich, dass er Recht hatte. Einige kleinere Töpfe und Teller mussten noch in die Spülmaschine gestellt werden, über den Arbeitsflächen war immer noch Soße verteilt, selbst auf dem Fußboden konnte ich welche ausfindig machen. Auch wenn die größten Töpfe schon wieder sauber waren, es sah immer noch katastrophal aus.

Kurzerhand löste ich meinen Griff um Emmetts Rücken und ging ein paar Schritte rückwärts. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Die ganze Situation war einfach zu komisch und… unbekannt für mich. Doch Emmett schien wieder genauso zu sein wie immer. Kurzerhand nahm er den letzten Topf, den ich gewaschen hatte, aus der Spüle und trocknete ihn ab. Immer noch mit einem Grinsen im Gesicht.

Etwas verwirrt beobachtete ich ihn. Ich wurde einfach nicht schlau aus ihm. Erst die ständig wechselnden Blicke zwischen Abneigung und Freundlichkeit. Dann das Experiment, bei dem er mit Absicht so getan hatte, als könnte er es nicht. Die ständigen Sticheleien mit Mike. Die Säure, die mich beinahe verätzt hatte und vor der er mich bewahrt hatte. Wie er zuhause auf mich gewartet hatte, als ich vollkommen erschöpft von New Orleans zurück kam. Und jetzt das. Warum machte er das? Warum wollte er so verbissen in meiner Nähe sein?

"Ich kann es nicht ertragen, wenn du nicht in meiner Nähe bist."

Das hatte er heute in Chemie gesagt, kurz nachdem er mich von Mike weggeholt hatte. Doch warum? Und dann fiel mir plötzlich wieder etwas ein.

„Du wolltest etwas sagen“, sagte ich plötzlich frei heraus. „In Chemie. Kurz bevor du vom Klingeln unterbrochen wurdest.“

Für einen kurzen Augenblick, nicht mehr als eine Millisekunde, hielt er in der Bewegung, den Topf abzutrocknen, inne. Dann hatte er sich offensichtlich wieder gefangen. „Ich weiß nicht, was du meinst“, erwiderte er mit einem Grinsen. „So, der Topf ist auch fertig. Was kann ich als nächstes tun?“ Kurzerhand stellte er ihn auf den Stapel mit den anderen Töpfen und drehte sich breit lächelnd zu mir herum. Doch der Topf interessierte mich im Moment weniger.

Ich wusste nicht warum, aber ich war mir sicher, dass das, was er hatte sagen wollen, sehr wichtig war. Zumindest wichtig für mich… oder? Konnte er sich daran wirklich nicht mehr erinnern? „Heute, als du mich in Chemie neben dich gesetzt hast. Du hast mir gesagt, dass du es nicht ertragen kannst, wenn ich nicht in deiner Nähe bin. Und danach wolltest du noch etwas hinzufügen, aber du wurdest unterbrochen.“

„Ach wirklich?“, grinste Emmett weiterhin breit und kratzte sich unbekümmert am Kopf. „Muss ich wieder vergessen haben.“

Unverwandt sah ich ihn an. Er konnte sich tatsächlich nicht mehr daran erinnern. Und dabei hatte ich geglaubt, dass es etwas Wichtiges war. Hatte ich mich geirrt? „Du wirst nicht locker lassen, oder?“ Verwirrt sah ich ihn an.

Sein Grinsen war verschwunden, stattdessen hatte er eine ernste Miene aufgesetzt. „Ich sehe es in deinen Augen, wie du dir Gedanken darüber machst, was ich sagen wollte. Du willst es unbedingt wissen, nicht wahr?“

Unwillkürlich nickte ich mit dem Kopf. Seine Mundwinkel wanderten wieder nach oben und er kam mir vorsichtig näher. „Warum willst du das unbedingt wissen, Amylin?“, flüsterte er fast.

Ich schluckte leicht. „Weil ich dachte, dass es vielleicht wichtig war.“

„Und wie kommst du darauf?“ Mit jedem Wort, das er sagte, kam er mir ein Stückchen näher.

„Deine Augen hatten einen ernsten Ausdruck. Nicht so wie sonst, wenn sie vor Energie sprühen.“

„Du scheinst dich ja intensiv mit meinen Augen zu beschäftigen.“ Mittlerweile stand er wieder ganz dicht vor mir und starrte mir einem Grinsen zu mir herab.

Ich wusste nicht, was ich darauf hätte sagen sollen. Irgendwie hatte er recht. In letzter Zeit zogen mich seine Augen unverkennbar in ihren Bann. Je öfter ich sie anblickte, desto mehr wollten sie mich nicht mehr loslassen. Desto schwieriger wurde es für mich, mich von ihnen zu lösen. Und auch jetzt war ich nicht fähig, meine Aufmerksamkeit von ihnen abzuwenden. Wie war das nur möglich? Wie konnten mich zwei einfache Augen so gefangen nehmen? Es war, als holten sie mich aus meinem Verließ heraus und steckten mich in ein anderes. Aber in eines, dass mir Geborgenheit geben sollte. Eines, das mich vor der Welt schützte… und nicht die Welt vor mir.

„Ok… ich sage es dir“, riss mich Emmett aus meinen Gedanken. „Unter einer Bedingung.“ Verwundert sah ich ihn an. Was für eine Bedingung? Emmett schien meine stumme Frage verstanden zu haben, denn ohne, dass ich etwas sagte, fuhr er mit seiner Erklärung fort. „Ich sage dir, was ich dir vorhin in Chemie sagen wollte. Dafür…“ Er machte eine theatrale Pause und grinste mich süffisant an. Dafür? Dafür was? Was wollte er von mir? Sein Grinsen wurde eine Spur breiter, als er sagte: „Dafür gehst du am Samstag mit mir aus.“

Einen Moment lang war ich vollkommen überrumpelt. Ausgehen? Warum denn ausgehen? Dann hatte ich mich einigermaßen gefasst. „Und wohin?“

Er zuckte nur kurz mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich lass mich überraschen.“ Sein unverkennbares Grinsen zierte sein Gesicht, während ich ihn immer noch verwundert ansah. Was war das denn für eine Bedingung? Er sagte mir das, was er vorhin schon sagen wollte. Im Gegensatz dafür, wollte er mit mir irgendwo hingehen, von dem er nicht einmal selbst wusste wohin. Offensichtlich war es doch nichts Wichtiges gewesen, was er sagen wollte. Ansonsten hätte er doch etwas viel wichtigeres als Bedingung gestellt.

„Hey, ich bin großzügig. Du darfst entscheiden, was wir machen. Ich lass mich einfach überraschen“, grinste Emmett fortwährend.

Einen Augenblick lang überlegte ich. Ich konnte nicht leugnen, dass ein Teil von mir großes Interesse an diesem Treffen zeigte. Dieser Teil wollte mit ihm den Samstag verbringen, wollte sehen, wie Emmett außerhalb der Schule war. Dieser Teil wollte den Emmett, der mich gestern besucht und umsorgt hatte. Auf seine ganz spezielle Art. Und auch dieser Teil sah es mehr als Geschenk als eine Art Bedingung.

„Ok“, sagte ich plötzlich, ohne groß weiter darüber nachzudenken. Meine Mutter hatte gesagt, dass wir irgendwann einmal unserem Engel begegnen. Vielleicht war es ja Emmett. Vielleicht war das Herzrasen… das wohlige Gefühl… die Anziehungskraft seiner Augen… vielleicht waren das ja alles Anzeichen dafür, dass er dieser Engel war. Und wenn dem so war, dann musste ich über meinen eigenen Schatten springen und etwas riskieren… und einmal… meinen Verstand ignorieren und nur auf mein Herz hören, dass unverkennbar Ja schrie.

Emmetts Miene hellte sich noch weiter auf, soweit das überhaupt noch möglich war und mit einem Glitzern in den Augen sagte er: „Gut. Ich hol dich dann um zehn Uhr ab. Überleg dir etwas Schönes und Unterhaltsames.“ Bei diesen Worten beugte er sich zu mir herunter und strich mit seinen eiskalten Lippen kurz über meine Schläfe. „Ich freu mich“, flüsterte er, dann drehte er sich grinsend um und ging geradewegs auf die Haustür zu.

„Warte“, eilte ich ihm hinterher. „Du hast mir noch nicht gesagt, was du vorhin sagen wolltest.“

Abrupt drehte Emmett sich zu mir um und beinahe wäre ich in ihn hineingerannt. „Ich erzähl es dir am Samstag.“

„Aber das stand nie zur Debatte. Du hast gesagt, wenn ich mit dir am Samstag ausgehe, erzählst du es mir“, protestierte ich. Ich konnte es mir selbst nicht erklären, doch aus irgendeinem Grund, wollte ich es jetzt und sofort von ihm hören. Vielleicht war es doch nicht so gut gewesen, mich von meinem Empfinden leiten zu lassen.

Emmett kam wieder ein paar Schritte auf mich zu und lehnte sich zu mir herunter, sodass unsere Gesichter nur Zentimeter voneinander entfernt waren. Das Karamell seiner Augen strahlte mir entgegen, sein kalter Atem traf auf mein Gesicht und eine Gänsehaut breitete sich auf meinem Körper aus. Eine Gänsehaut, die allerdings nichts mit der Kälte zu tun. „Das stimmt. Ich hab aber auch nie gesagt, dass ich es dir sofort sagen werde, solltest du meiner Bedingung zustimmten.“

Mein Mund öffnete und schloss sich wieder, verzweifelt suchte ich nach den richten Worten, doch mir fiel nichts ein. „Bis Morgen dann in Chemie. Und überleg dir schon mal was für Samstag“, zwinkerte Emmett mir zu, richtete sich dann wieder auf und verließ breit grinsend mein Haus.

Lange sah ich ihm verwirrt hinterher, auch dann noch, als die Haustür sich wieder hinter ihm geschlossen hatte und das Motorengeräusch seines Wagens schon längst in der Ferne verklungen war. Wie sehr ich auch über unsere kurze Begegnung nachdachte, ich wurde einfach nicht schlau. Nicht schlau aus dem was er sagte… Nicht schlau aus seiner Bedingung… Nicht schlau aus ihm selbst.

„Und die Küche sieht immer noch katastrophal aus“, murmelte ich vor mich hin.

 

Mein Herz klopfte wie wild. Immer wieder fuhr ich mir mit der Hand durch meine langen, braunen Haare und kaute unablässig auf meiner Unterlippe herum. Ein leiser Seufzer kam mir über die Lippen. Was tat ich hier eigentlich? Es war dreiviertel zehn… Samstagmorgen. Um genau zu sein 9.43 Uhr.

Mit einem undefinierbaren Kribbeln im Magen, zittrigen Händen und einer leichten Röte im Gesicht stand ich im Badezimmer vor dem Spiegel und begutachtete mich. Noch nie in meinem ganzen Leben hatte mein Aussehen mich so beschäftigt wie am heutigen Tage.

Alles fing damit an, dass ich fast schon überpünktlich aufwachte. Um 7.23 Uhr. Viel zu früh für einen Samstag und dennoch konnte ich nicht wieder einschlafen, so sehr ich mich auch bemühte. Immer wieder tauchten Bilder in meinem Kopf auf. Bilder, die mich hochschrecken ließen und mein Herz so zum Rasen brachten, als wäre ich gerade einen Zehn-Kilometer-Marathon gelaufen. Bilder, die allesamt mit Emmett zu tun hatten.

Was war nur los mit mir? Selbst in Chemie am Freitag oder in den anderen Unterrichtsfächern hatte ich nicht ganz so extrem reagiert wie jetzt. Allein schon bei der Vorstellung, er würde in gut 17 Minuten an meine Tür klopfen, machte mich schier wahnsinnig. Und jetzt waren es nur noch 16 Minuten.

Erneut fuhr ich mir mit meiner Hand durch meine Haare. Sollte ich sie hochstecken? Oder vielleicht doch eher flechten? Wenn ich sie offen ließ, wirkte es natürlicher. Doch stand Emmett auf natürliche Mädchen? Ein kleiner Stromstoß fuhr mir durch den gesamten Körper, als ich mir der Tragweite meiner letzten Gedanken bewusst wurde. Mir wurde heiß und kalt zugleich, meine Wangen färbten sich noch eine Spur röter und meine Gedanken rasten hin und her. Ich wollte Emmett Cullen gefallen. Ich wollte zum allerersten Mal einem Jungen gefallen. Nicht einmal Jaden hatte solche Gefühle in mir hervorgerufen. Nicht einmal die Tatsache, dass ich ihn damals mit einer anderen erwischt hatte, war so schockierend gewesen, wie die Vorstellung, Emmett könnte mich zurückweisen. Warum? Warum hatte er solch eine Wirkung auf mich? In diesem Moment wünschte ich mir sehnlichst, meine Mutter wäre hier. Sie hätte mir helfen können. Sie hätte mir sagen können, was ich zu tun hatte. Sie hätte mir bestimmt auch sagen können, ob Emmett mein Engel war. Was, wenn die Aufregung vollkommen umsonst war? Was, wenn ich mir das alles nur einbildete? Noch 14 Minuten.

Nein, das konnte keine Einbildung sein. Man konnte sich Tatsachen einbilden, Menschen… ja sogar Krankheiten. Aber so etwas? Als er mich am Donnerstag fest im Arm gehalten hatte, konnte ich für einen kurzen Augenblick loslassen. Für einen kurzen Augenblick konnte ich die Mauern meines Geistes senken und für nur einen winzigen Moment war ich fähig, all die Erinnerungen auf mich einstürzen zu lassen, bis ich sie ein paar Sekunden später wieder hinter Schloss und Riegel sperrte. Und das konnte ich nur durch Emmett. Wäre er es nicht gewesen, der mich in den Armen gehalten hätte, hätte ich es dann gekonnt? Wäre es Mike oder Angela oder jemand anderes meiner Freunde gewesen… hätte ich mich dann auch so sicher gefühlt?

Erneut kam mir ein leiser Seufzer über die Lippen und betrübt blickte ich das Bild meiner Eltern an, welches auf dem Regal unter dem Spiegel stand. Meine Mutter lächelte fortwährend und mein Vater hielt sie glücklich im Arm.

„Es ist alles so verworren, Mum“, flüsterte ich, während mein Blick wieder zu meinem Spiegelbild wanderte. „In mir herrscht das totale Chaos. Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Ich weiß nicht mehr, was ich fühlen soll. Ich weiß nicht, was Einbildung und was real ist.“ Kurz glitt mein Blick zu der Uhr an der Wand. Noch elf Minuten.

„Ich habe das Gefühl, dass das Leben... was ich mir so mühsam aufgebaut habe… dass es mir so langsam aber sicher entgleitet. Ich habe mich damit abgefunden, in einem Verließ zu sein, eingesperrt und für immer von der Welt abgeschottet. Es war besser so… einfacher alles zu vergessen und still auszuharren. Doch jetzt kommt Emmett und bringt alles durcheinander. Er streckt seine Hände nach mir aus, er versucht mich mit aller Macht zu erreichen und ruft immer wieder nach mir. Und je mehr Zeit ich mit ihm verbringe, desto mehr glaube ich, dass er irgendwann die Gitterstäbe durchbrechen wird.“ Kurz tauchte sein Bild in meinem Kopf auf und unwillkürlich musste ich lächeln. „Ich fühle mich so anders… so komisch. Es ist, als wäre ich berauscht. Als würde nicht ich, sondern jemand anderes all das sagen und tun. Ich wusste immer, was zu tun war. Ich hatte gelernt, Situation richtig einzuschätzen und mich ihnen anzupassen. Ich hatte geglaubt, ich wäre stark und selbstbewusst. Fähig, alles hinter mir zu lassen und sorglos zu leben. Oder wenigstens so zu erscheinen. Doch seit Emmett aufgetaucht ist, ist alles vollkommen durcheinander. Ich habe das Gefühl mich zu verändern. Und ich weiß nicht, ob das gut ist.“ Bei diesen Worten sah ich wieder in das strahlende Gesicht meiner Mutter. „Habe ich es eigentlich verdient, einen Engel zu bekommen? Sind Engel nicht die Boten Gottes, die auf die Erde geschickt werden, um uns zu beschützen? Warum sollte Gott mich dann beschützen? Warum ausgerechnet mich?“

Einmal mehr wünschte ich mir, meine Mutter könnte mir antworten. Mir ihr Lächeln schenken. Das Funkeln in ihren Augen, das eigentlich mehr sagte, als alle Worte und mir somit zeigen, dass alles gut werden würde. Doch nichts wurde mehr gut. Wie sollte jemals etwas gut werden? Wie sollte ich jemals einen Engel finden, wenn ich der Meinung war, dass ich ihn nicht verdient hatte? Ein erneuter Blick auf die Uhr. Noch neun Minuten.

Energisch schüttelte ich den Kopf. Hör auf so zu denken, Amylin. Du hast es deinen Eltern versprochen. Du hast ihnen versprochen stark zu sein, dich nicht unterkriegen zu lassen. Du hast ihnen versprochen zu leben. Also tue es auch.

Unweigerlich wandte ich mich vom Spiegel ab und lief zurück in mein Zimmer, das aussah, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Bei der Erinnerung, wie ich vor gut einer Stunde in meinem Zimmer auf und ab gegangen war, nicht wusste, was ich hätte anziehen sollen und alles auf mein Bett geworfen hatte, wurde mir plötzlich unwohl zumute. Ich verhielt mich wie ein pubertierender Teenager. Ich agierte wie eines dieser Mädchen aus den Hollywood-High-School-Komödien, das sich auf ihr erstes Date vorbereitete. Peinlich berührt wäre ich am liebsten im Erdboden versunken. Was machte Emmett Cullen nur mit mir? Warum ließ er mich so handeln… so denken… so fühlen?

Um mich ein wenig abzulenken, begann ich die Sachen wieder ordentlich zusammenzulegen und im Schrank zu verstauen. Es war keine große Hilfe, denn meine Gedanken schwirrten unweigerlich um den heutigen Tag. Was würde passieren, wenn er gleich an meiner Tür klingelte? Wie sollte ich ihn begrüßen? Worüber würden wir sprechen? Und was wohl am wichtigsten war: Würde er mir heute endlich das sagen, was er mir letztens in Chemie sagen wollte? Oder würde er wieder irgendeine Ausrede finden, um mich weiter hinzuhalten? Das war doch der Grund, warum wir uns heute trafen. Das war der Grund, warum ich heute schon den ganzen Morgen so nervös war. Deswegen hatte ich gestern sämtliche Ratgeberzeitungen durchgelesen und mir Gedanken darüber gemacht, was wir heute machen konnten. Und bis jetzt hatte ich immer noch keine Antwort. Kino oder DVDs ausleihen? Eis essen oder zum Abend irgendwo hingehen? Einige hatten sogar Diskos vorgeschlagen. Der perfekte Ort für ein Date. Doch war das überhaupt ein Date?

Mein Herz schlug bei diesen Gedanken schneller, wie als würde es seine Zustimmung geben. Mein Verstand sagte etwas anderes. Und da war er wieder. Dieser Zwiespalt… diese gegensätzlichen Gefühle und Gedanken. Ich wusste nicht, welcher Meinung ich mein Gehör schenken sollte, welcher Weg der richtige war. Noch nie in meinem Leben fühlte ich mich so unsicher. Vier Minuten und Emmett würde vor der Tür stehen.

Mit einem leisen Klicken schloss ich die Schranktür und verließ, ohne mich noch einmal umzusehen, mein Zimmer. Leicht nervös lief ich die Treppen ins Erdgeschoss runter und setzte mich auf die unterste Stufe. Mein Blick ging zur Tür, genau gegenüber von mir. Um mich herum herrschte Stille. Nur das leise Ticken der Uhr in der Küche verriet mir, dass die Zeit noch nicht stehen geblieben war. Tik, Tak, Tik, Tak…

Es war, als würden sie die Zeit herunter zählen. Die Zeit, die mir noch blieb, bevor etwas Großes, Monströses passieren würde. Wie in einem dieser Horrorfilme, in denen der Protagonist nur kurz das plötzlich laute Ticken einer Uhr hörte, bevor unweigerlich die Katastrophe passierte. Man wusste ganz genau, gleich würde etwas passieren. Und doch erschrak man sich immer wieder. Und genau wie dieser Protagonist fühlte ich mich jetzt. Immer weiter schritt der Sekundenzeiger voran, immer weiter lief die Zeit vorwärts und deutete mir so, dass gleich etwas passieren würde. In nur drei Minuten. Tik, Tak, Tik, Tak…

Doch fürchten musste ich mich davor nicht, oder? Es war doch nur Emmett. Jemand, dem ich vertrauen konnte. Jemand, der mir die Hand reichen würde, für den Fall, dass ich fiel. Bislang waren noch keine meiner Befürchtungen wahr geworden. Aro hatte mich noch nicht gefunden. Mike, Angela und all der Rest hatten das Geheimnis um meine Eltern für sich behalten. Immerhin blieben mir neugierige Blicke von anderen Mitschülern erspart. Und obwohl ich mir sicher war, dass beim Mittag ein ums andere mal der Blick von Jessica, Mike oder Eric etwas zu lange auf mir verweilt hatte, so hatten sie mich dennoch nicht mit Fragen bombardiert oder gar das Thema angeschnitten. Es hätte mich nicht überrascht, wenn Angela ihnen gesagt hatte, sie sollten warten, bis ich bereit war, von mir aus die Geschichte zu erzählen. Bereit dazu war ich, immerhin konnte ich ihnen nur eine Lüge erzählen. Eine Lüge, die weder schmerzte, noch mich an meine Eltern erinnerte. Sie war nur aus reiner Fantasie entstanden. Eine nasse Straße… eine nebelverhangene Sicht… Reifen, die keinen Halt auf der Fahrbahn fanden… Es war eine Lüge, wie man sie überall hörte, eine Lüge, die jeder benutzte, die den wahren Grund verheimlichen wollten. Und dennoch wurde sie immer wieder geglaubt. Vielleicht sollte ich sie ihnen am Montag erzählen. Doch es würde schwer werden, das Geheimnis zu bewahren. Niemand sonst durfte davon erfahren, vor allem nicht der Schulleiter. Er würde wissen, dass ich ihn am ersten Tag belogen hatte und nach dem Telefonat am Freitag, bei dem ich mich fälschlicherweise als meine Mutter ausgegeben hatte, war ich mir sicher, dass er mich der Schule verweisen würde, käme die Wahrheit jemals ans Licht. Noch zwei Minuten.

Ein weiterer Seufzer kam mir über die Lippen und ich legte meinen Kopf auf meine Knie ab. Es war alles so verworren… so durcheinander und außer Kontrolle. Je mehr ich versuchte wieder Klarheit und Struktur zu schaffen, desto mehr lief es aus dem Ruder. Ich wusste, es wäre viel besser, wenn ich von Anfang an ehrlich gewesen wäre. So wie damals in New Orleans, wo ich nicht erst gelogen oder mich versteckt hatte, sondern schon am ersten Schultag die Karten offen auf den Tisch gelegt hatte. Doch damals hatte ich noch bei meiner Tante gelebt. Sie war mein Vormund und hatte mich in allem unterstützt.

Aber jetzt war sie auf einer Expedition, irgendwo in Südafrika. Zu ihrer eigenen Sicherheit hatte ich sie dahin geschickt, als Aro herausfand, dass ich mich in New Orleans versteckt hatte. Sie sollte in diese ganze Geschichte nicht hineingezogen werden. Ich hatte ihr nur das Nötigste zu verstehen gegeben, gerade so viel, dass sie verstand, warum ich wegziehen musste und es besser war, wenn wir ab sofort getrennte Wege gehen würden. Es war das Beste. Ich konnte nicht von ihr verlangen immer und immer wieder mit mir umzuziehen, wenn ich erneut entdeckt wurde. Das hatte sie nicht verdient. So musste ich alleine nach Forks ziehen. Und auch aus diesem Grund, bewahrte ich das Geheimnis um meine Eltern. Eine Schülerin, die noch nicht volljährig war, durfte unter keinen Umständen alleine leben.

Ein erneuter Seufzer kam mir über die Lippen, als mir die Tragweite meines Handels erneut bewusst wurde. Ich drehte mich immer und immer wieder im Kreis. Und nirgendwo schien ein Ausweg zu sein. So langsam aber sicher verließen mich meine Kräfte. Ein erneuter Blick auf die Uhr verriet mir, dass es nur noch eine halbe Minute bis zehn Uhr war.

Sofort war ich wieder hellwach, meine Gedanken von eben waren irgendwo in den hintersten Teil meines Kopfes geschoben und das einzige, an das ich in diesem Moment denken konnte, war Emmett. Ich spürte, wie mein Herz wieder schneller schlug und ich nervös auf meiner Unterlippe kaute. Noch 20 Sekunden.

Gespannt lauschte ich, ob ich Motorengeräusche hören konnte. Selbst den Atem hielt ich an, in der Hoffnung, auch nur das leiseste Geräusch wahrzunehmen. Doch da war nichts. Noch 15 Sekunden.

Was sollte ich machen? Wie sollte ich ihn begrüßen? Was würde er sagen, wenn er herausfand, dass ich mich noch nicht entschieden hatte, was wir heute unternehmen würden? Würde er lachen? Oder wäre er wütend? Noch neun Sekunden.

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und ich versuchte ihn krampfhaft herunter zu schlucken. Doch es gelang mir nicht. Noch sechs Sekunden.

Was, wenn Emmett gar nicht pünktlich kam? Vielleicht würde er sich etwas verspäten, dann war die Aufregung letzten Endes ganz umsonst. Noch vier Sekunden und der Zeiger rückte tickend Stück für Stück weiter.

Drei… zwei… eins… Unweigerlich hielt ich den Atem an.

Ein kurzes Klingeln drang an meine Ohren und unweigerlich zuckte ich zusammen. Ich hatte damit gerechnet, hatte es vermutet, aber es war wie in einem Film. Man erschrak sich dennoch. Langsam erhob ich mich vom Treppenabsatz und atmete einmal tief ein. Auch wenn ich ihn noch nicht gesehen hatte, wusste ich, dass Emmett vor der Tür stand. Ich konnte nicht genau erklären, warum. Es war mehr, als nur Intuition oder einfacher Menschenverstand. Es war viel mehr.

Kurz hielt ich inne und versuchte mich wieder zu sammeln, meine Gedanken zu ordnen. Unwillkürlich strich ich mein Shirt glatt, fuhr mir einmal mehr durch meine Haare und kaute wieder auf meiner Unterlippe herum. Vergessen waren all die Ratgeberzeitungen und Vorbereitungen. Sie alle schienen in diesem Moment keine Rolle zu spielen. Noch einmal atmete ich tief ein. Es schien, als würde ich mich für etwas Großes wappnen. Dann trat ich entschlossen ein paar Schritte nach vorne, öffnete die Tür und blickte auf.

Und das war ein Fehler. Denn in genau diesem Moment, als ich meinen Blick hob… als ich erkannte, wer vor mir stand... als seine Augen meine trafen… genau in diesem Moment war ich gefangen. Gefangen, eingeschlossen und festgehalten an einem Ort, an dem Zeit keine Rolle spielte. An dem nichts eine Rolle spielte. Nur dass ich da war, das zählte.

Ich spürte, wie meine Nervosität sich etwas legte, mein Herz wieder ruhiger schlug und es in meinem Kopf vollkommen still wurde. Denn jeglicher Gedanke schien ausgelöscht. Einzig allein nur, weil ich in diese warmen, karamellfarbenen Augen blickte.

„Hi“, sagte Emmett. Seine Stimme klang verzerrt, wie aus weiter Ferne. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie seine Lippen das Wort formten und sich danach zu einem Grinsen verzogen. Nur mit Mühe konnte ich eine Reaktion meinerseits erkämpfen. Zu stark waren die Fesseln, die seine Augen nach mir auswarfen, zu sehr verlangte mein eigener Körper nach diesem Gefängnis. Ich schluckte, kniff meine Augen zusammen und schüttelte kurz den Kopf.

>>Klare Gedanken, Amylin!<<

„Hi“, hauchte ich eine Antwort, als ich meinen Blick wieder gehoben hatte. Dieses Mal jedoch, sah ich ihm nicht in die Augen. Ich wusste, wenn ich es tat, dann wäre ich ein weiteres Mal verloren gewesen. Und es war fraglich, ob ich mich dann je wieder hätte befreien können. „Möchtest du reinkommen?“ Der Satz war eher von meinen Lippen gekommen, als dass ich überhaupt darüber nachgedacht hatte. Doch mir viel im Moment nichts Besseres ein. Ich hatte immer noch keine Ahnung, was wir heute machen sollten, jeglicher Tipp der Zeitungen, die ich durchwühlt hatte, war längst vergessen.

„Gerne“, grinste er weiterhin. Ich trat einen Schritt zur Seite und ließ ihn herein.

Man hätte meinen können, Emmett wäre noch nie bei mir Zuhause gewesen. Zögerlich trat er über die Schwelle. Mit einem interessierten Blick sah er sich im Raum um, nahm jede Einzelheit war, gab jedem noch so winzigem Detail seine Aufmerksamkeit. „Sehr hübsch“, wandte er sich wieder mir zu, als ich die Tür hinter ihm geschlossen hatte.

„Danke“, lächelte ich.

Emmetts Blick glitt weiter. Langsam betrat er das Wohnzimmer, besah sich die Couch, die hellen Vorhänge, die Skulptur aus China, die in einer Ecke stand. Ich folgte ihm mit einigem Abstand und beobachtete seine Reaktion. Es war faszinierend zu sehen, wie ihn das noch so kleinste Detail beschäftigte. Es zeigte mir einen anderen Emmett. Einen ruhigen und einfühlsamen Emmett, der ganz im Kontrast zu dem stand, den er sonst immer verkörperte.

Sein Lachen riss mich aus meinen Gedanken und verwundert wandte ich mich zu ihm um. Mittlerweile hatte er den Kamin erreicht und betrachtete nun die verschiedenen Bilder, die dort standen. Bilder von mir und meinen Eltern, als ich noch klein war. „Ich muss sagen, du hast einen außergewöhnlichen Geschmack“, grinste Emmett breit und deutete auf eines der Fotos.

Ich betrachtete es näher und musste unwillkürlich Lächeln, als ich erkannte, was es war. Es zeigte meine Eltern, Arm in Arm liefen sie eine Straße entlang. Im Vordergrund war ich im Alter von sechs Jahren, hatte meine Arme weit ausgebreitet, während ich dem Kameramann entgegenlief. Das, was Emmett aber vermutlich so amüsiert hatte, war das Kleid, was ich trug. Rosa und mit Rüschen bestückt.

„Ich habe es auf einem weiteren in der Küche gesehen. Hätte nicht gedacht, dass du auf Rüschen stehst“, grinste er breit.

Jetzt musste auch ich lachen. „Es war mein erstes Kleid gewesen und ich habe es geliebt. Meine Mutter hat es selbst gemacht und mir dann geschenkt. Ich erinnere mich noch, wie ich damals ein riesen Theater gemacht habe, weil ich es nicht wieder ausziehen wollte. Ich wollte es für immer tragen.“ Verträumt starrte ich auf das Bild, während die Erinnerungen langsam zurück kamen. Es tat gut, sich an die schöne Zeit mit meinen Eltern zu erinnern, ohne Angst davor haben zu müssen, dass es weh tat. Ob Emmett daran schuld war? Ich hoffte es.

„Meine Mutter hat gesagt, wenn ich das Kleid trage, dann sehe ich aus, wie ein richtiger Engel. Nicht so einer, wie wir geliebte Menschen Engel nennen, sondern ein richtiger, von Gott gesandter Engel. Mit weißen Flügeln, einem edlem Gewandt und einer herrlichen Stimme. Und immer, wenn ich das Kleid getragen habe, habe ich die Arme weit ausgebreitet und so getan, als ob es meine Flügel wären.“ Mit einem Lächeln auf den Lippen, wandte ich mich wieder Emmett zu.

Sein Gesichtsausdruck war ernst, kein Hauch von seinem typischen Grinsen. Man hätte meinen können, er trüge eine Maske. Kalt, versteinert und sich nie verändernd. Nur seine Augen zeigten, dass er noch lebte. Verrieten mir, dass es in ihm drin arbeitete. Sie sprühten regelrecht vor Energie. Ich sah das Funkeln, sah Verständnis, Faszination, Anteilnahme und etwas, was ich nicht genau benennen konnte. Mir kam dafür nur ein Wort in den Sinn. Doch das war ausgeschlossen. Oder vielleicht doch nicht? Mein Herz machte bei dieser Vorstellung wieder ein paar schnelle, kräftige Schläge und ein weiteres Mal an diesem Tage zwang ich mich meinen Blick von ihm abzuwenden.

„Das hier ist meine Tante“, warf ich plötzlich in den Raum, als mein Blick über ein anderes Bild schweifte. Ich wollte mich selbst von meinen Gedanken ablenken, wollte mich wieder unter Kontrolle bringen. Mein Körper hatte in letzter Zeit zu viele verräterische Dinge getan. „Sie ist momentan in Afrika auf einer Expedition. Ihr Traum war es schon immer gewesen, einmal eine eigene Expedition zu leiten. Sonst hatte sie immer nur daran mitgearbeitet oder hatte Fundsachen im Labor ausgewertet. Und jetzt ist ihr Traum endlich wahr geworden.“ Einen kurzen Augenblick herrschte Stille. Dann fügte ich leise hinzu. „Sie ist meine einzige Familie.“

Ich spürte, wie sich Emmett neben mir kaum merklich verkrampfte. Sein Kopf wandte sich mir zu und er schien mich zu mustern. Doch ich starrte fortwährend auf das Bild. Was sie wohl in diesem Moment machte? Ob sie schon etwas Aufregendes gefunden hatte? Die Angst vor Aro ging sogar soweit, dass ich selbst den Kontakt per Telefon oder Brief zu ihr abgebrochen hatte. Je weniger er von ihrer Existenz wusste, desto besser. Doch obwohl ich mir im Klaren war, dass es so am besten war, vermisste ich sie ungemein. Nur ein einziges Mal wollte ich ein Lebenszeichen von ihr haben, wollte Bestätigung, dass es ihr gut ging.

„Du wohnst also alleine hier?“ Emmetts Stimme war leise, er wollte nicht zu aufdringlich klingen, wollte mir die Möglichkeit geben, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Ich nickte zur Antwort. Vorsichtig wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder ihm zu, blickte ihm in die Augen und versuchte seine Reaktion daraufhin zu erkennen. Schockierung? Empörung? Er wusste, dass meine Eltern tot waren. Und er wusste, dass die einzige Familie, die ich noch hatte meilenweit entfernt war. Ich war allein. Ich war gebrochen. Und Emmett musste genau das in diesem Moment erkannt haben.

„Keine Angst, ich werde niemandem etwas davon erzählen.“ Ein Grinsen schlich sich wieder auf seine Lippen und er zwinkerte mir zu. Verwundert sah ich ihn an. Das war nun ganz und gar nicht die Reaktion, dich ich von ihm erwartet hatte. Emmett schaffte es immer wieder mich zu überraschen. Ob das der Grund war, warum ich mich so zu ihm hingezogen fühlte?

„Wo ist das hier?“ Erneut riss er mich aus meinen Gedanken. Interessiert blickte ich das Bild an, auf das er zeigte.

„In Kanada. Meine Eltern und ich haben da einmal zwei Wochen Urlaub gemacht.“ Und so begann ich Emmett von meinem Leben zu erzählen. Kein Foto wurde ausgelassen, kein Bild blieb unberührt. Ich wusste nicht warum, aber ich hatte das Bedürfnis, ihm mein ganzes Leben zu erzählen. Jedes Detail, jede Kleinigkeit, einfach alles. Zumindest fast alles.

Vom Wohnzimmer aus gingen wir in den Flur, die Küche, das Arbeitszimmer meines Vaters. Überall standen Bilder und andere Gegenstände, Erinnerungsstücke. Sie alle hatten eine Geschichte zu erzählen und für jede einzelne nahm ich mir Zeit. Und Emmett war ein guter Zuhörer. Er stellte an genau den richtigen Stellen Fragen und verfolgte mit Interesse und einem Grinsen im Gesicht meinem Vortrag. Ich wusste nicht warum, aber es schien ihn zu freuen, etwas aus meinem Leben zu erfahren.

Letzten Endes waren wir in meinem Zimmer angekommen. Stille herrschte, nachdem ich auch hier den Erinnerungen die nötige Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich jemals so viel in so kurzer Zeit erzählt hatte. Soweit ich wusste noch nie. Und schon gar nicht über mein Leben, über meine Vergangenheit. Emmett wusste jetzt so vieles von mir. Und für mich war er immer noch ein Rätsel.

Mein Blick glitt aus dem Fenster und ich musste feststellen, dass es tatsächlich angefangen hatte zu schneien. Der erste Schnee in Forks. Der erste Schnee in diesem Jahr für mich. Und das schon Anfang November. Fasziniert beobachtete ich wie die weißen Flocken langsam herabfielen, wie sie wirbelten und tanzten, immer dann, wenn eine leichte Windböe sie erfasste. Es hatte etwas reines, etwas beruhigendes. Man konnte den Blick einfach nicht abwenden. Genau wie bei Emmetts Augen.

„Liest du das gerade?“ Immer noch leicht verträumt blickte ich erst in Emmetts Gesicht, dann betrachtete ich das Buch in seiner Hand. Es war Jane Austens Emma.

Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen. „Ich lese es ständig.“

„Ständig?“ Skeptisch hob Emmett eine Augenbraue. Er bedachte mich mit einem Blick, als wollte er abschätzen, ob ich vielleicht verrückt war.

Ein kleines Lachen entfuhr meinen Lippen. „Ja. Es ist mein Lieblingsbuch. Ich kann es einfach nicht aus der Hand legen, ich weiß auch nicht warum. Alle Bücher von Jane Austen faszinieren mich.“

Interessiert ruhte Emmetts Blick kurz auf mir, dann las er sich den Buchrücken durch. „Ich kenne nur Stolz und Vorurteil von ihr und da habe ich auch nur von gehört.“

„Oh ja, das ist wohl mit das bekannteste und meist gelesene von ihr. Jeder, der den Namen Jane Austen hört, denkt sofort an dieses Buch. Dabei finde ich Emma noch besser.“

„Warum?“

„Die Hauptfigur ist anders, als die meisten, von denen sie schreibt. Normalerweise handeln ihre Bücher von Frauen, die aus gewöhnlichen Verhältnissen stammen. Sie müssen um alles kämpfen, selbst um ihr Glück. In solchen Geschichten steht Vernunft gegen das eigene Herz. Soll man sich für die Liebe entscheiden, die einen vielleicht glücklicher macht? Oder sollte man einer Heirat mit einem Mann zustimmen, der einem alle finanziellen Sorgen vergessen ließe? Denn von Liebe allein kann man nicht leben. Und bei Emma ist es anders. Sie ist die erste Protagonisten, die in Jane Austens Werken keine finanziellen Sorgen hat. Und dennoch hat sie es im Leben dadurch nicht einfacher. Die ganze Geschichte ist so… chaotisch. Sie sollte eher Irrungen und Wirrungen heißen. Figuren kommen und gehen wieder. Zuerst heißt es, die ist an dem interessiert. Der jedoch soll angeblich Gefühle für eine andere haben, die einen anderen Mann umgarnt, obwohl sie heimlich schon verlobt ist. Emma Woodhouse ist so ein starker Charakter, sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, andere zu Verkuppeln, obwohl sie selbst nie heiraten will. Sie versucht sich der Liebe zu entziehen und wird trotzdem wieder mit ihr involviert und das sie das nicht sieht ist so… einzigartig. Denn auch sie muss für ihr Glück kämpfen und erst ganz zum Schluss erkennt sie die Wahrheit. Sieht, wie sie wirklich fühlt. Doch durch ein unglückliches Missverständnis geht sie ihrem Verlangen nicht nach und als Leser ist man in diesem Moment so bewegt. Die ganze Zeit über sieht man die Protagonisten kämpfen und dann, wenn man endlich glaubt, sie hat ihr Glück gefunden, passiert etwas, dass alles wieder in ein ganz anderes Licht rückt. Und dennoch findet sie am Ende ihr Glück. Und das gibt dem Leser den Mut auch zu kämpfen. Egal, wie schwierig eine Situation auch sein mag, wie aussichtslos sie erscheint. Jeder bekommt am Ende sein Glück. Dafür lohnt es sich zu leben.“

Gedankenverloren starrte ich auf den Einband und einmal mehr sah ich vor meinem geistigen Auge die starke, junge Frau aus der Geschichte, die in so kurzer Zeit solch eine Wandlung durchlebte. Manchmal wünschte ich mir, ich wäre so stark und selbstbewusst wie Emma.

Ich wandte meine Aufmerksamkeit von dem Buch ab und blickte in Emmetts Gesicht. Fasziniert ruhten seine Augen auf mir und es sah aus, als würde er etwas suchen. Als würde er krampfhaft versuchen hinter die Fassade zu blicken. Dann trat ein leichtes Grinsen auf seine Lippen. „Lies mir daraus etwas vor.“

Einen Moment war ich perplex. „Du kannst es dir ruhig ausleihen, wenn du es lesen willst“, erwiderte ich immer noch leicht verwundert.

Emmett schüttelte mit dem Kopf. „Nein, ich will es nicht lesen. Ich will, dass du es mir vorliest.“

„Warum?“, platzte es aus mir heraus. Sein Grinsen wurde eine Spur breiter, doch ich konnte sehen, wie seine Augen einen anderen Ausdruck annahmen… einen liebevollen Ausdruck. Doch das bildete ich mir sicher nur ein.

„Ich liebe den Klang deiner Stimme.“ Plötzlich schlug mein Herz wieder schneller, die Röte sammelte sich in meinen Wangen und mir wurde heiß und kalt zugleich. Warum nur zeigte ich solch eine Reaktion auf eine so einfache Antwort? „Ich höre dir gerne zu. Deine Stimme hat so etwas… menschlich Reines. Ich könnte ihr stundenlang zuhören.“

Mit einem ungewöhnlichem Gefühl im Magen sah ich, wie Emmett das Buch wieder in die Hand nahm und danach meine ergriff. Sanft und dennoch bestimmend zog er mich zum Bett hin und ließ sich darauf nieder. Dann bedeute er mir, mich neben ihn zu legen. Langsam und immer noch leicht verwundert folgte ich seiner Aufforderung. Sein Grinsen wurde breiter, als ich neben ihm lag und galant hielt er mir das Buch entgegen. „Bitte“, sagte er nur. Und schon war ich wieder gefangen in seinen Augen. Unfähig mich daraus zu lösen oder gar einen eigenen Willen zu entwickeln. Wie konnte man solchen Augen auch widerstehen? Wie konnte man solchen Augen eine Bitte abschlagen?

Den Blick nicht lösend, nahm ich ihm das Buch ab und beobachtete ihn, wie er sich auf den Rücken fallen ließ, seine Arme hinter dem Kopf verschränkte und an die Decke starrte. Ich zwang mich regelrecht den Blick von ihm abzuwenden und betrachtete stattdessen das Buch in meinen Händen.

„Und von wo soll ich lesen?“

„Fang ganz am Anfang an. Wir haben schließlich den ganzen Tag Zeit.“ Kurz hielt ich inne. Wollte er etwa, dass ich ihm den ganzen Tag daraus etwas vorlas? Was wurde dann aber aus der Bedingung?

Die letzten Gedanken ignorierend, schlug ich die erste Seite auf und begann laut zu lesen.

 

 

Perspektivenwechsel

 

Sanft fielen weiße Flocken vom Himmel herab. Sie alle schienen ein Eigenleben zu führen, denn jede einzelne von ihnen tanzte auf seine Art und Weise im Wind. Wirbelte herum, drehte sich, flog wieder empor nur um daraufhin wieder zu fallen und sich auf einem Ast, einem Blatt oder dem Boden niederzulassen. Sie alle waren ganz erpicht darauf die Erde zu erreichen. Denn sie alle hatten nur einen einzigen Wunsch: Dem Klang einer ganz bestimmten Stimme zu lauschen.

Denn in all diesem Tanz und dieser Pracht lagen zwei Geschöpfe dicht beieinander. Zwei Geschöpfe, die unterschiedlicher nicht sein konnten und dennoch so vieles gemeinsam hatten. Zwei Geschöpfe, die in diesem Moment nur durch einen einzigen Gegenstand miteinander verbunden waren – einem Buch. Einem Buch, das davon handelte, wie man kämpfte, wie man liebte und wie man lebte.

Und in diesem kurzen Augenblick konnte jeder ganz genau erkennen, warum Gott ausgerechnet ihr diesen Engel schenkte.

I know you're a vampire

Die kalte Winterluft wehte ums Haus. Ich konnte das Pfeifen des Windes hören, während er versuchte durch jede noch so kleine Ritze zu dringen. An einen Ort, an dem die Zeit stillzustehen schien. Ich wusste nicht, wie spät es mittlerweile war. Und um ehrlich zu sein, es war mir auch egal.

Meine Augen blickten auf die Buchstaben, flogen Zeile für Zeile vorwärts. Mein Mund formte die Worte, meine Zunge gaben ihnen die Note und meine Stimme den richtigen Klang. Ich lag auf meinem Bett, Jane Austens Emma vor mir und las unaufhörlich laut daraus hervor. Emmett neben mir hatte sich die ganze Zeit über nicht geregt. Er lauschte meinen Worten, lauschte meiner Stimme und diese Gewissheit füllte mich mit einem warmen Gefühl.

Ich liebe den Klang deiner Stimme.

Er war nicht der erste, der so etwas zu mir sagte. Unweigerlich erinnerte ich mich wieder an meine Mutter. In letzter Zeit tat ich das oft. Ich dachte an ihr Gesicht, an ihr Lächeln, erinnerte mich an ihre Worte. Kaum ein Tag verging, an dem meine Gedanken nicht kurz zu ihr abschweiften. Dabei hatte ich früher immer versucht es zu vermeiden. Es konnte kein Zufall sein. Es konnte kein Zufall sein, dass Emmett plötzlich in mein Leben trat und alles auf einmal so… einfach wirkte. Das Erinnern. Das Fühlen. Das Leben.

Unweigerlich stellte mein Mund seine Arbeit ein und mir meinen Gedanken bewusst werdend, wandte ich meinen Blick Emmett zu. Es war nicht zu leugnen. Lange war ich vor der Wahrheit weggerannt. Hatte mich vor ihr versteckt, in dem Glauben am Ende würde man sie mir doch wieder entreißen. Doch ich konnte nicht länger davor weglaufen. Und noch weniger konnte ich es leugnen oder gar ignorieren.

Mein Herz schlug schneller. Ich spürte, wie sich die Röte auf meinen Wangen sammelte. Meine Gedanken überschlugen sich regelrecht. Die verräterischen Reaktionen meines Körpers auf seine Anwesenheit. Das Senken meiner geistigen Mauern, als er mich letztens im Arm gehalten hatte. Das Erinnern an meine Mutter. Das Gefangennehmen seiner Augen und die Akzeptanz dessen meinerseits.

Als ich mit dem Vorlesen plötzlich innehielt, hatte sich Emmett verwundert zu mir umgedreht und starrte mich jetzt nun leicht besorgt an. „Alles in Ordnung?“, fragte er. Seine Stimme war tief, das war sie schon immer gewesen. Doch erst jetzt schien mir so viel mehr aufzufallen. Die Bewegungen seiner Lippen. Das Spiel seiner Zunge, die sich um jedes Wort formte, legte, es umschlang und dann in die Freiheit schickte. Das leichte Brummen. Die zwei Reihen perfekt weißer Zähne, von denen ich wusste, sie konnten einen Bären in Stücke reißen. Seine feinen Mundwinkel, die leicht zuckten, bereit sich zu einem Grinsen zu verziehen. Ich hatte das Gefühl, als würde ich Emmett in diesem Moment zum ersten Mal klar sehen.

„Hey, Amylin. Träumst du?“ Er richtete sich noch ein Stück weiter auf und wedelte mit seiner Hand vor meinem Gesicht herum. Warum war mir noch nie aufgefallen, wie kurz seine Herzlinie eigentlich war? „Amylin?“ Sanft aber bestimmend legte sich seine Hand unter mein Kinn und zwang mich somit, ihm in die Augen zu sehen. Dieses Braun… dieses Karamell. Es zog mich in seinen Bann, sperrte mich ein, an einen Ort, an dem ich sicher war. Es war eine Bestätigung für meine Gedanken. Eine Bestätigung für meine Gefühle. Alles hatte mit seinen Augen angefangen. Und jetzt waren sie es, die mir die Wahrheit regelrecht entgegen schrien.

Ich, Amylin-Melody Lamar, hatte mich in Emmett Cullen verliebt.

 

Manche sagten, Liebe mache einen blind. Man sähe alles durch eine rosarote Brille. Ich jedoch glaubte, dass das Gegenteil der Fall war. Wenn man sich verliebte, wenn man sich dessen klar wurde, dann sah man alles viel deutlicher. Weil die verwirrenden Gedanken, die unerklärlichen Reaktionen des Körpers einen nicht mehr vernebelten, im Dunkeln tappen ließen oder sogar den Blick trübten. In dem Moment, in dem man die Wahrheit erkannte, sah man den anderen mit glasklaren Augen. Und man wusste, alles, was man sah, würde man nie wieder vergessen.

Langsam fuhr mein Blick über Emmetts Gesicht. Ich wollte jede Kleinigkeit wahrnehmen. Sie in mir aufnehmen, verstecken und einsperren.

„Amylin?“

Was dachte er eigentlich über mich? Was sah er in mir? Eine ganz normale Klassenkameradin, um die er sich ein wenig sorgte? Eine Freundin von Bella? Oder gar ein gebrochenes, kaputtes Mädchen, das sich verzweifelt an die Erinnerungen ihrer Eltern klammerte? Mein Herz schlug wieder schneller. Du hattest es von Anfang an gewusst, nicht wahr? Jedes Mal, wenn er mir in die Augen gesehen hatte. Jedes Mal, wenn er mir näher gekommen war, hast du dich bemerkbar gemacht, in der Hoffnung ich würde es hören. Du wusstest es von Anfang an. Doch ich habe dich einfach nicht verstanden.

„Amylin?“ Sein Gesicht war ganz nahe dem meinen. Unsere Nasen berührten sich fast und er blickte tief in meine Augen. Versuchte zu erraten, was in mir vorging. Seine Hände ruhten kalt auf meinen Wangen. Ein Kribbeln bereitete sich in meinem ganzen Körper aus und mein Magen fühlte sich an, als würde er eine 180° Drehung machen. Ich wollte nicht, dass dieser Moment jemals endete. Was dachte er nur über mich?

„Amylin?“ Ich musste etwas sagen. Ich musste ihm eine Antwort geben. Je länger ich einfach nur dasaß und ihn betrachtete, desto wahrscheinlicher wurde es, dass er herausfand, was ich für ihn empfand. Und das durfte er nicht. Nicht, solange ich noch nicht wusste, was er für mich empfand.

Ich räusperte mich und blinzelte ein paar Mal in der Hoffnung, so wieder in die Realität zurückzukommen. Seine Hände hielten immer noch mein Gesicht und ich hasste mich in diesem Moment dafür, dass ich mich daraus befreite. Doch ich musste. Sonst würde ich nie zu einem klaren Gedanken kommen. „Ähm…“, ich räusperte mich ein weiteres Mal. Meine Stimme war durch das lange Vorlesen etwas angeschlagen und mein Hals war trocken. „Ich wollte mir nur etwas zu trinken eingießen“, log ich.

Meinen Blick von Emmett abwendend, griff ich nach dem Krug auf meinem Nachttisch und goss mir ein Glas Wasser ein. Die ganze Zeit über, während ich den Krug wieder zurückstellte und ein paar Schlücke von der kühlenden Flüssigkeit trank, ließ mich Emmett nicht aus den Augen. Und diese Gewissheit ließ meinen ganzen Körper kribbeln.

Vorsichtig stellte ich mein Glas auf den Nachttisch, legte mich zurück aufs Bett und nahm Emma wieder zur Hand. „Wollen wir?“, fragte ich, während ich die Zeile suchte, in der ich vorhin stehen geblieben war.

Die ganze Zeit über blickte ich Emmett kein einziges Mal an. Denn ich wusste, wenn ich es täte, wäre ich wieder gefangen.

Emmett legte sich auf die Seite und beobachtete mich eine Weile. Ich spürte seinen bohrenden Blick und in diesem Moment war ich froh, auf meinem Bett zu liegen und nicht zu stehen. Ansonsten hätten meine Beine vermutlich nachgegeben, so schwach wie sich gerade mein ganzer Körper anfühlte.

Ich las den Satz vor mir ein paar Mal durch, doch der Inhalt schien sich mir nicht zu erschließen. Die schwarzen Buchstaben flogen nur so an mir vorbei, tanzten wirr in meinem Kopf herum und schienen einen Spaß daran zu haben, mich zu verwirren. Ich atmete einmal tief durch und zwang mich regelrecht zur Konzentration. Doch jegliche Bemühungen blieben erfolglos. Wie konnte es sein, dass Emmett mich so aus der Fassung brachte, obwohl er nur neben mir lag? Wie würde es erst werden, wenn wir im Unterricht zusammen experimentierten?

„Es ist schon halb vier“, drang seine raue Stimme an mein Ohr. Ich nickte zur Bestätigung, dass ich verstanden hatte, sah ihn jedoch nicht an. Halb vier. Das hieß, dass ich schon knapp vier Stunden hier lag und las. Kein Wunder, dass sich mein Hals so kratzig angefühlt hatte. „Willst du nicht mal eine Pause machen?“

Ein leichtes Lächeln trat auf meine Lippen, während ich immer noch versucht war, ihn nicht anzusehen. „Ich brauche keine. Aber wenn du eine brauchst, können wir gerne auch etwas anderes machen.“ Meine Stimme wurde zum Ende hin immer leiser. Ungeduldig spielte ich mit der Seite meines Buches und wartete auf seine Antwort.

Ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen, das konnte ich selbst aus den Augenwinkeln erkennen. „Ich brauche keine Pause, ganz im Gegenteil. Aber eigentlich hatte ich heute noch etwas anderes mit dir vor.“

Unweigerlich ruckte mein Kopf zu ihm herum. Ich konnte es nicht verhindern, doch seine Aussage hatte etwas in mir geweckt, was ich seit Jahren nicht mehr gespürt hatte – Neugierde. Sein Grinsen wurde noch eine Spur breiter und mit einem intensiven Blick, dem ich nicht entkommen konnte, sah er mich an. „Ich habe dir versprochen, dir zu sagen, was ich letztens in Chemie erzählen wollte, wenn du mit mir heute ausgehst.“ Ich nickte zur Bestätigung, unfähig irgendeine andere Reaktion von meinem Körper zu verlangen. Seine Augen nahmen mich einfach zu sehr gefangen. „Aber bevor ich dir das sage, möchte ich vorher noch etwas machen“, erklärte er jetzt wieder etwas ernster.

Erwartungsvoll sah ich ihn an. Was wollte er denn vorher noch machen? Ins Kino gehen? Emmett schien meine stumme Frage verstanden zu haben, denn er erwiderte: „Ich möchte dich meiner Familie vorstellen.“ Sein Gesichtsausdruck war ernst. In seiner Stimme konnte ich einen Hauch von Sorge feststellen und seine Stirn legte sich leicht in Falten. Er wartete meine Reaktion ab, schien verzweifelt in meinen Augen nach meiner Antwort zu suchen. Offensichtlich war es ihm sehr wichtig.

„Ok“, lächelte ich leicht. Ich wusste nicht, warum Emmett sich solche Sorgen machte. Den Großteil seiner Familie kannte ich bereits. Alice… Jasper… Edward… Bella. Von seinem Vater wusste ich, dass er Carlisle hieß und Arzt war. Warum aber sah ich dann in seinen Augen Zweifel aufblitzen?

Ein breites Grinsen trat auf seine Lippen und er schien wirklich erleichtert zu sein. Dann stand er auf, griff nach meiner Hand und zog mich aus dem Bett. Leicht verwundert über diese schnelle Reaktion, prallte ich gegen ihn. Einen Moment standen wir so da, indem ich einfach nur seine Nähe genoss. Seine Haut auf meiner, sein Atem, der mir leichtes Kribbeln bereitete, sein Geruch, der sich tief in mir verankerte. Ich spürte, wie mein Herz wieder schneller schlug, wie meine Beine wieder weich wurden. Doch ich zwang mich, nicht nachzugeben.

Ohne etwas zu sagen, nahm er meine Hand in seine und führte mich aus meinem Zimmer, die Treppe hinunter und in den Flur. Galant nahm er unsere beiden Jacken vom Haken, warf sie sich über die Schulter und griff dann nach den Schlüsseln. Mir schien fast, als könnte er es kaum erwarten, bei sich zuhause zu sein. Während ich mir die Schuhe anzog, warf er mir die ganze Zeit über ein breites Grinsen zu, dann öffnete er die Tür und schob mich aus dem Haus.

Mir stockte der Atem. Und das nicht vor Kälte, obwohl die Temperatur nahe dem Minusbereich sein musste. Vor mir erstreckte sich eine Landschaft aus purem Weiß. Die ganzen letzten vier Stunden über musste es unaufhörlich geschneit haben, ansonsten wäre nie so viel Schnee liegen geblieben. Die Bäume sahen aus, als hätten sie Federn anstatt Blätter. Der Weg war verschwunden, stattdessen schien es, als hätte irgendwer einen großen, weißen Teppich ausgerollt. Selbst mein Auto konnte ich kaum erkennen, so versteckt war es unter diesem Berg aus Schnee. Weder in New York, noch in New Orleans hatte ich solch eine Schneelandschaft gesehen. In New Orleans schon gar nicht, dafür war es dort zu warm.

Ein knirschendes Geräusch entstand, als ich von der Veranda trat. Die Kälte um mich herum nahm ich kaum war. Zu sehr war ich gefesselt von diesem Schauspiel. Es war alles so weiß und rein.

„Komm, wir müssen los“, sagte Emmett dicht hinter mir und riss mich aus der Verzauberung. Eigentlich wollte ich noch nicht gehen. Stundenlang hätte ich auf einer Bank sitzen und einfach nur diesem Weiß zusehen können. Doch meine Neugierde siegte. Zu sehr war ich daran interessiert zu hören, was Emmett mir sagen wollte, nachdem ich seine Familie kennengelernt hatte.

Ich nahm ihm meine Jacke ab und zog sie an, dann sah ich mich verwundert um. „Wo ist denn dein Auto?“, fragte ich ihn.

„Zuhause“, entgegnete er nur und begann den Schnee von meinem Volvo wegzumachen.

Verwirrt sah ich ihn an. „Wie bist du denn hierher gekommen?“

Er zuckte nur mit den Schultern. „Taxi“, war seine einzige Antwort. Irgendwie glaubte ich ihm nicht ganz. Warum sollte er sich ein Taxi nehmen, wenn er selbst ein Auto hatte?

Offensichtlich hatte Emmett meinen fragenden Blick gespürt, denn er hielt plötzlich in seiner Arbeit inne und sah mich seufzend an. Einen Moment standen wir so da, von vollkommenem Weiß umgeben, während keiner ein Wort sagte.

Dann erwiderte er: „Ich wollte, dass wir mit deinem Auto zu mir fahren.“

„Warum?“, kam es mir urplötzlich von den Lippen. Mein Atem bildete kleine Rauchwölkchen, die jedes Mal kurz meinen Blick auf Emmett vernebelten, bis sie sich wieder auflösten.

„Ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen. Über mich und meine Familie“, sagte er mir klarer Stimme und sah mir dabei tief in die Augen. „Und ich möchte dir die Gelegenheit geben zu gehen, wenn es dich danach verlangt.“

 

Weiß… Alles war weiß. Wohin ich auch sah, wohin meine Augen auch blickten, erstrahlte eine Wand aus Reinheit und Schönheit. Konnte dieser Ort noch derjenige sein, den ich vor ein paar Wochen das erste Mal gesehen hatte? Konnte dieser Ort noch der gleiche sein, der mir bei meiner ersten Ankunft so viel Farblosigkeit und Trostlosigkeit entgegengebracht hatte? Konnte sich Forks in etwas so… Faszinierendes und Magisches verwandeln?

Während Emmett mich zu sich nach Hause fuhr, blickte ich unaufhaltsam aus dem Fenster und betrachtete die Wälder, wie sie an mir vorbei flogen. Würde ich es nicht besser wissen, würde ich glauben, wir hätten Forks schon längst verlassen. Das ganze Grün, das einen erschlug, wenn man nur aus dem Fenster blickte. Die vielen Äste und Zweige, die Erde… das alles war verschwunden. Stattdessen war alles unter einer dicken Schicht Schnee verhüllt. Selbst der Geruch von Moos war nicht mehr so allgegenwärtig, wie zu meiner Ankunft.

Ob das daran lag, dass ich mich mittlerweile in Forks eingelebt hatte und ich es somit für das natürlichste auf der Welt hielt? Oder schien Forks gerade wirklich eine Wandlung durchzumachen? Eine Wandlung um 180°? Eine Wandlung zu einem Ort, der aussah, als würde Gott persönlich seine schützende Hand darüber ausstrecken?

Vor ungefähr zehn Minuten hatten wir den letzten Rest Zivilisation hinter uns gelassen, jetzt fuhr Emmett immer weiter Richtung Westen, dem Ende der Stadt entgegen. Nur vage erinnerte ich mich noch an den Weg zu den Cullens. Zum Einen lag es daran, dass alles von einem undurchdringlichen Weiß umhüllt war und mir somit keine Anhaltspunkte geboten wurden. Zum Anderen überschlugen sich meine Gedanken regelrecht.

Wenn ich am Anfang der Fahrt noch von dem Schauspiel, das mir geboten wurde, fasziniert gewesen war, so konnte mich jetzt die immer wiederkehrende, gleiche Landschaft nicht mehr ablenken. Emmett wollte mich seiner Familie vorstellen, er wollte, dass ich sie kennen lernte. Doch was wäre, wenn sie mich nicht mochten? Wenn sie mich nicht akzeptierten? Würde Emmett dann den Kontakt zu mir abbrechen?

Während ich auf meiner Unterlippe kaute, blickte ich unauffällig zu Emmett herüber. Was empfand Emmett für mich? Diese Frage kehrte immer und immer wieder in meinem Kopf zurück. War es genug, um die etwaige Abneigung seiner Familie mir gegenüber zu ertragen? Oder war ich für ihn nur eine Bekanntschaft, die aus einer Laune heraus kam und zu gehen hatte, wenn sie nicht akzeptiert wurde?

Einen Rückzieher konnte ich jetzt nicht mehr machen. Dafür waren wir schon viel zu nahe bei ihm Zuhause. Vermutlich erwartete uns seine Familie bereits und was würde es für einen schlechten ersten Eindruck machen, wenn ich eine Verabredung so kurzfristig absagen würde? Außerdem wollte ich keinen Rückzieher machen. Emmett hatte mir in den letzten Tagen so viel Kraft gegeben. Wenn ich jetzt weglief, würde ich mein Leben lang davonlaufen.

Gerade bog er in den kleinen, schmalen Waldweg ein, der zu seinem Haus führte, als er kurz zu mir herüberschaute und mir ein breites Lächeln schenkte. Sofort breitete sich in meinem ganzen Körper eine unerklärliche Wärme aus und ich hatte das Gefühl, als würde ich mir vollkommen umsonst Sorgen machen. Emmett war bei mir. Und er würde nicht zulassen, dass mir etwas passierte. Das hatte er mir versprochen… mit jedem seiner Blicke.

Die Minuten flogen zäh dahin, während sich Emmett seinen Weg durch den Wald erkämpfte. Einmal mehr befürchtete ich, die Reifen könnten auf eine vereiste Stelle treffen und Emmett würde die Kontrolle über den Wagen verlieren. Solche Wetterbedingungen war ich einfach nicht gewohnt. Selbst in New York hatte es nie so viel Schnee auf einmal gegeben, geschweige denn hätte ich mich zu dieser Zeit mit dem Wagen durch einen Wald kämpfen müssen.

„Hast du ihnen eigentlich gesagt, dass wir kommen?“, durchbrach ich plötzlich die Stille. Die ganze Zeit über hatte keiner von uns ein Wort gesagt. Ich glaubte, wir beide waren viel zu beschäftigt mit der Vorstellung gewesen, was wohl passieren würde, wenn ich auf seine Eltern treffen würde.

Ohne den Blick von der Straße zu nehmen, erwiderte Emmett: „Jepp.“ Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Es schien, als würde er sich an etwas erinnern, was ihn belustigte.

Na toll. Vermutlich erwartete mich etwas, dessen Ausmaß ich mir nicht vorstellen wollte. Was wäre, wenn ich einfach aus dem Auto springen würde? Emmett musste bei diesen Wetterbedingungen fast Schrittgeschwindigkeit fahren, dass ich mich dabei verletzen würde, stünde wohl außer Frage. Doch ein Blick aus dem Fenster vereitelte meinen Fluchtplan. Selbst wenn ich es schaffen würde, zwischen den herunterhängenden Ästen eine Stelle zu finden, an der ich die Tür hätte auf machen können, ohne dass sie mir danach gleich wieder zugeschlagen wurde, würde ich wohl eher im Schnee stecken bleiben, als mich auch nur zehn Schritte vom Auto entfernen zu können. Und Emmett würde sich dann wieder köstlich amüsieren. Nein, eine Flucht war zu diesem Zeitpunkt einfach nicht möglich.

Über mich selbst verwundert, schüttelte ich den Kopf. Warum beschäftigte mich das Treffen mit Emmetts Familie so sehr? Warum hatte ich solche Angst davor und zog es sogar in Betracht davor wegzurennen, obwohl es gegen jeder meiner Prinzipien stand? War es, weil Emmett mir so viel bedeutete, dass ich Angst davor hatte, ihn zu enttäuschen? Oder war es vielleicht die Angst davor, dass ich nicht mehr wusste, was es bedeutete, Teil einer Familie zu sein?

„Sie werden dich mögen.“ Emmetts Stimme war in diesem Moment wie der rettender Anker eines in Seenot geratenen Schiffes. Meines in Seenot geratenen Schiffes. Obwohl ich nichts gesagt hatte, wusste er dennoch, was tief in mir drin vorging. Wie konnte ich nur die ganze Zeit blind gewesen sein für das, was ich für ihn empfand? Es war doch so offensichtlich.

Zur Verdeutlichung seiner Worte griff er plötzlich nach meiner Hand und drückte sie leicht. Einen kurzen Moment sah ich wie paralysiert auf diese kleine Geste hinab, dann blickte ich auf. Wie üblich zierte ein Grinsen seine fein geschwungenen Lippen. Ob es das war, in das ich mich zuerst verliebt hatte… sein Grinsen? Das Spiel seiner Lippen, die sich zu seinen Augen hin bewegten, fast so, als streckten sie ihre Arme danach aus? Ich konnte es ihnen nicht verübeln. Auch ich würde am liebsten meine Hände nach ihnen ausstrecken. Sie umschließen, sie beschützen und mich vergewissern, ob sie wirklich so warm waren, wie sie aussahen.

Vielleicht waren es doch eher seine Augen, die in mir diese Gefühle hervorgerufen hatten. Ihre Gefangenschaft, ihr Schutz, mit dem sie mich immer wieder lockten. Ich fühlte mich jedes Mal wie ein Junkie, dessen Lieblingsdroge auf dem silbernen Tablett serviert wurde. Man konnte einfach nicht widerstehen.

Was auch immer es war, was auch immer der Grund für meine Gefühle war… Tatsache war, dass ich sie hatte. Und dass ich sie so schnell nicht wieder hergeben würde.

„Wir sind da.“ Ein weiteres Mal riss mich Emmett aus meinen Gedanken. Ich blinzelte ein paar Mal und als ich aus dem Fenster blickte, musste ich feststellen, dass er Recht hatte. Ohne dass ich es bemerkt hatte, waren wir am Anwesen der Cullens angekommen und Emmett hatte vor einer verschlossenen Garage geparkt. Obwohl ich schon einmal hier gewesen war, faszinierte mich der Anblick des Hauses ein weiteres Mal. Die großen, weitläufigen Fenster… die Veranda, die sich um das ganze Haus schlängelte und jetzt von Schnee bedeckt war… der zeitlose Stil.

Der Schnee knirschte unter meinen Schuhen, als ich aus dem Auto ausstieg und die Tür hinter mir schloss. Die Cullens schienen den ganzen Tag Zuhause gewesen zu sein, denn außer den Reifenspuren meines Volvos und meinen eigenen Fußabdrücken waren keine Spuren im Schnee zu sehen.

Hatte mich Emmetts Berührung vor ein paar Minuten beruhigt, so überschwemmte mich jetzt erneut eine Welle der Nervosität. Verschiedene Szenarien von der ersten Begegnung mit seinen Eltern stürzten regelrecht auf mich ein, eine schlimmer als die andere.

Um den beklemmenden Klos in meinem Hals loszuwerden schluckte ich. Dann nahm ich eine Bewegung rechts neben mir wahr und als ich mich umdrehte, spürte ich schon wie Emmetts Hand meine umschloss. Verwirrt sah ich zu ihm auf, während er zu mir herunter grinste. Ich hatte nicht einmal genügend Zeit darüber nachzudenken, denn eine Sekunde später zog er mich auch schon sanft hinter sich her und führte mich direkt auf das Haus zu. Ohne ein Wort zu sagen, folgte ich ihm widerstandslos.

Es war kalt und auch wenn der Weg zwischen Auto und Haus nur kurz war, bereute ich es dennoch keinen Schal mitgenommen zu haben. Mein Atem bildete kleine Rauchwölkchen. Es erinnerte mich an meine Großmutter, die immer auf der Veranda gesessen und eine Zigarette geraucht hatte. Jedes Mal, wenn ich sie besucht hatte, hatte ich mir von neuem geschworen, nie mit dem Rauchen anzufangen.

Wir erreichten die Haustür nur wenige Augenblicke später. Noch einmal blickte Emmett kurz zu mir herunter, schenkte mir sein breites Grinsen und schloss dann die Tür auf. Wenn ich bereits vom äußeren Erscheinungsbild beeindruckt gewesen war, so verschlug mir das Innere des Hauses schier den Atem.

Es gab kein Erdgeschoss. Zumindest sah es auf den ersten Blick so aus, denn die riesige Glasfront am Ende des Raumes erweckte den Eindruck, man befände sich immer noch im Wald. In Wirklichkeit aber handelte es sich hierbei um ein einziges großes Zimmer. Die Farben der Wände und des Holzbodens, sowie der Möblierung waren hell und freundlich und perfekt aufeinander abgestimmt. Auf der linken Seite des Raumes, allein auf einem Podest stehend befand sich ein großer Konzertflügel. Rechts neben der Eingangstür verlief eine Wendeltreppe in den ersten Stock. Dahinter konnte ich mehrere Sitzmöglichkeiten, einen Kamin und einen Fernseher entdecken. Außerdem zierten einige große Bilder die Wände und überall waren Vasen mit Blumen aufgestellt.

„Willkommen bei mir Zuhause“, grinste Emmett mich an und half mir aus meiner Jacke. „Schau dich in Ruhe um“, flüsterte er mir ins Ohr.

Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Das musste er mir nicht zweimal sagen. Wie von Geisterhand geleitet, setzten sich meine Beine in Bewegung. Mein Blick glitt über die Bilder, über Landschaften und abstrakte Gemälde. Die Dielen gaben kein Geräusch von sich, während ich Schritt für Schritt vorwärts ging. Je weiter ich in den Raum trat, desto mehr nahm er mich gefangen. Ich konnte nicht einmal erklären, warum. Es war vermutlich ein Raum, wie man ihn in vielen Musterkatalogen betrachten konnte. Und dennoch strahlte er solch eine Harmonie und Geborgenheit aus. Ich fühlte mich, als würde ich diesen Raum schon mein Leben lang kennen. Als hätte er nur darauf gewartet, dass ich ihn irgendwann einmal betreten würde und mich jetzt mit so viel Magie willkommen hieß. Ob es daran lag, dass es Emmetts Zuhause war und somit eine ganz spezielle Wirkung auf mich hatte?

Sanft glitten meine Finger über das schwarze, kalte Holz des Flügels. Leicht konnte ich mich auf der glatten Oberfläche spiegeln. Ich strich über die Klappe, die die Tasten schützte und führte unweigerlich, ohne es zu bemerken, ein kurzes Fingerspiel aus.

„Spielst du?“, erklang plötzlich eine sanfte Stimme hinter mir.

Überrascht drehte ich mich um. Vor mir, in einiger Entfernung, stand eine kleine Frau und lächelte mich an. Sie war schlank, hatte runde, leicht herzförmige Gesichtszüge und karamellfarbene, schulterlange Haare. In ihrem Lächeln konnte ich genau die gleiche Liebe erkennen, die sich auch in ihren Augen wieder spiegelte. Hinter ihr stand ein Mann mit blondem, kurzem Haar und einem feinen, schmalen Gesicht. Ich schätzte ihn nicht für älter als 25.

„Oh, Entschuldigung. Wir wollten dich nicht erschrecken“ Die Frau schenkte mir ein entschuldigendes Lächeln und hielt sich am Arm des Mannes fest, der sie umschlungen hatte.

„Amylin, ich möchte dir meine Eltern vorstellen“, ergriff Emmett das Wort, bevor ich irgendetwas erwidern konnte. „Meine Mutter Esme und Carlisle, mein Vater.“

Beide nickten sie mir zu und ich erwiderte die Begrüßung: „Es freut mich Sie kennen zu lernen.“

„Die Freude ist ganz auf unserer Seite“, erwiderte Carlisle. Seine Stimme war nicht ganz so tief, wie die von Emmett und zeugte dennoch von Autorität. Obwohl ich mir sicher war, dass es selten der Fall war, wollte ich dennoch nicht in der Nähe sein, wenn er einmal die Beherrschung verlor.

„Sie haben wirklich ein sehr schönes Haus“, versuchte ich ein normales Gespräch anzufangen. Ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, was ich hier eigentlich tat. „Dieser Eindruck, als könnte man direkt in den Wald laufen… die hohen Fenster… die warmen Farben… und dann noch dieser umwerfende Konzertflügel“, lächelte ich und strich erneut verträumt über das schwarze Holz. „Er ist wunderschön. Und bestimmt klingt er auch so.“

„Spielst du?“, fragte mich Esme ein weiteres Mal, löste sich aus der Umarmung ihres Mannes und trat ein paar Schritte auf mich zu.

„Ich habe einmal gespielt. Vor langer Zeit. Aber ich spiele schon seit Jahren nicht mehr.“

„Warum?“, fragte sie interessiert weiter. Sie stand jetzt neben mir und schenkte mir unablässig ihr Lächeln. Es erinnerte mich an das Lächeln einer Mutter… an das Lächeln meiner Mutter. Sie wusste, was es bedeute, jemanden bedingungslos zu lieben.

Ich seufzte leise, dann wandte ich mich ihr ebenfalls lächelnd zu. „Es erinnert mich an etwas, an das ich mich nicht erinnern möchte.“

Einen Moment herrschte Stille. Offensichtlich bereute Esme mich danach gefragt zu haben, denn sie sah aus, als hätte sie das Gefühl eine Grenze überschritten zu haben. Doch noch bevor irgendwer etwas Weiteres sagen konnte, betrat eine dritte Person plötzlich den Raum. Ich war mir sicher, dass sie schon die ganze Zeit versteckt hinter der kleinen Nische sehnlich darauf gewartet hatte, mich endlich begrüßen zu dürfen. Diesen Eindruck erweckte Alice zumindest in diesem Augenblick.

Leichtfüßig und mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen, lief sie gerade auf mich zu und zog mich überraschend in eine Umarmung. Für einen Moment war ich perplex, fast schon überrumpelt über diese freundschaftliche Geste, die ich einfach nicht gewohnt war. Doch ehe ich mich versah, hatte sie sich auch schon von mir gelöst. „Ich freue mich, dass wir uns endlich auch einmal außerhalb der Schule sehen. Wir werden sehr viel Spaß zu Dritt haben“, lächelte sie breit und zwinkerte mir zu.

Ich öffnete meinen Mund um etwas zu erwidern, denn diese Aussage verwirrte mich ungemein, doch Emmett kam mir zuvor, indem er sich leicht zu mir herunter beugte und mir ins Ohr flüsterte: „Frag nicht. Ich erkläre es dir später.“ So beließ ich es dabei.

Als Alice ein paar Schritte zurück ging und sich neben ihre Eltern stellte, tauchte hinter ihr Jasper auf. Wie üblich zierte ein leicht leidender Ausdruck sein Gesicht und es schien, als würde er Alice als Wand zwischen sich und mir sehen. Als ich ihn aber erblickte, als seine Augen meine trafen, überschwemmte mich ein Gefühl von solcher Ruhe und Gelassenheit, wie ich es mir gar nicht hätte vorstellen können. Verschwunden war die Nervosität, weg waren meine Zweifel und auch der alberne Fluchtplan, den ich im Auto geschmiedet hatte. Ich fühlte mich so entspannt, wie schon seit langem nicht mehr.

„Hallo, Amylin“, sagte Jasper klar und deutlich.

„Hallo Jasper“, erwiderte ich die Begrüßung und lächelte ihm freundlich zu. Zaghaft erwiderte er es.

„Komm Amylin, ich zeige dir den Rest des Hauses.“ Ohne ihr Lächeln zu verlieren, hakte sich Alice bereitwillig bei mir unter und führte mich so weiter in den Raum hinein. Während Alice keine Scheu zeigte sich mir zu nähern, blieben die anderen lieber im Hintergrund und folgten uns in einigem Abstand. Und obwohl ich ihnen ansah, dass ich vollkommen im Zentrum ihres Interesses stand, folgten sie uns stumm.

Kaum waren wir ein paar Schritte weiter in den Raum getreten, wurde mir bewusst, dass das, was ich anfangs für eine Nische gehalten hatte und hinter der sich Alice anscheinend versteckt hatte, eine verlängerte Wand war. Dahinter befand sich die Küche, übersät mit unzähligen Geräten – eine Kochinsel… einen im Schrank eingebauten Ofen… darüber die Mikrowelle… Kühlschrank… Messerblock… Wasserkocher…

Verwirrt blieb mein Blick an diesem Ideal einer typischen Küchenmöblierung hängen. Wozu brauchten sie eine Küche? Ernährten sie sich nicht von Blut?

Als wir den Wohnbereich betraten, erkannte ich plötzlich, dass auf dem Sofa zwei Gestalten saßen, die mir vorher nicht aufgefallen waren. Mit einem schüchternen und dennoch freundlichen Lächeln, stand Bella auf und kam auf mich zu. Kurz vor mir blieb sie stehen. „Hi“, sagte sie nur und ihre schokoladenbraunen Augen blickten mich an.

Ich erwiderte ihre Begrüßung, dann wurde ich von einer weiteren Bewegung abgelenkt und blickte über Bellas Schulter. Dicht hinter ihr stand Edward. Seine gold-braunen, kurzen Haare waren ein heilloses Durcheinander und zusammen mit seinem leicht ermüdenden Blick sah er aus, als wäre er gerade erst aufgestanden. „Hallo, Amylin.“ Es war die gleiche formelle Begrüßung, wie bei Jasper und sie schienen beide das gleiche auszudrücken – Abstand und Vorsicht. Wobei ich das Gefühl hatte, dass Jasper mir noch ein bisschen freundlicher gesonnen war. Ob das daran lag, dass Edwards Gedanken sich vermutlich hauptsächlich nur um Bella und ihre Sicherheit drehten und er somit taub für alles andere war, was um ihn herum passierte?

„Wollen wir uns nicht setzen?“, durchbrach Alice die peinliche Stille und geleitete mich zu der Couch, auf der bis vor kurzem noch Bella und Edward gesessen hatten. Ohne Widerstand zu leisten, kam ich ihrer Forderung nach und ließ mich auf das helle Möbelstück nieder. Nur zögerlich folgten die anderen meinem Beispiel. Alice setzte sich neben mich, Carlisle und Esme nahmen mir gegenüber Platz und Bella und Edward ließen sich auf der Couch rechts von uns nieder. Nur Jasper und Emmett blieben stehen.

Emmett, offensichtlich nervös, knetete seine Hände, genauso wie er es damals bei unserem ersten Gespräch auf dem Parkplatz unserer Schule getan hatte. Jasper warf ab und zu besorgte Blicke zu mir und schien irgendwie der Meinung zu sein, den größtmöglichen Abstand zu mir halten zu müssen. Lächelnd blickte ich in die Runde und wartete darauf, dass jemand etwas sagte. Dann brach Emmett das Schweigen: „Also Amylin, wie ich dir ja vorhin schon gesagt habe, habe ich dir etwas wichtiges zu sagen.“

Interessiert wandte ich mich ihm wieder zu und sah ihn aufmerksam an. Seine Nervosität schien sich gelegt zu haben, stattdessen tauschte er kurz mit Jasper einen viel sagenden Blick, bevor er sich dann wieder grinsend mir zu wandte.

Das war wieder einmal typisch Emmett – in dem schnellen Wechsel seiner Gefühlslage war er perfekt. „Ich habe lange überlegt, ob ich es dir jetzt schon sagen soll oder nicht. Wenn es nach mir ginge, hätte ich es dir vermutlich schon am ersten Tag verdeutlicht. Ich bin nicht jemand, der groß kalkuliert, ob es nun der richtige Weg ist oder nicht. Ich bin jemand, der Taten sprechen lässt. Doch in diesem Falle ging es nicht nur um mich, sondern um meine ganze Familie. Und somit war ich in gewisser Weise gezwungen, ernsthaft über die Folgen nachzudenken.“ Ich konnte ein leises Lachen von Alice hören und sah, dass Carlisle und Edward ebenfalls schmunzelten. „Wir haben lange darüber diskutiert“, fuhr Emmett mit seiner Erklärung fort und ich wandte ihm wieder meine volle Aufmerksamkeit zu. „Wir haben das Für und Wider abgewogen, haben des Öfteren auch mal die Kontrolle über uns selbst verloren und in einer Stimmlage gesprochen, die sonst sehr unüblich ist. Wie du siehst, ist das, was ich dir zu sagen habe, nicht einfach.“ Er machte eine kleine Pause um mir die Möglichkeit zu geben, das Gesagte zu verarbeiten und zu verstehen. Dann fuhr er fort: „Das, was ich dir gleich sagen werde… es wird absurd klingen, total unrealistisch und vermutlich wirst du uns für verrückt halten. Aber das, was wir dir sagen werden, ist wahr.“ Leicht verzweifelt fuhr sich Emmett durch die Haare. „Oh man, ich hätte nie gedacht, dass das mal so schwer werden würde“, murmelte er zu sich selbst. „Bei Bella war es so einfach, sie war von selbst darauf gekommen, aber wie ich es auch drehe und wende, es klingt einfach nur total lächerlich.“

Verwundert über diesen kleinen Ausbruch sah ich Emmett nur verwirrt an. Was war es, dass ihn und anscheinend seine Familie so offensichtlich beschäftigte? Was war so absurd und lächerlich und gleichzeitig so ernst, dass Esme mich leicht betrübt ansah?

Und dann, ganz plötzlich, als hätte er gerade die Entscheidung seines Lebens getroffen, sagte er mit klarer und ernster Stimme: „Wir sind Vampire.

 

Es herrschte Stille. Niemand sagte ein Wort.

Alice hatte sanft meine Hand in ihre genommen und ich konnte die Kälte spüren, die von ihr ausging. Es gab mir das Gefühl wieder draußen im Schnee zu sein. Esmes Blick war besorgt und Carlisle sah mich ernst an. Seine Augen ruhten auf mir und ich spürte die Autorität, die er als Doktor ausübte. In diesem Moment schien er weniger ein Vater, als der Arzt zu sein, den er außerhalb dieses Hauses verkörperte. Edward hatte die Stirn gerunzelt und ich spürte erneut, wie Druck auf meine geistigen Mauern ausgeübt wurde. Bella lag in seinen Armen, ihren Blick auf Edwards Gesicht gerichtet und vermutete wohl, dass dieses einen Teil meiner Gedanken preisgeben würde. Emmett war in seiner Haltung eingefroren, selbst den Atem schien er anzuhalten.

Sie alle sahen mich nur aufmerksam an, beobachteten jede meiner Bewegung, jede Veränderung meiner Gesichtszüge… so als wollten sie allein aus meinem Gesicht ablesen, was ich dachte. Und ich… ich sah Emmett einfach nur weiterhin aufmerksam an.

Wollte er mir nicht etwas überaus Wichtiges mitteilen? Etwas, was vollkommen absurd, unrealistisch und lächerlich klang? Warum schwieg er dann jetzt auf einmal und sprach nicht mehr weiter?

„Ich glaube, sie hat einen Schock“, vernahm ich Alice sanfte Stimme. Verwundert wandte ich meine Aufmerksamkeit von Emmett ab und wandte mich stattdessen ihr zu. Schock? Wieso Schock? War nicht vielleicht Emmett derjenige, der einen Schock hatte, immerhin hatte er in seiner Erklärung innegehalten und sah mich fortwährend mit dem gleichen Gesichtsausdruck an.

„Das war wohl doch etwas zu viel auf einmal“, kam es von Bella. Sie löste sich aus Edwards Armen und suchte meinen Blick. Zu viel? Was war zu viel? Ich spürte, wie sich auf meiner Stirn eine Falte bildete, als mein Gesicht einen verwirrten Ausdruck annahm.

„Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie erst die Wahrheit erfahren und uns dann kennen gelernt hätte.“ Mein Blick traf Esmes und ich sah, wie sie leicht besorgt die Hand ihres Mannes ergriff.

„Jetzt ist es zu spät“, antwortete Alice ihr.
Verwundert glitt mein Blick über jedes einzelne Gesicht. Wovon in Gottes Namen sprachen sie? Ich war so durcheinander von diesem Gespräch, dass ich gar nicht wusste, was ich darauf hätte sagen sollen.

„Eigentlich kann ich nichts dergleichen spüren“, sagte Jasper klar und deutlich. „Sie ist etwas verwirrt, mehr nicht. Keine Anzeichen von einem Schock.“

„Amylin?“, fragte Alice zögernd und zum zweiten Mal schenkte ich ihr meine komplette Aufmerksamkeit. „Ist alles in Ordnung mit dir?“ Irgendwie hörte ich diese Frage in letzter Zeit oft. Warum nur glaubten alle, mit mir wäre etwas nicht in Ordnung?

„Natürlich“, antwortete ich lächelnd.

„Wir werden dir nichts tun, versprochen. Du brauchst keine Angst zu haben“, flüsterte Alice. Sie schien offensichtlich der Meinung zu sein, mich zu verschrecken, wenn sie in normaler Lautstärke mit mir sprechen würde. Angst? Wie kam sie denn jetzt darauf? Warum sollte ich Angst haben?

„Also ich weiß, das klingt jetzt wirklich etwas absurd“, mischte sich Emmett wieder mit ins Gespräch ein. Anscheinend hatte er sich aus seiner Starre gelöst. „Aber so unwahrscheinlich und verrückt es auch sein mag, es ist wahr.“

Jetzt verstand ich gar nichts mehr. Was war denn nun so verrückt und absurd? Hatte ich einen Teil der Erklärung nicht ganz mitbekommen? War Vampir ein Codewort für irgendetwas anderes?

„Wir sind Vampire“, wiederholte Emmett und blickte mich wieder erwartungsvoll an. Erneutes Schweigen. Ich konnte die Spannung, die sich langsam zwischen uns auflud förmlich spüren. Jeder einzelne von ihnen starrte mich mit seinen unnatürlich karamellbraunen Augen an. Genau beobachtend, welche Reaktionen ich von mir gab.

„Und?“, kam es mir letztendlich über die Lippen. Vielleicht dachte er ja, ich würde diesen Teil nicht verstehen und fuhr deswegen nicht mit seiner Erklärung fort.

Anscheinend hatte ich etwas Falsches gesagt, denn jetzt schienen es die Cullens zu sein, die komplett verwirrt waren. Bella war die Einzige, die von meiner Antwort nicht vollends aus dem Konzept gebracht wurde. „Deine Antwort ist und?“, fragte sie leicht skeptisch.

„Was soll ich sonst antworten?“, erwiderte ich und lies meinen Blick zu ihr herüber schweifen. „Immerhin wollte mir Emmett etwas Wichtiges, Absurdes und vollkommen Verrücktes sagen.“

„Aber das habe ich doch bereits“, mischte sich Emmett mit ins Gespräch. Verwundert sah ich ihn an. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass wir alle aneinander vorbei redeten. „Ich habe dir gesagt, dass wir Vampire sind“, sagte er jetzt schon leicht verzweifelt.

„Ja, das hast du jetzt bereits drei Mal. Aber du hast mir immer noch nicht verraten, was so absurd, unrealistisch und vollkommen verrückt ist.“ Meine Stimme war ruhig und gelassen. Trotzdem konnte man die leichte Verwirrtheit heraushören. Wieder herrschte einen kurzen Moment lang Schweigen.

Dann meldete sich Alice zu Wort. „Sie hat definitiv einen Schock.“

„Ich habe keinen Schock“, erklärte ich ihnen. „Warum sollte ich einen Schock haben?“

„Weil wir dir gerade gesagt haben, dass wir Vampire sind.“

„Ja, aber das weiß ich doch.“ Erneute Stille. Irgendwie schien sie heute unser ständiger Begleiter zu sein.

Ausnahmslos alle starrten sie mich skeptisch an. Selbst Bella, die sonst immer sehr gefasst wirkte, schien für einen kurzen Moment neben der Spur zu sein.

„Das ist doch offensichtlich“, fügte ich hinzu und versuchte so das Gespräch auf eine lockere Ebene zu befördern. Es misslang mir vollkommen.

„Offensichtlich?“, hakte Carlisle nach, der sich die ganze Zeit über im Hintergrund gehalten hatte.

Ich lachte kurz. „Also wer das nicht sieht, muss blind sein.“

„Das trifft dann wohl auf die ganze Stadt zu“, erwiderte Emmett resignierend.

„Du weißt also, dass Vampire existieren?“, fragte Carlisle in ernstem, aber dennoch sanften Ton weiter.

„Ja.“

„Und du wusstest es auch schon, bevor du nach Forks kamst?“

„Ja.“

„Woher?“ Sein Blick ruhte aufmerksam auf mir. Er schien jede einzelne Bewegung genau zu analysieren. Und ich wusste, er nahm sogar die noch so kleinste wahr.

„Es waren Vampire, die meinen Eltern das Leben genommen haben.“ Ich hörte, wie einige zischend die Luft einsogen. Alice neben mir drückte meine Hand etwas zu fest. Bellas Augen weiteten sich vor Schrecken und Esme schlug sich die Hand vor den Mund. Man konnte die Überraschung und den Schock in all ihren Gesichtern ablesen.

Was hatte ich denn nun schon wieder Falsches gesagt? Ob wir es wohl jemals schaffen würden ein normales, durchstrukturiertes Gespräch zu führen oder würde jedes so verworren und durcheinander sein?
„Wie kannst du nur so ruhig hier sitzen?“ Edward sah mich ernst an und ich spürte wieder diesen Druck. Leicht genervt unterdrückte ich einen Seufzer.

„Was soll ich sonst machen? Schreiend davon laufen?“, fragte ich ihn mit einem leicht sarkastisch.

„Zum Beispiel.“

„Und warum?“

Einen Moment war er von meiner Frage verwirrt. Dann antwortete er: „Wir sind Vampire. Du solltest uns eigentlich hassen.“

„Warum?“ Ich wurde aus seiner Argumentation irgendwie nicht schlau.

„Weil wir zu der gleichen Rasse gehören wie diejenigen, die dir deine Familie genommen haben.“

Einen Augenblick lang dachte ich über seine Antwort nach, dann erwiderte ich: „Aber ihr ward es doch nicht.“

„Wie bitte?“

„Ihr seid nicht diejenigen, die meinen Eltern das Leben genommen haben, oder?“

„Nein“, antwortete er zögerlich und leicht perplex.

„Also, warum soll ich euch für etwas hassen, was andere getan haben? Nur weil ihr Vampire seid? Das ist ja, als würde man die ganze Menschheit bestrafen, nur weil ein einzelner von ihnen einen Mord begangen hat.“

„Aber du kannst euch Menschen nicht mit uns vergleichen.“ Offensichtlich schien er in Fahrt zu kommen, denn er richtete sich auf und nahm den Arm von Bellas Schulter. „Wir sind Monster.“

„Edward“, flüsterte Esme und schüttelte leicht betrübt den Kopf.

„Nur weil du dich als solches siehst, muss es nicht bedeuten, dass andere auch so sind.“

„Oh Gott, das läuft alles ganz anders, als ich es geplant hatte“, stöhnte Emmett.

„Edward“, ermahnte ihn jetzt auch Carlisle und sah ihn ernst an. Anscheinend wollte Edward noch etwas erwidern, besann sich dann jedoch eines Besseren und schloss wieder seinen Mund.

„Na dann ist doch alles super“, strahlte Alice, doch einen Moment später biss sie sich auf die Unterlippe. „Also so meinte ich das jetzt nun auch wieder nicht. Ich wollte nicht sagen, dass es super ist, dass deine Eltern… ich meinte, damit ist alles viel unkomplizierter und wir können endlich Freunde werden. Komm, ich zeig dir den Rest des Hauses.“

Ohne, dass ich mich dagegen wehren konnte, zog sie mich plötzlich von der Couch und führte mich die Treppe hoch in die erste Etage, eine immer noch leicht verwirrte Cullen-Familie hinter sich lassen.

 

 

Emmetts Sicht

 

Verwirrt blickte ich den beiden hinterher, wie sie die Treppe hoch und aus meinem Blickfeld verschwanden. Und ich war nicht der Einzige. Denn, obwohl ich ihnen allen den Rücken zugedreht hatte und etwas durcheinander immer noch die Treppe anstarrte, war ich mir sicher, dass es dem Rest meiner Familie nicht anders erging. Dafür war das eben gelaufene Gespräch zu… unrealistisch.

Ich hatte mir allem gerechnet… ich hatte mich auf jede erdenkliche Reaktion ihrerseits vorbereitet. Darauf, dass sie uns nicht glauben würde, dass sie uns für verrückt hielt und lachen würde. Darauf, dass sie Panik bekäme und schreiend aus dem Haus rennen würde, mit der Absicht nie wieder auch nur in meine Nähe zu kommen. Insgeheim hatte ich gehofft, sie würde sich so wie Bella verhalten… es gelassen nehmen… von selbst drauf kommen und es dennoch nicht für wichtig erachten. Und genau dieser Fall war eingetreten… doch in einem Umfang, wie ich es nie geglaubt hätte.

„Sie ist ein toughes Mädchen.“, hörte ich Carlisle sagen. Langsam kam ich wieder in die Realität zurück. Mich meiner Umgebung bewusst werdend, drehte ich mich langsam zu den anderen um und sah in ihren Gesichtern die gleichen Gefühle, die sich auch in mir breit machten. Verwirrung… Überraschung… Angst… Bestürzung…

Esme drückte die Hand ihres Mannes und blickte betrübt den Tisch vor ihr an. Ich sah, wie sie etwas sagen wollte… irgendetwas… doch im Moment fühlte sie sich nicht stark genug. Im Moment war sie einfach nur zu sehr betroffen, von dem, was wir gerade alle erfahren hatten. Und ich konnte es ihr nicht verübeln. Denn zum ersten Mal in meinem Leben, war mir nicht nach Scherzen zumute. Ich beneidete insgeheim Alice für ihre Ausgelassenheit Amylin gegenüber.

Einen Moment konzentrierte ich mich auf die beiden, hörte ihre Schritte über mir den Flur entlanglaufen und Alices warme Stimme, die sagte: „Also das ist mein Zimmer.“ Ich hörte, wie eine Tür aufschwang und zwei paar Füße weitergingen, einen anderen Boden betraten, vermutlich Teppich.

„Wie kann sie nur so ruhig sein?“, riss Edward mich von den beiden los. „Ich meine, ihr ist etwas so Schreckliches widerfahren und sie kann seelenruhig in einem Raum mit uns sitzen und sich mit uns unterhalten.“
„Jeder verarbeitet Schmerz unterschiedlich, Edward“, antwortete ihm Carlisle.

„Das weiß ich. Aber ganz gleich, wem so etwas widerfahren würde, der daraus entstehende Hass auf Kreaturen wie uns wäre bei jedem gleich.“

„Nun, bei ihr anscheinend nicht.“ Carlisles Stimme war ruhig und gelassen.

„Aber warum nicht? Es ist doch das Natürlichste auf der Welt, dass man denjenigen hasst, der einem das Liebste auf der Welt nimmt. Und in unserem Fall müsste sie eigentlich jeden hassen, der so ist wie wir.“ Edward konnte es nicht verstehen. Und vermutlich wollte er es gar nicht. Ich sah in seinen Augen, dass er Angst hatte. Angst um Bella. Angst vor dem, was passieren könnte.

„Ich habe keine Angst, Emmett“, sagte er zu mir und zog eine Augenbraue hoch. „Ich bin einfach nur skeptisch, das ist alles. Ich will nur sichergehen, dass sie die Person ist, von der wir glauben, dass sie es ist.“

„Wer sollte sie sonst sein?“, kam es wie aus der Pistole geschossen von mir. Ich liebte meinen Bruder, er war mir von allen aus meiner Familie am nächsten. Aber in diesem Moment hatte ich das Gefühl, dass er sich gegen mich stellte. Er hatte Bella, das war im Moment das Einzige, was für ihn zählte. Und nachdem, was in letzter Zeit passiert war, konnte ich es ihm auch nicht verübeln, dass er besonders vorsichtig war, um sie zu schützen. Doch irgendwie hatte ich das Gefühl, dass das hier weit mehr war, als nur Schutz.

„Ich weiß nicht. Aber sie wusste es von Anfang an. Sie wusste von Anfang an, dass wir das sind, was wir sind. Und sie hat nichts gesagt. Was ist, wenn sie das alles geplant hat?“

„Ist es, weil du ihre Gedanken nicht lesen kannst?“ So langsam wurde ich wütend. Ich hatte meinen Bruder in allem unterstützt, hatte ihm geholfen, wenn es um Bella ging. Wir haben sie in unsere Familie aufgenommen, haben sie vor James und Victoria beschützt. Doch jetzt wollte er nicht das gleiche für mich tun?

„Du weißt genau, ich würde genau das gleiche auch für dich tun, Emmett. Doch die Umstände waren da ganz anders.“

„Was denn für andere Umstände?“ So langsam hatte ich das Gefühl, wir würden uns im Kreis drehen.

„Bellas Eltern wurden zum Beispiel nicht von Vampiren getötet“, antwortete Edward ernst.

„Aber fast.“ Ich warf einen entschuldigenden Blick zu Bella, dass sie das, was ich sagte, nicht allzu ernst nahm. Sie lächelte mich verständnisvoll an. „Glaubst du nicht, dass James oder Victoria ihrem Vater oder ihrer Mutter etwas angetan hätte, wenn sie nicht das bekommen hätten, was sie wollten? Und hast du Bella jemals sagen hören, dass sie dich hasst, nur weil du auch ein Vampir bist? Hat sie jemals gesagt, du sollst verschwinden, weil sie eventuell Angst haben könnte, dass du ihrem Vater etwas zuleide tust? Nein, das hat sie nie. Weil sie dir vertraut. Und genau so, wie Bella dir vertraut, genau so vertraue ich Amylin und glaube daran, dass sie nicht irgendeinen teuflischen Plan ausheckt, sondern in uns etwas sieht, was kein Monster oder blutrünstiges Wesen ist.“

Einen Moment sah Edward zu Bella, blickte ihr tief in die Augen und in diesem Augenblick wusste ich, dass meine Worte ihr Ziel erreicht hatten.

„Emmett hat Recht“, sagte Carlisle ruhig. Edward wandte sich jetzt ihm wieder zu. „Du hast Bella vertraut und wir haben dir vertraut. Wir haben dir vertraut, als du sie vor allen Augen auf dem Schulparkplatz gerettet hast und somit außer Acht ließest, dass man über uns die Wahrheit herausfindet. Wir haben dir vertraut, als du immer wieder ihre Nähe gesucht hast, obwohl wir wussten, wie stark ihr Blut auf dich wirkt. Und wir vertrauten Bella und vertrauen ihr noch heute. Sie ist ein wichtiger Teil unserer Familie geworden, für den wir vieles opfern würden.

Und jetzt vertrauen wir Emmett. Darauf, dass er Amylin richtig eingeschätzt hat. Darauf, dass sie zu den wenigen Menschen gehört, die sich nicht von Hass leiten lassen, sondern ihr Leben trotzdem weiter leben. Darauf, dass sie auch Wesen wie uns eine Chance gibt. Emmett ist dein Bruder, Edward. Du solltest ihm vertrauen.“

„Das tue ich ja“, erwiderte er und blickte mich mit einem ernsten Gesichtsausdruck an. „Aber es ist, wie Emmett gesagt hat. Ich kann ihre Gedanken nicht lesen und…“

„Und meine kannst du auch nicht lesen.“ Es war das erste Mal, dass Bella nach dieser schockierenden Wahrheit Amylins etwas sagte. Wenn ich sie nicht gerochen hätte, hätte ich gar nicht mitbekommen, dass sie überhaupt noch da war. „Und trotzdem hast du dich davon nicht beirren lassen. Ich habe Amylin kennengelernt. Sie hat mir des Öfteren schon in Sport geholfen. Wir waren an einem Wochenende zusammen am Strand von La Push und sie hat mich danach sogar hierher gefahren, obwohl es ein ziemlicher Umweg für sie war. Ich glaube nicht, dass Amylin etwas ausheckt oder irgendeinen Plan schmiedet. Wenn dem so wäre, dann hätte Alice es doch mit Sicherheit gesehen. Und du weißt besser als ich, dass Alice sich noch nie getäuscht hat.“ Ein breites Lächeln zierte jetzt ihre Lippen.

Edward seufzte leise zur Antwort. Er ließ seinen Blick kurz über jedes einzelne Gesicht schweifen und als sich unsere Augen trafen, wusste ich bereits, dass er nachgegeben hatte.

„Ich kann es nur nicht verstehen, das ist alles“, erklärte er sich. Bella nahm seine Hand in ihre und drückte sie leicht. Ihre Blicke trafen sich und einmal mehr konnte man die tiefe, emotionale Verbindung zwischen den beiden deutlich spüren.

Doch er war nicht der einzige, der es nicht verstehen konnte.  Denn insgeheim hatte Edward genau die Befürchtung ausgesprochen, die ich seit Amylins Geständnis selbst tief in mir drin hatte.

Warum? Warum hatte sie mir nichts gesagt? Warum verhielt sie sich uns gegenüber so offen und freundlich, obwohl wir zu denjenigen gehörten, die ihr das angetan hatten? Woher nahm sie nur diese Kraft, das alles durchzustehen?

Und in diesem Moment war ich mir sicher, ich würde sie nie wieder solch einem Schmerz aussetzen. Nie wieder würde ich es zulassen, dass ihr etwas vergleichbar Schreckliches passieren würde. Ich wollte sie beschützen, wollte sie in meine Arme nehmen und nie wieder aus diesem sicheren Gefängnis herauslassen.

„Wohnt sie dann ganz alleine?“, hörte ich Esme flüstern und wurde ein weiteres Mal aus meinen Gedanken gerissen.

„Ja“, erwiderte ich und hätte mich im nächsten Augenblick am liebsten selbst geohrfeigt. Amylin hatte mir ihr Leben anvertraut. Sie hatte mir alles von sich erzählt. Und ich hatte ihr versprochen, niemanden etwas zu sagen. Doch ich konnte meiner Familie vertrauen… sie würden nie etwas tun, was ihr schaden würde.

„Ganz allein?“ Esme klang eher traurig als bestürzt.

Ich nickte zur Antwort. „Ihr Vormund ist ihre Tante. Doch sie ist momentan auf einer Expedition irgendwo in Afrika.“

Stille herrschte, keiner sagte ein Wort. Und in diesem Moment war sie unerträglich für mich. Ob es daran lag, dass es mit Amylin zu tun hatte? Daran, dass ich in ihren Gesichtern lesen konnte, wie bestürzt sie waren? Ich würde sie beschützen. Ich würde sie vor allem beschützen. Auch vor mitleidvollen Blicken.

„Und das ist Emmetts Zimmer.“, konnte ich Alice sagen hören. Schritte verstummten, eine Türklinke wurde herunter gedrückt und in diesem Moment ergriff mich vollkommene Panik.

Sie konnte ihr doch nicht einfach so mein Zimmer zeigen. Oh Gott, war es überhaupt aufgeräumt oder lagen vermutlich Dinge rum, die Amylin besser nicht sehen sollte? Ich war in letzter Zeit so selten da drin gewesen, dass es mich nicht gekümmert hat, wie es aussah.

Und bevor ich noch weiter darüber nachdenken konnte, stürzte ich auch schon im Bruchteil einer Sekunde die Treppe herauf und versuchte mein Leben zu retten.

Home sweet home

Mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht zeigte Alice mir ihr Zuhause. Obwohl… eigentlich zeigte sie mir nur ihr und Jaspers Zimmer. In Edwards warfen wir einen kurzen Blick hinein, doch an ihrem Grinsen konnte ich erkennen, dass es ihn vermutlich ärgern würde, sollte er davon erfahren. Wahrscheinlich wusste er aber längst davon, immerhin hatte er immer versucht meine Gedanken zu lesen, warum sollte er es dann auch nicht bei anderen versuchen?Interessiert lauschte ich Alices Erzählungen. Sie zeigte mir Bilder und Fotos, die sie in ihrem Zimmer zu stehen hatte. Erzählte mir davon, wie sie Jasper getroffen hatte. Je mehr sie von sich preisgab, desto mehr nahm sie mich in ihren Bann. Ob das wohl an ihren elfenhaften Bewegungen lag? Ihrer hohen, zarten Stimme? Oder einfach nur an ihrer aufgeschlossenen Art?

Urplötzlich kam mir ein Musikstück ins Gedächtnis, welches ich lange nicht mehr gehört hatte. Eines, welches Alices Wesen wunderbar beschrieb. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und ich versuchte ihn wieder herunterzuschlucken. Dieses Stück erinnerte mich gleichzeitig an meine Mutter. Krampfhaft versuchte ich weiterhin Alices Welt zu folgen, ihr meine volle Konzentration zu geben. Ich suchte ihre Augen… das warme Karamell, welches mich immer so in Schutz genommen hatte, mir Zuflucht schenkte und mich vor alles und jedem versteckte. Doch es klappte nicht. So sehr ich es auch versuchte, so sehr ich es mir auch wünschte. Es waren einfach nicht seine Augen.

„Hier ist Carlisles Arbeitszimmer“, redete Alice in ihrer fröhlichen Art weiter. „Ich weiß nicht, ob er damit einverstanden ist, wenn ich es dir zeige, also lasse ich es einfach. Vielleicht zeigt er es dir irgendwann einmal oder wir fragen ihn nachher.“ Sie lächelte mich fortwährend an und sofort strömte wieder Wärme durch meinen Körper. Auch wenn es nicht seine Augen waren… Alice konnte einem auf andere Art und Weise die Anspannung von den Schultern nehmen. Sie erinnerte mich in diesem Moment an Emma von Jane Austen. So stark und selbstbewusst. Und dennoch hatte sie etwas Zerbrechliches an sich. Etwas, das einem vor Augen führte, dass man zum Teil noch ein Kind vor sich hatte. Jemand, der verletzt werden konnte.

„Und das…“, wandte sich Alice der letzten Tür zu, „… ist Emmetts Zimmer.“ Sie erweckte den Eindruck, als hätte sie das Beste zum Schluss aufgehoben. Als würde hinter dieser Tür eine Überraschung auf mich warten. Ihre Augen nahmen ein leichtes Funkeln an und ihr Lächeln wurde noch eine Spur breiter.

Ich sah, wie sie den Türknauf ergriff, wie sie ihn langsam drehte. Ich hörte das metallische Geräusch, als der Riegel zurückgeschoben wurde. Es hallte unnatürlich laut in dieser fast erdrückenden Stille wieder. Einer Stille, wie ich sie nur aus Filmen kannte. Es war wie die Ruhe vor dem Sturm. Ich spürte, wie mein Herz auf unerklärliche Art und Weise plötzlich schneller schlug. Wie mein ganzer Körper vor Aufregung zu kribbeln anfing und ich unkontrolliert und nervös auf meiner Unterlippe herum kaute. Gleich würde ich Emmetts Zimmer betreten. Einen Ort, der mehr von ihm verriet, als er es bisher getan hatte. Was würde ich wohl vorfinden? Bücher? Bilder? CDs? Was würden sie von ihm preisgeben? Was würden sie mir über ihn erzählen? Welchen Emmett würden sie mir zeigen?Ich schluckte wieder. Doch nicht aus Beklemmung, sondern weil ich einfach nicht wusste, was ich machen sollte.

Noch einmal warf ich einen kurzen Blick zu Alice, die mich immer noch begeistert anlächelte. Es schien die Nervosität und Aufregung nur noch zu steigern und ich war mir sicher, dass sie wusste, wie ich mich gerade fühlte.

Doch gerade als sie die Tür öffnen wollte… gerade als ich im Begriff war an einen Ort zu gelangen, der mir so vieles von Emmett erzählen konnte… genau in diesem Moment spürte ich einen kurzen Windhauch an meiner Wange. Kleine Strähnen meines Haares kitzelten mich im Gesicht und ich hörte überrascht ein weiteres Klicken. Einen Augenblick stand ich verwirrt und überrascht zugleich da und starrte weiterhin die Tür an, die sich immer noch verschlossen vor mir auftürmte. Und dann, ganz plötzlich, hatte ich ein Déjà-vu. Es war, als hätte ich dieses Gefühl schon einmal gehabt. Ein Windhauch, der über meine Wange streifte und das Schließen einer Tür hinter mir. Ich erinnerte mich unweigerlich an Emmetts und meine erste Begegnung. Und genau in diesem Moment wurde mir bewusst, warum ich diesen Windhauch gespürt hatte.Ein leichtes Lächeln stahl sich auf meine Lippen und meine Anspannung war im Nu verflogen. Ich konnte einfach nicht anders, als sanft den Kopf zu schütteln. Es war wieder einmal so typisch für ihn.

„Emmett?“, drang Alice Stimme an mein Ohr. Sie klopfte ein paar Mal gegen die Tür, doch ich sah ebenfalls ein amüsiertes Grinsen auf ihren Lippen. „Du brauchst dich nicht zu verstecken.“

„Ich versteck‘ mich nicht“, brummte Emmett von der anderen Seite der Tür. Offensichtlich hatte Alice einen empfindlichen Nerv getroffen, denn ich konnte einen leicht gereizten Unterton erkennen, „Wie kommst du eigentlich dazu, ihr einfach mein Zimmer zeigen zu wollen?“

Verschiedene Geräusche drangen an mein Ohr und ich war mir sicher, dass er in diesem Augenblick sein Zimmer aufräumte.  Ich konnte mir ein leises Lachen nicht verkneifen, als die Vorstellung in meinem Kopf sich zu einem Bild formte. Es erinnerte mich an das Chaos, das Emmett in meiner Küche hinterlassen hatte.

„Ich dachte du hättest nichts dagegen“, flötete Alice durch die Tür und zwinkerte mir belustigt zu. „Ich kann ja nichts dafür, dass du dein Zimmer nicht in Ordnung hältst, weil du zu beschäftigt mit anderen Dingen bist. Vielleicht solltest du doch des Öfteren mal Zuhause vorbeischauen, als andere Menschen bei ihnen Zuhause zu beo-“

Weiter kam sie nicht, denn in diesem Moment riss Emmett die Tür auf und funkelte sie wütend an. „Sprich weiter und dein heiß geliebter Porsche hat eine Begegnung mit meinem Jeep!“ 

Alice konnte sich ihr Lachen immer noch nicht verkneifen. Ich war mir sicher, dass sie es genau darauf angelegt hatte. Doch anstatt etwas zu erwidern, zwinkerte sie ihm nur kurz zu und schenkte mir einen viel sagenden Blick. Dann verabschiedete sie sich von uns beiden und ging wieder die Treppe zu den anderen hinunter.

Einen Moment standen Emmett und ich nur da und blickten ihr hinterher. Je mehr ich Alice kennen lernte, desto mehr faszinierte sie mich und desto mehr schlich sie sich auf unerklärliche Weise in mein Herz. Egal wie sehr man sich wehrte… man konnte einfach nicht anders, als sie zu mögen. Ich war mir sicher, dass sie Jaspers Engel war.

Plötzlich räusperte sich Emmett und interessiert wandte ich mich ihm wieder zu. Ein breites Grinsen zierte nun seine Lippen und das Funkeln in seinen Augen nahm sofort wieder Besitz von mir. Er sagte nichts, seine Augen ruhten die ganze Zeit durchdringend auf mir, als er eine große Handbewegung in Richtung Zimmer machte und mir so symbolisierte, dass ich eintreten durfte. Zögerlich stahl sich ein Lächeln auf meine Lippen. Er wirkte in diesem Moment irgendwie anders. Man könnte fast meinen… charmant.

Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen, den Blick nicht von Emmetts Augen abwendend. Sie lockten mich erneut, doch dieses Mal war es anders. Dieses Mal wollten sie mich nicht verstecken und mich an einen Ort bringen, an dem mir nichts passieren konnte. Dieses Mal wollten sie mir einen Ort zeigen, an dem sie sich Zuhause fühlten. Einen Ort, der nur ihnen gehörte und der noch viel verlockender und einladender war, als das sichere Gefängnis, in das sie mich sonst brachten. Und ich kam dieser Aufforderung nur zu gerne nach.

Mein Herz schlug erneut ein paar Takte schneller, mein ganzer Körper kribbelte und ein warmes Gefühl machte sich in mir breit. Vollkommen willenlos und gefangen in den Augen der süßesten Verlockung, legte ich meine Hand in Emmetts ausgestreckte und ließ mich an einen Ort führen, der mir mehr Frieden schenken sollte als alles andere auf der Welt.

Willenlos ließ ich mich von Emmett in sein Zimmer führen. Zu gebannt war ich von seinen Augen, als dass ich irgendetwas anderes hätte tun können, als ihm zu folgen. Sie strahlten so viele verschiedene Gefühle gleichzeitig aus, sodass mir fast schwindelig wurde. Glück… Vorfreude… Aufregung… und noch ein gutes Dutzend mehr, die ich nicht benennen konnte.

Mein Herz hatte mittlerweile ein Tempo angeschlagen, das jeden Formel 1-Fahrer vor Neid hätte erblassen lassen. Meine Beine waren so weich und zittrig, sie wären mit Sicherheit eingeknickt, würden sie nicht wie von Geisterhand geleitet ihren Weg fortsetzen. Plötzlich blieb Emmett stehen, nicht ohne den fesselnden Blick von mir zu nehmen. Sein Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln, ein aufgeregtes Glitzern spiegelte sich in seinen Augen wieder. Dann trat er einen Schritt zur Seite und gab mir somit den Blick auf sein Zimmer frei.

Es war rechteckig und hell. Cremefarbene Wände und ein weißer Teppich ließen den Raum größer erscheinen, als er in Wirklichkeit war. Rechts von mir befand sich eine Schrankwand, zu beiden Seiten hatte sie zwei große Regale, die bis unter die Decke reichten. In der Mitte befand sich eine Musikanlage und diverse CDs lagen überall verstreut. An den Wänden konnte ich Bilder erkennen, die meisten waren Schwarz-Weiß-Aufnahmen und zeigten irgendwelche berühmten Sportler. Ob sie wohl ein Teil von Emmetts früherem Leben waren?

Fasziniert glitt mein Blick über jedes einzelne und ich musste feststellen, dass ich keinen einzelnen von ihnen kannte. Einmal mehr stellte sich mir die Frage, wie alt Emmett eigentlich war. Wie lange war er schon ein Vampir? In welcher Zeit hatte er gelebt? Und was war letzten Endes seine Geschichte? Der Grund, warum er sich verwandelt hatte. Der Umstand, dem ich es zu verdanken hatte, dass er jetzt ein Teil meines Lebens war? Ob Gott es wohl von Anfang an geplant hatte? Ob er ihn mit Absicht zu einem Vampir werden ließ, nur damit er Jahrzehnte später mein Engel wurde und mich aus meinem kalten, vermoderten Verließ holte? Mein Blick wandte sich von meiner rechten Seite ab und glitt nach vorne. Ich sah einen Schreibtisch mit einem Computer, ein paar Bücher, die sich an der Wand stapelten. Ein Baseballschlager hing an der Wand. Ich konnte einen Schriftzug erkennen und war mir sicher, dass es ein Autogramm von irgendeinem berühmten Spieler war. Ob Emmett das auch aus seinem früheren Leben hatte?

Dann glitt mein Blick weiter und was ich links von mir sah, raubte mir schier den Atem. Unweigerlich traten meine Beine ein paar Schritte vorwärts, dem Szenario, was sich mir bot, entgegen. Mein Herz schlug automatisch schneller, mein Blick wurde glasig. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass Forks so etwas bieten würde, nie geglaubt dass hier ein Ort existieren würde, der so voller… Reinheit und Harmonie strotzte.

Da, wo eigentlich eine Wand sein sollte, war… nichts. Nichts außer einer riesigen Glasfront. Und vor mir erstreckte sich der wohl bewegendste Ausblick, den ich je gesehen hatte. Ich erblickte Bäume, die sich vereinzelt tummelten, freie Wiesen, die sich bis zum Horizont erstreckten, wo sich ein großes, vom Schnee verhangenes Gebirge auftürmte. Und genau in diesem Augenblick begannen die ersten Strahlen der Sonne die markanten Felsen zu kitzeln. Alles färbte sich nach und nach in einem rötlichen Ton. Zuerst wirkte das glitzern des Schnees wie Gold. Dann verfärbte er sich immer mehr ins Rote bis der Eindruck erschien, er wäre von Blut getränkt. Und dennoch, dennoch hatte ich in meinem Leben noch nie etwas Schöneres gesehen.

Heiß traf mein Atem auf die kalte Scheibe vor mir und ließ diese für einen kurzen Moment beschlagen. Ein warmes Gefühl machte sich in mir breit. Es war genauso, wie wenn ich in Emmetts fesselnde Augen blickte. Mein Blick flog nur so über das Bild, ich wollte jede Kleinigkeit für immer in mein Gedächtnis einsperren und nie wieder vergessen. Es war eines der wenigen Bilder, bei denen man das Gefühl bekam, dass Gott diese Welt wirklich erschaffen hatte. Denn so viel Reinheit konnte nicht einfach aus dem Nichts entstanden sein.

„Wow“, kam es mir über die Lippen und dennoch hatte ich das Gefühl, es käme dieser Aussicht nicht einmal ansatzweise gerecht.

Ich spürte wie Emmett dicht hinter mich trat, sich zu mir herunter beugte und mir leise ins Ohr flüsterte: „Gefällt es dir?“ Ein wohliger Schauer breitete sich in meinem ganzen Körper aus, als sein kalter Atem auf meine Wange traf. Das Kribbeln, das der Anblick dieser Aussicht auslöste, wurde durch diese kurze Geste seinerseits nur noch verstärkt. Ich drehte meinen Kopf leicht zu ihm, zwang meine Augen regelrecht dazu, den Blick von dieser schönen Aussicht abzuwenden, in dem Wissen, dass mir danach nur eine noch schönere geboten wurde. Emmetts Augen strahlten mich hell und freundlich an. Und in diesem Augenblick wusste ich, dass nichts mich mehr fesseln würde… nichts mir schöner vorkommen würde, als seine karamellfarbenen Augen. Kein noch so schön gemaltes Bild… kein von Gott erschaffener Ausblick… kein Sonnenuntergang.

„Es ist wunderschön“, flüsterte ich.

Emmett zuckte nur mit den Schultern. „So habe ich das eigentlich nie betrachtet.“ Entgeistert sah ich ihn an. Das konnte nicht sein Ernst sein! Er hatte das wohl beste Zimmer im ganzen Haus und merkte es nicht einmal?! Als hätte er meine Gedanken gelesen, legte sich ein breites Grinsen auf seine Lippen und er fügte hinzu. „Ich hab damals nur das Zimmer genommen, was übrig war. Alice war es zu klein und Edward wollte lieber das am Ende des Flures bewohnen, um ab und zu seine Ruhe zu haben. Also blieb nur noch das übrig.“ Ein erneutes Schulterzucken seinerseits.

Ungläubig blickte ich ihn an. Er beliebte zu scherzen. Mein Mund klappte auf und wieder zu, verzweifelt auf der Suche nach den richtigen Worten. Doch mir fiel nichts ein, was ich darauf hätte erwidern können. Es war einfach zu… absurd.

„Aber wenn es dir so gut gefällt…“, begann er und drehte sich um. Verwundert sah ich ihm zu, wie er eine große, braune Ledercouch, die vor einem großen Plasmafernseher stand und die durch meine Begeisterung für den Ausblick völlig in meiner Wahrnehmung untergegangen war, mit einer einzelnen, leichten Handbewegung zu mir herüber zog und sie hinter mich stellte. Einen Moment sah ich Emmett nur verwundert an, dann nahm er grinsend meine Hand in seine, ließ sich auf die Couch fallen und zog mich mit. Mit einem leisen, verwunderten Aufschrei fiel ich gegen seine steinerne Brust und saß letzten Endes halb auf ihm und halb auf der Couch.Überrascht blickte ich in seine strahlenden, karamellfarbenen Augen und war nicht fähig, den Blick zu senken. Meine Brust hob und senkte sich in unregelmäßigen Abständen, mein Herz schlug wieder schneller und ein warmes Kribbeln breitete sich in meinem gesamten Körper aus. Ich wollte, dass dieser Moment niemals endete.

„Wenn es dir so gut gefällt, …“, flüsterte er in mein Ohr und nahm somit den Satz von vorhin wieder auf, „… dann können wir ihn uns gerne jeden Tag ansehen.“ Ich spürte, wie sich ein Brennen auf meinen Wangen ausbreitete. Wie mein Herz einen Takt anschlug, dem ich nicht mehr folgen konnte und wie mein Magen mehrere Purzelbäume hintereinander vollführte. Er wollte sich das jeden Tag ansehen – mit mir.

Ich konnte nicht mehr klar denken. Jeder vernünftige Satz war aus meinem Kopf verschwunden, stattdessen fühlte es sich an, als hätte ich da oben nur noch eine breiige Masse – willenlos und vollkommen benebelt.

Er zog mich noch ein Stück näher zu sich heran, nahm dann die große Decke von der Rückenlehne herunter und warf sie über mich. Verträumt sah ich ihn an, während er sie fest um mich wickelte und mich dann wieder breit angrinste. Womit hatte ich das verdient? Womit hatte ich so jemanden verdienten? Jemanden wie ihn – einen Engel? Durfte ich daran glauben, dass er das gleiche für mich empfand, wie ich für ihn? Durfte ich daran festhalten, dass für mich so jemand vorbestimmt war?

„Damit dir nicht kalt wird“, flüsterte er breit grinsend. Mein Herz setzte bei diesen Worten für einen Moment aus. Unablässig starrte ich Emmett an, ließ mich bereitwillig von seinen Augen gefangen nehmen. Und in diesem Moment tat ich etwas total Egoistisches. In diesem Moment sah ich Emmett als meinen Engel an. In diesem Moment bestimmte ich ihn zu meinem Engel. Und ich entschied mich dazu, ihn nie wieder loszulassen.

„Du verpasst noch den ganzen Sonnenuntergang, wenn du mich weiter so anstarrst“, holte er mich mit seiner tiefen Stimme wieder in die Realität zurück. Ich blinzelte ein paar Mal überrascht, dann wurde mir die Bedeutung seiner Worte bewusst und die Röte schoss mir ins Gesicht. Ruckartig wandte ich meinen Blick von ihm ab und konzentrierte mich auf den Sonnenuntergang der sich mir bot. Ich versuchte mein Herz wieder zu stabilisieren und das Brennen auf meinen Wangen einzudämmen. Doch die Tatsache, dass mich Emmett immer noch breit grinsend von der Seite ansah, erleichterte es mir nicht gerade.

Dann, ganz plötzlich, lehnte er sich ein Stück zu mir herunter und flüsterte mir ins Ohr: „Nicht, dass ich dagegen etwas einzuwenden hätte.“

Hörbar scharf sog ich die Luft ein. Ich gab jegliche Versuche auf, mich und meinen Körper wieder zu beruhigen – es nützte sowieso nichts. Wie konnte es sein, dass mich Emmett mit einem einzigen Satz so aus der Bahn warf? In diesem Moment wünschte ich mir, ich hätte nur ein Mal die gleiche Wirkung auf ihn. Nur ein einziges Mal wollte ich ihn so sprachlos werden lassen, wie er es immer mit mir tat.

In Gedanken versunken betrachtete ich den Ausblick vor mir. Die Sonne war schon beinahe untergegangen, ein tiefroter Schimmer legte sich über die Landschaft und bereitete diese somit auf die Nacht vor. Die Zeit schien in diesem Moment still zu stehen. Unweigerlich schossen mir Bilder der letzten Wochen in den Kopf. Mein Umzug nach Forks… der erste Tag an der Forks High… die erste Begegnung mit Emmett und wie er fast auf mich losgegangen wäre. Ein leichtes Lächeln stahl sich bei dieser Erinnerung auf meine Lippen. Was ihn damals wohl davon abgehalten hatte, mir etwas anzutun? Es hatte für mich danach ausgesehen, als könne er meinen Geruch nicht ertragen. Als wollte er seiner vermutlich brennenden Kehle Erlösung verschaffen.

Nachdenklich kaute ich auf meiner Unterlippe herum. Ob wir uns trotzdem näher gekommen wären, wenn das alles nicht passiert wäre? Wenn er nicht das Bedürfnis gehabt hätte, sich zu entschuldigen? Wenn wir beide nicht Chemie zusammen hätten?Bei dem Gedanken an Chemie erinnerte ich mich plötzlich, warum ich hier eigentlich lag und richtete mich urplötzlich auf. Aufgebracht sah ich Emmett an, der mich zum Teil geschockt, zum Teil leicht überfordert aufgrund der plötzlichen Reaktion meinerseits ansah. „Was…?“, begann er, doch ich schnitt ihm das Wort ab.

„Ich habe deine Bedingung erfüllt, jetzt musst du deinen Teil der Abmachung einhalten“, sprudelte es aus mir hervor. Über seiner Stirn bildete sich eine Falte und an seinem Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass er mir nicht ganz folgen konnte. „Du hast gesagt, wenn ich mit dir am Samstag ausgehe, erzählst du mir, was du neulich in Chemie zu mir sagen wolltest“, fügte ich hinzu. Ohne groß darüber nachzudenken, was ich eigentlich tat, war ich unweigerlich etwas mehr zu ihm herangerückt und starrte ihm nun tief in die Augen.

Einen kurzen Augenblick war Emmett über meine Offensive überrascht, dann stahl sich ein breites Grinsen auf seine Lippen. „Du wirst wohl nie nachgeben, oder?“ Ich schüttelte energisch den Kopf. In diesem Moment wollte ich mit solch einer Intensität wissen, was er mir sagen wollte, dass alles andere nebensächlich erschien. Selbst die Gefangennahme seiner Augen. Emmett hatte Recht. So schnell würde ich nicht klein beigeben.

Er seufzte kurz, dann sah er mich schief an. „Weißt du, es kann ganz schön gefährlich sein, wenn man zu neugierig ist. Für manche Ohren sind bestimmte Dinge einfach nicht gedacht.“

Ich wollte protestieren, öffnete meinen Mund für eine Erwiderung, doch in genau diesem Moment brachte Emmett mich zum Schweigen, indem er sanft, aber bestimmend, seine Lippen auf die meinen legte.

Überrascht weiteten sich meine Augen, mein Herz schlug wieder schneller, schlug mir bis zum Hals und stellte somit einen neuen Rekord auf. Ein Kribbeln erfasste meinen ganzen Körper. Ich wollte Luft in meine Lungen saugen, doch Emmett vereitelte dies, indem seine Lippen fortwährend heiß auf meinen brannten. Und dann… dann gab ich auf. Jeglicher Gedanke war aus meinem Kopf verflogen. Ich hatte das Gefühl, dass sich mein Gehirn erneut in eine breiige Masse verwandelte, deren einzige Aufgabe darin bestand, willenlos zu genießen.

Unweigerlich schlossen sich meine Augen, ich wollte mich in diesem Moment nur auf die weiche Liebkosung an meinen Lippen konzentrieren. Mir wurde heiß und kalt zugleich. Jede Berührung seinerseits schoss Stromstöße durch meinen gesamten Körper und hätte ich nicht gesessen, hätten meine Beine unweigerlich unter meinem Gewicht nachgegeben, so zittrig fühlten sie sich in diesem Augenblick an.

Trotz der Kühle, die er ausströmte, hatte ich das Gefühl innerlich zu verbrennen. Überraschend weich lagen seine Lippen auf meinen, liebkosten sie… beschützten sie. Ich konnte sein Lächeln in unserem Kuss spüren. Er war so sanft, wie ich es ihm nie zugetraut hätte. So zärtlich, dass es mich leicht aufseufzen ließ. Das Gefühl dieses Kusses war mit nichts anderem auf der Welt vergleichbar – ich kostete ein Stück Himmel.

In diesem Moment vollbrachte ich meine zweite egoistische Tat an diesem Tag. Ohne groß darüber nachzudenken, krallte ich meine Hände in Emmetts Shirt. Ich wollte nicht, dass er sich löste, ich wollte nicht, dass er jemals damit aufhörte. War das vielleicht Sünde? War es vielleicht ein egoistischer Gedanke, dass das Geschenk eines Engels nicht rechtfertigte? Würde ich dafür in der Hölle schmoren? Wenn dem so war, dann war mir das in diesem Moment egal. Mir war es egal, ob ich Emmett vielleicht nicht verdient hatte. Mir war es egal, ob ich den Rest meines Lebens in Angst leben musste. Mir war alles egal. Er sollte nur nicht damit aufhören, nur nicht seine kalten Lippen von meinen nehmen. Doch er musste. Und er tat es auch. Denn der Sauerstoff in meinen Lungen hatte bereits rapide abgenommen.

Mein Atem keuchte, mein Blick wurde glasig und ich spürte die Röte auf meinen Wangen brennen. Ich war mir sicher, dass Emmett in diesem Moment einmal mehr wusste, welche eine Wirkung er auf mich hatte. Und die Angst vor einer Ablehnung machte sich umso mehr bemerkbar.

Einen Moment saßen wir stillschweigend da, während ich versuchte mich wieder zu beruhigen. Meine Augen waren erneut von seinen gefangen genommen und ich spürte seinen prüfenden Blick. Emmett sah aus wie immer. Er erweckte den Eindruck, als hätte er gerade nichts anderes gemacht, als Blumen zu gießen. Und dennoch konnte ich das Funkeln in seinen Augen nicht übersehen.

Dann, ganz plötzlich, stahl sich wieder sein breites Grinsen auf seine Lippen und mit einem leicht amüsierten Unterton sagte er: „Ich denke, das ist Aussage genug.“ Ohne etwas Weiteres hinzuzufügen, umschlang er mich mit seinen starken Armen und zog mich wieder an seine Brust.

Die Sonne war mittlerweile untergegangen und ich konnte mich in der großen Glasscheibe spiegeln. Ich sah ein Mädchen. Ein Mädchen, das mir sehr ähnlich sah. Und dennoch erkannte ich mich nicht wieder. Die rosigen Wangen… das Glitzern in den Augen… das leichte Lächeln, das sich einfach nicht einstellen ließ. Ich hatte mich, ohne dass ich es bemerkte hatte, vollkommen verändert. Und daran war nur Emmett schuld. Ein warmes Gefühl, das mich noch den Rest des Abends begleitete, zeigte mir, dass diese Veränderung gut war – und dass sie unweigerlich etwas mit Emmett zu tun hatte.

 

Den Rest des Abends bewegten wir uns nicht vom Fleck. Emmett begann über sein Leben zu erzählen. Davon, dass sein richtiger Name Emmett McCarty war, dass er 1915 geboren wurde und gute zwanzig Jahre später in den Bergen von Tennessee von Carlisle verwandelt wurde, nachdem dieser ihm nach einem Bärenangriff gefunden hatte. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken bei der Vorstellung wie Emmett irgendwo im Wald lag, von Kälte umfangen und vermutlich voller Schmerzen. Unweigerlich krallte ich mich ein Stück mehr in die Decke.

Er erzählte mir von ihrem Lebensstandard, davon wie sie immer umgezogen waren, was sie alle erlebt hatten und letztendlich wovon sie sich ernährten. Ein ungläubiges Lächeln stahl sich auf meine Lippen, als Emmett mir erzählte, dass seine Vorlieben Grizzlys waren. Welch ironische Streiche einem doch manchmal das Schicksal spielen konnte.

Und während Emmett in seiner Erzählung ohne Umschweife fortfuhr, wurden meine Augen immer schwerer und ich driftete in einen Schlaf ab, wie ich ihn schon lange nicht mehr hatte. Denn zum ersten Mal seit langem, war ich sicher, dass ich nicht allein sein würde, wenn ich wieder aufwachte.

 

Ich saß an unserem Flügel. Energisch und ohne irgendeine Art von Rhythmus schlug ich mit meinen kleinen Fingern immer wieder auf die verschiedensten Tasten. Ein breites, glückliches Lächeln stahl sich auf mein Gesicht und mit meinen großen Kulleraugen blickte ich hoch zu meiner Mutter.

Sie saß neben mir auf dem Hocker. Ihre langen, blonden Haare umschmeichelten ihr liebliches Gesicht und das zauberhafte Lächeln, das sie immer auf den Lippen trug, wenn sie mich ansah, verlieh ihr das Aussehen eines Engels. Meines Engels.

Sanft flogen ihre langen, schlanken Finger über die Tasten und erzeugten eine kurze, liebliche Melodie. Eine plötzliche Wärme umschloss mein Herz, umhüllte es und wiegte es in unaussprechlicher Liebe. Mein Lächeln wurde breiter und ein erfreutes Quieken kam mir über die Lippen. Ich wollte es meiner Mutter gleichtun, wollte die gleiche Melodie spielen wie sie. Ich schlug auf die Tasten, wie im Wahn drückte ich sie immer wieder herunter. Abgehackte Töne drangen durch den Raum, ein Wirrwarr aus den verschiedensten Konstruktionen.

Das leise Lachen meiner Mutter drang an meine Ohren und ich blickte auf. In ihren Augen konnte ich sehen, wie glücklich sie war. Wie der Versuch es ihr gleichzutun sie erfreute. Obwohl es nicht zusammenhängende Töne waren, obwohl mein Spiel nicht den Hauch einer Melodie aufwies, sah sie so aus, als wäre es das Schönste, das sie je gehört hatte.

Ich spielte immer weiter, schlug immer härter und wilder auf die Tasten ein. Denn ich wollte sie erfreuen. Wollte, dass sie das gleiche bei meiner Musik fühlte, wie ich bei ihrer. Ich wollte, dass sie nur mir zuhörte. Ein weiteres Quieken entkam meinen Lippen und ich wollte nicht mehr aufhören. Plötzlich wurde ich an den Seiten gepackt und hochgehoben. Einen Moment war ich verwirrt, als ich sah, wie sich die Tasten unter meinen Füßen immer weiter entfernten, dann blickte ich in das lächelnde Gesicht meines Vaters.

„Dadda“, quiekte ich vergnügt und grabschte mit meinen Händen nach seinem Gesicht. Er lachte warm, als ich ihn versehentlich in die Wangen kniff. Meine Mutter erhob sich ebenfalls und stellte sich genau neben mich. Sanft strich sie mit ihren Händen durch mein Haar. Wärme lullte mich ein und unweigerlich streckte ich mich der beschützenden Hand entgegen.

Ich hörte, wie mein Vater etwas sagte, spürte die Vibration in seiner Brust und sah aus den Augenwinkeln, wie meine Mutter lachte. Dann setzte sie sich wieder an den Flügel und begann zu spielen. Elegant und leicht flogen ihre Finger über die Tasten und erweckten den Eindruck, als wäre es das Leichteste auf der Welt. Eine Melodie erfüllte den Raum, die mich alles andere vergessen ließ.Mit meinen damaligen zwei Jahren wusste ich noch nicht viel über die Musik. Ich verstand weder ihre Konstruktion, noch die Komposition, derer sie zu Grunde lag. Ich wusste nur, dass auch ich solch eine liebliche Melodie spielen wollte. Dass ich diesen weißen und schwarzen Gebilden die gleichen Töne entlocken wollte, wie meine Mutter. Und dass ich meine Eltern damit erfreuen wollte.

Denn sie waren meine Engel. Und ich wollte ihnen ein engelsgleiches Geschenk bereiten.

 

Als ich aufwachte, glaubte ich für einen kurzen Moment wieder Zuhause zu sein. Ich glaubte, an unserem Flügel zu sitzen, die weißen Tasten anstarrend und überlegend, welche Melodie ich ihnen wohl dieses Mal entlocken konnte. Ich glaubte, meine Mutter würde wieder neben mir sitzen, mich engelsgleich anlächeln und mir sagen, wie stolz sie auf mich wäre. Wie gern sie mir zuhörte, wie jedes Mal ihr Herz in Brust vor Glück zersprang, wenn ich eine ihrer Kompositionen spielte.

Doch als ich meine Augen aufschlug, wusste ich, dass alles nur ein Traum gewesen war. Dass ich nicht Zuhause war. Dass meine Mutter nicht neben mir saß. Dass sie mir nicht sagte, wie stolz sie war. Nie wieder.

Und dennoch… dennoch schmerzte es nicht so sehr, wie ich vermutete. Denn aus irgendeinem Grund, hatte ich trotz allem das Gefühl, meinen Engel nicht verloren zu haben.

Ich blinzelte ein paar Mal und blickte auf die sich vor mir erstreckende Landschaft. Ein Nebelschleier umfing die Bäume, schlängelte sich durch sie hindurch und versuchte die Spitze des Gebirges zu kitzeln. Kurz war ich verwirrt, immerhin war dies nicht das übliche Bild, welches sich mir bot, wenn ich aufwachte. Ich versuchte meinen Blick umherschweifen zu lassen, wollte meinen Kopf heben und mich umsehen, in der Hoffnung, meine Umgebung wieder zu erkennen. Doch ich konnte nicht. Mein ganzer Körper fühlte sich schlaff an, nicht fähig, auch nur irgendeine Reaktion von sich zu geben. Ich wollte nicht aufstehen, wollte nicht diesen Ort verlassen, der mir unerklärlicherweise Schutz und Geborgenheit bot.

In diesem Moment wollte ich nichts tun und an nichts denken. Nicht daran, wie spät es vielleicht schon war. Nicht daran, dass ich vielleicht zur Schule musste und Verpflichtungen hatte. Zum ersten Mal hatte ich Lust, einfach mal den ganzen Tag liegen zu bleiben.Doch mein Magen vereitelte diesen Plan. Denn ein lautes Knurren erfüllte plötzlich den Raum. Ich spürte, wie eine Vibration den Untergrund erfasste, auf dem ich lag, wie ein Geräusch an meine Ohren drang. Es war dumpf, kaum definierbar. Als wäre ich unter Wasser und versuchte den Tönen außerhalb zu lauschen. Ich versuchte mich zu konzentrieren, mein Gehör zu schärfen und das Geräusch zu identifizieren.

Langsam, ganz langsam klärte es sich, nahm Form an und symbolisierte sich als Gelächter. Als ein herzhaftes, fast schon brummiges Lachen. Und als es an meine Ohren drang, als es sich einen Weg bis zu meinem innersten Selbst erkämpft hatte, wusste ich plötzlich, wem es gehörte und eine unglaubliche Welle der Energie erfüllte mich. Weg war die Trägheit, weg war das Gefühl, sich nicht bewegen zu können. Mein ganzer Körper kribbelte vor Aufregung, ich hatte das Gefühl, Bäume ausreißen zu können und mein Denken wurde nur von einer einzigen Person beherrscht.

Emmett.

Erwartungsvoll richtete ich mich auf, mein Herz schlug wieder schneller, es fühlte sich an, als ob mein Brustkorb es kaum mehr halten konnte. Ich wollte ihn sehen, wollte in seine warmen, karamellfarbenen Augen blicken und den gleichen Schutz spüren, den er mir jedes Mal gab. Und da saß er. In der gleichen Position wie gestern. Es war, als hätte er sich keinen Millimeter gerührt. Und als ich in seine Augen sah, wusste ich, dass das der Fall war.

Warm funkelten sie mich an, ließen mich keinen Augenblick lang entkommen. Als hätte ich auch nur eine Sekunde lang, die wahnwitzige Idee haben können, dies zu tun. Ein Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus, mein Herz schlug einen Takt schneller und ich wollte ihm gerade einen guten Morgen wünschen, da fragte er plötzlich: „Amylin, geht es dir gut?“ Seine Stimme klang besorgt und ich sah, wie sich eine kleine Falte über seiner Stirn bildete.

Verwirrt sah ich ihn an. Wie kam er nur darauf, dass es mir nicht gut gehen würde? War mein Lachen nicht Beweis genug, dass ich mich wunderbar fühlte? „Hattest du einen Albtraum?“

Nein, im Gegenteil!, wollte ich antworten, doch ich konnte nicht. Aus irgendeinem mir  unerklärlichen Grund konnte ich keinen Ton herausbringen. Vielleicht war ich doch noch nicht richtig wach? So schüttelte ich nur mit dem Kopf und lächelte wieder. 

„Und warum weinst du?“ Jetzt brachte er mich vollkommen aus dem Konzept. Warum glaubte er, dass ich weinte?

Doch als ich unbewusst an meine Wangen fasste, kannte ich plötzlich den Grund. Nässe traf auf meine Finger und als ich mit der Zunge über die Lippen fuhr, schmeckte ich Salz.

Ich hatte geweint. Als ich geschlafen hatte, waren mir die Tränen gekommen.

„Amylin.“ Emmetts Hände umfassten mein Gesicht und die Kühle, die von ihnen ausging, hatten eine wohltuende Wirkung auf meine brennenden Wangen. „Hattest du wirklich keinen Albtraum?“ Energisch und dennoch voller Sorge sah er mich an. In seinen Augen konnte ich lesen, dass er in diesem Moment alles für mich tun würde. Alles nur Nötige, um mir meine Schmerzen zu nehmen.

Doch ich hatte keine Schmerzen… im Gegenteil.

Erneut legte sich ein warmes Lächeln auf meine Lippen, langsam hob ich meine Hände, umschlang Emmetts Hals und zog mich ganz dicht zu ihm heran. In diesem Moment wollte ich ihn beruhigen. Ich wollte ihm Geborgenheit geben… Geborgenheit und genau den gleichen Schutz, wie er ihn mir immer gab. „Ich hatte keinen Albtraum“, flüsterte ich dicht neben seinem Ohr und war dankbar, meine Stimme wieder gefunden zu haben. „Ich habe mich nur an etwas erinnert. An etwas Schönes.“

Einen Moment lang hing ich an seinem Hals, atmete seinen mir wohlbekannten Geruch ein und legte unwillkürlich meinen Kopf in seine Halsbeuge. Dann umschlangen mich plötzlich zwei kräftige Arme und drückten mich näher zu sich heran. Ein entspannter Seufzer entfuhr mir und ich hätte vermutlich den ganzen Tag an Emmetts Hals verbracht, hätte sich mein Magen nicht erneut lautstark zu Wort gemeldet. Röte schoss mir in die Wangen, als ich mir der peinlichen Situation bewusst wurde.

Emmett hingegen lachte nur. „Warte kurz. Ich mach dir etwas zum Frühstück.“ Sanft und dennoch bestimmend löste er meine Hände von seinem Hals und schenkte mir ein breites Grinsen. Kurz, für meinen Geschmack etwas zu kurz, verweilten seine kalten Lippen auf meiner Stirn, dann war er auch schon aufgestanden und hatte das Zimmer verlassen.

Einen Moment saß ich verwirrt auf der Couch, nicht wissend, was ich hätte tun sollen. Dann überkam mich plötzlich ein mulmiges Gefühl und eine ungute Vorahnung machte sich in meinem Kopf breit. Emmett wollte für mich etwas kochen. Beim letzten Versuch hatte er meine Küche in ein regelrechtes Schlachtfeld verwandelt.

Ohne groß darüber nachzudenken sprang ich plötzlich von der Couch auf, lief aus seinem Zimmer und rannte die Treppen herunter, immer zwei Stufen gleichzeitig nehmend. Als ich um die Ecke bog, sah ich, wie Emmett einen Karton mit Eiern aus dem Kühlschrank holte. 

„Hinstellen!“, platzte es aus mir heraus.Überrascht und mit hochgezogener Augenbraue wandte sich Emmett zu mir um, machte jedoch keinerlei Anstalten, meiner Aufforderung nachzukommen.

„Was…?“, begann er, doch ich schnitt ihm das Wort ab. „Stell es einfach wieder hin.“

Die Kühlschranktür flog zu und ich konnte das Klappern der Milchfalschen hören. Ich verkniff es mir, ihn darauf hinzuweisen, dass ein Kühlschrank kein Panzer war.

Ein amüsiertes Lachen drang aus Emmetts Mund. „Keine Angst. Ich werde dich schon nicht vergiften.“

„Das ist im Moment meine geringste Sorge“, erwiderte ich, trat um die Kochinsel herum und stellte mich neben ihn. Leicht vorwurfsvoll sah ich ihn an. „Ich erinnere mich noch zu gut daran und ich denke du auch, was bei deinem letzten Kochversuch passiert war. Ich frage mich immer noch, wie du es geschafft hast, dass die Tomatensoße sogar an der Decke klebte.“

Einen Moment sah Emmett so aus, als wüsste er nicht recht, was er jetzt machen sollte. Lachen oder nach einer Erklärung suchen. „Stell es einfach hin“, betonte ich jedes Wort einzeln und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Einen kurzen Augenblick schien er wirklich etwas erwidern zu wollen. Offensichtlich war er nicht jemand, der einfach so klein beigab. Das erinnerte mich irgendwie an mich selbst.

Doch glücklicherweise kam mir Alice in diesem Moment zur Hilfe. „Glaube mir, Emmett. Du solltest es wirklich Amylin überlassen. Ich sehe schon, wie Esme wütend wird, wenn sie das Chaos entdeckt.“ Ein breites, zauberhaftes Lächeln umspielte ihre Lippen und sie streckte ihm leicht die Zunge raus. Emmetts Blick wanderte von mir zu Alice und wieder zurück. Dann, nach endlos langen Sekunden, gab er es endlich auf und stellte die Schachtel Eier auf die Arbeitsfläche, nicht ohne noch ein „Frauen gehören eh an den Herd“ zu murmeln, nachdem er sich abgewandt hatte.

„Das habe ich jetzt freundlicherweise überhört. Sonst würdest du morgen nämlich mit einem pinkfarbenen Jeep zu Schule fahren“, lächelte Alice weiterhin süß.

Ein tiefes Brummen entkam Emmetts Hals und einen kurzen Moment lang sah er so aus, als wollte er auf sie losgehen. Dann schien ihm plötzlich wieder einzufallen, dass ich im Raum war, denn er warf einen kurzen, besorgten Blick zu mir herüber, bevor er sich endgültig abwandte und es sich neben Jasper auf der Couch bequem machte, der sich gerade ein Baseballspiel im Fernsehen ansah.

Unwillkürlich atmete ich erleichtert aus und wandte mich dann der Schachtel Eier zu. Kurzum durchstöberte ich die Regale und holte aus einem eine große Pfanne heraus.

„Warte, ich helfe dir“, sagte Alice vergnügt und stand im Bruchteil einer Sekunde schon neben mir. Kurz musterte sie die Pfanne und die Eier, dann fügte sie hinzu: „Allerdings musst du mir erklären, wie es geht. Denn ich bin mir sicher, dass ich noch nie gekocht habe. Oder es ist so lange her, sodass ich es wieder vergessen habe.“ Sie lächelte mich keck an und ich kam nicht umhin, ihr Lächeln zu erwidern. Irgendetwas sagte mir, dass Alice sich weitaus geschickter anstellen würde, als Emmett.

 

 „Zuerst musst du die Pfanne warm werden lassen“, erklärte ich Alice im fachmännischen Ton. Begeistert und mit einem Glitzern in den Augen schaute sie die Pfanne an und hörte mir aufmerksam zu.

In der letzten Viertelstunde hatte sie sich sehr geschickt angestellt. Sie hatte die Eier geöffnet, ohne dass auch nur ein Stück Schale mit in die Schüssel fiel. Dann hatte sie unter meiner Anleitung frische Kräuter geschnitten, sie dazugegeben und alles mit einer Gabel umgerührt, damit daraus eine einzige, flüssige Masse wurde.

Immer wieder war ich darüber erstaunt, mit was für einer Faszination Alice diese Aufgaben verrichtete. Des Öfteren hatte ich das Gefühl, eher ein Kind vor mir zu haben, als ein Mädchen, das vermutlich den Krieg miterlebt hatte. 

„Erzähl mal, wie ist es so in New York?“, riss sie mich plötzlich aus meinen Gedanken. Sie hatte ihre Aufmerksamkeit von der Pfanne gelöst und sah mich nun lächelnd an. Einen Moment war ich aufgrund des plötzlichen Themenwechsels verwirrt, dann dachte ich ernsthaft über ihre Frage nach. Wie war New York so? Laut?! Überfüllt?! Bunt?! „Hat es dir dort gefallen?“, hakte sie nach.

„Nun…“, hob ich zu einer Antwort an, während ich immer noch nach den richtigen Worten suchte. Meine Erinnerungen waren nicht ganz klar, verschwammen vor meinen Augen, immer dann, wenn ich mich auf sie konzentrierte. Zu lange schon hatte ich sie in meinem Verließ eingesperrt. Was also konnte ich Alice erzählen?

„Es war… es war okay.“ Etwas Besseres viel mir im Moment nicht ein.

„Also ist es nicht so gut, wie alle immer behaupten?“

„Was heißt nicht so gut?“, zuckte ich leicht mit den Schultern. „Ich wurde dort geboren, bin dort aufgewachsen bis ich vierzehn war. Ich sehe die Stadt mit anderen Augen, als jemand, der dort Urlaub macht. Für jemanden von hier oder aus anderen Städten wird New York auf den ersten Blick umwerfend sein. Überall blinkt und leuchtet es, man weiß im ersten Moment nicht, wo man hinsehen soll. Es ist laut, ständig hupt jemand oder ein Krankenwagen mit eingeschalteter Sirene fährt an einem vorbei. Nicht umsonst nennt man New York die Stadt, die niemals schläft. Aber wenn man dort lebt, wenn man damit aufwächst und nie etwas anderes gesehen hat, dann verzaubert es einen nicht mehr. Man sieht es als ganz normal und natürlich an. Und dann ist es eigentlich, als würde man in jeder anderen Stadt wohnen. Dann verzaubern dich Städte wie Forks mehr, auch wenn diese für andere eher eintönig wirkt.“

Gespannt hatte Alice meiner Schilderung gelauscht. Ich konnte an dem Leuchten in ihren Augen erkennen, wie sie es sich bildlich vorstellte. Die riesigen Leuchtreklamen, die Menschmassen, denen man tagtäglich auf der Straße begegnete, die überfüllten Geschäfte.

Ihr Lächeln wurde breiter. „Und hast du noch Kontakt zu jemandem dort?“

„Alice, hör auf Amylin so auszuquetschen. Du überrumpelst sie doch regelrecht“, mischte sich Emmett plötzlich in das Gespräch mit ein. Er saß immer noch auf der Couch und schaute sich das Spiel an.

Ein kleines Lachen entrann Alice Hals. „Ach komm, Em. Als wenn du nicht genauso neugierig wärst wie ich. Vor allem muss es dich doch interessieren, wen sie dort alles kennen gelernt hat, oder nicht? Ich habe gehört, die Männer in New York sollen ganz ansehnlich sein.“  

Ich glaubte ein leises Brummen aus der Richtung zu hören, in der Emmett saß, doch sicher war ich mir nicht.

„Also, …“, wandte sie sich mir wieder zu, „… hast du noch zu jemandem Kontakt?“

„Aus New York nicht mehr“, antwortete ich ihr, während ich die Eiermasse in die mittlerweile heiße Pfanne gab und umrührte. „Aber mit meinen engsten Freunden aus New Orleans schreibe ich mir des Öfteren noch E-Mails.“

„Ja? Und wie sind sie so?“ Ich musste kurz lachen, als ich in Alice gespanntes Gesicht blickte. Sie sah aus, als handelte es sich dabei um eine ganz besondere Attraktion.

„Nun, wie Freunde eben sind. Sie sind… sie ergänzen mich irgendwie. Sie bringen mich zum Lachen. Sie albern dauernd herum. Sie sind total unterschiedlich vom Charakter her und passen dennoch gut zusammen. Ich vermisse sie oft.“ Beständig rührte ich die mittlerweile feste Eiermasse um und starrte dabei auf den Holzlöffel. Ich vermisste sie alle wirklich. Doch mittlerweile gehörten sie zu genau dem gleichen Leben, das ich hinter meiner dicken Mauer verbarg und gut behütete. Eigentlich wäre es das Beste, wenn ich sie vergaß. Sie vergaß und den Kontakt zu ihnen abbrach. Doch es war eine Schwäche von mir, dass ich das nicht konnte. Und ich wusste, dass ich es irgendwann einmal bereuen würde. Dass es irgendwann ein riesiger Fehler sein würde.

„Guten Morgen, Amylin“, hörte ich plötzlich eine samtene Stimme hinter mir und verwundert drehte ich mich um. Esme stand im Eingang der Küche und lächelte mich liebevoll an. Ich spürte ein leichtes Zögern in ihren Augen, wie als wäre sie nicht sicher, ob es das Richtige war, was sie gerade tat. Ich erwiderte ihr Lächeln und wünschte ihr ebenfalls einen guten Morgen.

„Hast du gut geschlafen?“ Ich konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie sich Emmett eine Spur weiter aufrichtete und hätte schwören können, dass seine Aufmerksamkeit nun mehr auf unserer Unterhaltung lag, als auf dem Spiel, das er vorgab zu schauen.

„Wunderbar“, antwortete ich ihr und das war auch die Wahrheit.

Ihr Lächeln wurde breiter und interessiert kam sie ein paar Schritte näher. „Kochst du dir etwas zum Frühstück?“

Ich nickte, während ich mich wieder dem gemachten Rührei zuwandte, den Herd ausschaltete und alles auf einen großen Teller füllte.

„Es tut mir leid, dass wir nicht viel hier haben. Ich hatte nicht geahnt, dass du über Nacht bleiben würdest, sonst hätte ich selbstverständlich vorher eingekauft.“ Ihr Lächeln war immer noch genauso liebevoll, wie am Anfang. Eine Wärme lullte mich ein, die mich unweigerlich an meine Mutter denken ließ.

„Kein Problem. Ich esse eh nie viel, also machen Sie sich bitte meinetwegen keine Umstände.“

 

Oliver Wendell Holmes hat einmal gesagt: Wo wir lieben ist unser Zuhause. Ein Zuhause, welches unsere Füße verlassen können, jedoch nicht unser Herz.

Mit geschlossenen Augen und einem leichten Lächeln auf den Lippen, das sich einfach nicht einstellen ließ, gab ich dem Verlangen nach und lehnte mich an ihn an, den Kopf auf seiner Schulter. Eine Kälte durchfuhr meinen ganzen Körper und kurz zitterte ich. Es war so ungewohnt. So fremd. Und dennoch fühlte es sich nicht falsch an. Dennoch wollte ich mich keinen Zentimeter entfernen.

Ich nahm den stählernen Körper unter meinen heiß brennenden Wangen war, merkte das Spielen der Muskeln, als er sich plötzlich bewegte und mich auf seine Brust zog. Mein Lächeln wurde breiter, als ich spürte, wie eine weiche Decke über mich geworfen wurde. Die ganze Zeit über hielt ich meine Augen geschlossen und konzentrierte mich nur auf den Körper, der unter mir lag. Auf das Heben und Senken der Brust, wenn er atmete, obwohl er es nicht musste. Auf den kalten Windhauch, der auf mein Haar traf, jedes Mal, wenn er wieder ausatmete. Ein Kribbeln, das nichts mit der Kälte zu tun hatte, erfüllte meinen Körper und ließ mich wohlig seufzen. Mir war bewusst, dass wir nicht alleine waren. Dass Alice und Jasper sich das Spiel ebenfalls ansahen. Dass Esme jeden Augenblick von ihrem Buch, das sie still auf der anderen Seite des Raumes las, aufsehen konnte. Dass Edward und Bella jeden Augenblick zur Tür hereinkommen konnten. Doch es war mir egal. Denn es fühlte sich so richtig an. Als gehörte ich an diese Stelle, an seine Seite und nirgendwo sonst hin. Und in diesem Moment wusste ich, dass das mein Zuhause war. Hier, bei ihm.

Langsam öffnete ich meine Augen. Ich sah, wie ein paar Männer in weißen Trikots über ein Spielfeld rannten, wie die Augen aller Zuschauer nur auf einen kleinen, weißen Ball in der Luft gerichtet waren. Ich spürte, wie der Körper unter mir sich vor Anspannung leicht verkrampfte. Mein Lächeln wurde eine Spur breiter. Ich konnte diesem Spiel einfach nichts abgewinnen. Emmett hingegen schon. Kaum dass der Ball von der dritten Base zur ersten zurückgespielt wurde und der „Batter out“ gemacht wurde, spürte ich eine starke Vibration unter mir und Emmetts Jubelschrei drang an meine Ohren.

Ich drehte meinen Kopf zur Seite und versuchte in sein Gesicht zu sehen. Seine braunen Augen waren nicht mehr so hell, wie ich es sonst gewohnt war, und dennoch konnte ich das Funkeln in ihnen erkennen. Ein breites Grinsen zierte seine Lippen und begeistert verfolgte er den nächsten Schlagabtausch. In diesem Moment wirkte Emmett so unbekümmert, ja fast schon kindlich.

Ein erneuter, diesmal lauterer Jubelschrei drang an meine Ohren und in einer einzigen, schnellen Bewegung riss er seinen linken Arm hoch, während er mit dem anderen mich immer noch sanft an seine Brust gedrückt hielt. Ich hörte, wie Jasper ein leises Grummeln von sich gab, wie der Kommentator im Fernseher das Spiel für beendet und die New York Yankees zum Sieger erklärte. Doch all das interessierte mich nicht. All das nahm ich eher am Rande war. Denn meine gesamte Aufmerksamkeit galt in diesem Moment Emmett.

Ein wohliges Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus und mein Blick nahm einen verträumten Ausdruck an. Er war so anders, so vollkommen losgelöst und locker. Als wäre das Wichtigste in diesem Moment der Sieg der New York Yankees und dass er diesen miterlebt hatte. Seine Augen sprühten vor Energie, seine Lippen bildeten ein Lächeln voll Glück und Freiheit. Ich wollte dieses Lächeln öfter sehen. Ich wollte dieses Lächeln für mich beanspruchen, es vor allen anderen verstecken und immer dann hervorholen, wenn es mich danach verlangte. Ich wollte nur einmal diese Art von Lächeln in ihm hervorrufen.

Ein unaussprechlich starker Wunsch machte sich plötzlich tief in meinem Inneren breit. Der Wunsch, alles zu tun, damit ich ihn so frei und losgelöst lachen sehen konnte. Verträumt kuschelte ich mich ein wenig näher an ihn heran und wie zur Bestätigung umfasste er mich noch eine Spur fester. Ich hörte wie er einen tiefen Atemzug nahm, den Kopf leicht in meinem Haar vergrub und sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte.

Warum tat er das? Warum atmete er, obwohl er es nicht musste? Tat er es aus reiner Gewohnheit? Oder tat er es vielleicht, weil mein Geruch ihm so… gefiel? Mein Herz schlug wieder schneller, mein ganzes Gesicht brannte und eine wohlige Wärme, trotz des kalten Körpers unter mir, ergriff mich plötzlich. Dieser Gedanke gefiel mir so gut. Die Vorstellung, dass es etwas an mir gab, was ihm zusagte… etwas, was ihn vielleicht genauso aus der Fassung brachte, wie er es immer mit mir tat. Genau die gleiche Wirkung, die seine Augen auf mich hatten.

Ob ich mir wohl eine zweite Mauer im Geiste ziehen konnte? Eine Mauer, die alles verbarg, was mit Emmett zu tun hatte? Alles vor der Außenwelt schützte, was er mir je gegeben hatte? Mit seinen Augen, seinem breiten Grinsen und seinen Worten? Eine Mauer, die alles verbarg, was mir gehörte?

Genau in diesem Moment betraten Edward und Bella das Haus und Jasper bezog sie zugleich in eine Unterhaltung über das Spiel mit ein. Ich hörte, wie Alice mit ihrer engelsgleichen Stimme etwas zu Bella sagte, wie Jasper sich aufgeregt über den Schiedsrichter ausließ und wie Edward letzten Endes herzlich lachte. Selbst Esme legte ihr Buch beiseite und beteiligte sich am energiegeladenen Treiben. Nur Emmett schien keine Lust darauf zu haben. Leicht beugte er sich zu mir herunter und flüsterte mir ins Ohr: „Wollen wir von hier verschwinden und die anderen in ihrer Ratsversammlung alleine lassen?“

Ich lachte leise über diese Aussage in mich hinein und dachte kurz über sein Angebot nach. Eigentlich wollte ich mich nicht bewegen. Die Wärme der Decke hatte mich mittlerweile so eingelullt, dass ich am liebsten auf der Stelle ein paar Stunden geschlafen hätte.Doch Emmetts Angebot klang irgendwie verlockend. Auch wenn ich die Anwesenheit der anderen mittlerweile sehr schätzte und genoss, bei dem Gedanken daran, mit Emmett ein bisschen Zeit allein zu verbringen, machte sich mein Herz wieder unkontrolliert bemerkbar und mein Verstand verabschiedete sich. So nickte ich nur.

Sanft und mit einer kaum vorstellbaren Leichtigkeit stand er plötzlich auf und zog mich mit sich. Die Decke fiel von meinen Schultern, obwohl er immer noch einen Arm um mich geschlungen hatte und mich leicht Richtung Tür führte, weg von der lebensfrohen Konversation der anderen. „Lass uns ein bisschen rausgehen“, flüsterte er dicht neben meinem Ohr, während er hinter mir stand und mir in meine Jacke half. Ich nickte nur zur Bestätigung, während mein Herz sich regelrecht vor Aufregung überschlug.

Hastig zog ich meine Schuhe an. Ich konnte es kaum erwarten, endlich wieder mit ihm allein zu sein. Hatten mich früher diese Gedanken verschreckt und verwirrt, so hatte ich mich jetzt mit ihnen abgefunden. Sie waren die Wahrheit… und sie waren das, was ich sehnlich wollte.

Wir sagten niemandem ein Wort, als Emmett letzten Endes die Tür öffnete und mich sanft hinaus schob, doch ich war mir sicher, dass sie bemerkten, wie wir das Haus verließen. Draußen war es kalt, der Schnee von gestern lag immer noch über dem Boden und selbst auf meinem Auto konnte man eine Schicht erkennen. Offenbar hatte es in der Nacht erneut geschneit.

Mit einem Lächeln auf den Lippen sprang ich leichtfüßig von der Veranda herunter und landete sanft in fast knietiefem Schnee. Ein Knirschen war zu hören, als er unter meinen Füßen weggedrückt wurde und schlagartig drang die Kälte durch meine dünne Jeans. Kurz fröstelte ich und vergrub mein Gesicht tief in den Kragen meines Anoraks. Ich hatte nicht geglaubt, dass es so kalt sein würde. Doch ich wollte auf gar keinen Fall wieder zurück ins Haus. Dafür war es hier draußen einfach zu schön. Emmett war mittlerweile auch von der Veranda herunter gekommen und stand jetzt dicht neben mir. „Wenn du willst können wir wieder reingehen. Ich habe nicht bedacht, dass es so kalt für dich sein würde.“

Energisch schüttelte ich mit dem Kopf. „Mir ist… nicht… kalt…“, antwortete ich mit einem breiten Grinsen. Na toll. Das Klappern meiner Zähne würde ihn jetzt auch voll überzeugen.

Mit einer hochgezogenen Augenbraue musterte er mich kurz, dann schüttelte er grinsend den Kopf. „Ich meine es ernst Amylin…“

„Ich auch“, unterbrach ich ihn. Warum konnte er nicht verstehen, dass ich noch nicht reingehen wollte? Dass ich trotz der Kälte lieber hier draußen mit ihm allein war? Dass es einfach viel zu schön war, als dass ich wieder ins Haus gehen wollte.

Emmetts Lippen entfuhr ein Seufzer. Eine Hand vergrub sich in sein kurzes Haar und mit einem fast schon verzweifelten Gesichtsausdruck musterte er mich. Offensichtlich führe er gerade einen inneren Kampf mit sich selbst aus. Entweder würde er nachgeben und mir meinen Wunsch erfüllen, dafür aus seiner Sicht aber vermutlich eine Erkältung riskieren. Oder aber er würde standhaft bleiben und mich wenn nötig wieder ins Haus tragen. Doch so einfach würde ich das nicht mit mir machen lassen. Um meinen Standpunkt noch ein bisschen mehr zu verdeutlichen, entfernte ich mich ein paar Schritte weiter vom Haus. Das war leichter gesagt, als getan, denn der Schnee war ziemlich hoch und es sah vermutlich witzig aus, wie ich mich stapfend vorkämpfte.

Wie zur Bestätigung hörte ich ein kurzes, brummendes Lachen hinter mir und als ich mich umsah, grinste Emmett mich breit an. Amüsiert schüttelte er den Kopf und als ich in seine Augen sah, wusste ich, dass ich gewonnen hatte.

„Warte kurz“, sagte er nur, dann war er plötzlich verschwunden und ich sah nur noch die schneebedeckten Fußabdrücke auf der Veranda und die offene Haustür.

1… 2… 3… 4… Doch kaum hatte ich aus Spaß wirklich angefangen, die Sekunden herunter zu zählen, stand Emmett auch schon wieder vor mir. Breit grinsend sah er mich an und hob dann ein flauschiges Knäuel hoch. „Ich habe mir von Alice ein paar Sachen geborgt. Hätte echt nicht gedacht, dass sie Winterkleidung bei sich im Schrank zu hängen hat. Ich denke, sie wird es mir nicht verübeln, wenn ich mir ein paar Kleinigkeiten ausborge, damit du dich nicht erkältest. Ansonsten wäre ich bestimmt schon beerdigt. Immerhin erfüllen sie so mal ihren Zweck.“

Sanft hob er meine mittlerweile eiskalte Hand hoch und wollte mir einen purpurroten Handschuh überstreifen, als ich kurz zusammen zuckte. Emmett hielt in der Bewegung inne und starrte mich besorgt an. „Alles in Ordnung?“

Ich antwortete ihm nicht, sondern starrte nur auf seine Hand, die meine fest umschlossen hatte. Seine Hand… seine kalte Hand… doch jetzt war sie irgendwie… warm.

In meinem Kopf machte plötzlich etwas Klick. Ein Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus und schnell entzog ich meine Hand seiner. Ich kniete mich hin, steckte meine Hände in den Schnee, spielte mit ihm und wartete. Die Kälte griff schlagartig über, kniff und biss und ließ das Blut in meinen Händen pochen.

„Amylin, was…“, hörte ich Emmetts panische Stimme von oben, doch ich schüttelte nur mit dem Kopf.

„Warte“, flüsterte ich, während meine komplette Konzentration meinen Händen galt. Der Schmerz war mittlerweile kaum noch erträglich, doch ununterbrochen ließ ich meine Hände im Schnee. Ich wollte unbedingt etwas ausprobieren.

„Amylin, ich werde garantiert nicht zusehen, wie du freiwillig deine Hände in einen Haufen Eiszapfen verwandeln willst“, erwiderte er ernst. Doch als er sich zu mir herunter beugen und mich vermutlich hochreißen wollte, als der Schmerz unerträglich wurde und ich meine Hände nicht mehr spüren konnte, stand ich plötzlich auf, ergriff Emmetts ausgestreckte Hand und lächelte ihn breit an.

„Warm“, war das einzige, was ich in diesem Moment sagte. Und das stimmte auch. Meine Hände waren mittlerweile so kalt, viel kälter als seine. „Deine Hände fühlen sich ganz warm an.“

Er sagte nichts, sondern starrte ungläubig auf unsere verschlungenen Hände herab. Verschiedene Gefühle spiegelten sich in seinen Augen wieder, zu viele, als dass ich sie einzeln hätte benennen können. Ich hatte den Eindruck, als wäre Emmett in diesem Moment ganz woanders. Dann hob er leicht den Kopf und starrte mir direkt in die Augen. Mein Lächeln wurde eine Spur breiter und ich versuchte all meine Gefühle für ihn in dieses einzige Lächeln zu stecken. Ich wollte ihm in diesem Moment spüren lassen, was er für mich war. Wie viel er mir bedeutete, auch wenn ich noch nicht den Mut dazu hatte es auszusprechen. Ich wollte ihm zeigen, wie wertvoll er für mich war.

Plötzlich löste er sich aus meiner Umklammerung, hob seine andere Hand hoch und umschloss mit seinen beiden die meinigen. Jetzt war ich diejenige, die verwundert dreinblickte. „Sag mir, wenn sie in etwa die gleiche Temperatur haben wie meine“, flüsterte er, führte sie an seine Lippen heran und berührte sie sanft.

Mein Herz schlug wieder schneller und verträumt sah ich ihn an. Was machte er nur mit mir? Da wollte ich ihm einmal zeigen, wie viel er mir bedeutete und dann brachte er mich wieder vollkommen um den Verstand. Manchmal hasste ich ihn dafür.

Mittlerweile war die Wärme wieder in meine Hände zurückgekehrt und Emmetts Haut war wieder genauso kalt wie vorher, doch ich sagte nichts. Ich wollte diesen Moment noch mehr auskosten, ihm ein bisschen länger das Gefühl geben, meine Hände mit seinen wärmen zu können. Doch Emmett musste gespürt haben, dass sie wieder die ursprüngliche Wirkung auf mich hatten, denn ohne ein weiteres Wort zu sagen, zog er mir die roten Handschuhe über, wickelte den dicken Schal um mich und setzte mir letzten Endes die gleichfarbigen Ohrenschützer auf.

„Willst du dir nicht auch etwas überziehen?“ Es war ungewohnt und auch etwas beklemmend mit anzusehen, wie Emmett bei dieser eisigen Kälte nur in einem T-Shirt und einer Jeans rumlief, während er mir die wolligen Sachen überzog. Ich sah, wie er lachte, hörte das tiefe Brummen aus seiner Kehle und bemerkte das amüsierte Funkeln in seinen Augen, als er den Kopf schüttelte. Es schien, als wäre ihm eine Art Stein vom Herzen gefallen. Ob er wohl sauer auf mich war, weil ich nicht auf ihn gehört hatte und die Hände trotz allem weiter in den Schnee gehalten hatte?

„Glaube mir, um mich brauchst du dir keine Sorgen machen.“ Als er fertig war, spürte ich wie die Wärme in sämtliche meiner Gliedmaßen zurückkehrte und die Starre, die sich mittlerweile gebildet hatte, ohne dass ich es gemerkt hatte, aus meinem Körper löste. „Komm“, sagte er, griff nach meiner Hand und lief geradewegs auf den Wald zu.

Schweigend gingen wir ein paar Minuten dicht beieinander durch die mit Schnee bedeckten Bäume. Die Ruhe, die sich in diesem Moment über uns erstreckte war wohltuend und begrüßend zugleich. Verträumt lehnte ich mich leicht an Emmett, während ich darauf bedacht war nicht hinzufallen, was gar nicht so einfach war. Man hätte meinen können, die dichten Bäume wären ein guter Schutz vor dem herab fallenden Schnee. Doch selbst im tiefsten Wald war die Decke knietief und nur mit Mühe konnte ich mich vorwärts kämpfen.

Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, ich wollte nicht, dass Emmett wieder auf den Gedanken kam, es wäre besser, wenn wir wieder nach Hause gingen. Dafür war es einfach zu schön. Ich wollte diesen Moment nur noch ein bisschen länger auskosten.

„Wenn es dir zu kalt wird, dann gehen wir sofort wieder zurück.“ Ich hätte es wissen müssen. Als hätte ich seine Gedanken gelesen. Es war wirklich nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er wieder damit anfing. Doch ich konnte ihm nicht böse sein. Die Vorstellung, dass er sich um mich sorgte, gefiel mir viel zu gut. So nickte ich nur zur Bestätigung, dass ich verstanden hatte. „Die anderen werden es verstehen, wenn wir uns wieder in mein Zimmer zurückziehen“, fuhr er fort.

Ein Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus und leicht amüsiert schüttelte ich mit dem Kopf. Wann würde er wohl endlich damit aufhören?

„Ich könnte Edward wissen lassen, dass Alice dir einen Tee oder einen heißen Kakao machen soll. Oder sie wird es auch von sich aus machen, wenn sie sieht, dass ich es eigentlich machen will und sie die Küche dann wieder vor dem Unheil bringenden Chaos retten möchte.“

Ich lachte und Emmett stimmte mit ein. Doch plötzlich wurde ich stutzig. „Woher weiß sie eigentlich, dass du nicht kochen kannst?“, fragte ich ihn frei heraus. „Hast du schon einmal ihre Küche genauso verwüstet wie meine?“ Ein amüsiertes Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus, bei der Vorstellung, wie Emmett die schöne Einbauküche der Cullens in genau das gleiche Schlachtfeld verwandelt hatte wie meine und wie Esme ihn dann letzten Endes gerüpelt hatte, genau wie Alice es gesagt hatte.

Emmett jedoch schüttelte mit dem Kopf. „Nein, noch nicht. Aber vermutlich würde Esme mir wirklich den Hals umdrehen, sollte ich das ernsthaft einmal in Betracht ziehen. Alice ist in solchen Angelegenheiten ziemlich gut.“

„Was für Angelegenheiten?“

„Darin, die Zukunft zu sehen.“ Verwundert sah ich ihn an. Alice konnte in die Zukunft sehen? Offenbar hatte Emmett meinen verwirrten Gesichtsausdruck bemerkt, denn er blieb plötzlich stehen und sah mich ernst von oben herab an. Er schien sich nicht sicher zu sein, ob er das Thema ansprechen sollte oder besser nicht. „Ich weiß nicht, wie viel du über Vampire weißt…“, begann er und fuhr sich dann wieder mit der Hand durch sein Haar. Genau so wie vorhin, als er nicht Recht wusste, welcher Seite er sich geschlagen geben sollte. Ob er es immer tat, wenn ihm etwas nicht behagte?

Ich spürte deutlich, wie Emmett Probleme damit hatte, das Thema anzusprechen und zum ersten Mal wünschte ich mir, ich hätte ihnen gestern nichts davon erzählt. Nichts von meinen Eltern. Und schon gar nichts davon, wer für das alles verantwortlich war. Würde er jetzt immer so reagieren? Jedes Mal, wenn das Gespräch auf meine Eltern fiel oder Vampire? Eigentlich hatte ich es gesagt um es allen zu erleichtern. Um ihnen zu zeigen, dass sie keine Angst haben mussten, dass sie sich nicht erklären brauchten, da ich es alles schon wusste. Ich wollte es für uns alle einfacher machen. Doch jetzt, wo ich Emmett so sah, hatte ich das Gefühl, es nur problematischer gemacht zu haben.

„Eine Menge“, antwortete ich ihm und grinste ihn breit an. „Ich weiß, dass sie tot sind. Dass sie blass sind und eine kalte, steinerne Haut haben. Sie brauchen zum Überleben Blut, am liebsten das von Menschen, aber es gibt auch einige, die ernähren sich von Tieren – quasi Vegetarier, obwohl der Begriff eigentlich nicht treffend ist, da Vegetarier die Bezeichnung für jemanden ist, der keine tierische Nahrung zu sich nimmt. Sie sind unglaublich schnell, unglaublich stark und naja… einer von ihnen bringt mich um den Verstand.“

Während ich das sagte, grinste ich ihn die ganze Zeit breit an. Ich wollte es locker klingen lassen, ihm die Hemmung und die Verkrampftheit vor diesem Thema nehmen.

Offensichtlich klappte es, denn Emmett musste kurz lachen. Dann zog er mich plötzlich in eine Umarmung und vergrub seinen Kopf wieder in meinen Haaren. Er nahm einen tiefen Atemzug. „Einige Vampire haben verschiedene Gaben. Edward zum Beispiel kann die Gedanken anderer hören. Jasper kann die Gefühle erspüren und sie quasi nach seinem Belieben manipulieren, einfach ausgedrückt. Alice bekommt Visionen von der Zukunft. Es gibt die unterschiedlichsten Arten, aber nicht jeder hat eine.“

Schweigend klammerte ich mich an sein Shirt. Edward konnte Gedanken lesen. Das bestätigte meine Vermutung, die ich schon seit unserer ersten Begegnung hegte. Jasper konnte die Gefühle manipulieren und Alice in die Zukunft sehen… Und ich? Ich hatte die Fähigkeit sie alle zu…

>>Nein, Amylin. Denk nicht daran. Du hast es vergessen!<<

Unweigerlich krallte ich mich ein Stück mehr in Emmetts T-Shirt. Ich wollte ihm in diesem Moment so nah sein. Wollte, dass er mich noch ein Stück fester hielt und mich somit vor all den schrecklichen Erinnerungen beschützte. Mich wieder vergessen ließ. Ich musste etwas tun. Irgendetwas, um mich abzulenken.

„Und du? Was ist deine Gabe?“ Interessiert blickte ich auf und sah in seine fesselnden Augen. Wie eine wohltuende Salbe legten sie sich über meine brennenden Wunden und ließen mich alles vergessen, was ich vergessen wollte. Einmal mehr nahmen sie mich gefangen. Zogen mich sanft in ein Gefängnis, das mich vor allem Schrecklichen beschützen würde, egal was passieren würde. Selbst vor dem, was hinter meinem Gefängnis verborgen lag. War das vielleicht seine Gabe? Andere mit nur einem einzigen Blick gefangen zu nehmen? Den Schmerz eines jeden zu erkennen und ihn von ihm zu nehmen?

Ein leises Lachen trat aus Emmetts Kehle. „Nun, meine Gabe ist die beste von allen.“ Ich spürte, wie er grinste, während er seinen Kopf wieder in meinen Haaren vergrub. „Ich bin stärker als jeder andere.“

Einen Moment starrte ich perplex auf sein Shirt, dann musste ich plötzlich lauthals lachen. Das war wieder einmal so typisch Emmett. Unweigerlich hatte er das mit mir gemacht, was ich vor ein paar Minuten noch bei ihm versucht hatte – die angespannte Situation zu entschärfen. Sein Grinsen in meinen Haaren wurde eine Spur breiter und ich nahm die Vibration unter meinen Händen wahr, als er verkrampft versuchte, sich ein Lachen zu verkneifen.

Kurz dachte ich über das nach, was Emmett gesagt hatte. Also besaß nicht jeder eine Gabe. Aber warum gab es dann einige mit einer und einige ohne eine? Und warum waren welche harmlos, während die anderen der Natur widersprachen? Was bedeutete es schon in die Zukunft zu sehen und Gedanken lesen zu können, wenn man die Gedanken kontrollieren konnte, um somit die Zukunft nach seinen Regeln zu bestimmen?

Ein kalter Schauer lief mir den Rücken runter und ein unbehagliches Gefühl machte sich in meiner Bauchgegend breit. War es das, was Aro gewollt hatte? War es das, warum er so verzweifelt meine Gabe haben wollte? Ungeachtet davon, was es kostete? War er wirklich zu allem bereit, um solche eine Macht zu haben? Ich wollte mir die Antwort lieber nicht vorstellen.

Ein Seufzer kam mir über die Lippen und die feste Umarmung Emmetts holte mich wieder in die Gegenwart zurück. Ich musste mich ablenken. Irgendwie musste ich von diesen schrecklichen Gedanken wegkommen und sie wieder vergessen.

Suchend glitt mein Blick über den Boden, in der Hoffnung irgendetwas zu finden, was diese schrecklichen Erinnerungen aus meinem Kopf vertreiben würde. Doch ich erblickte nichts außer weißem Schnee. Und dann kam mir die rettende Idee. Ohne etwas zu sagen, löste ich mich plötzlich von Emmett, ging in die Hocke und vergrub meine Hände im Schnee.

„Nicht schon wieder“, hörte ich Emmett stöhnen und einen Seufzer ausstoßen. „Ich weiß jetzt, dass sie dann viel kälter als meine sind. Aber du musst deine Hände jetzt nicht pausenlos dem Erfriertod nahe bringen, nur um diesen Effekt zu haben. Nachher erkältest du dich wirklich noch.“

Doch Emmett hatte keine Ahnung, was ich vorhatte. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich es das letzte Mal gemacht hatte, geschweige denn, ob ich es überhaupt schon einmal gemacht hatte. Ich war mir nicht sicher. Doch ich wusste aus Filmen, wie es funktionierte.

Hastig versuchte ich aus dem pulvrigen Schnee eine Kugel zu formen, was gar nicht so leicht war, denn der Schnee blieb dauernd an dem Handschuh kleben. Ich versuchte es vor Emmett zu verbergen, immerhin hatte ich nur einen Versuch und die Wahrscheinlichkeit, dass ich traf, war ziemlich gering – bei seiner Reaktionsfähigkeit. „Amylin, wenn du nicht wieder aufstehst, werfe ich dich mir über meine Schulter und renne nach Hause und dann ist es mir egal, ob du noch draußen bleiben willst, oder ob dir schlecht wird, oder…“

Emmett stockte plötzlich, als der Schneeball ihn nur um Zentimeter verfehlte. Mit einem dumpfen Geräusch traf er auf den Baum links hinter ihm und hinterließ einen weißen Kreis aus Schnee.

Verdammt.

Mit einer hochgezogenen Augenbraue musterte er mich und sah mich frech grinsend an. „ Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich darauf…“ Doch weiter kam er nicht, denn der nächste Schneeball traf ihn direkt im Gesicht. Ich musste kurz auflachen, als ich sah, wie der Schnee langsam von seinem Gesicht tropfte.

„Alice hätte das jetzt vorhergesehen“, neckte ich ihn und legte noch eins drauf, indem ich ihm die Zunge rausstreckte.

„Ja. und Alice wäre vermutlich auch ausgewichen, damit ihre Haare nicht ruiniert werden. Aber du legst es wirklich darauf an, oder?“ Langsam ging er in die Hocke und ließ mich dabei keinen Augenblick aus den Augen. Seine großen Hände gruben sich in den Schnee und formten aufgrund seiner nackten Haut einen viel besseren und größeren Ball.

Vorsichtig ging ich einen Schritt rückwärts und hob beschwichtigend die Hände. „Das war nur Spaß, Emmett.“

Er lachte laut. „Du sprichst hier mit jemandem, der das Wort Spaß neu definiert hat.“

Ohne groß darüber nachzudenken machte ich plötzlich auf den Absatz kehrt und rannte los. Ich wusste, dass es eigentlich keinen Sinn machen würde, vor ihm wegzulaufen. Er hätte mich vermutlich in weniger als einer Sekunde wieder eingeholt. Doch ich kam nicht umhin, es einfach trotzdem zu versuchen. Dafür war es zu amüsant.

Lachend rannte ich weiter, während rechts und links eine Fontäne von Schneebällen an mir vorbei flog und gegen die Bäume prallten. Ab und zu bekam ich ein paar Schneeflocken ins Gesicht, während ich unerbittlich weiterlief. Ich hatte keine Ahnung, wohin, wusste nicht einmal, wo ich mich befand. Ich konzentrierte mich einfach nur darauf, nicht aus Versehen gegen einen Baum zu rennen. Irgendwann wurden die Schneebälle weniger und schließlich stellten sie sich ein. Vollkommen außer Atem und immer noch mit einem breiten Lächeln im Gesicht, hielt ich an und drehte mich amüsiert um.

Doch da war niemand. Verwundert ließ ich meinen Kopf nach rechts und links schweifen, versuchte durch das ganze Weiß eine Person im blauen Shirt zu erkennen. Doch ganz gleich wo ich hinsah. Überall sah ich nur Bäume und Schnee. Keinen Emmett.

„Emmett?“, rief ich laut. Es hallte zwischen den Bäumen wieder. Keine Antwort. „Emmett?“, fragte ich nun eine Spur lauter.

In diesem Moment stürzte etwas von oben herunter und landete direkt vor meinen Füßen. Ich musste lachen, als ich in Emmetts breit grinsendes Gesicht sah und bemerkte, wie der Schnee an seinen Haaren klebte. Wie um mich zu ärgern, senkte er den Kopf und begann ihn heftig zu schütteln, sodass der ganze Schnee in mein Gesicht spritzte. Lachend drehte ich mich weg und lief eilig ein paar Schritte rückwärts. Doch Emmett schien mich nicht ein weiteres Mal entkommen zu lassen, denn mit einem „Vergiss es“ trat er einen Schritt nach vorne und stemmte eine Hand gegen den Stamm des Baumes in meinem Rücken. Für den Augenblick einer Sekunde sah ich in Emmetts strahlendes Gesicht, dann brach plötzlich eine Schneelawine über mich zusammen und die Sicht vor meinen Augen wurde schwarz.

„Amylin?“, hörte ich Emmetts besorgte Stimmte dumpf durch den Berg aus Schnee, der sich über mich ergossen und mich somit begraben hatte. „Verflucht“, war das einzige, was er noch sagte, bevor er hastig seine Hände in den Schneeberg grub, mich an den Armen packte und wieder hervorzog.

Lachend fiel ich gegen seine steinerne Brust und schüttelte meinen Kopf um den Schnee aus meinem Gesicht zu bekommen. Doch es nützte alles nichts. Meine Haare waren mittlerweile klatschnass. Immerhin trug ich nur Ohrenschützer. Und kaum da ich die Kälte auf meinem Kopf spürte, bemerkte ich auch, dass meine Schuhe komplett durchgeweicht waren. Ich fröstelte leicht und ein Zittern ergriff meinen Körper, als der kalte Windhauch auf mein Gesicht traf. Es war wieder einmal so vorhersehbar gewesen, dafür musste man nicht Alice sein.

„Shit“, fluchte Emmett laut und hob mich plötzlich hoch. „Ich wusste, dass es ein Fehler war, so lange draußen zu bleiben. Geht es dir gut, Amylin?“ Besorgt sah er mir in die Augen. Ich nickte zur Antwort und versuchte zwischen meinem Lachen, welches ich einfach nicht einstellen konnte, einen vernünftigen Satz zu formulieren.

„Ja, es war lustig.“

„Lustig?“, Emmett schnaubte. „Ich weiß was es heißt, wenn etwas lustig ist, und das war es definitiv nicht.“

„Ach komm, du musst zugeben, es hat Spaß gemacht.“

„Sag mal, …“, erwiderte er, als er sich sofort auf den Weg zurück zum Haus machte, „… hat dein Kopf vielleicht etwas abbekommen, als der Schneeberg über dich zusammengebrochen ist?“ Fast schon fassungslos schüttelte er mit dem Kopf. „Halt dich gut fest“, fügte er nur hinzu, als er mich fester an seine Brust zog, leicht in die Hocke ging und dann plötzlich schnell losrannte.

Erschrocken und überrascht zugleich vergrub ich den Kopf in seinem Shirt. Ich wollte nicht mit ansehen, wie die Bäume an uns vorbei flogen und sich in mir das Gefühl breit machte, irgendwann gegen einen zu rennen.

„Du wirst mit mir nicht noch einmal rausgehen, oder?“, nuschelte ich in sein Shirt, doch ich war mir sicher, dass er mich verstanden hatte, denn er antwortete: „Natürlich nicht.“

Eine Zeit lang sagte keiner ein Wort. Ich klammerte mich nur an ihm fest, während ich hoffte, bald wieder Zuhause zu sein. So langsam machte mir die Kälte doch zu schaffen und die nassen Schuhe und Haare trugen nicht gerade zur Besserung bei. Außerdem war ich es nicht gewohnt, mit solch einer Geschwindigkeit durch den Wald zu rennen. Es war ein Unterschied, ob man in einem Auto saß oder von jemandem getragen wurde… oder ob man selbst rannte.

„Es tut mir leid“, hörte ich Emmett plötzlich brummen. „Wenn du morgen eine Erkältung hast, ist es meine Schuld. Obwohl…“, ich spürte, wie er seinen Kopf zu mir herunterbeugte und seine Lippen nah an mein Ohr hielt. >>Schau nach vorne!<< war der einzige Gedanke, den ich im Moment im Kopf hatte. „Dann kann ich dich wenigstens gesund pflegen.“ Ich wusste, dass er grinste, auch wenn ich es nicht sehen konnte.

Genau in diesem Moment begann mein Herz wieder schneller zu schlagen. Es schien mit Emmett um die Wette zu laufen und ihn bei Weitem zu schlagen. Eine Hitze durchflutete meinen gesamten Körper, ein Brennen breitete sich auf meinen Wangen aus und ich konnte nur hoffen, dass sie durch die Kälte schon so sehr gerötet waren, dass es Emmett nicht auffiel.

Jetzt schien er sein Tempo zu drosseln und fast schon genüsslich lief er auf das Haus zu, was vor uns aus dem Schnee herausragte.Egal, was immer Emmett auch dachte… für mich war das der schönste Tag seit langem gewesen.

Eternity

Wohltuend floss das heiße Wasser über meinen starren Körper. Dampfwolken stiegen auf und ließen das ohnehin schon milchige Glas der Dusche beschlagen. Ein zufriedener Seufzer entfuhr meinen Lippen, als ich spürte, wie das Leben in meine Gliedmaßen zurückkehrte. Um nichts in der Welt wollte ich diesen Platz je wieder verlassen.

 „Das ist mal wieder so typisch für dich“, hatte Alice gesagt, als sie uns mit in die Hüften gestemmten Händen erwartete, kaum das wir die Haustür erreicht hatten. „Dafür muss man nicht in die Zukunft sehen können.“ Ein leicht neckisches Lächeln umspielte ihre Lippen. Emmett hingegen hatte nur mit einem Brummen geantwortet und war dann, Alice ignorierend, ins Haus getreten.

Ich erinnerte mich an die plötzliche Wärme, die auf meiner eiskalten Haut ein fast schon unangenehmes Brennen hinterließ. Mein ganzer Körper war taub gewesen, ich hatte versucht meine Zehen zu bewegen. Doch mittlerweile war mir schon jegliches Gefühl in ihnen abhanden gekommen, sodass ich mir nicht sicher war, ob es mir gelang. Das Zittern, welches mich am ganzen Leib ergriffen hatte, stellte sich ein wenig ein und meine Atmung beruhigte sich wieder.

Langsam hatte Emmett seinen Blick zu mir herabgesenkt und mich besorgt angesehen. Fest hielt er mich im Arm und für einen kurzen Moment glaubte ich, dass er mich nie wieder loslassen würde. Wie auch, wenn man bedachte, dass meine Hände an seinem Nacken festgefroren waren. Doch Alice hatte ihn wieder in die Realität zurückgeholt. „Ich habe schon weiche Handtücher vorgewärmt und Wasser aufgesetzt. Sie kann trockene Sachen von mir haben. Du könntest versuchen wenigstens einmal nützlich zu sein und den Tee eingießen.“

Eigentlich hatte ich mit einem bissigen Kommentar seitens Emmett gerechnet. Einer brummigen, ja wenn nicht sogar schon spöttischen Antwort. Doch er überraschte mich, als sein Kopf sich zu einem kaum merklichen Nicken herabsenkte, offensichtlich mehr als bereit, dieser Aufforderung Folge zu leisten.

Langsam hatte er mich abgesetzt und als meine bleiernen Beine den Boden berührten, glaubte ich, dass sie noch lange nicht stark genug waren, um mich tragen zu können. Doch glücklicherweise hatten sie es getan. Vorsichtig löste er meine Hände von seinem Nacken. Ich war der festen Überzeugung, dass wir dafür ein Brecheisen brauchen würden. Dann schenkte er mir ein kleines, aufmunterndes Lächeln und strich sanft eine Haarsträhne hinter mein Ohr. Als seine Haut auf meine traf, fing das Blut in meinen Adern wieder an zu kochen und ich war mir sicher, dass ich eine Dusche definitiv nicht brauchen würde, wenn er mich nur weiter berührte und mich mit diesem intensiven Blick ansah.

Jetzt stand ich schon seit einer geschlagenen Viertelstunde unter dem heißen Wasser und hatte nicht das Bedürfnis, je wieder darunter hervorzukommen. Trotz der schrumpeligen Haut, die ich schon aufwies. Ich fuhr mir mit den Händen durch meine nassen Haare und ließ das Wasser auf mein Gesicht prasseln. Es fühlte sich wie eine wohltuende Massage an und ein erneuter, zufriedener Seufzer entfuhr meinen Lippen.

Dann wurde mir bewusst, dass ich so langsam aus dem herrlichen Paradies hervorkommen musste. Nicht nur, dass Alice in ihrem Zimmer vermutlich schon nervös auf mich wartete, voller Vorfreude mir ihren großen Kleiderschrank zu präsentieren und das passende für mich herauszusuchen. Emmett wartete auch. Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie er auf einem der Barhocker in der Küche saß und gelangweilt in dem mittlerweile kalten Tee rührte.

Und ich selbst konnte es auch kaum erwarten, wieder in seine braunen, fesselnden Augen zu sehen. In das sichere Versteck zu treten, in das er mich entführte. Jedes Mal, wenn er mich angrinste. Die kühlen, starken Arme, mit denen er mich umschlang. Ein weiterer Grund, warum ich die Dusche etwas wärmer gestellt hatte, als es eigentlich nötig war.

Kurzum drehte ich das Wasser ab. Ein paar vereinzelte Tropfen fielen mir auf die Stirn, dann war alles still. Ich schob die Glastür vorsichtig beiseite, fischte mir das große Badetuch von der Heizung und schlang es um meinen Körper. Sofort entfuhr mir ein weiterer Seufzer, als ich den weichen Stoff auf meiner Haut spürte und unwillkürlich kuschelte ich mich ein wenig mehr darin ein, bevor ich vorsichtig aus der Duschkabine stieg. Einen kurzen Moment lang betrachtete ich mich im Spiegel. Meine Haare hingen nass herunter und ich strich mir ein paar vereinzelte Strähnen aus dem Gesicht. Unweigerlich erinnerte ich mich an Emmetts Berührung, kurz nachdem er mich abgesetzt hatte und ein glückliches Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus. Ich strahlte mich selbst im Spiegel an.

Vorsichtig griff ich nach einem weiteren, ebenfalls gewärmten Handtuch und wickelte meine Haare darin ein. Dann schlang ich das um meinen Körper ein wenig enger und öffnete die Tür, die direkt zu Alices Zimmer führte.

Es war leer. Niemand war anwesend, als ich mit meinen nassen Füßen über den weichen, hellen Teppich lief. Ich hatte das Gefühl, als würde ich auf Wolken gehen. Dann fiel mein Blick auf ihr Bett und ein überraschter und hingerissener Ausdruck zugleich huschte über mein Gesicht. Auf dem Bett lagen fein säuberlich die Kleider, die sie für mich ausgesucht hatte. Sie waren sogar so hingelegt werden, dass ich gar nicht verfehlen konnte, an welche Stelle des Körpers das jeweilige Stück gehörte. Ich hatte mehr oder weniger auf eine Hose und ein T-Shirt gehofft. Vielleicht noch einen Pulli. Doch da hatte ich die Rechnung ohne Alice gemacht.

Je länger ich die Kleidungsstücke betrachtete, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass unten im Wohnzimmer die Queen auf mich warten würde. Sie waren fast zu schön, als dass man sie einfach nur für zuhause anziehen konnte. Es waren genau die Sorte Kleidungsstücke, die man sich gern im Schaufenster ansah, die man auch gern einmal anprobierte und dennoch immer wieder zurückhängte, weil sie einfach viel zu schön waren, um sie zu kaufen. Und viel zu teuer.

Vorsichtig strich ich über den Stoff des Shirts. Er war ganz leicht und sah aus wie fließendes Wasser, als er über meine Finger glitt. Der Roséfarbton passte perfekt zu meiner Haut und der Kragen war leicht gerafft. Geschmeidig legte es sich an meinen Körper, als ich es mir überzog. Da es sich um ein trägerloses Top handelte, hatte mir Alice noch ein hellgraue Strickjacke dazugelegt, außerdem eine Jeans und ein paar Armreifen, die ich aber liegen ließ. Immerhin würde ich das nur so lange tragen, bis meine eigenen Sachen wieder trocken waren.

Während ich fast alles anzog, was mir Alice hingelegt hatte, versuchte ich nicht darauf zu achten, welches Modelabel auf den jeweiligen Kleidungsstücken eingestickt war. Ich hoffte nur, dass sie nicht teurer waren, als mein Auto.

Nachdem ich fertig war, ging ich wieder ins Bad, schnappte mir den Föhn und trocknete meine Haare. Ein paar Minuten später hörte ich auch schon, wie es an der Tür klopfte und Alices sanfte Stimme an mein Ohr drang. „Bist du fertig, Amylin?“

„Ja“, antwortete ich, legte den Föhn zur Seite und drehte mich zu ihr um, als sie die Tür öffnete und ins Bad trat.

Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus, als sie sah, dass ich all das trug, was sie mir herausgelegt hatte. „Du siehst hübsch aus.“ Leichtfüßig kam sie ein paar Schritte auf mich zu und begutachtete mich von allen Seiten.

„Danke“, erwiderte ich. „Aber das wäre wirklich nicht nötig gewesen, Alice. Eine einfache Jeans und ein T-Shirt hätten es auch getan.“

„Amylin, bei uns tragen nicht einmal die Männer Jeans und T-Shirt.“

„Aber Emmett…“

„Emmett wird sich hüten, dir je wieder in irgendwelchen Schlabbersachen unter die Augen zu treten“, unterbrach sie mich. Noch einmal sah sie kurz an mir herunter, offensichtlich glücklich darüber, dass sie das Passende gefunden hatte. „Weißt du, das sind alles Sachen, die ich aus New York habe.“ Überrascht über den plötzlichen Themenwechsel blickte ich sie an. Ein strahlendes Lächeln zierte ihren Mund und ihre Augen begannen zu leuchten, als sie fortfuhr. „Jasper und ich sind zusammen dorthin gefahren. Zur New York Fashion Week. Es war sein neuntes Hochzeitsgeschenk an mich.“

„Sein neuntes?“ Verwundert folgte ich ihr wieder zurück ins Zimmer und sah, wie sie den großen Kleiderschrank öffnete

.Sie lachte. „Ja. Jasper und ich haben uns schon neun Mal das Jawort gegeben. Und zu unserer neuntes Hochzeit hat er mir die Reise nach New York geschenkt. Wir waren diesen September da, kurz bevor du gekommen bist.“ Interessiert lauschte ich ihren Erzählungen und sah zu, wie sie ein paar Kleidungsstücke herausholte und sie freudig betrachtete. „Es war traumhaft. Überall die wunderschönen Kleider der berühmten und talentierten Modeschöpfer aus der ganzen Welt. Wir gingen von Laufsteg zu Laufsteg, von Veranstaltung zu Veranstaltung. Eine großartiger und prächtiger als die andere. Ich weiß bis heute nicht, wie er an all die Karten dafür herangekommen ist. Danach sind wir noch eine Woche geblieben und ich kam natürlich nicht umhin, mir viele der schönen Kleider zu kaufen. Ich glaube, das war das erste und einzige Mal, dass mir Jasper ein solches Geschenk gemacht hat.“ Verträumt strich sie über die Kleider und hing für einen kurzen Moment ihren Erinnerungen nach.

Dann, ganz plötzlich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, als sie mich voller Vorfreude ansah. „Ich muss dir unbedingt etwas zeigen“, sagte sie nur, nahm mich bei der Hand und zog mich in einen kleinen, angrenzenden Raum. Nun, wenn ich geglaubt hatte, dass der riesige Kleiderschrank aus Mahagoni in Alices Zimmer der einzige war, dann wurde ich jetzt eines besseren belehrt. Vor mir erstreckten sich Regale und Schubfächer, alles perfekt in die Wand eingearbeitet. An einer Seite hingen Kleider, an der anderen befanden sich nur Schuhe, so viele, dass die Fächer bis unter die Decke gefüllt waren. Jeder, der behauptete einen begehbaren Kleiderschrank zuhause zu haben, hatte definitiv noch nicht Alices gesehen.

Sie führte mich an den Schuhen und Taschen entlang, vorbei an den Kleidern und hunderten von Oberteilen, bis sie schließlich an einem Gang ankam, den ich beim Eintreten nicht bemerkt hatte.

„Hier bewahre ich alle wichtigen Kleidungsstücke auf“, sagte sie, holte zielstrebig ein Kleid heraus und hielt es mir hin. „Das ist deins“, sagte sie und lächelte mich freudestrahlend an.

„Meins?“, fragte ich. Mein Blick hing an dem leichten, ebenfalls in rosé gehaltenen Stoff. Er fiel in Stufen herab und bedeckte den kompletten Rücken. Es war unauffällig und dennoch zeugte es von Eleganz.

Alice nickte zur Antwort. „Dein Brautjungfernkleid.“ Überrascht sah ich sie an. Brautjungfernkleid? „Bella und Edward werden nächstes Jahr im Sommer heiraten.“

Einen kurzen Augenblick war ich von dem Anblick des Kleides gefesselt, dann sickerten ihre Worte zu mir durch und ich blickte erstaunt auf.

„Sie wird dich fragen, ob du ihre Brautjungfer sein möchtest. Ich weiß zwar noch nicht wann, aber sie wird es tun. Deswegen dachte ich, dass ich es schon kaufen könnte, nicht dass es ihr erst wieder in der letzten Minuten einfällt.“ Ihr Lächeln wurde breiter.

Ich jedoch war mit der Situation überfordert. Zu viele Informationen strömten gleichzeitig auf mich ein.

„Warum?“, fragte ich und gab somit der ersten Frage nach, die sich mir gestellt hatte. „Verstehe mich bitte nicht falsch. Ich habe definitiv nichts dagegen. Es ist nur… irgendwie so plötzlich. Im nächsten Jahr haben wir erst unseren Abschluss und gleich darauf wollen sie heiraten? Ich verstehe die Eile nicht.“

„Bella glaubt, je länger sie wartet, desto runzliger wird sie“, lachte Alice zur Antwort.

„Runzliger? Mit fünfundzwanzig Jahren ist man nun nicht gerade runzlig.“

„Aus ihrer Sichtweise schon.“ Alice hängte das Kleid zurück und führte mich dann wieder aus dem Raum heraus. „Weißt du, Bella hat einen Wunsch. Einen Herzenswunsch, den Edward ihr erfüllen soll.“ Sie blieb schließlich in ihrem Zimmer stehen und drehte sich dann wieder zu mir um. „Bella möchte verwandelt werden und das will sie eigentlich schon seitdem sie mit Edward zusammen ist. Und er wird es tun. Ich habe es bereits gesehen. Für sie ist es unerträglich noch ein paar Jahre zu warten, auch wenn Edward sie darum gebeten hat. Sie möchte offiziell nicht noch älter werden, als er es ist. Edward wird für immer siebzehn bleiben. Bella ist schon achtzehn und nächsten September wird sie neunzehn Jahre alt. Sie hasst den Gedanken, zu alt für ihn zu sein, auch wenn Edward in Wirklichkeit um ein Vielfaches älter als sie ist. Also haben sie eine Art Kompromiss geschlossen. Bella soll vorerst noch so viele menschliche Erfahrungen sammeln, wie nur irgendwie möglich. Er will sie vorher heiraten. Sie sowohl als Mensch, als auch später als Vampir an sich binden. Dafür verwandelt er sie danach.“

Einen Moment dachte ich über ihre Worte nach. Dachte darüber nach, was sie mir soeben erzählt hatte. Bella wollte zu einem Vampir werden. Sie wollte für immer mit Edward zusammen sein. Dafür war sie sogar bereit, alles hinter sich zu lassen. Ihr Zuhause… Ihre Freunde… Ihre Familie… Ihr Leben.

Ich erinnerte mich an meine Eltern. Daran, wie sie mich in den Arm genommen hatten. Wie sie mir jeden Tag sagten, dass sie mich liebten. Ich erinnerte mich an ihre warmen und zärtlichen Berührungen. Und ich erinnerte mich daran, wie man sie mir letzten Endes gewaltsam entrissen hatte.

Bella hatte die Wahl. Sie hatte die Wahl sich für ein Leben zu entscheiden. Für ein normales Leben mit ihren Eltern. Mit Kindern und dem Gefühl der Endlichkeit. Doch sie wählte das andere Leben. Ein Leben in Unendlichkeit, Seite an Seite mit Edward und der Gewissheit, dass man jeden, den man je geliebt hatte, überlebte.

Doch warum? War es, weil sie Edward so sehr liebte? Weil sie stark genug war, um zu akzeptieren, dass sie nach ihrer Verwandlung vermutlich nie wieder ihre Eltern sehen würde?  War ihre Liebe so stark, dass sie bereitwillig alles aufgab, sogar sich selbst, nur um sich für ein Leben zu entscheiden, welches sie noch nicht einmal kannte?

Sie wusste nicht, wie es war, ein Vampir zu sein. Wie der Gedanke und das Verlangen nach Blut alles andere aus einem Kopf löschte. Und dann die schreckliche Erkenntnis… Als würde man aus einem Albtraum erwachen, wenn man sah, was man getan hatte. Trotz dieser Ungewissheit, entschied sie sich für genau dieses Leben.

Dafür bewunderte ich sie. Denn sie schlug einen Weg ein, für den ich zu schwach gewesen wäre.

„Weißt du, Amylin. Wenn du willst, kannst du mir helfen.“ Alices sanfte Stimme riss mich aus meinen Gedanken und ich blickte erstaunt zu ihr auf. „Bella hat mir die gesamte Planung der Hochzeit überlassen. Und ich könnte ein bisschen Hilfe gebrauchen.“

„Ähm… okay. Was soll ich tun?“

„Nicht viel“, lächelte sie. „Sorge einfach nur dafür, dass sie keine kalten Füße bekommt.“

„Kalte Füße?“

Alice seufzte. „Bella neigt zu unüberlegten Handlungen. Sie agiert erst und denkt dann darüber nach, ob es richtig war. Vor allem in Stresssituationen. Außerdem ist sie ein Partymuffel. Und damit sie unseren Edward nicht vor dem Traualtar stehen lässt, würde ich mich freuen, wenn du sie in Zukunft einfach ein bisschen beruhigen könntest. Ablenkung wird ihr gut tun. Wäre das für dich in Ordnung?“

„Natürlich“, erwiderte ich mit einem Lächeln.

„Prima“, klatschte Alice in die Hände und wollte gerade aus dem Zimmer treten, als sie sich noch einmal zu mir umdrehte. „Aber verrate ihr bloß nichts von dem Kleid oder davon, dass ich dir überhaupt etwas von der Hochzeit erzählt habe. Ich bin mir nicht sicher, wie Bella darauf reagieren würde.“ Ihr Lächeln wurde eine Spur breiter und kurz zwinkerte sie mir zu. Dann öffnete sie die Tür und ich folgte ihr aus dem Zimmer.

 

Als wir im Wohnzimmer ankamen, bemerkte ich, dass Bella und Edward wieder da waren. Zusammen saßen sie auf der Couch und sahen sich einen Film an, der gerade im Fernsehen lief. Ich beobachtete sie einen Augenblick. Wie Edward immer wieder durch Bellas Haar strich. Wie er die ganze Zeit nicht die Augen von ihr nehmen konnte und sich nicht im Geringsten für den Film interessierte. Bella hatte sich an seine Brust geschmiegt und schien sich ihres heimlichen Beobachters nicht bewusst zu sein.

Ob es das war, was sie dazu bewegte, ihr bisheriges Leben aufzugeben und sich für ein Leben mit Edward zu entscheiden? Weil er sie für etwas Besonderes hielt? Weil man in jedem seiner Blicke sah, wie sehr er sie liebte? Weil man spürte, dass sie für ihn der Engel war?

Carlisle war ebenfalls zurück und mit einem breiten Lächeln begrüßte er mich. Meine Gedanken hingen jedoch, kaum da ich mich von Bella und Edward gelöst hatte, sofort wieder bei Emmett. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, dabei war es nicht einmal eine halbe Stunde her. Emmett schien es nicht anders zu ergehen.

„Endlich! Ich dachte schon, du hättest dich in den Weiten von Alices Kleiderschrank verlaufen.“ Breit grinsend kam er auf mich zu und blieb dicht vor mir stehen. „Hmm“, seufzte er und senkte sein Gesicht zu meinen Haaren herab. „Du riechst wunderbar.“

Das Blut in meinen Adern begann zu kochen, ein Kribbeln erfasste mich am ganzen Körper und unwillkürlich hielt ich den Atem an, fast so, als könnte ich dadurch die Zeit zum Stillstand bewegen. Ich wollte, dass dieser Augenblick nie endete. Wie er mich schief anlächelte. Wie er mich mit seinen warmen Augen gefangen nahm. Wie er erneut Ketten nach mir auswarf und mir versprach, mich zu schützen. Egal, was passierte. Und in diesem Moment glaubte ich daran. Ich glaubte fest daran, dass er dazu fähig war.

Ohne groß darüber nachzudenken, wer sich im Raum befand und uns vielleicht zuschaute, überbrückte ich den letzten Abstand zwischen uns und lehnte mich an seine kühle, stählerne Brust. Ich wollte ihn endlich berühren. Wollte, dass er mich endlich berührte, seine Arme um mich schlang und mich festhielt.

Als hätte er meine Gedanken gelesen, tat er genau das. Ein Seufzer entfuhr meinen Lippen, als ich die steinerne Umarmung spürte und dennoch gab es nichts Sanfteres auf der Welt für mich. Alles um mich herum war plötzlich nebensächlich, schien nicht einmal mehr zu existieren. Meine ganze Aufmerksamkeit war auf den Körper an meinem gerichtet. Wie seine Nase unverwandt in meinem Haar verweilte. Wie er sanft mit seinen Fingern über meine Haut strich, kleine Kreise zog und sie brandmarkte. Ich hatte das Gefühl, jede einzelne Faser meines Körpers entstünde neu – allein durch seine Berührungen.

„Der Tee wird kalt.“

Es kam mir so unwirklich vor, wenn ich in diesem Moment über so etwas Banales sprechen würde. Wie lange standen wir eigentlich schon so da, ohne uns zu rühren und nur die Anwesenheit des jeweils anderen wahrzunehmen? Ein paar Minuten? Ein paar Stunden? Es interessierte mich nicht. Und noch weniger interessierte mich der Tee. Doch es war wieder einmal so typisch Emmett.

„Mir egal“, brummte ich in sein T-Shirt. Ich war mir sicher, dass er mich verstanden hatte, denn ein herzhaftes Lachen erfüllte plötzlich den Raum und ließ seinen Körper erzittern. In meinen Ohren klang es wie Musik und unwillkürlich breitete sich auf meinen Lippen ein verschmitztes Lächeln aus.

„Ich sollte mich eigentlich nicht beschweren, falls du krank wirst. So kann ich dich gesund pflegen, genau wie beim letzten Mal.“ Langsam hatte er sich zu meinem linken Ohr hinab gebeugt und flüsterte mir die Worte mit rauer Stimme zu.

Im ersten Augenblick fühlte ich mich wie elektrisiert. Fast so, als hätte man mir einen Stromstoß verpasst und ich reagierte auf jeden noch so kleinen Windhauch an meiner Haut sensibel. Nur mit Mühe konnte ich mir ein erneutes Seufzen verkneifen.

Erinnerungen von der Nacht, als ich vollkommen erschöpft aus New Orleans zurückgekommen war, drängten sich in mein Gedächtnis. Als er mich mit Panik in der Stimme in den Arm genommen hatte, um sich zu vergewissern, dass es mir gut ging. Damals war mir das nicht so aufgefallen, doch jetzt drang die Bedeutung seiner Handlung schlagartig zu mir durch. Sein fester Griff, der ihm zeigen sollte, dass ich tatsächlich da war. Seine zitternde Stimme, die sich fast überschlug, als er mit Mühe auf meine Fragen antwortete. Sein besorgter Blick, als er sich zu mir ans Bett gesetzt hatte und ich zum ersten Mal in den Genuss seiner Lippen gekommen war.

Die verwüstete Küche, als er verzweifelt eine Mahlzeit für mich zubereiten wollte.

„Okay, ich trinke den Tee“, kam es wie von der Tarantel gestochen aus meinem Munde und schlagartig löste ich mich von ihm. Lauwarm traf die Flüssigkeit auf meine Lippen und einen kurzen Augenblick musste ich mich zwingen es herunterzuschlucken. Ich mochte Tee nicht, wenn er nicht heiß war. Doch die Vorstellung, Emmett könnte noch einmal meine Küche so ruinieren, zwang mich dazu.

Er schien meine Handlung nicht ganz zu durchschauen, denn verwirrt sah er mich von der Seite an. „Habe ich etwas falsches gesagt?“, fragte er leicht durcheinander.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein.“

Eine seiner Augenbrauen zuckte unwillkürlich in die Höhe und einen Moment musterte er mich, bevor er weiter sprach. "Hmm, dann findest du den Tee also offensichtlich heißer als mich." Ich verschluckte mich plötzlich und augenblicklich ergriff mich ein starker Hustanfall. In diesem Moment war ich froh, dass der Tee nicht heiß war.

Emmett grinste breit und wartete offensichtlich auf eine ernsthafte Antwort meinerseits.

Was sollte ich nur darauf antworten? Was antwortete man eigentlich darauf? Wieso stellte man überhaupt so eine Frage? Er hatte es wieder einmal geschafft, mich vollkommen aus dem Konzept zu bringen. Doch dieses Mal würde ich nicht kampflos aufgeben. Dieses Mal würde ich den Spieß umdrehen.

„Wer weiß“, antwortete ich ihm nur, ein wohlwissendes Lächeln auf den Lippen. Erneut nippte ich an dem lauwarmen Tee. Seine Augen verengten sich. Er schien krampfhaft zu versuchen, aus meiner Antwort schlau zu werden. Doch dann kapitulierte er und ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Aber nicht herausfordernd, oder süffisant. Es war amüsiert und ein Hauch von Zärtlichkeit schwang darin mit.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, streckte er vorsichtig seine Hand nach mir aus, ergriff eine Strähne meines langen Haares und spielte mit ihr.

Auch wenn er mich nicht direkt berührte. Auch wenn ich nicht den Kontakt seiner Haut an meiner spürte, so überkam mich dennoch in diesem Moment das ebenso starke Gefühl wie vorhin, als er mich im Arm gehalten hatte. Die Atmosphäre änderte sich schlagartig, eine Spannung baute sich zwischen uns auf und ich war mir sicher, dass Emmett es auch spürte.

Vorsichtig nahm er noch ein paar weitere Strähnen in seine Hand, zog sie langsam zu sich heran und vergrub seine Nase darin. Ein wohliger Seufzer drang über seine Lippen, als er meinen Geruch tief in sich aufnahm.

Ein Brennen ergriff plötzlich meine Wangen, die Röte schoss mir ins Gesicht und ich musste schlucken. Unwillkürlich schnappte ich nach Luft. Wie machte er das nur? Wie schaffte er es immer wieder mich vollkommen aus der Bahn zu werfen? Jede seiner Handlungen stand in komplettem Widerspruch zueinander. Im ersten Moment grinste er herausfordernd, dann bedachte er mich mit einem Blick, als würde ihm etwas Wichtiges entgehen, wenn er auch nur einmal blinzelte. Ein Funkeln lag in seinen Augen, während er den Blick nicht von mir abwendete.

Ach, scheiß auf den Tee.

Ohne groß darüber nachzudenken, stellte ich die Tasse zurück auf den Tisch und ergriff zum allerersten Mal die Initiative. Ich wusste im Grunde nicht, was mich dazu veranlasste. Freunde hatten mir erzählt, dass man, wenn man verliebt war, die unwirklichsten und peinlichsten Dinge tat. Dinge, die man bei normalem Verstand nicht tun würde. Dinge, die man sich nicht trauen würde, zu tun. Wenn man verliebt war, machte man eine Wendung um 180°, genau wie mein Magen in diesem Moment. Man wurde selbstbewusster und sagte auch gern Dinge, die keinen Sinn ergaben.Doch das alles interessierte mich nicht. Denn in diesem einen Augenblick konnte ich nur an das Gefühl denken, wie sich Emmetts kalte und dennoch weiche Lippen an meine geschmiegt hatten, fast so, als wären sie eigens dafür geschaffen worden. Und dieser Gedanke gefiel mir so gut, dass ich es unbedingt noch einmal spüren wollte.

Langsam neigte ich meinen Kopf seinem entgegen, während ich für keinen einzigen Moment seine Lippen aus den Augen ließ. Im ersten Moment öffneten sie sich leicht vor Überraschung und Verwunderung zugleich. Dann verzogen sie sich zu einem kleinen Grinsen, als ihnen bewusst wurde, was ich vorhatte und kamen mir entgegen. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, dabei waren es gerade mal ein paar Sekunden bis sich unsere Lippen trafen.

Ein weiteres Mal vergaß ich alles um mich herum. Unkontrolliert schlossen sich meine Augen und ich gab mich der sanften Berührung hin. Ich wollte weder etwas hören, noch sehen oder riechen. Ich wollte meine komplette Aufmerksamkeit auf seine Liebkosung richten und sie dadurch intensivieren. Den Geschmack seiner Zunge, als er mit dieser sanft über meinen Mund fuhr, fast so, als würde er um Einlass betteln. Dann knabberte er sachte an meiner Unterlippe, zog leicht an ihr und entließ sie seinen Zähnen, nur um kurz darauf wieder entschuldigend darüber zu streifen.

Ich konnte nicht mehr klar denken. Mein Körper war erstarrt, verweigerte jeglichen Befehl meinerseits und schien einfach nur diese liebevolle Berührung genießen zu wollen. Mein Puls wurde in die Höhe getrieben, ich versuchte krampfhaft Luft in meine Lungen zu saugen, doch jedes Mal vereitelte Emmett es, indem er unabkömmlich seine Lippen auf den meinen ließ. Und um ehrlich zu sein, wollte ich auch gar nicht atmen. Warum auch? In Anbetracht dieser engelsgleichen Berührung war doch so etwas Banales wie atmen vollkommen nebensächlich. Wer brauchte schon Luft um zu leben, wenn das wahre Leben doch einzig und allein in dem Genuss einer solchen Berührung lag?

Doch Emmett schien nicht ganz meiner Meinung zu sein, denn nach nicht allzu kurzer Zeit löste er sich von mir und brachte ein wenig Abstand zwischen uns. Schlagartig begannen die Motoren in meinem Inneren wieder zu arbeiten und keuchend holte ich Luft. Schnell atmete ich ein und wieder aus und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Ich hatte geglaubt, Emmett könnte mich nicht weiter in seinen Bann ziehen. Ich hatte geglaubt, er könnte mich nicht noch mehr aus der Fassung bringen. Doch da hatte ich mich getäuscht. Denn mit jeder weiteren Berührung wuchs meine Zuneigung zu ihm stetig an. Mit jeder weiteren Berührung begann mein Körper sich nach mehr zu sehnen.

„Ich muss aufpassen“, sagte Emmett leise in die Stille. „Sonst kann ich mich irgendwann nicht mehr beherrschen.“ Verwundert blickte ich in seine Augen, die mich mit einer Mischung aus Zärtlichkeit und Verlangen musterten.

Beherrschen… was meinte er denn nun damit wieder? Warum sollte er sich nicht beherrschen können? Und wovor wollte er sich überhaupt beherrschen?

Doch Emmett ignorierte meinen fragenden Blick und nahm dafür meine Hand in seine. Zärtlich fuhr er mit seinen Fingern über meine Haut und hauchte schließlich eine sanften Kuss auf meinen Handrücken. Dann zog er mich leicht zu sich heran und flüsterte mir zu. „Wir sollten uns so langsam auf den Weg zu den anderen machen, bevor Alice noch eine Vermisstenanzeige aufsetzt.“ Ein breites Grinsen zierte seine schön geformten Lippen.

Die anderen… Ich hatte ganz vergessen, dass wir nicht allein waren. Dass wir uns immer noch im Haus der Cullens befanden und seine gesamte Familie nur durch eine Nische von uns getrennt war. Schlagartig schoss mir die Röte bei der Vorstellung ins Gesicht, die anderen hätten vielleicht etwas hören oder gar sehen können. Emmett hingegen schien zu seiner alten, gut gelaunten Art zurückgekehrt zu sein, denn er schenkte mir noch ein breites Grinsen, bevor er mich aus der Küche führte.

Der Fernseher lief immer noch, als Emmett und ich im Raum erschienen. Alice und Jasper sahen sich einen alten Western an. Carlisle und Esme saßen auf der Couch neben ihnen, doch beide waren in ein Gespräch vertieft. Sie schenkten sich ihre komplette Aufmerksamkeit und in jedem ihrer Blicke konnte man ihre tiefe Verbundenheit spüren. Wie lange sie wohl schon zusammen waren?

In diesem Moment interessierte ich mich plötzlich für ihre Lebensgeschichte. In diesem Moment wollte ich einfach alles von ihnen wissen. Wie das Schicksal sie zusammengeführt hatte und wie sie letzten Endes ihren Engel gefunden hatten. Denn ich war mir sicher, dass sie genau das waren. Dass Gott ihnen das Geschenk gegeben hatte, wovon meine Mutter immer gesprochen hatte. Man sah es in ihren Blicken, in ihren zufälligen Berührungen, der Art und Weise, wie sie miteinander umgingen. Sie waren alle füreinander bestimmt – dessen war ich mir sicher.

Als Alice bemerkte, dass wir den Raum betreten hatten, wandte sie sich freudestrahlend zu uns um. Ihr Blick glitt zu unseren verschränkten Händen und das Lächeln auf ihren Lippen wurde noch eine Spur breiter. Kurz bedachte sie mich mit einem intensiven Blick, dann drehte sie sich um und wandte sich wieder dem Film zu.

Mein Blick glitt weiter und ich stellte fest, dass Bella und Edward gar nicht mehr da waren. Ich vermutete sie in seinem Zimmer, doch vielleicht waren sie auch hinaus gegangen, um das herrliche Wetter zu genießen. Verträumt starrte ich auf den hellen Schnee hinter der großen Fensterfront und erinnerte mich an unseren kleinen Ausflug vor mehr als einer Stunde. Ich hatte mich so unbekümmert und frei gefühlt. Ich hätte die ganze Welt umarmen können. Doch dann wurde mir plötzlich etwas bewusst und leicht entsetzt starrte ich in die Leere.

„Verdammt“, murmelte ich.

„Was?“ Emmett sah mich teils verwirrt, teils beängstigt an. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass er sich mir wieder genähert hatte, als sein markanter Duft unverkennbar zu meinen Sinnen vordrang. Doch selbst das konnte mich in diesem Moment nicht beirren. Immer noch entsetzt hob ich den Kopf und blickte zu ihm hoch.

„Ich habe vergessen, einen Schneeengel zu machen.“ Kurz herrschte Stille. Offensichtlich schienen auch Carlisle und Esme meine Bestürzung mitbekommen zu haben, denn ich konnte keine Unterhaltung ihrerseits mehr hören. Emmett sah für einen Augenblick so aus, als wüsste er nicht recht, was er darauf erwidern sollte. Er schien das Gefühl zu haben, dass ich scherzte.

Dann, ganz plötzlich, brach er in schallendes Gelächter aus und schüttelte ungläubig den Kopf. „Das ist einmal wieder so typisch du.“

Verwundert sah ich ihn an. „Das ist nicht witzig. Ich wollte unbedingt einen Schneeengel machen und jetzt habe ich das total vergessen.“ Ich sah aus den Augenwinkeln, wie sich Alice ebenfalls ein Lächeln nicht verkneifen konnte und auch der Rest schien eher amüsiert von meiner Aussage zu sein.

„Das holen wir irgendwann nach, okay?“ Langsam schien sich Emmetts Belustigung wieder einzustellen. Auch wenn er sich ein Grinsen immer noch nicht verkneifen konnte. Ohne eine Antwort von mir abzuwarten, zog er mich bereits hinter sich her und ließ sich geräuschvoll auf dem Sofa neben Alice und Jasper nieder. Einen Moment lang war ich verwirrt, dann folgte ich seinem Beispiel und setzte mich ebenfalls. Sofort schlangen sich Emmetts starke Arme wieder um mich und zogen mich näher zu sicher heran. Schlagartig umhüllte mich wieder ein Gefühl der Geborgenheit.

 

Die Zeit flog zäh dahin, während ich mich mehr und mehr an Emmett kuschelte und den Film vollkommen ausblendete. Gedankenverloren schweiften meine Augen durch den Raum und ich konnte nicht leugnen, dass mein Blick des Öfteren bewundernd an dem großen Konzertflügel hängen blieb. Teilweise juckte es mich in den Fingern darauf zu spielen, doch ich hatte dieser Tätigkeit schon lange abgeschworen.

„So. Und was wollen wir jetzt machen?“, durchdrang Alices sanfte Stimme den Raum als der Abspann eingeblendet wurde. Ich sah aus den Augenwinkeln wie sie die Fernbedienung betätigte und den Fernseher ausschaltete.

„Hey“, brummte Emmett und sah empört zu ihr herüber. „Wer hat dir hier das Couchkommando gegeben?“

Sie ignorierte seine Aussage und wandte sich stattdessen mir zu. „Amylin, hast du eine Idee?“, fragte sie frei heraus und sah mich erwartungsvoll an.

In diesem Moment erblickte ich eine Schachtel oben auf einem Regal in einer Ecke des Raumes und als ich die Worte entziffert hatte, hellte sich meine Miene auf. „Ich wäre für eine Runde Mensch ärgere dich nicht.“

Perplex sah sie mich an. Offensichtlich wusste sie nicht, worauf ich hinaus wollte. Kurzerhand stand ich auf, lief zu dem Regal und holte besagte Schachtel hervor. Sie sah noch ziemlich neu aus, anscheinend hatte man sie nur ein paar Mal benutzt.

Mensch ärgere dich nicht“, wiederholte ich und hielt ihr das Spiel entgegen. Kurz herrschte Stille, dann drang erneut Emmetts schallendes Gelächter an meine Ohren. Verwundert sah ich ihn an und auch Alice wandte ihm ihren Blick skeptisch zu.

„Na dann darfst du das schon einmal nicht spielen“, richtete sich Emmett lachend an sie.

„Wieso nicht?“, fragte sie perplex und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Na weil da für 6-99 Jahren drauf steht.“ Immer noch konnte er sein Lachen nicht unterdrücken und hätte er gekonnt, so hätte er mit Sicherheit Tränen bekommen.

Zur Antwort streckte sie ihm frech die Zunge raus. „Ich wette, ich schlage dich trotzdem mit links.“

„Klar, weil du auch schummelst.“ Dann wandte er sich an mich. „Spiel besser nicht mit ihr. Sie sieht jeden deiner Züge voraus und hat im Handumdrehen gewonnen.“

„Ja und?“, erwiderte ich und lief, immer noch die Schachtel in der Hand, zum großen, edlen Holztisch. „Darum geht es doch auch gar nicht.“

„Worum dann?“

„Um den Spaß“, erwiderte ich und setzte mich, während ich gleichzeitig begann, das Spielbrett aufzubauen. Verwundert sahen mich alle von ihren Plätzen aus an. Sie schienen mir nicht ganz folgen zu können. „Nicht umsonst heißt das Spiel Mensch ärgere dich nicht. Es geht mir nicht ums Gewinnen oder darum, die Beste zu sein. Das Spiel macht Spaß, egal mit wem man es spielt. Und darum geht es. Einfach nur um den Spaß am Spielen.“

Einen Moment bedachte Emmett mich mit einem skeptischen Blick, fast so, als glaubte er ich sei krank. Doch kurz darauf riss ihn Alice auch schon aus seinen Gedanken. „Siehst du. Endlich einmal jemand, der meine Gabe nicht als lächerliche Ausrede benutzt, nur weil er gegen mich verliert.“

„Willst du auf irgendetwas Spezielles hinaus, Struwwelpeter?“ Mit einem ernsten Blick, wandte er sich Alice zu.

Diese zuckte nur mit der Schulter, murmelte unschuldig etwas von „Nein, nichts spezielles“ und gesellte sich dann zu mir.

Ich hatte dieses Spiel seit Jahren nicht mehr gespielt. Um ehrlich zu sein, seit meine Eltern nicht mehr am Leben waren. Und es tat so gut, es nach all der Zeit wieder zu spielen. Alice und ich lachten viel. Ich wusste, dass sie jeden meiner Züge voraussah, noch bevor ich sie überhaupt ernsthaft in Erwägung gezogen hatte. Doch das war mir egal. Es machte Spaß, und nur das zählte.

Mit der Zeit gesellten sich auch die anderen dazu. Sie schienen von dem heiteren und ausgelassenen Spiel angetan zu sein und fasziniert beobachteten sie Alices und meine Partie, bis sie einstiegen und wir alle gegeneinander spielten. Selbst Emmett konnte sich irgendwann vom Fernseher loseisen und zog seinen Stuhl nahe an meinen heran. Ich spürte seine Anwesenheit dicht hinter mir und für kurze Zeit brachte es mich so aus dem Konzept, dass ich sogar vergaß mit welcher Farbe ich eigentlich spielte.

Edward und Bella tauchten auch urplötzlich auf und durch Edwards Gabe wurde das Ganze noch interessanter. Vor allem, da er sich immer darüber ärgerte, dass er Bellas Gedanken nicht lesen konnte und somit einen Nachteil gegenüber Alice hatte. Die Zeit flog nur so dahin, der Abend rückte heran und je mehr wir spielten, desto mehr überraschte es mich, wie ein einziges Spiel so fesselnd sein konnte.

Glücklich und mit vor Aufregung geröteten Wangen blickte ich in die Runde. Ein warmes Gefühl machte sich in mir breit, als ich in die freudigen Gesichter der anderen sah. Ich wusste nicht, woher es kam oder warum es urplötzlich jetzt auftauchte. Ich wusste nur, dass ich dieses Gefühl schon lange nicht mehr gespürt hatte. Dass es mir vor Ewigkeiten abhanden gekommen war und jetzt sich den Weg zurück zu meinem Herzen erkämpfte, mit aller Macht und den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. Ich war mir sicher, dass dieses Gefühl so schnell nicht wieder verschwinden würde.

Und darüber war ich glücklich. Denn es war das Gefühl, Teil einer Familie zu sein.

 

Emmetts Sichtweise

 Dunkelheit umhüllte mich und die Bäume flogen an mir vorbei. Sanft hielt ich Amylin dicht an mich gepresst. Sie war so leicht, dass ich mich des Öfteren vergewissern musste, dass ich sie noch wirklich im Arm hielt.

Nur sie hätte in so einer Situation einschlafen können. Während alle anderen noch in ihr Spiel vertieft waren, hatte ich irgendwann ihren Kopf gegen meine Brust fallen gespürt und als ich hinunterblickte, musste ich feststellen, dass sie vor Erschöpfung ins Land der Träume übergegangen war. Vorsichtig und darauf bedacht, sie nicht zu wecken, hatte ich sie vom Stuhl in meine Arme gehoben und den anderen zu verstehen gegeben, dass ich sie nach Hause bringen würde.

Nun lag sie hier in meinen Armen und krallte sich an meinem T-Shirt fest, während sie vermutlich nicht einmal ahnte, wo sie sich gerade befand. Ihre geschmeidigen Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln und ich konnte einen leisen Seufzer vernehmen. Ich hätte ihr Stunden, wenn nicht sogar Jahre dabei zusehen können, wie sie schlief. Wie sich ihre Brust sanft hob und wieder senkte. Ihre leise Atmung hatte eine ungewohnt beruhigende Wirkung auf mich. Ich dachte an unsere erste Begegnung. Mein Verlangen nach ihr hatte damals jeglichen nüchternen Gedanken aus meinem Kopf verbannt. Ich wollte ihr Blut trinken, wollte den süßen Saft des Lebens in mir aufnehmen und ihn für immer dort speichern. Doch war es damals wirklich nur die Begierde nach ihrem Blut gewesen? Hatte ich mich bei dieser Begegnung nur einen kurzen Augenblick lang dem Durst des Tieres in mir hingegeben – oder vielleicht doch eher dem Verlangen meiner selbst? War diese tiefe Zuneigung ihr gegenüber vielleicht schon von Anfang an da gewesen und ich hatte es nur fälschlicherweise als Durst betrachtet, weil ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, was es bedeutete, jemanden wie sie zu haben?

Ein weiteres Mal blickte ich zu ihr herunter. Am liebsten hätte ich jetzt in ihre Augen gesehen. In ihre unschuldigen, klaren blauen Augen. Je mehr Zeit ich mit ihr verbrachte, desto weniger konnte ich mich von ihr lösen. Desto mehr kostete es mich an Kraft auch nur für ein paar Sekunden den Blick von ihr zu wenden. Ich wollte jeden noch so kleinen Augenblick meines restlichen Lebens mit ihr verbringen.

Unbehagen ergriff mich plötzlich und ich blieb nicht unweit von ihrem Haus entfernt stehen. Der Mond schien vereinzelt durch die Tannen und ließ die Umgebung in einer eigenartigen Art und Weise schimmern.

Ob sie das jemals tun würde? Ob sie jemals bereit dazu wäre ihr bisheriges Leben aufzugeben und stattdessen der Ewigkeit entgegenzutreten – zusammen mit mir? Ich spürte, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete und das erste Mal seit langem, hatte ich das Gefühl zu ersticken.

Amylin bedeutete mir so viel. Um nichts in der Welt würde ich sie gehen lassen. Um nichts in der Welt würde ich sie je wieder hergeben. Ich konnte es nicht ertragen, sie leiden zu sehen. Ich wollte jegliche Art von Trauer, Schmerz und Leid von ihr fernhalten. Ich war bereit alles für sie zu tun.

Meine Lippen verzogen sich zu einer schmalen Linie, während ich gequält zu ihr heruntersah und eine Haarsträhne hinter ihr Ohr strich.

Ich hatte Edward nie verstanden, warum er ein so großes Drama darum machte, Bella nicht zu verwandeln - warum er so erpicht darauf war, ihre Menschlichkeit zu erhalten. Ich würde das sanfte Heben ihrer Brust und das leise ein- und ausatmen vermissen. Vor allem aber würde ich es vermissen, sie schlafend in meinen Armen liegen zu haben und ihr stundenlang zuzusehen. Doch all das war nichts im Vergleich zu dem Gedanken, dass ich Amylin irgendwann verlieren würde. Ich konnte mir ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen, wollte keinen Augenblick meiner Existenz mit ihrer Abwesenheit verbringen. Ich wollte sie bei mir haben. Für immer.

Doch würde sie das je tun? Ich erinnerte mich daran, was sie gestern von ihren Eltern erzählt hatte – wie sie ums Leben gekommen waren. Wie konnte ich von dem Mädchen, was mir mehr als meine eigene Existenz bedeutete, verlangen, dass sie zu so etwas wie mir wurde? Zu so etwas, was ihr ihre Familie genommen hatte? Zu etwas, womit sie vermutlich ihre schlimmsten, schmerzhaftesten und leidvollsten Erinnerungen verband.

Ich konnte es nicht tun. So sehr ich mich auch nach ihrer Anwesenheit an meiner Seite sehnte. Ich konnte ihr so etwas nicht antun. Ganz gleich, was es mit mir machen würde. Ganz gleich, was aus mir werden würde, wenn sie plötzlich nicht mehr da wäre. Um nichts in der Welt würde ich sie je darum bitten.

Plötzlich hatte ich den Drang, sie fester zu halten. Sie an mich zu pressen und nicht mehr loszulassen. Als könnte ich sie dadurch an mich binden. Als könnte ich dadurch meiner Sehnsucht Erlösung verschaffen. Als könnte ich dadurch die kleine Lücke, die zwischen ihrer Welt und meiner klaffte, schließen.

Vorsichtig legte ich sie in ihr großes Bett und zog die Decke über sie, stets darauf bedacht, sie nicht zu wecken. Sanft zog ich ihre feinen Wangenknochen nach, fuhr leicht über ihre Lippe und blieb schließlich an ihrem Kinn hängen. Hauchzart setzte ich einen Kuss auf ihre Stirn und ich hörte, wie sie erneut seufzte.

Ich würde warten. Ich musste warten. Warten und hoffen. Dass sie irgendwann einmal, genau wie Bella, von selbst den Wunsch hatte, ihr Leben so zu leben, wie ich es tat. Gemeinsam mit mir. Für die Ewigkeit.

An angel

Ein kühler Windhauch strich über meine Wangen und automatisch zuckte ich leicht zusammen. Mein Gehirn war noch etwas benommen, ich spürte einen warmen, weichen Gegenstand auf meinem Körper und versuchte das Durcheinander in meinem Kopf zu ordnen. Doch das war gar nicht so einfach, denn nur langsam ließ sich etwas zu einzelnen Gedanken formen. Es war eine mühselige Prozedur und eigentlich hätte ich schon längst aufgegeben. Aber irgendetwas sagte mir, dass es besser wäre, wenn ich es nicht täte.

Das erste, wonach ich mich fragte, war, wo ich mich befand. Ich roch Kiefernholz, Moos und aus irgendeinem unerfindlichen Grund auch Nässe. Der Geruch kam mir bekannt vor, er versuchte Erinnerungen zu wecken und gleichzeitig wollten sich Bilder in mein Gedächtnis drängen. Doch mein Verstand arbeitete langsam – zu langsam. Farben schossen an meinem inneren Auge vorbei und noch bevor sie sich zu erkennbaren Konturen zusammensetzen konnten, waren sie schon wieder durch andere ersetzt worden.

Ich atmete einmal tief ein, versuchte dadurch mehr von diesem Geruch in mich aufzunehmen, und die wabernde Masse in meinem Kopf anzuregen. Sanfter Stoff strich über meine warme Haut und gab mir ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit. Doch irgendetwas war komisch, irgendetwas war anders. Auch wenn mein Kopf mir sagte, dass ich dieses Fleckchen Erde nicht verlassen sollte, auch wenn mein Körper sich viel zu wohl fühlte, um sich jetzt zu bewegen. Trotz allem wirkte es irgendwie nicht… richtig. Sollte ich nicht eigentlich Kälte spüren? Eine erschauernde Kälte und zugleich einen steinernen Untergrund, der mir mehr Sicherheit und Geborgenheit bot, als es mich jetzt erfüllte? Doch wo war all das?

Plötzlich hatte ich das Bedürfnis, so schnell wie möglich von hier wegzukommen. Diesen Ort, an dem ich nicht sein durfte – an dem ich nicht sein wollte – zu verlassen und mich stattdessen dahin zu begeben, wo ich wirklich hingehörte.

Mühselig öffnete ich meine Augen. Nur schwer ließen sich die Lider heben, mein Körper war noch lange nicht so wach, wie mein Verstand es vor wenigen Augenblicken geworden war. Es dauerte eine Weile, bis ich meine Umgebung erkennen konnte. Es hatte noch nicht zu dämmern begonnen, nur der Tau am Fenster ließ darauf schließen, dass bald die Sonne hindurch brechen würde. Ich erkannte mein Zimmer, die Kiefern vor meinem Fenster, mein Nachttisch und darauf Jane Austens aufgeschlagenes Buch Emma.

Ein leises Stöhnen kam mir über die Lippen, als ich versuchte, meine müden und verkrampften Gliedmaßen zu bewegen. Nur widerstrebend gingen sie dieser Aufforderung nach. Ich drehte mich auf die andere Seite meines Bettes. Hoffte, dass ich dort das sah, wonach es mich verlangte. Eine Kälte, die jeden noch so warmen Sommertag in den Schatten stellte. Einen stählernen Körper, der verführerischer als jedes flauschige Bett war. Und dann dieses Karamell, das erneut seine beschützerischen Ketten um mich legte, mich an sich fesselte und nie mehr gehen lassen würde.

Doch die Stelle neben mir war leer. Stattdessen blickte ich auf das Ziffernblatt meines Weckers.

Mo 23/11/10 – 07:23.

Ich spürte, wie sich die roten Ziffern in meinen Kopf einbrannten, wie sie sich ihren Weg erkämpften, um sich dort einzunisten. Dann machte es plötzlich Klick und verschwunden war die Trägheit meines Körpers. Ich kam zu spät zur Schule!

Hastig warf ich die Decke zur Seite, sprang aus dem Bett und klaubte eilig ein paar Kleidungsstücke aus meinem Schrank zusammen. Schnell drehte ich das Wasser in meiner Dusche auf und machte eine Katzenwäsche. Für mehr war einfach keine Zeit.

Während ich meine Schulsachen für den heutigen Tag zusammensuchte, hüpfte ich auf einem Bein im Zimmer hin und her und versuchte zugleich mich in meine frisch gewaschene Jeans zu zwängen. Ein Apfel – mein heutiges Frühstück – klemmte mir zwischen den Zähnen und nur mit Mühe konnte ich ihn daran hindern, mir aus dem Mund zu fallen. Glücklicherweise hatte ich meine Hausaufgaben schon am Freitagabend erledigt. Ich hatte mich ablenken müssen, denn der Gedanke, dass ich einen Tag später ein Date mit Emmett haben würde, beflügelte meinen Körper auf unerklärlich Weise. Jetzt verstand ich diese Reaktion.

Emmett – wo war er eigentlich? War ich nicht gestern noch bei ihm und seiner Familie gewesen und hatte mit ihnen eine Runde Mensch ärgere dich nicht nach der anderen gespielt? Wie kam ich dann wieder zu mir nach Hause? Ich konnte mich nur noch daran erinnern, wie mein Körper nach den Strapazen des Tages immer träger geworden war und wie ich eigentlich nur kurz meine Augen schließen wollte, um ihnen etwas Ruhe zu gönnen. Doch offensichtlich war ich eingeschlafen. Wie aber konnte ich dann plötzlich in meinem eigenen Bett wieder aufwachen?

Mit einem erneuten Blick auf die Uhr schlüpfte ich in meine Schuhe. Ich hatte noch achtzehn Minuten Zeit, bis der Unterricht anfing. Eigentlich brauchte ich für den Fahrweg fünfundzwanzig Minuten. Ich würde also definitiv zu spät kommen.

Schnell wickelte ich den Schal um meinen Hals, versuchte mich dabei nicht zu erwürgen, zog mir meine dicke Jacke an und nahm mir noch die Zeit, um mich noch von meinen Eltern zu verabschieden. Dann griff ich nach den Schlüsseln, riss die Tür auf und prallte prompt mit etwas hartem zusammen, als ich ohne aufzublicken einen Schritt hinaustrat. Fluchend rieb ich mir die Stirn.

„Warum denn gleich so stürmisch am frühen Morgen? Kannst du es etwa nicht erwarten, mich wieder zu sehen?“ Als ich seine Stimme vernahm, durchzuckte mich ein Stromstoß und überrascht blickte ich auf. Er stand wahrhaftig vor mir, hatte sein typisches Grinsen aufgelegt und sah mich mit diesen karamellfarbenen Augen an. Mein Verstand verabschiedete sich wieder und mein Körper wollte mir partout nicht gehorchen. Ich starrte ihn einfach nur an.

Als er keine Reaktion meinerseits bekam und offensichtlich durchschaute, dass ich im Moment auch zu keiner im Stande war, brach er kurz in schallendes Gelächter aus und zog mich dann in seine starken Arme. „Heißt das etwa, dass ich dich den ganzen Tag tragen darf?“

Hitze stieg in meinen Wangen auf und ein süßer Stich fuhr mir durch mein Herz. Der hypnotisierte Teil meines Kopfes schrie unverkennbar ja. Aus seiner Sicht, konnte er mich ruhig den ganzen Tag im Arm halten, mich fest an ihn drücken und mich am besten nie wieder loslassen. Es wollte die Kälte spüren, die von Emmetts steinernem Körper ausging - die Kälte, nach der ich mich so sehr sehnte. Doch ein kleiner Teil meines Verstandes hatte mich noch nicht komplett im Stich gelassen.

Ich räusperte mich laut, versuchte dadurch meinen Stimmbändern zu zeigen, wie man arbeitete und zwang mich zu irgendeinem klaren Gedanken. „Hi“, hauchte ich. Das war nicht wirklich das gewünschte Ergebnis, doch immerhin besser, als ihn weiterhin anzustarren.

„Hi“, hauchte er ebenfalls. Allerdings hörte es sich bei ihm um einiges besser an als bei mir. Der vernebelte Teil meines Ichs streckte mir süffisant die Zunge heraus.

Dann fiel mir wieder ein, weshalb ich vorhin in ihn gerannt war und erschrocken blickte ich auf meine Uhr. Noch fünfzehn Minuten bis zum Unterrichtsbeginn. Das schafften wir definitiv nicht mehr. „Warum bist du hier?“, fragte ich ihn, während ich langsam wieder zu klarem Verstand kam und schnell die Tür hinter mir abschloss.

„Ich habe auf dich gewartet“, grinste er zur Antwort, als sei es das natürlichste auf der Welt. Einen kurzen Augenblick war ich wieder von seinem Blick gefangen. Von diesem warmen Karamell, welches jegliche Anspannung und Gewissensbisse wegen meiner und nun unserer Verspätung von mir löste. Kurz darauf schüttelte ich den Kopf.

„Aber jetzt kommst du doch auch zu spät.“

Sein Grinsen wurde breiter. „Nicht, wenn ich fahre.“

 

Keine zehn Minuten später fuhr Emmett mit seinem Jeep auf den Schulparkplatz. Schüler liefen vereinzelt hin und her oder fielen sich zur Begrüßung in die Arme. Mit einer einzigen kurzen Bewegung seines Lenkrades manövrierte er uns in eine Lücke und parkte seinen Jeep perfekt.

Um nichts in der Welt wollte ich das noch einmal erleben! Da ließ ich mich doch eher von ihm im Eiltempo durch den Wald tragen, als noch einmal dabei zu sein, wenn er fuhr. Er schien einen Drang zu hoher Geschwindigkeit und ein Händchen für waghalsige Überholmanöver zu haben. Nach der Hälfte des Weges hatte ich nur noch die Augen geschlossen gehalten und zu Gott gebetet, dass wir heil ankamen.

Doch jetzt wo mich die Erde wiederhatte und ich beruhigt den festen Boden unter meinen Füßen spürte, stellte sich auch das Zittern meiner Hände wieder ein. Emmett wartete hinter dem Jeep auf mich und mit geschulterter Tasche ging ich auf ihn zu. Seine Augen verweilten unverwandt auf mir, ein Grinsen zierte seine schönen Lippen und er streckte mir seine Hand entgegen. Langsam legte ich meine in seine, gefangen von seinen Augen und die Menschen um mich herum vergessend. Leicht zog er mich zu sich heran, kurz wurde sein Grinsen breiter, als ich gegen ihn prallte und verwundert zu ihm aufblickte. Dann beugte er sich zu mir herunter und verweilte mit seinen Lippen kurz auf den meinen.

Überrascht behielt ich meine Augen für einen Augenblick offen und bemerkte aus den Augenwinkeln, wie viele der Schüler stehen blieben und sich offensichtlich uns zuwandten. Dann verdrängte ich diese Tatsache schnell aus meinem Kopf und gab mich einfach nur dieser zärtlichen Berührung hin. Dieser Berührung, nach der ich mich schon den ganzen Morgen gesehnt hatte.

Für meinen Geschmack viel zu früh löste er sich wieder von mir und ein missbilligender Seufzer kam mir über die Lippen. Emmett fing an zu lachen und peinlich berührt öffnete ich die Augen. Die Röte schoss mir in die Wangen und seinem Blick ausweichend, ließ ich meine Augen über den Parkplatz schweifen.

Ich sah, wie mehrere Schüler mit dem Finger auf uns zeigten. Sie hatten die Köpfe dicht zusammengesteckt und tuschelten aufgeregt mit ihren Gesprächspartnern. Unbehagen ergriff mich und automatisch erinnerte ich mich an meinen ersten Tag an der Forks High. Schon damals hatte ich es nicht gemocht im Mittelpunkt des Interesses zu stehen.

Dann traf mein Blick plötzlich Mike und ein schmerzender Stich durchzog mich, als ich in sein enttäuschtes und wütendes Gesicht blickte. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und ich versuchte ihn herunterzuschlucken. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Am liebsten hätte ich ihn angelächelt, versucht, ihn damit irgendwie zu beruhigen und zu zeigen, dass wir immer noch Freunde waren. Doch eine innere Stimme sagte mir, dass ich es dadurch nur noch schlimmer machen würde.

„Wenn er dir noch einmal wehtut, bringe ich ihn um“, hörte ich Emmetts kalte Stimme hinter mir und ein Schauer lief mir über den Rücken. Ich wollte lachen, dem Unsinn seiner Worte Ausdruck verleihen. Doch als ich aufsah und in seine Augen blickte, hatte ich plötzlich das Gefühl, nicht mehr zu wissen, wie es ging – lachen.

Emmetts Augen waren kalt. Sie waren nicht wie sonst warm, einladend und mit einem Funkeln, das immer dann auftauchte, wenn er mich angrinste. Trotz dieser unglaublichen Farbe zogen sie mich zum ersten Mal nicht in ihren Bann. Denn zum ersten Mal hatten sie etwas Teuflisches an sich.

Sein Blick war starr auf Mike gerichtet, sein Mund hatte sich zu einer schmalen Linie verzogen. Seine Züge waren hart und fest und ließen nicht den Hauch einer Bewegung zu – kein Zucken, kein Blinzeln. Er sah aus wie aus Stein gemeißelt. Und in diesem Augenblick wurde mir zum ersten Mal richtig klar, was ich da eigentlich vor mir hatte.

Kalte, tote Augen, die ihre Beute ins Visier nahmen, verfolgten und nicht mehr entkommen lassen würden. Der schmale Mund, der nur zu gut die tödlichen Werkzeuge dahinter verbarg. Der steinerne Körper, der mit Leichtigkeit von einer liebevollen Umarmung zu roher Gewalt übergehen konnte. In diesem Moment sah ich zum ersten Mal ganz deutlich, dass Emmett ein Vampir war und mit unvorhersehbarer Leichtigkeit seinen Worten Taten folgen lassen konnte und dennoch…Dennoch hatte ich keine Angst.

Wie konnte es sein, dass solche kalten Augen mich immer wieder liebevoll anblickten? Wie konnte es sein, dass dieser Mund, der im Bruchteil einer Sekunde über Leben und Tod entscheiden konnte trotz allem warm und weich auf meinem brannte? Wie konnte es sein, dass dieser steinerne Körper, der zum Zupacken und Zerreißen geschaffen wurde, mich trotzdem sicher und geborgen hielt? Obwohl Emmett in diesem Moment genau dem entsprach, wozu er geschaffen wurde, sah ich in ihm nur eines.

Einen Engel. Meinen Engel.

„Du musst mich mit ihm reden lassen.“ Meine Stimme war leise und ruhig. Ich befürchtete, Emmett vielleicht zu verschrecken oder gar noch wütender werden zu lassen. Denn ich wusste, dieser Ausweg würde ihm nicht gefallen. Doch es gab keinen anderen – keinen besseren. Ich musste mit Mike reden, musste ihm alles erklären und ihm verdeutlichen, dass sich trotz allem nichts zwischen uns änderte. Denn das, so fühlte ich, war ich ihm schuldig.

Emmetts steinerne Miene wandte sich mir missbilligend zu und meine Befürchtungen wurden bestätigt. Es missfiel ihm ganz und gar. Würde es nach ihm gehen, konnte Mike wohl da hingehen, wo der Pfeffer wuchs. Hauptsache, er würde mir nie wieder zu nahe kommen.

„Bitte“, flüsterte ich und sah ihn flehend an. Er musste mir eine Chance geben. Er musste Mike eine Chance geben. Seine Zähne knirschten, als er, um Selbstbeherrschung ringend, den Kiefer fest aufeinander presste. Ich hörte, wie er krampfhaft einatmete, vermutlich um sich irgendwie ruhig zu halten und sich von seinen finsteren Gedanken abzulenken. In seinen Augen konnte ich das Chaos, welches in ihm herrschte genau erkennen und es tat mir in der Seele weh. Ich wollte nicht, dass Emmett sich schlecht fühlte, wollte nicht, dass er sich irgendwelche Sorgen um mich machte. Ich hasste mich in diesem Moment selbst dafür, dass ich ihn darum bat.

Doch dann gab er nach. Ein Seufzen drang über seine Lippen, die vor einem Augenblick noch auf meinen geruht hatten und jegliche Anspannung löste sich aus seinem Körper. Jetzt sah er eher so aus, als wäre er erschöpft.

„Okay“, antwortete er ruhig und bedachte mich dabei mit einem intensiven Blick. Ich bemerkte, wie diese kleine Kapitulation ihm jede Kraft und Selbstbeherrschung abverlangte. „Aber ich mache das nur deinetwegen.“ Erneut änderte sich seine komplette Körperhaltung und er sah mich ernst an. „Es ist mir egal, wie schlecht es dem Schoßhündchen da drüben geht. Es ist mir egal, ob er sich die Augen ausheult oder sich das Leben nehmen will. Ich mache das nur, weil ich weiß, dass er dir zu viel bedeutet, als dass du ihn einfach vergessen kannst. Sehr zu meinem Leidwesen.“

Ein kleines Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus und eine süße Wärme ergriff plötzlich mein Herz. Womit hatte ich nur einen Engel wie ihn verdient? Obwohl ich genau wusste, wie viel Kraft es ihn kostete, dass ich das von ihm verlangte, willigte er ein… mir zuliebe. Er war einfach viel zu gut für mich.

„Danke.“ Ich sah ihm tief in die Augen, versuchte in diesen kurzen Blick all meine Empfindungen und Gefühle zu stecken, die mich in diesem Moment ergriffen und ihm zu zeigen, wie viel mir seine Entscheidung bedeutete. Wie viel er mir bedeutete.

Doch gerade als ich mich von ihm abwandte, um mich zu den anderen zu gesellen, packte er mich schnell am Arm und hielt mich zurück. Verwundert blickte ich zu ihm auf und starrte in seine karamellfarbenen Augen, die mich jetzt süffisant anblitzten.

„Bevor du gehst, müssen wir aber noch etwas klarstellen.“ Meine Augenbrauen zuckten skeptisch nach oben und erwartungsvoll sah ich ihn an. Was mussten wir denn noch klarstellen? „Ich werde mich nicht mit ihm anfreunden.“

Mein Mund öffnete sich zu einer Erwiderung, doch er hob die Hand und schüttelte nur mit dem Kopf. Das hatte ich doch gar nicht von ihm verlangt. „Ich werde dich in seiner Anwesenheit berühren, … und küssen.“

Einen Moment brauchte ich, um die Bedeutung seiner Worte zu verstehen und schlagartig schoss mir die Röte in die Wangen und ein Kribbeln erfasste mich am ganzen Körper. Er wollte mich küssen – vor allen anderen.

„Ich werde keine Rücksicht auf ihn nehmen.“ Seine Stimme war ernst und fest ruhte sein Blick auf mir. Jedes seiner Worte war ihm ernst. Er wollte seinen Standpunkt verdeutlichen, wollte mir die Bedingungen zeigen, die mein Handeln unmittelbar nach sich zog. Doch dann verzog sich sein schöner Mund zu einem breiten Grinsen und er fügte hinzu: „Und ich werde ihm weiterhin Tiernamen geben… und es genießen.“

Noch bevor ich etwas erwidern konnte, küsste er mich bereits und ich spürte das amüsierte Grinsen seinerseits auf meinen Lippen brennen. Dann löste er sich von mir, strich mir mit seiner kühlen Hand kurz über die Wange und zwinkerte mir zu, bevor er mir einen leichten Stoß in Richtung der anderen gab. „Geh! Oder ich überlege es mir anders und bringe dich an einen Ort, wo uns garantiert kein Mike stört.“

Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, was er mir damit sagen wollte. Ein Stromstoß durchfuhr meinen ganzen Körper und mein Herz pochte in einem Tempo, das Klopfer vor Neid erblassen ließe. Ich schluckte kurz, mein Mund fühlte sich plötzlich trocken an und irgendwie konnte ich mich nur mit Mühe von seinem schelmischen Grinsen und seinen funkelnden Augen lösen. An meine glühend heißen Wangen wollte ich gar nicht erst denken.

In diesem Moment war das wichtigste, dass ich einen klaren Kopf bewahrte und darüber nachdachte, was ich Mike sagen könnte. Wie ich ihm die ganze Situation schonend beibringen konnte. Seit dem Streit hatten wir nicht mehr miteinander gesprochen, uns nur angeschwiegen und beim Mittag ignoriert. Oder besser gesagt, er hatte mich ignoriert. Doch jetzt sagte Emmett so etwas und brachte mich und meine Gedanken vollkommen durcheinander.

„Guten Morgen.“ Ein breites Lächeln lag mir auf den Lippen und reihum blickte ich die anderen an. Angela war die einzige, die mein Lächeln erwiderte. Eric sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen und einem erstaunten Gesichtsausdruck an. Jessicas Blick glitt immer zwischen Emmett, der bereits auf dem Weg ins Schuldgebäude war und mir hin und her und ihr Mund war leicht geöffnet. Offensichtlich suchte sie nach den richtigen Worten.

Mike hingegen behandelte mich wie Luft. Er sah mich kein einziges Mal an, sondern nestelte noch kurz an seinem Wagen und wandte sich dann an die anderen, ohne mich eines Blickes zu würdigen. „Kommt ihr? Ich habe keine Lust zu spät zu Mathe zu kommen.“ Er wartete gar nicht erst auf eine Antwort, sondern drehte sich einfach um und ging auf das rote Gebäude zu. Jessica folgte ihm aufs Wort, nicht ohne vorher noch einen kurzen Blick auf mich zu werfen. Eric machte ebenfalls Anstalten ihm zu folgen, nur Angela hielt ihn davon ab. Kurz blickte sie Mike hinterher, dann wandte sie sich mir entschuldigend zu.

„Schon gut“, lächelte ich zaghaft und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Ich konnte nicht von ihr verlangen, dass sie sich zwischen Mike und mir entschied. Schon gar nicht, da ich irgendwo immer noch die Neue war und wir uns nicht so gut kannten, wie sie Mike.

Sie nickte, schenkte mir zur Antwort ein freundliches und zugleich aufmunterndes Lächeln und gab dann Erics Zug nach.

Ich seufzte leise, als ich ihnen noch eine Weile hinterher blickte, dann wurde mir bewusst, dass ich noch zwei Minuten bis zum Unterricht hatte und eilig folgte ich ihnen.

 

„Darf ich ihn umbringen?“ Kaum als ich mich neben Emmett auf meinen Platz gesetzt hatte, drang seine kühle Stimme zu mir durch. Ich musste ihn nicht ansehen, um zu wissen, dass er wütend war. Das war wahrscheinlich noch untertrieben.

„Nicht in aller Öffentlichkeit“, versuchte ich zu scherzen, obwohl mir im Moment nicht danach war.

Wie konnte ich nur so naiv gewesen sein, dass ich mit Mike reden wollte? Was hatte ich erwartet? Verständnis? Freundlichkeit? Ein offenes Ohr? Nicht nach diesem Streit. Ich hätte es besser wissen sollen und dennoch war ich wie üblich zu ihm gegangen und wollte mich entschuldigen. Dabei gab es nichts, wofür ich mich hätte entschuldigen müssen. Nicht für meine Gefühle und schon gar nicht meine Beziehung mit Emmett. Er war doch derjenige, der meinte, er müsse um mich kämpfen. Ich hatte ihm verdeutlicht, dass wir Freunde waren, mehr nicht. Was sollte ich noch tun, um die Situation zwischen uns nicht noch zu verschlimmern?

In Gedanken versunken packte ich meine Sachen aus und bemühte mich, dem Unterricht zu folgen. Mr. Cabot stand vorne an der Tafel, erklärte einen neuen Lehrstoff und schrieb vereinzelt ein paar Formel an. Mich ablenkend, versuchte ich so gut es ging, mich auf das Gesagte zu konzentrieren. Immer wieder glitt mein Blick nach vorn, bevor ich die vereinzelten Zahlen und Zeichen abschrieb und mit kleinen Randnotizen versah. Emmett hatte sich neben mir lässig nach hinten gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt und ließ mich nicht aus den Augen. Es schien ihm offensichtlich zu gefallen, mich zu beobachten, denn ein leichtes Grinsen umspielte seine Lippen.

„Du solltest eher auf den Unterricht achten, als auf mich“, flüsterte ich ihm zu, widerstand jedoch dem Drang ihn anzusehen, da ich nur allzu gut wusste, was dann mit mir geschah.

Er beugte sich zu mir, aus den Augenwinkeln erkannte ich, dass sein Grinsen noch eine Spur breiter geworden war und mit rauer Stimme antwortete er: „Es gibt aber etwas viel interessanteres, als den Unterricht.“

Ich schnappte hörbar nach Luft und ein paar Schüler vor mir drehten sich verwundert um. Emmett grinste sie breit an, ein schelmischer Ausdruck in den Augen. Meine Wangen brannten und ich spürte, wie die Röte in ihnen aufstieg. Was hatte Mr. Cabot eben gerade noch mal gesagt? Aufgabe 2a bis f? Oder war es Aufgabe 11? Nervös blätterte ich die Seiten des Buches um, bis sich Emmetts Hand plötzlich auf meine legte und sie festhielt. Ein Stromstoß durchzuckte mich und sofort begann meine Haut an zu kribbeln. Ich biss mir auf die Lippe, versuchte mich innerlich zu beruhigen um nicht sogar etwas zu tun, was so gar nicht in den Unterricht passte.

Doch kaum eine Sekunde später löste sich Emmetts Hand auch schon wieder von meiner und zielstrebig blätterte er im Buch herum, bis er die richtige Seite fand und mit einem Finger auf die Aufgabe deutete. Nummer 3 und 4. Also komplett daneben.

„Danke“, zwang ich mich zu einer Antwort, immer noch darauf bedacht, ihn ja nicht anzusehen. Ich las mir die Aufgaben durch, nahm jedes Wort in mir auf und verstand dennoch nichts. Emmett brachte mich mit seiner Anwesenheit vollkommen aus dem Konzept.

„Soll ich es dir erklären?“ Für die anderen nicht sichtbar rutschte er mit seinem Stuhl leise zu mir heran und seine Arme berührten fast meine. Ich brachte gerade so ein Nicken zustande. Eigentlich hätte er mir den Stoff nicht erklären müssen. Ich hatte gut genug aufgepasst und alles mitgeschrieben. Nur leider brachte mich Emmetts Nähe so durcheinander, dass ich selbst die einfachsten Dinge vergaß. Außerdem wollte ich seine raue Stimme wieder hören, die immer dann auftauchte, wenn er flüsterte.

Emmett machte sich an die Aufgabe, mir den Sachverhalt zu verdeutlichen. Ich schrieb eifrig mit, fragte immer mal wieder nach, nur um den Anschein zu erwecken, ich verstünde es wirklich nicht.

„Du hast eine schöne Schrift.“ Gerade hatte ich mir eine weitere Randnotiz gemacht, die mich später beim Lernen wieder daran erinnern sollte, was er mir soeben erklärt hatte. Verwundert und vollkommen aus dem Konzept gebracht, blickte ich auf und sofort war ich wieder von diesem Karamell gefangen. Wie lange würde es wohl dauern, bis ich stark genug war dieser Macht zu widerstehen? Wie lange, bis ich Emmett ansehen konnte, ohne plötzlich alles andere zu vergessen? Doch wollte ich das überhaupt? Das Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit aufgeben? „Ich könnte dir stundenlang dabei zuschauen, wie du konzentriert schreibst. Es hat eine beruhigende Wirkung.“ Ein freches Grinsen breitete sich auf seinen Lippen aus.

Verwundert blickte ich auf meine Notizen herab. Ich hatte meine Schrift nie für besonders gehalten. Eher schlicht und einfach. Sie erfüllte einzig und allein den Zweck, dass sie meine Gedanken erkennbar widerspiegelte. Doch vielleicht war das ja so, wenn man sich tief mit jemandem verbunden fühlte. Man sah alles an dem anderen plötzlich mit anderen Augen. Jede noch so kleine Bewegung, jeder noch so kleine Charakterzug versetzte einen in Erstaunen und Verzücken.

Einem inneren Impuls folgend, riss ich ein kleines Stück von meiner Seite ab, schrieb zwei Worte darauf und reichte es dann Emmett. „Damit du dich immer daran erinnern kannst, wie konzentriert ich schreibe.“

Zögerlich und mit einem überraschten Gesichtsausdruck nahm Emmett den Zettel entgegen und starrte auf die Buchstaben.

Mein Engel.

Ein lautloses Lachen ergriff ihn und ließ ihn den Kopf schütteln. Dann nahm er mir den Stift aus der Hand und schrieb an den Rand: Ich bin alles andere als ein Engel.

Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen wandte ich mich wieder meinen Aufzeichnungen zu und versuchte die letzte Aufgabe zu lesen. Doch aus dem Augenwinkel konnte ich ganz genau erkennen, wie Emmett sorgfältig das Stück Papier zusammenfaltete und es einsteckte.

 

Der Unterricht verlief im Schneckentempo. Nur mit Mühe konnte ich mir des Öfteren ein gelangweiltes Stöhnen verkneifen. Ich kannte dieses Verhalten eigentlich nicht von mir, doch schien ich in letzter Zeit vieles zu tun, was ich nicht gewohnt war. Ob das wohl mit Emmett zu tun hatte?

Gemeinsam waren wir auch schon kurze Zeit später auf dem Weg in die Mittagspause. Ich stand gerade an der Essensausgabe und begutachtete die Vitrinen, Emmett dicht hinter mir. Als ich mein heutiges Mittagessen gefunden hatte – ein Stück Pizza und einen Salat – folgte ich Emmett durch die Reihen der Tische. Ich erblickte Mike, Jessica und die anderen an einem runden Tisch am Fenster. Jessica erzählte gerade etwas spannendes und Angela und Eric hörten ihr zu. Tyler sagte irgendetwas zu Mike, doch der schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. Missbilligend und mit einer schmalen Linie als Mund stocherte er in seinem Mittagessen herum. Ich seufzte kurz bei dem Gedanken, dass ich mich jetzt nur allzu gern zu ihnen setzen würde. Doch ich war mir sicher, dass es nichts bringen würde, nicht in der Verfassung, in der Mike sich gerade befand. Außerdem hatten uns die anderen zwei Plätze freigehalten.

Ich stellte mein Tablett neben das von Bella und lächelte in die Runde. Emmett setzte sich neben mich und zog seinen Stuhl dicht zu mir heran, genau wie vorhin in Mathe. Aufgeregt begann er ein Gespräch mit Edward und Jasper über die New York Yankees und ich spürte seine kühle Hand, wie sie kleine Kreise an meinem Rücken zeichnete.

Es hatte eine beruhigende Wirkung auf mich und für einen kurzen Augenblick verdrängte es Mike aus meinen Gedanken und gab mir das Gefühl, dass alles in Ordnung war. Jedenfalls solange, bis ich aufblickte und direkt in Mikes wutverzerrtes Gesicht blickte. Er hatte seine rechte Hand zu einer Faust geballt und mit aufeinander gepresstem Kiefer starrte er erst mich und dann Emmett an.

Wie auf Kommando legte sich plötzlich sein Arm um mich und seine Finger strichen sanft über meine Schulter. Mikes Augen traten kurz ungläubig hervor, dann funkelten sie böse. Überrascht blickte ich zu Emmett auf, der sich aus dem Gespräch der anderen wieder ausgeklinkt hatte und offensichtlich Mikes Blick standhielt.

Seine Züge waren kalt und hart, er blinzelte nicht einmal. Immer wieder sah ich zwischen ihm und Mike hin und her, bis dieser irgendwann aufgab und den Blick abwandte. Ein siegreiches Grinsen breitete sich auf Emmetts Lippen aus und ohne etwas zu sagen, konzentrierte er sich wieder auf das Gespräch der anderen.

„Warum hast du das gemacht?“, fragte ich ihn frei heraus, da ich seine Handlung nicht ganz verstand. „Jetzt wird es vermutlich noch schwieriger für mich, irgendwie mit ihm zu reden.“

Emmett wandte sich mir zu und mit einem ernsten Ausdruck in den Augen sah er mich an. „Gut für mich.“ Ein schelmisches Grinsen legte sich auf seine markanten Züge, als er mich zu sich heranzog.

„Warum?“

„Weil ich kein Interesse daran hege, dass du je wieder mit ihm sprichst. Sein kindisches Verhalten nervt mich einfach und nur, weil er mit der Situation nicht klarkommt, nehme ich noch lange keine Rücksicht auf ihn. Ich habe dir gesagt, dass es mir egal ist, was er davon hält. Ich werde mich nicht verstellen oder auf gewisse Bedürfnisse verzichten, nur weil es sein könnte, dass er im nächsten Augenblick zu weinen anfängt.“

So hatte ich Emmett noch nie reden hören. Aber ihm schien jedes Wort ernst zu sein. Als würde er seinen Standpunkt noch einmal unterstreichen wollen, beugte er sich zu mir herunter und küsste mich leicht auf die Lippen. Die anderen am Tisch ließen uns glücklicherweise ein bisschen Privatsphäre, was ich von den anderen Schülern nicht gerade behaupten konnte. Ich hörte, wie am Nachbartisch getuschelt wurde und war mir sicher, dass einige der Schüler mit dem Finger auf uns deuteten.

Ich spürte seinen kalten Atem auf meiner Haut, als er sich wieder von mir löste und kurz an meiner Stirn verweilte. Dann lachte er plötzlich laut auf und entgegnete Edward einen Kommentar auf irgendetwas, was dieser zu Jasper gesagt hatte.

Ich allerdings hatte mehr Mühe, wieder zum Alltag zurückzukehren, denn mein Herz schlug immer noch wie wild in meiner Brust und meine Gedanken kreisten wirr herum. Kurz warf ich einen Blick zum Tisch der anderen, dann gab ich meinem inneren Verlangen und auch Emmett recht und lehnte mich an seine steinerne Schulter.

 

Die Sonne neigte sich leicht dem Horizont entgegen, strich sanft mit ihren Strahlen darüber und bereitete sich so auf ihr Rendezvous zu zweit vor.

Emmett und ich lagen auf meinem Bett. Er hatte sich auf die Seite gelegt, seinen Kopf mit einer Hand abstützend und mit der anderen zeichnete er kleine Kreise auf meiner erhitzten Haut. Überall wo er mich berührte kribbelte es und mein ganzer Körper schien wie elektrisiert. Der kleinste Windhauch genügte, um mich zusammenzucken zu lassen. Jane Astens Emma lag aufgeschlagen vor mir und seit einer guten halben Stunde las ich Emmett wieder daraus hervor. Nach der Schule hatte er mich nach Hause gebracht und aus einem inneren Verlangen heraus wollte ich ihn einfach noch nicht gehen lassen. Zum Glück nahm er mir das Angebot mit dem Vorlesen ab. Mir war zu dem Zeitpunkt einfach nichts Besseres eingefallen.

Nun lag ich hier, versuchte die Wörter und Sätze zu entziffern, während ich mich bemühte, mich nicht von seinen Berührungen durcheinander bringen zu lassen. Doch das war gar nicht so einfach und schon mehrmals war ich in der Zeile verrutscht.

Ein kühler Luftzug wehte durch das offene Fenster und wirbelte mir ein paar Strähnen ins Gesicht. Emmett lachte, als ich das Lesen für eine kurze Zeit einstellen musste, da ich die Wörter vor mir nicht mehr sehen konnte und klemmte sie mit einer einzelnen Bewegung wieder hinter mein Ohr. Seine sanfte Berührung bereitete mir Gänsehaut und leicht neigte ich meinem Kopf seiner Hand entgegen. Wie eine Katze, schoss es mir in diesem Moment durch den Kopf.

Emmetts Lachen wurde eine Spur herzhafter und ich war mir sicher, dass er das gleiche dachte, wie ich. Sofort schoss mir die Röte ins Gesicht. „Spielst du mir eigentlich irgendwann einmal etwas vor?“

Verwundert öffnete ich meine Augen und sah ihn an. Sein Blick ruhte auf einem Fleck in einer Ecke meines Zimmers und als ich diesem folgte, bemerkte ich, dass er mein Keyboard aufmerksam betrachtete. „Ich interessiere mich eigentlich nicht dafür. Immer wenn Edward spielt, ignoriere ich es. Aber bei dir ist es etwas anderes.“ Sein Kopf wandte sich mir zu und mit einem breiten Grinsen sah er mich an.

Kurz ließ ich mich von seinen Augen gefangen nehmen, dann erinnerte ich mich wieder daran, was er mich gefragt hatte und leise antwortete ich: „Nein.“

Konzentriert blickte ich wieder auf das Buch herab, suchte die Zeile, an der ich das letzte Mal stehen geblieben war und wollte gerade weiter lesen, als er mich erneut unterbrach: „Warum nicht?“ Ein leiser Seufzer entfuhr meinen Lippen.

Eigentlich war es kein Thema, worüber ich gerne sprechen wollte. Vor allem nicht mit Emmett, da ich genau wusste, dass er dabei immer darauf achtete, ja nichts Falsches zu sagen. Dabei war es gar nicht mehr so schlimm darüber nachzudenken oder davon zu erzählen. Nicht nachdem ich ihn endlich gefunden hatte.

„Ich habe früher immer mit meiner Mutter zusammen gespielt“, erwiderte ich auf seine Frage und blickte ihn direkt an. Ein leichtes Lächeln legte sich auf meine Lippen. Ich wollte ihm zeigen, dass dieses Thema für mich okay war.

Einen Moment lang schwieg Emmett. Er war sich nicht sicher, wie er darauf reagieren sollte, das sah ich in seinen Augen. Einen Teil von ihm interessierte es, mehr über mich und meine Vergangenheit zu erfahren. Der andere Teil jedoch war ganz und gar nicht begeistert von dieser Idee.

Um Emmett die Situation zu erleichtern, fuhr ich mit meiner Antwort fort. „Ich befürchte… nein. Ich habe Angst, dass die Erinnerungen zu stark sind. Dass, wenn ich anfange wieder zu spielen, ich damit nicht umgehen kann. Es ist nicht so, dass ich mich nicht an sie erinnern will oder kann. Es ist einfach nur so, dass, sobald ich mich an ein Klavier oder dergleichen setze, meine Finger jegliche meiner Befehle verweigern. Sie spielen einfach nicht.“, versuchte ich die Stimmung wieder etwas zu lockern. So viel zum Thema verliebt sein und verwirrendes Zeug quatschen.

Emmett schmunzelte leicht, während er eine meiner Haarsträhnen wieder in seine Hand nahm und damit spielte. Offensichtlich versuchte er das eben gesagte irgendwie zu verarbeiten. Ob ich vielleicht zu viel gesagt hatte? Langsam glitt mein Blick zu dem schon verstaubten, alten Keyboard zurück und einen kurzen Augenblick gab ich den Erinnerungen nach. Dem Gefühl der Leichtigkeit, mit der sich jede Taste herunterdrücken ließ. Das unmittelbare Folgen eines Tones. Die Melodie, die sich ihren Weg in mein Ohr und meine Seele erkämpfte. Ich vermisste es. Vermisste alles daran. Jeden richtigen Ton. Jeden falschen Ton. Jeden abgehackten Ton. Mein ganzer Körper sehnte sich danach. Ich wollte unbedingt wieder spielen.

„Vielleicht“, sagte ich plötzlich frei heraus und riss Emmett ebenfalls aus seinen Gedanken. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er mich an, während ich mich ihm wieder zuwandte. „Vielleicht. Irgendwann. Nicht heute… und auch nicht morgen. Aber vielleicht spiele ich irgendwann einmal für dich. Für meinen Engel.“ Und in diesem Moment glaubte ich ganz fest daran. Ich war mir sicher, dass Emmett es schaffen könnte. Dass er als mein Engel die Kraft hatte, mich von meiner Angst zu befreien. Mir all den Schmerz zu nehmen und mir das Gefühl zu geben, dass ich immer noch die gleiche sein würde, wie vor dem Spiel. Wenn es einer konnte, dann er.

Sein Blick war erstaunt und überrascht zugleich. Doch dann änderte er sich plötzlich und Empörung machte sich auf seinen markanten Zügen breit. „Nenn mich nicht Engel, das habe ich dir schon in Mathe geschrieben.“ Verwundert sah ich ihn aufgrund des plötzlichen Stimmungswechsels an. Worauf wollte er hinaus?

Ein Grinsen legte sich auf seine Lippen und schelmisch blitzten seine Augen mich an. „Nenne mich heißer Teufel, Gott oder meinetwegen auch mein Held. Aber doch nicht Engel.“

Ein ungläubiges Lachen entkam mir. Ich war mir nicht ganz sicher, ob er es ernst meinte oder nicht. Doch offensichtlich schien es ihm mehr als ernst zu sein, denn seine Stimme war fest und klar gewesen. Ich jedoch fand seine Antwort so absurd, dass ich, einem Reflex folgend, einfach mein Kissen nahm und es ihm an den Kopf warf. Es prallte ihm direkt ins Gesicht, obwohl ich mir sicher war, dass er es hatte kommen sehen. Dann rutschte es herunter und als ich in seine Augen sah, funkelten sie mich spitzbübisch an.

Oh nein. Das konnte nichts Gutes heißen. Hastig wollte ich wieder das Kissen an mich bringen, doch Emmett war schneller und so plumpste ich der Länge nach aufs Bett. Ein Lachen über mir hallte durch den Raum. „Das wirst du büßen“, drang seine rauchige Stimme an mein Ohr.

Ich richtete mich auf, schnappte nach dem Kissen und bekam gerade noch so eine Ecke zu fassen. Ich zog daran, versuchte es wieder in meinen Besitz zu bekommen, während Emmett es lässig festhielt und mir somit verdeutlichte, dass jeder Kraftaufwand wirkungslos gegen ihn war. Noch einmal zog ich kräftig daran, noch einmal wollte das Kind in mir keine Ruhe geben. Doch plötzlich vernahm ich ein lautes Ratschen, der Widerstand verschwand und ruckartig fiel ich nach hinten. Emmett lachte lauthals los und verwundert starrte ich an die Decke.

Ein ganzer Haufen Federn wirbelte umher und fiel mir vereinzelt ins Gesicht. Plötzlich musste auch ich lachen und nach Luft schnappend versuchte ich mich wieder aufzurichten. Emmett lehnte immer noch an der Wand. „Wenn hier einer als Engel bezeichnet werden kann, dann du“, grinste er mich an. Vereinzelt hingen ihm Federn im Haar und unwillkürlich prustete ich los, bevor er mich herumwirbelte und in seine Arme schloss.

Zum Glück war er nicht Edward. Zum Glück hatte er nicht die Gabe, meine Gedanken zu lesen. Denn so konnte er nicht wissen, dass er genau das für mich war. Dass ich ihn immer so sehen würde… und niemals aufhören würde, ihn so zu nennen.

Mein Engel.

WICHTIG !!! AN ALLE LESER !!!

Die Geschichte ist NOCH NICHT beendet! Ihr könnt erleichtert aufatmen. ;)

Ich hab aber aus organisatorischen und technischen Gründen die weitere Fortführung der Geschichte in einem zweiten Buch veröffentlicht. Aufgrund der vielen Seiten braucht bookrix momentan Stunden, um weitere Kapitel hochzuladen. Außerdem kommt jetzt ein Sprung von ein paar Monaten, die ich in der Geschichte nicht direkt erläutern werde. Und durch diesen Cut fand ich es irgendwie etwas übersichtlicher und nicht ganz so verwirrend, die Weiterführung in einem zweiten Buch zu veröffentlichen.

Den Link des zweiten Teils findet ihr unter dem Klappentext, als Buchreihe. ;)

Ich würde mich wahnsinnig freuen, viele von euch wiederzusehen!

Zumal soooo viele Fragen immer noch nicht beantwortet wurden.

- Wann erfahren die Cullens von Amylins wahrer Identität?

- Wie werden sie reagieren?

- Werden sie es überhaupt jemals erfahren?

- Was meinen die anderen Vampire zu ihr, wenn sie zur Unterstützung im Kampf gegen Aro anreisen?

- Werden ihre verschiedenen Gaben sie an ihr zweifeln lassen?

- Und wird Amylin vielleicht, in Bezug auf Aro, den größten Fehler ihres Lebens begehen?!

So… mehr will ich auch dazu nicht sagen. ;)

Ich freue mich auf euch!

Und ein riesen DANKE an euch alle, dass ihr diesen Weg mit mir gegangen seid!

Ohne euch hätte sich diese Geschichte nie so weit entwickelt!

Wenn ich könnte, würde ich jeden von euch heiraten! xD

Vielen, vielen Dank!

Allerliebste Grüße

Von einer sehr gerührten Fruchti =)

Imprint

Publication Date: 02-18-2010

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