"Du hilfst mir
von mir
abzusehen
daß ich mich
leichter
finden kann."
-Hans Christopher Neuert
Das Leben mit Wallace war...
Er sah mich an.
Er saß einfach da und sah mich.
Ganz unverfroren und unbekümmert starrte er mit seinen dunkelblauen Augen auf mich nieder.
Meine genervten Blicke, die zahlreichen Augenverdrehen und mein ärgerliches Stirnrunzeln schienen ihnen nur zu amüsieren.
Wann immer unsere Blicke sich für einen kurzen Augenblick trafen, zuckte das belustigte Grinsen auf seinen schmalen Lippen ein wenig breiter auseinander.
Geradezu teilnahmslos reagierte er auf meine Aktionen ihn in eine unangenehme Situation zu bringen, damit er endlich wegsah.
Er war schamlos.
Ein verzweifelter Seufzer drang zwischen meinen Lippen hervor und ich legte den Kopf in den Nacken, schloss ermüdet die Augen.
Das war der Grund, wieso ich kein Bus fuhr.
Im Bus saßen grundsätzlich immer Verrückte oder Geisteskranke – so weit meine Vorstellung jedenfalls und dieser gruselige Starrer schräg gegenüber bestätigte meine Annahme.
Allerdings war der Bus auch der einzige Weg, wie ich zu meinem Vater kam.
Seit einer Woche lag er nun bereits im Klinikum außerhalb der Stadt, mitten in der Pampa.
Da ich altersgemäß noch nicht berechtigt war ein Fahrzeug zu führen und meine Mutter sich weigerte jemals auch nur noch ein Wort mit meinem Vater zu wechseln, war eben der Bus meine einzige Option.
Die Klinik war eine der renommiertesten des ganzes Landes, weswegen mich seine Verlegung in diese überraschte.
Denn die Krankenversicherung meines Vater übernahm eigentlich nur die Kosten für einen Quacksalber, der Tic-Tacs als Tabletten verhökerte.
Der Bus fuhr plötzlich eine scharfe Linkskurve, sodass mein Kopf gegen die Fensterscheibe schlug.
Mit einem schmerzhaften Murren rieb ich mir die Stirn und riss hastig die Augen auf, als ich ein spöttisches Lachen mir viel zu nah gegenüber vernahm.
Erschrocken bemerkte ich, dass der Starrer sich auf dem Sitz mir gegenüber platziert hatte.
Seine Beine, die in einer ausgewaschenen Jeans steckten, hatten er auf dem Sitzplatz neben mir platziert und sich gemütlich in seinen eigenen zurück gelehnt.
Mit verschränkten Armen vor der Brust musterte er mich eingängig
Als hätte er dies bereits nicht genug getan.
Ärgerlich verzogen sich meine Augen zu Schlitzen,so dass meine graublaue Augenfarbe dahinter nur noch zu erahnen war, aber dann nutzte ich die Gunst der Stunde, um auch ihn genauer unter die Lupe zu nehmen.
Obwohl wir im tiefsten Winter steckten, der Schnee sich, vor allem hier außerhalb, zentimeterhoch türmte, trug er nur eine dünne Lederjacke.
Er hielt sein Kinn in der Hand, welches sich in markanten Wangenknochen verlief und auf denen sich ein leichter Bartschatten abzeichnete.
Mein Blick glitt in seinem Gesicht weiter nach oben und verfing sich in den mitternachtsblauen Augen, die mich neugierig und eindringlich beobachteten.
Seine Pupillen war leicht geweitet, so dass sich das samtige Blau wie ein schmaler Ring darum schmiegte.
Und plötzlich war mir sein Blick nicht mehr so unangenehm wie zuvor, als ich merkte, dass er gut aussah.
Dennoch war sein so offensives Verhalten mir ein wenig suspekt.
„Hey“, meinte er und öffnete die verschränkten Arme.
Als Antwort runzelte ich nur die Stirn und versuchte meinen genervten Blick noch ein bisschen mehr verärgert aussehen zu lassen.
„Ich bin Wallace“, fuhr er unbekümmert fort und ich kramte in meiner Jackentasche nach meinem Handy.
„Nicht interessiert“, antwortete ich und heftete meinen Blick auf das Display.
Ein amüsiertes Lachen ertönte: „Du bist also so ein Mädchen.“
Überheblich hob ich die Augenbraue an, ehe ich ihm mit einem eisigen Blick begegnete.
Er zuckte mit den Schultern.
„Ein klassischer Stereotyp. Das hübsche Blondchen, das glaubt zu gut für den Rest der Welt zu sein.“
„Stereotyp?“ fragte ich zornig.
„Ja. Stereotyp bedeutet, dass du bestimmte Charakterzüge verkörperst, die die Gesellschaft dir aufgrund des Aussehens oder Verhaltensweisen zuordnet“, erklärte er mir.
Amüsiert schnaubte ich auf, ehe ich zum Konter ansetzte: „Ich weiß, was stereotyp bedeutet, du wandelnde Enzyklopädie. Und ist es nicht heuchlerisch mich hier als Stereotyp zu bezeichnen, wenn du derjenige bist, der in Schubladen denkt? Überleg dir lieber zuerst, ob es überhaupt Sinn ergibt, was du dir in deinem kleingeistigen Verstand ausmalst, ehe du Leute versucht zu beleidigen. Entschuldige mich, aber ich muss hier raus.“
Ärgerlich seufzte ich und erhob mich, warf ihm einen überheblichen Blick zu und balancierte über seine Beine hinweg, als er keine Anstalten machte sie vom Sitz zu nehmen.
Ich hatte bemerkt, dass er von meiner Antwort überrascht gewesen war und stolzierte beinahe triumphierend zum Ausstieg des Busses und hielt mich an einer der Haltestangen fest.
Mit müden Blick sah ich über die Schnee bedeckte Landschaft, die so unberührt und friedfertig vor mir lag.
Allerdings machte sie auch einen geradezu monotonen, uniformen Eindruck.
Es schien als würde alles in einander verlaufen.
Ein schwerer Seufzer drang zwischen meinen vollen Lippen hervor und ich spürte, wie die Müdigkeit in meinen Körper zog.
Der Tag war und würde lang werden, dass hatte ich bereits erwartet.
Nach einer Acht-Stunden-Schicht, in der ich nur hektisch mit Tablett über Tablett voller Kaffeetassen und Kuchenstücke mich zwischen engen Tischzwischenräumen durchgezwängt hatte, war ich mehr als nur erschöpft.
Ich war vollkommen fertig – und nun sollte ich mich nach der physischen Qual auch noch einer psychischer aussetzen.
„Du weißt, dass der Bus erst in zehn Minuten wieder hält?“ fragte eine mir durchaus bekannte Stimme.
Achselzuckend drehte ich mich zu ihm herum und sah, wie er sich lässig mit beiden Händen an der Stange festhielt, die an der Busdecke befestigt war.
„Vielleicht stehe ich auch einfach gerne, wenn die Alternative ist, mit einem Idioten zusammenzusitzen“, sagte ich mit einem gekünstelten Lächeln auf den Lippen und klimpernden Wimpern.
Er lachte auf, aber im Gegensatz zu den vorherigen Lachern klang dieses geradezu aufrichtig.
„Du bist klug, das mag ich“, sagte er und sah mich mit seinen dunkelblauen Augen vielsagend an.
Ich spürte, wie ich rot wurde.
Komplimente konnte ich noch nie gut händeln, also versuchte ich das Thema zu wechseln:
„Warum hast du mich angesprochen? Ich meine, eigentlich spricht man doch nie einfach so Wildfremde im Bus an?“
„Warum nicht? Die Gesellschaft ist so verdreht, dass man sobald man freundlich ist, als verrückt abgestempelt wird. Und wie sich zeigt, hätte ich etwas verpasst, wenn ich es nicht getan hätte.“
Seine Augen funkelten dunkel und wieder schlich sich die Röte auf meine Wangen.
Er war mir doch durchaus sympathisch.
„Mein Name ist Jay“, sagte ich und streckte ihm die Hand hin, „freut mich.“
„Wallace“, wiederholte er seinen Namen und gab mir die Hand, „ebenso.“
Es war ein kurzer, bestimmter Händedruck, der mich irgendwie durchlief.
Ich hielt für die Dauer eines Herzschlages die Luft an.
Der Bus hielt an und mit einem lauten Zischen öffneten sich die Tür in meinen Rücken, sodass die Kälte in meinen Körper umhüllte.
Ich hasste den Winter, die Kälte, den Schnee, das Eis – einfach alles daran.
„Ich muss hier raus“, sagte ich und deutete nach hinten.
Er nickte: „Wir sehen uns wieder, Jay. Versprochen.“
Und obwohl es irgendwie gruselig und seltsam war, empfand ich so etwas wie Vorfreude.
Ich lächelte leicht, als ich rückwärts nach hinten schritt und aus dem Bus fiel.
Auf dem schneebedeckten Boden rutschte ich aus und machte ziemlich schnell Bekanntschaft mit dem Asphalt.
Noch während sich die Türen schlossen, hörte ich sein schallerndes Lachen dahinter, ehe der Bus abfuhr.
Peinlich berührt sah ich um, ob mich noch jemand gesehen hatte und hievte mich wieder auf die Beine.
Meine Hose war an den Knien schmutzig und nass, bildeten eine optimale Anlaufstelle für die Kälte Zugang zu meinem Körper zu finden.
Fröstelnd steckte ich die Hände in Jackentasche meines olivgrünen Parkas und vergrub mein Gesicht in dem üppigen Wollschal, den ich trug.
Schneebeladene Tannen erleichterten sich vom Gewicht des Schnees, sodass es immer wieder überall ein wenig raschelte und rieselte.
Ich atmete tief ein und spürte, wie die kalte, klärende Luft durch meinen Körper zog und alles irgendwie ein wenig einfacher zu machen schien.
Ich bog auf die Einfahrt zur Klinik ein, deren Ränder umsäumt von geräumten Schneebergen waren.
Ein großes Gebäude, fast vollständig aus Glas, ragte sich in der Landschaft auf.
Es war ein kastenförmiges Gebilde umrandet von hohen Tannen und nackten Laubbäumen, allesamt weiß gemalt.
Vor der Klinik tat sich ein großflächig-angelegter Parkplatz, auf welchem die Autos in akkuraten Reihen geparkt wurden.
Ich lief zwischen ihnen hindurch auf die große Eingangspforte zu, die sich schwungvoll nach außen öffnete und mich beinahe erschlug.
Abgelenkt davon, wie deplatziert diese Zivilisation in der Natur wirkte, konnte ich in der letzten Sekunde zur Seite ausweichen.
Plötzlich konnte ich mir den massigen Zulauf zu dieser Klinik erklären.
Sie sorgte mit ihren Eingangstüren selbst dafür.
Kopfschüttelnd trat ich ein und wurde von einer lieblosen Eingangshalle empfangen.
Hohe Wände, zum größten Teil bestehend aus Glas, ließen viel Licht einfallen, aber die Größe des Raumes versprach Anonymität.
Gelbe Wände, die wohl frisch gestrichen waren, was ich auf den penetrante Farbgeruch, der sich mit dem nach Desinfektionsmittel mischte, zurückführte, sollten dem Raum wohl etwas Wärme und Freundlichkeit
verleihen.
Allerdings funktionierte es nicht.
„Hallo!“ hörte ich eine Stimme rufen und zuckte zusammen, als ich merkte, dass ich einfach mitten in der Halle stand und durch die Gegend starrte.
Irritiert warf ich meinen Blick auf die Wartebereiche, in dem auf ziemlich unbequem aussehenden Plastikstühlen ein handvoll Leute saßen und Zeitschriften aus dem letzten Jahr lasen.
Aber keiner der Wartenden sah mich an, ich zuckte mit den Achseln und ließ den Blick weiter gleiten.
Ein wohl etwas zu gewolltes Lächeln empfing mich an der Information und ich schritt darauf zu, als ich hörte, wie das mollige Mädchen dahinter wieder laut 'Hallo' herüberrief.
Sie trug einen dicken, roten Wollpullover und hatte ihre langen dunkelbraunen Haare in einem Pferdeschwanz zusammengefasst.
Als ich näher trat, sah ich, dass sie ein Namensschild trug: Tiffany.
Nun ja, Tiffany erschien mir ein wenig übermotiviert, aber ich versuchte ihr ein freundliches Lächeln zu schenken.
„Kann ich dir vielleicht helfen?“ fragte sie und blickte mich hoffnungsvoll an.
Die Brille, die sie trug war ihr zu groß und rutschte ihr immer wieder von der Nase.
In einer routinierten Geste schob sie zurück an ihre Stelle, von wo sie innerhalb der halben Minute, in der ich vor ihr stand, im gefühlten Sekundentakt wieder herabrutschte.
Es nervte mich fast ihr dabei zuzusehen.
„Ich suche meinen Paps“, meinte ich und fuhr mir durch die schulterlangen, blonden Haaren.
Die Länge war im Winter nicht ideal.
Die Haare waren zu kurz, damit sie im Schal stecken blieben und wenn man sie heraus hob nicht lang genug, wenn sie auf dem Schal lagen.
„Wie ist denn sein Name?“ fragte sie und hielt die Hände in Startpostion schwebend über der Tastatur.
„Hendrick Kasakov“, meinte ich und zurrte den Reißverschluss meines Parkas auf.
Als sie den Namen hörte, sausten ihre Finger über die Tasten und dann passierte es.
Die Brille rutschte ihr haltlos von der Nase und schlug auf dem Schreibtisch auf.
Sie wirkte unbeeindruckt und sah hoch, als sie meinte: „Er liegt auf der Kardio. Zimmer 14.1.“
„Danke“, sagte ich und konnte mir den gutgemeinten Rat nicht verkneifen: „du solltest deine Brille vielleicht enger stellen lassen.“
Sie lachte: „Nein, sie ist nur aus Fensterglas. Nicht mehr als ein Accessoire. Am besten nimmst du den Aufzug ganz rechts.“
„Ach so“, meinte ich und hörte, wie es ungewollt abschätzig klang, „alles klar.“
Bevor sie irgendwas antworten oder mir einen fragenden Blick zu werfen konnte, machte ich bereits kehrt und hielt auf den Aufzug zu.
Die Kardio-Station war eine der umfangreichsten Stationen der ganzen Klinik und so studierte ich den Plan zunächst eingängig, ehe ich mich in das Labyrinth aus immer gleichen Gängen wagte.
Trotz all meiner Studien irritierte erfolglos ich durch die langen Korridore mit den unzähligen Türen, bevoir ich aufgab und einen Pfleger nach dem Weg fragte.
Gott sei Dank war dieser nicht einmal ein Drittel so motiviert wie Tiffany und beschrieb mir den Weg mit einer geradezu amüsanten Gleichgültigkeit.
Nach geschlagenen zwanzig Minuten fand ich endlich das Zimmer 14.1 und klopfte vorsichtig an die Tür.
Ich hatte meinen Vater eine ganze Weile nicht gesehen, ein halbes Jahr bestimmt nicht mehr.
Wir hatten eigentlich immer ein gutes Verhältnis, als ich klein war.
Ich verbrachte die Wochenenden bei ihm und wir machten tolle Dinge: puzzelten, gingen Minigolfen und er hatte einen Hund, mit dem ich es liebte zu spielen.
Aber als ich begann älter, weniger naiver und eigensinnig zu werden war es mit der Harmonie so ziemlich vorbei.
Mit dem Alter brauchte ich mehr Geld für jenes und dieses, für Party oder Kleider oder für den Führerschein – was mein Vater dann plötzlich nicht mehr einzusehen schien.
Das amüsante Spiel, dass ich meine Mutter fragen sollte und seine neuen Lieblingssätze: Sie hat mehr Geld als ich, wo soll ich es herholen und Ich zahle schon Unterhalb, wie viel soll ich noch bezahlen waren auf die Dauer geradezu ermüdend und frustrierend.
Mein Vater hatte nie verstanden, dass ich erwachsen wurde, vielleicht weil er einfach kein Interesse mehr an mir hatte, als ich begann,mir eine eigene Meinung zu bilden.
Für ihn war ich für immer sieben- ein süßes Kindchen, naiv und dumm, das weder was von Geld noch von der Erwachsenenwelt etwas verstand.
Newsflash: Es sind zehn Jahre vergangen.
Zahlreiche Versprechungen und darauffolgenden Enttäuschungen später hatte ich mir eigentlich vorgenommen, den Kontakt abzubrechen.
Doch dann bekam ich diesen Anruf letzten Montag.
Er erzählte mir, dass er auf der Arbeit ohnmächtig geworden war - einfach so und das er jetzt in der Klinik außerhalb der Stadt lag.
So sehr ich wollte, dass es mich nicht kümmerte, ich machte mir trotzdem Sorgen.
„Herein“, hörte ich eine Stimme sagen und öffnete seufzend die Tür.
Mein Vater lag in dem Zimmer mit einem anderen Mann, ebenfalls etwa Anfang fünfzig.
Mit zaghaften Schritten trag ich näher und lächelte leicht: „Hallo.“
„Jayden“, meinte er erfreut und richtete sich im Bett auf.
Es tat ihm gut, dass er blonde Haare hatte, sodass man die unzähligen grauen, die er schon bekommen hatte, gar nicht so sehr sah.
Aber sein Gesicht wirkte eingefallen, die Falten tiefer als noch vor einem halben Jahr und er sah müde aus.
Er trug eine alte Jogginghose und hatte die Lesebrille, die er seit zwei Jahren brauchte, in den Haaransatz geschoben.
Ich rollte mit den Schultern und versuchte das Unbehagen von mir zu streifen, aber es gelang mir nicht.
Je näher ich zu seinem Krankenbett trat, desto unwohler fühlte ich mich.
Aus seinem T-Shirt kragen verliefen sich bunte Drähte, die in einen kleinen Apparat mündeten, der neben ihm auf der Nachtkonsole stand.
„Das ist meine Tochter Jayden“, sagte er stolz und nickte dem anderen Mann zu.
Er hatte schon immer gern mit mir angeben, wenn auch er absolut kein Recht dazu hatte.
Denn er war nie der Grund gewesen, warum ich so wunderbar war, wie ich es war.
Eigentlich war er der Grund, warum ich nicht so wunderbar war, wie ich es hätte sein können.
Auch ich nickte dem Mann zu und sah mich dann hilflos im Raum um.
Den Betten gegenüber war eine kleine Tischgruppe mit zwei Stühlen für Besucher.
Ich griff nach dem einen und zog ihn zu dem Bett meines Vaters, wenn ich auch bemerkt hatte, dass er sich im Bett verrückt hatte, um mir einen Sitzplatz darauf zu verschaffen.
„Wie geht’s dir, Paps?“ fragte ich und nahm seine Hand.
Das war das Einzige, was ich bereit war ihm zu anzubieten.
Der Schmerz der jüngsten Enttäuschung saß noch zu tief in mir.
Mit seinem rauen Daumen streichelte er über meinen Handrücken.
„Den Umständen entsprechen“, lächelte er aufmuntert.
„Das bedeutet?“ fragte ich und atmete schwer aus, „was hast du?“
„Etwas was ziemlich aufregend klingt“, sagte er und hob die Hand, fuhr mir über die Wange und ich bemühte mich, nicht zurückzuzucken.
„Das wäre?“ fragte ich drängend.
„Ich will dich damit nicht belasten, Schatz“, meinte er und ich hätte beinahe spöttisch aufgelacht.
Weil er mich nicht belasten wollte, rief er mich also während der Schulzeit an, um mir mitzuteilen, dass er grundlos ohnmächtig geworden war und jetzt im Krankenhaus lag.
Natürlich, das belastete mich nicht.
Stattdessen aber presste ich die Lippen aufeinander und zwang mich zu einem Lächeln.
„Es ist vielleicht etwas Ernsteres“, sagte er und massierte sich die Nasenwurzel mit der freien Hand.
Ich hoffte, dass er die andere, mit der er meine hielt, auch irgendwann bald benutzen müsste.
Jetzt machte ich mir auf jeden Fall weniger Sorgen, dachte ich höhnisch.
„Paps“, meinte ich zögerlich, „ich möchte gerne wissen, was die Ärzte gesagt haben.“
„Sie meinten, ich habe eine Kardiomy...“, er kniff die Augen zusammen, „wie haben Sie gesagt? Kardio?“
„Kardiomyopathie“, sagte der andere Mann vom Ende des Raumes.
„Danke Frederik. Eine Kardiomyopathie“, sagte er und plötzlich umfasste er meine Hand fester, „mein Schatz.“
Mit seinen grünbraunen Augen sah er mich eindringlich an.
Ich lächelte unsicher: „Was denn?“
„Die Krankheit könnte erblich sein. Sie machen ein paar Tests“, sagte er und ich nickte, „aber mach dir keine Sorgen, Engelchen. Das wird es schon nicht sein.“
Hastig presste ich die Lippen zusammen, als ich spürte, dass sie begannen zu zittern und erhob mich hastig.
Seine Hand riss aus meiner und ich kramte nach meinem Handy: „Oh, Paps... ich muss gehen. Der letzte Bus fährt in fünf Minuten und ich habe gerade eine halbe Stunde gebraucht, um dein Zimmer zu finden.“
Ohne ihm Zeit für eine Antwort zu lassen, umarmte ich ihn schnell und hastete aus der Tür.
Mir stiegen die Tränen in die Augen.
Ich weinte, weil ich Angst um meinen Vater hatte und ich weinte, weil mich vielleicht das gleiche Schicksal erwarten könnte.
Mit eiligem Schritten verließ ich das Krankenhaus, ignorierte Tiffanys überschwängliches 'Auf Wiedersehen' und harrte dann eine Stunde in der Kälte auf meinen Bus aus.
Was ich an meinem Job hasste, war die Bedingung immer freundlich zu sein.
Egal, wie scheiße es einem eigentlich selbst ging.
Also ging schritt ich zwischen den runden Tischen hindurch, reichte die Karten und nahm mit einem zuckersüßen Lächeln Bestellungen auf.
Als der Mittagsansturm vorbei war, lehnte ich seufzend mit einem Kaffee in der Hand gegen die Theke.
Mitten im Schlucken verspürte ich ein Engegefühl in der Brust und stellte die Tasse ab, erwischte allerdings nur die Kante der Theke und Tasse glitt zu Boden, wo sie in Scherben zersprang und die weißen Fliesen mit dunklen Kaffee einfärbte.
Keuchend drückte ich auf meine linke Brust und stemmte mich mit dem anderen Arm auf dem Oberschenkel ab, beugte mich vor und schloss die Augen.
Aber es hörte nicht auf.
Ich hörte mein Herz in den Ohren pochen und spürte, wie Übelkeit in mir aufstieg.
Nachdem ich meine Vater besucht hatte, hatte ich über seine Krankheit recherchiert.
Kardiomyopathie konnte in zwei Formen auftreten:
Entweder weiteten sich die Herzhöhlen oder das Herz nahm an Muskelmasse zu.
In beiden Fällen ist das eigentliche Problem ein zu großes Herz und gerade hier saß die Pointe des kosmischen Witzes, dass ausgerechnet mein Vater an einem zu großen Herzen litt.
Das Universum hatten eine makaberen Humor.
Natürlich hatte ich auch die Symptome recherchiert und litt seit letzter Woche somit an einer Art Hypochondrie – mehr oder weniger.
„Jay!“ sagte er eine Stimme ärgerlich und ich blickte und richtete mich erschreckt auf.
Vor mir stand Leonard und musterte mich tadelnd.
Er war ein kleiner Kerl mit einem Ego, das sich furchtbar schnell angegriffen fühlte, aber vielleicht war es auch nur so eine Phase.
Leonard war der Inhaber des kleinen Ladens.
Ein Kerl in seinen Mitvierzigern, der in seiner Mit-Life-Crises spontan entschieden hat, seinen Job zu kündigen und einen kleinen Laden für Kuchen und Kaffee eröffnen.
„Räum das weg, nimm den Tisch auf und geh nach Hause“, meinte er seufzend und schritt über die Pfütze aus Kaffee nach hinten in die Küche.
Er schien wohl keine Lust auf eine längere Predigt zu haben.
Ich fuhr mir durchs Gesicht und fühlte mich immer mehr zu dem Gefühl gedrängt zu kündigen, aber ich konnte noch nicht. Da war noch zu viel, was Geld von mir erwartete.
Also tat ich wie mir beholfen, räumte und setzte dieses falsche Lächeln auf, das mir auf der Arbeit genauso wie die Floskeln, mit denen ich die Gäste begrüßte oder nach ihrem Befinden fragte, in Fleisch und Blut übergangen war.
Ich rückte die rote Schürze zurecht und zupfte mir ein paar lose Haare vom schwarzen Pullover, den ich trug, ehe ich um die Theke schritt, um die neue Bestellung aufzunehmen.
Meine Herz fühlte sich noch immer leicht beklemmt an, aber ich auch das versuchte ich abzuschütteln, sowie die ständige Frage, was das hier eigentlich alles für einen Sinn hatte.
Ich war so gelangweilt.
Von allem von diesem Job, dieser Welt und von diesem Leben.
Gedankenverloren stellte ich den Orderman ein und schritt auf den Tisch zu.
Erst unmittelbar davor hob ich den Blick und sah auf den Gast herab.
Mir begegneten mitternachtsblaue Augen, die über den Rand der Karte hinweglinsten.
Sie hatten wieder diesen spielerischen, geradezu herausfordernden Ausdruck.
„Ich habe dir doch gesagt, dass wir uns wiedersehen. Ich halte meine Versprechungen“, meinte er und legte die Karte vor sich nieder.
„Eigentlich hat es mehr wie eine Drohung geklungen“, lachte ich und fühlte mich auf einmal ein wenig schwereloser.
Das Engegefühl in meiner Brust schwand und ich atmete tief aus.
„Fass es auf, wie du willst. Tatsache aber ist, das es eingetreten ist“, meinte er und lachte.
„Was kann ich dir bringen?“ fragte ich um das Thema zu wechseln und ließ die Finger in Startpostion über dem Orderman schweben.
„Einen Kaffee. Schwarz. Mit Zucker“, sagte er und ich schmunzelte leicht, „was?“
„Ein wenig stereotyp“, sagte ich und grinste provokant.
„Das verbitte ich mir“, antwortete er gespielt schockiert und faltete die Hände ineinander, legte sie auf dem Tisch ab und lehnte sich vor, „wann hast du Schluss?“
Ich hatte gerade die Bestellung abgeschickt, als ich bemerkte, wie nah er mir wieder einmal gerückt war.
In meinem Inneren spürte ich einen seltsamen Nachhall und rollte mit den Schultern, um diesen von mir zu streifen.
„Du bist mein letzter Tisch“, sagte ich, „hab Ärger bekommen und muss jetzt früher gehen“, lachte ich, um die Wahrheit ein wenig schöner klingen zu lassen.
„Gehen wir danach essen?“ fragte er und lehnte sich zurück, streckte sich ausgiebig.
„Du und ich?“ fragte ich skeptisch und sah mich zweifelnd um, versuchte Zeit zu schinden.
„Nein, du und ich und der imaginäre Typ hier drüben“, meinte er und deutete auf dem Stuhl gegenüber.
Ich seufzte und fuhr mir durchs Haar, sah auf den Orderman und vernahm aus dem Augenwinkel, wie Leonard mit einem finsteren Gesichtsausdruck, Wallaces Kaffee in der Hand, sah, dass ich noch immer an dem gleichen Tisch ausharrte.
Wallace nickte dankend und sah mich abwartend an.
„Du hast eigentlich keine Wahl, Jay“, meinte er und nahm einen Schluck aus seiner Tasse.
Eine halbe Stunde später liefen wir durch die verschneiten Gassen von Burgh.
Vor einem kleinen, nahezu unscheinbaren Restaurant machten wir halt und er präsentierte es mir voller Stolz.
Seven Blues stand in blauer Leuchtschrift über dem Eingang, aber dies war auch der einzige Hinweis darauf, dass sich hinter der Tür Leben befinden müsste.
Aus dem dazugehörigen Schaufenster trat nur gedimmtes Licht, das man, was dahinter lag, nur erahnen konnte.
Mit Skepsis ließ ich meinen Blick zwischen der Tür und seinen mitternachtsblauen Augen hin- und herschweifen, ehe ich achselzuckend nickte.
Mir war so kalt, dass ich mich sogar in dieses verlassene Gebäude treiben ließ.
Vielleicht war ich ein wenig naiv, wann immer ich Wallace begegnete, aber es war ein angenehmer Kontrollverlust.
Hier mit ihm war es erleichternd sich in etwas Neues zu stürzen, wenn dieses Abenteuer auch in Form eines vereinsamten Restaurant auftrat.
Mit Wallace begannen die simpelsten Dinge aufregend zu werden, allein aufgrund seiner Persönlichkeit.
Ich beneidete ihn darum.
Er stieß die Tür auf, trat ein und ich folgte ihm blauäugig mit leicht rasendem Herzen, was sich dahinter wohl befinden mochte.
Mein ausprägtes Bedürfnis nach Drama wurden niemals so deutlich wie in diesem Augenblick.
In solchen Momenten wurde meine Fantasie grenzenlos, denn ich stellte mir unglaubliche Szenerien vor, die mich hinter dieser Tür erwarten könnten.
Von einem geheimen Konzert bis zur einer illegalen Bar, in der Drogen verkauft wurde, malte ich mir alles aus.
Wie zu erwarten war die Realität eine ganz andere und zu meinen Vorstellungen geradezu ernüchternd.
Alles, was sich hinter dieser ach so geheimnisvollen Tür verbarg, war ein warmes, familiäres Restaurant.
Es war nur dünn besucht, so dass die Vielzahl der Tische unbesetzt war.
Wallace hielt auf einen zu, der an einer mit Schwarz-Weiß-Porträts tapezierten Wand stand, von Leuten, die ich nicht kannte.
Schwerfällig ließ er sich auf die Sitzbank fallen und sah mir zu, wie ich mich von den etlichen Schichten an Kälteschutzkleidung entledigte.
Ich fühlte mich beobachtet und spürte, wie sich die Röte auf meine Wangen schlich.
Seufzend ließ ich mich auf dem Stuhl ihm gegenüber gleiten und begann die Karte zu studieren, während ich erneut seinen Blick auf mir spürte.
Es begann eine Art Gewohnheit zu werden von seinen blauen Augen so eingängig betrachtet zu werden.
Beinahe fühlte es sich so an, als würde er mich mit seinem Blick vollkommen in sich aufnehmen, als würde er sich versuchen jedes kleinste Detail von mir sich zu merken, um es nie wieder zu vergessen.
Ich fühlte mich irgendwo geschmeichelt.
Nachdem ich mich für einen Salat entschieden hatte, lehnte ich mich zufrieden im Stuhl zurück und erwiderte seinen Blick.
Es machte Spaß ihn anzusehen, denn er sah gut aus.
Es machte immer Spaß, schöne Menschen anzusehen, dass hatte meine Mutter schon immer gesagt.
Wallace hatte dichtes, tiefbraunes Haar, das ihm gewollt unordentlich auf dem Kopf lag und ich stellte mir vor, wie ich hindurchfahren würde.
Kopfschüttelnd verwarf ich diesen Gedanken.
Soweit würde es wahrscheinlich nie kommen und eigentlich hatte ich momentan die Nase zu ziemlich voll von irgendwelchen willkürlichen Typen, die meinten mir schöne Augen zu machen und mich letztendlich doch fallen ließen.
„Kann ich dich was fragen?“ meinte er, nachdem wir eine Weile nicht gesprochen, sondern uns nur gegenseitig angestarrt hatten.
Doch in dieser Stille hatte keine Komik gelegen, die sie irgendwie seltsam gemacht hätte.
„Kann ich dich davon abhalten?“ stellte ich die Gegenfrage und schob mir eine Gabel voller Salat in den Mund.
Was hatte ich mir eigentlich dabei gedacht, einen Salat zu bestellen?
Salat war nach Spaghetti die größte Herausforderung zu essen und es war beinahe ein Ding der Unmöglichkeit, dabei gut auszusehen.
Ständig kämpfte ich mit der Größte der Salatblätter oder mit Überresten des Dressings an meiner Wange.
„Was willst du im Leben? Was erwartest du davon?“
Seine Frage irritierte mich und stirnrunzelnd zog ich die Augenbrauen zusammen.
Um die Antwort herauszuzögern griff ich nach meine Wasserglas und nahm einen ausgiebigen Schluck daraus.
Ich seufzte: „Ich weiß es nicht. Keine Ahnung. Ich schätze, ich lasse es einfach auf mich zu kommen?“
Er grinste, so als hätte er genau diese Antwort erwartet und dann schüttelte er den Kopf.
„Das glaube ich dir nicht.“
„Warum?“
„Weil ich glaube, dass du ein kleiner Kontrollfreak bist. Dein Leben ist durchgeplant. Zehn Jahre bestimmt, wenn nicht sogar länger, oder täusche ich mich?“ fragte er neckend und wackelte mit seinen Augenbrauen.
Ich zuckte mit den Achseln, wendete den Blick auf den Teller und antwortete: „Hin und wieder mal. Ich weiß eben gerne, was passiert.“
„Wieso?“ fragte er und rückte wieder nach vorne.
„Wieso was? Dafür gibt es keinen Grund. Das Gefühl von Kontrolle gibt mir Macht – und ich stehe auf Macht. Ich übernehme gerne die Verantwortung für Dinge und bin der Meinung, dass es genauso sein muss.“
„Du bist keine gute Lügnerin“, lachte er und sah mich eindringlich an, „warum hast du Angst die Kontrolle aufzugeben?“
Unwohl ließ ich meinen Blick durch den Raum gleiten, aber ich konnte ihn nirgends halten, so dass er wieder auf Wallace ruhte.
Erneut seufzte ich: „Wenn ich die Kontrolle habe, kann nichts aus den Fugen geraten, verstehst du? Ich bin der Meister meines Lebens. Niemand kann es soweit beeinflussen, dass ich mich darin nicht mehr wohlfühle.“
„Du benutzt ganz schön viele Wörter, um auszudrücken, dass Angst davor hast, verletzt zu werden“, meinte er und ein unbeschwertes Grinsen lag auf seinen schmalen Lippen, aber Ernsthaftigkeit schwang in seinen Augen.
Ich zuckte zustimmend mit den Achseln.
„Lebst du gerne so?“ fragte er mich und erneut runzelte ich die Stirn über seine Frage.
„Ich denke schon, aber manchmal frage ich mich, ob ich dadurch nicht schon einiges verpasst habe, was ich nie wieder zurückbekomme“, sagte ich und atmete schwer ein, „glaubst du das von dir auch?“
Er sah überrascht aus, als ich eine Frage an ihn richtete.
„Ich denke nicht. Ich nehme alles so, wie es kommt. Unbeschwertheit ist mir noch nie sonderlich schwer gefallen“, meinte er und lachte.
„Also, Miss Kontrollfreak. Um nochmal zur Ausgangsfrage zurückzukommen. Was willst du im Leben?“
„Ich weiß es nicht. Vielleicht weil es so kontrolliert ist, bleibt mir nicht viel Freiraum für Wünsche. Ich habe keine Ahnung.“
Er raufte sich durch die Haare und murrte.
„Du machst mich fertig, wie dreist und leichtfertig du mich anlügst. Ich glaube, du weißt es ganz genau. Du willst es dir nur nicht eingestehen. Aber ich sage dir was, Jay“, er sah mich an und seine mitternachtsblauen Augen sahen aus, als würden sie pulsieren, „ich werde dich dazu bringen, genau das mit deinem Leben anzufangen, was du tief in dir drin willst. Nehm es als Versprechen oder Drohung.“
Ich lächelte breit an, als ich spürte, wie die Aufregung durch meine ganzen Körper glitt und mein Gehirn die Endorphine in Eimern ausschüttete.
„Versprochen?“
Das Karma offensichtlich auch in die andere Richtung zu funktionieren schien, offenbarte sich in den folgenden Tagen.
Der kosmische Ausgleich für Wallace kam in Form eines Anrufes meines Vater aus dem Krankenhaus.
Heute war mein erster freier Tag seit gut anderthalb Wochen und ehrlich gesagt, hatte ich geplant, ihn vollkommen im Schlafanzug und im Bett zu verbringen.
Aber er rief dreimal an und anstatt mir eine Nachricht zu hinterlassen, schwieg er auf meinen Anrufbeantworter.
So blieb mir eigentlich gar nichts anderes übrig als mich erneut in den Bus zu setzen und in die Klinik zu fahren.
Der Schneeregen, der seit heute Morgen ununterbrochen vom Himmel fiel, trieb mich dazu an, schneller über den großen Parkplatz zu gehen.
Mit Vorsicht begegneten ich den automatischen Schwingtüren und huschte in das Innenleben der Klinik.
Darin angekommen legte sich erneut ein Gefühl der Beklommenheit auf mich.
Es roch immer noch nach feuchter Farbe und ich erneut begegnete ich Tiffanys überschwänglichen Blick.
„Hey Jayden“, rief sie mir zu, als ich näher zu Information schritt.
Ich nickte ihr mit einem falschen Lächeln zu und wendete den Kopf ab, hielt auf den Wartebereich zu, wo mein Vater ich hingeben hatte.
Ich wusste gar nicht, dass Tiffany und ich beste Freunde seit dem letzten Mal geworden waren.
Ihr meinen Namen genannt zu haben konnte ich mich auch nicht erinnern.
Kopfschüttelnd ließ ich mich auf einem der festgeschraubten Wartestühle nieder, die genauso unbequem waren, wie ich es bereits vermutet hatte.
Als ich keine neuen Nachrichten auf meinen Handy vorfand, da alle meine Freunde gerade Urlaub in wärmeren Gefilden machten und einen anderen Tag-Nacht-Rhythmus lebten, griff ich zur einer der Zeitschriften.
Zum Großteil handelte es sich um irgendwelche medizinischen Abhandlungen, die für Laien klar verständlich formuliert waren, aber dennoch hin und wieder einige anmutige Fachbegriffe verarbeiteten, um dem Leser Seriosität weiszumachen.
Ich las gerade einen Artikel über den Auslöser einer Erkältung und Präventionsmaßnahmen, als sich jemand vor mir aufbaute.
Über den Rand der Zeitschrift hinweg, lugte ich nach oben.
Die meisten, die vor mir stehen geblieben waren in der letzten Stunde hatte sich eigentlich vor den Zeitungsständer gestellt, der neben mir stand.
Dieser Kandidat musterte mich mit einem warmen Lächeln und vertrauenswürdige braunen Augen sahen mir entgegen.
Er trug diesen Chirgurgenzweiteiler und einen weißen Kittel darüber und mit fragenden Ausdruck im Gesicht musterte er mich.
„Jayden Kasakov?“ fragte er vorsichtig, als wäre er plötzlich unsicher, ob ich wirklich die Person war, die er aufsuchen wollte.
Ich nickte zögerlich und faltete die Zeitschrift, legte sie auf meinem Schoß ab.
Ein freudiges Lächeln überzog sein Gesicht und er hielt mir die Hand hin, um dessen Handgelenk sich eine massige Uhr schlängelte.
Mit Missmut nahm ich die Hand und erwiderte den starken,aber kurzen Händedruck.
„Mein Name ist Doktor Schmidt“, sagte er, „ich bin der behandelnde Assistenzarzt Ihres Vaters.“
Irritiert zog ich die Augenbrauen zusammen.
Ich hatte genug Folgen von Serien wie Grey's Anatomy oder Scrubs gesehen, um zu verstehen, was er darstellte.
Jedoch wusste ich nicht, ob ich jetzt erleichtert sein oder mir wirklich Sorgen machen sollte.
Dass Doktor Schmidt kam konnte nämlich einerseits bedeuten, dass die Lage meines Vaters stabil und unverändert war oder dass mein Vater...
Ich schüttelte den Kopf, um den letzten Gedanken zu verwerfen und sah wieder zu dem Arzt.
„Was ist mit meinem Paps?“ fragte ich und sah ihn mit Chaos in den Augen an.
Ich hasste es, wie meine Augen tatsächlich die Fenster zu meiner Seele waren und momentan wütete darin große Unruhe.
Er lächelte mich und sein Alter irritierte mich.
Die meisten Assistenzärzte waren in ihren Mitdreißiger, Doktor Schmid allerdings war dem Alter nach eher in Leonards Klasse einzuordnen. Ein Mitvierzigern, der mit kräftigen Schritten auf die fünfzig zu ging.
„Würdest du mit mir kommen?“ fragte er und drehte sich zur Seite, machte eine galante Geste, die deutete ihm zu folgen.
Schwerfällig erhob ich mich und fuhr mir durchs Haar, ein nervöser Tick, der sich mit der Zeit festgesetzt hatte.
Ich atmete schwer aus als ich ihm durch den breiten Korridor folgte, an dem eine Vielzahl von Türen abgingen.
Der Wegweiser, der in dieser Richtung gezeigt hatte, gab es an, dass es sich hierbei um Beratungsräume händelte.
Ein Schauer glitt mir über den Rücken als er stehen geblieben war, erneut diese galante hinweisende Geste machte und mir den Vortritt in ein Zimmer ließ, dessen Tür bereits geöffnet vor uns stand.
Missmutig trat ich über die Türschwelle und sah mich unsicher um, umfasste meine Ellenbogen.
Verloren stand ich ihm mitten im Raum, der nur einen Schreibtisch und eine Reihe Aktenschränke aus grauen Metall beherbergte, ehe Doktor Schmid eintrat.
„Setz dich doch“, meinte er und ich wartete beinahe erwartungsvoll auf seine Geste, aber dieses blieb auf.
Sein so freundliches Gesicht wirkte plötzlich konzentriert und erneut begann ich mir Sorgen zu machen.
Ich straffte die Schulter, ehe ich mich auf dem Besucherstuhl, welcher mit blauen, abgenutzten Stoff überzogen war, ihm gegenüber niederließ.
Er hatte die Hände gefaltet und auf dem Tisch vor sich abgelegt.
Seltsamerweise wirkte er ausgesprochen nervös, denn seine Augen fixierten mein Gesicht geradezu unangenehm intensiv.
„Geht es meinem Paps gut?“ fragte ich mit Unbehagen und sah ihn an, als er nach einer geschlagenen Minute immer noch nichts gesagt hatte.
Er atmete seufzend aus und ich hob fragend die Augenbraue, wunderte mich über seine emotionale Integrität.
Ich hatte das Gefühl als müsste ich ihm gleich die Hand halten.
„Deine Vater geht es den Umständen entsprechend“, sagte er steif.
Hatte mein Vater nicht genau dasselbe gesagt? Was versuchten sie mir hier zu verheimlichen?
„Er ist gerade im OP“, meinte der Arzt, „aber wir haben neue Erkenntnisse zu seiner Erkrankung.“
„Aber ihm geht es gut?“ fragte ich vorsichtig nach.
Doktor Schmid lächelte mich mit warmen Augen an und nickte, „ja. Es geht ihm soweit gut.“
Doch dann fiel ein Schatten über sein Gesicht und er wirkte plötzlich unbeholfen, beinahe so, als würde er sich in seiner eigenen Haut unwohl fühlen: „Aber wie bereits gesagt. Es gibt neue Erkenntnisse.“
„Welche?“ fragte ich nun skeptisch.
„Die Erkrankung... ist nicht durch äußere Einflüsse entstanden“, er schluckte, „sondern in diesem Fall handelt es sich um eine autosomale, also um eine genetische Ursache.“
„Was?“ flüsterte ich erschrocken und starrte ihn an.
„Du...Sie sind möglicherweise ebenfalls davon betroffen. Wir müssen Sie testen, um so früh wie möglich handeln zu können“, sagte er und sah mich.
Offensichtlich empfahl es mich zu siezen, vielleicht einfach, um Distanz zu erzeugen.
„Ich werde also sterben?“ fragte ich und Tränen schossen mir in die Augen.
„Niemand stirbt hier“, meinte er und streckte den Arm aus, um meine Hand zu tätscheln, aber ich zog sie zurück.
„Ich... ich muss hier raus“, meinte ich und erkannte erneut Parallelen zu dem Gespräch mit meinem Vater.
Aber das hier war schlimmer.
Damals war es eine Vermutung gewesen, nun war es Gewissheit.
Wieder spürte ich dieses Engegefühl in der Brust.
Hastig erhob ich mich von dem Stuhl, sodass dieser nach hinten kippte, aber nicht umfiel.
Wie damals rauschte ich an Tiffany ohne ein Wort vorbei und floh in die Kälte, die mich betäuben sollte.
Mit zittrigen Finger schrieb ich Wallace, aber er antwortete nicht, also rief ich ihn an.
„Wallace“, schluchzte ich in mein Handy.
„Jay?“ fragte er, „bist du das?“
„Ja“, wimmerte ich, „die Krankheit. Mein Paps. Sie ist erblich.“
Aus mir sprudelten abgehackt die Informationen, die durch mein lächerliches Geheule kaum zu verstehen waren.
„Schsch“, meinte Wallace, „wo bist du?“
„An der Klinik“, sagte ich und bemerkte, dass ich auf dem Parkplatz stehen geblieben war und wie der Schneeregen mich langsam durchnässte.
„Kannst du in zwei Stunden an diese Adresse kommen? Warte, ich schicke sie dir?“
Ich nahm mein Handy vom Ohr und blickte auf den Display, strich die Tropfen, die darauf fielen weg und nickte.
„Jay?“ fragte er und mir fiel ein, dass er mein Nicken nicht sehen konnte.
Gebrechlich bejahte ich und legte auf.
Dann ging ich bis zur Haltetelle und begann mich selbst gegen den Wind zu wiegen, weinte und wimmerte.
Ich musste wirklich furchtbar verquollen und geradezu körperlich abstoßend wirken, gemessen an dem verzogenen Blick des Busfahrers.
Aber was kümmerte mich das schon, ich würde wohl demnächst sterben.
Zuhause angekommen war ich leer geweint und beinahe darüber hinweg.
Ich hatte überdramatisiert, dazu hatte ich schon immer einen gewissen Hang gehabt.
Kopfschüttelnd und noch immer mit geröteter Nase und Augen lag ich auf meinem Bett und sah nach, wo mich Wallace hinlotsen wollte.
Es war ein Club.
Er lotste mich wirklich zu einem Club?
Beinahe fand ich es geschmacklos, aber ich nahm an, er wollte mich ablenken und je länger ich mich mit dieser Idee beschäftigte – umso begann sie mir zu zusagen.
Ich kannte den Club nicht, aber irgendwo in einer dunklen Erinnerung vergraben, glaubte ich von seiner Eröffnung gelesen zu haben.
Überraschend aufgebretzelt fand ich mich also zwei Stunden später davor.
Ich trug ein enges schwarzes Kleid und hatte das Make-up mit rotgeschminkten Lippen inklusive Lip- und Eyeliner aufgefahren, kombiniert mit schwarzen, hohen Schuhen, die ich nie tragen konnte, wenn ich mich mit meinen Freundinnen feiern wollte.
Aber Wallace war größer als ich, bestimmt einen Kopf, wenn nicht mehr und die Schuhe mussten nicht im Schrank verstauben.
Allerdings begann ich anzunehmen, dass sie dort besser aufgehoben wäre, als der stechende Schmerz der mit ihrer Unbequemlichkeit einherging, zunahm.
Ich blickte mich um, während ich auf ihn wartete.
Vereinzelt strömten kleinere Menschengruppen auf den Eingang zu, der hellerleuchtet in der sonst so düsteren Umgebung lag.
Der Club lag ein wenig außerhalb und war neu, weswegen mich über den doch massigen Zulauf wunderte.
Sie lachten laut und wirkten sichtlich betrunken, manche stolperten über ihre eigenen Füßen.
Für einen Moment fragte ich mich, ob ich auch so dusselig wirkte, wenn meine Freundinnen und ich vortranken, bevor den Club enterten.
Kopfschüttelnd verwarf ich diesen Gedanken und sah mit schlendernden Schritt Wallace auf mich zukommen.
Ich spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte – kaum merklich, aber er nahm zu, als ich ihn beobachtete.
Er hatte einen geschmeidigen Schritt, der ihm Lässigkeit verlieh und ich konnte das Lächeln, das auf seinen schmalen Lippen lag, bereits auf die Entfernung erkennen.
„Hallo Fremder“, meinte ich, als er vor mir zum Stehen kam.
Erneut trug er nur seine Lederjacke, während ich in den Minusgrade zitterte.
„Blondchen“, erwiderte er und das Lächeln wandelte sich in keckes Grinsen.
Es gab seinem Gesicht eine gewisse Kindlichkeit zurück.
„Wie geht es dir?“ fragte er und warf mir einen Blick zu, den man nur als mitleidig deuten konnte.
Ich zuckte den Schultern: „Dem Umständen entsprechend.“
Ein Schmunzeln drängte sich auf die rotgefärbten Lippen, als mir bewusst wurde, dass ich genau dieselbe Antwort, wie mein Vater, als auch der Arzt gegeben hatte.
Wallace kommentierte dies mit fragenden Ausdruck in den mitternachtsblauen Augen.
„Gehen wir rein?“ fragte ich und trat vorsichtig einen Schritt von der Wand ab, in deren Schutz in gewartet hatte.
„Wie Sie wünschen“, meinte er und tat galant, bot mir seinen Arm.
Der Club war wie einer unter tausend.
Zu beschreiben mit einfachen Adjektiven wie laut, überfüllt und dunkel.
Die Tanzfläche war um die frühe Uhrzeit nur dünnbesiedelt, flackerte aber bereits in Lichtern, die bei manchen wohl einen epileptischen Anfall provozieren könnten.
Wir kehrten dieser den Rücken und ließen uns in einer Stille Ecke der langen Bar nieder.
Nach dem vierten Kurzen hörte ich auf mitzuzählen und wir tranken weiter bis ich dazu überhaupt nicht mehr in der Lage gewesen wäre.
Mein Blick, als ich ihn durch den Club und die inzwischen platzende Tanzfläche gleiten ließ, verwischte geradezu vor meinen Augen.
Auch Wallace zeigte Spuren des Alkoholkonsums und grinste mich dümmlich an, sah mich fast noch dümmlicher durch seine halbgeöffneten Lider an.
„Wie viele Freunde hattest du?“ fragte er und stützte seinen Arm auf den verklebten Bar ab, um darin sein Kopf zu betten.
„Wie?“ fragte ich und sah ihn an, starrte bis er nur zwei Augen hatte, „keinen.“
Er prustete durch seine schmalen Lippen: „Niemals.“
Ich legte den Kopf schief und nun grinste ich wie von Sinnen, griff nach dem leeren Shotglas: „Doch. Ich bin unberührt.“
Langsam setzte ich an und ließ den Rest des verbliebenen Alkohol in meinen Mund gleiten.
Verschwendung war eine Sünde.
Es war Wodka, aber ich war bereits so betäubt, dass ich den Geschmack nicht einmal mehr abstoßend fand.
„Unmöglich“, sagte er kopfschüttelnd und zog die Augen zu Schlitzen, sodass seine Iris in der schwachen Beleuchtung tiefschwarz wirkte, „wie dass?“
„Warum mich keiner vögeln will?“ fragte ich lachend und zuckte mit den Schultern, „keine Ahnung. Vielleicht sind meine Brüste zu klein, mein Po zu flach“, sagte ich und zupfte an meinem Ausschnitt herum.
„Zeit für eine Marktstudie“, meinte Wallace und rieb sich verschwörerisch die Hände, deutete dem Barkeeper uns zwei weitere Shots zu servieren.
„Marktstudie?“ fragte ich skeptisch und griff nach dem kleinen Glas.
„Auf die schönen Jungfrauen“, meinte er und dotzte gegen mein Glas, ehe er den Inhalt dessen hinunterkippte.
Kopfschüttelnd tat ich es ihm gleich und spürte, wie der Alkohol meinen Körper erschüttern ließ.
Was auch immer das gerade war, es war ungenießbar.
„Komm mal her“, flüsterte Wallace und legte mir den Arm um die Schultern, zog mich zu sich.
Aus seinem Mund drang ein starker Geruch nach Alkohol, der sich mit dem angenehmen Eigengeruch seines Körpers mischte.
„Siehst du den Typen da?“ fragte er und zeigte mit dem Finger, der knapp neben meinem linke Auge vorbeilief, auf einen Jungen etwa in meinem Alter, der schräg gegenüber an der Bar lehnte.
Er war groß, vielleicht so groß wie Wallace und hatte blondes Haar, das ihm im Surferstyle-Boy wirr auf dem Kopf lag.
Ein ziemlich hübscher Kerl, aber meine Wahrnehmung verstand es mich zu trügen, besonders in Verbindung mit einer großen Menge Alkohol.
„Ja“, antwortete ich und zuckte mit den Schultern, die mit seinem Arm darauf schwieriger zu heben waren, „was ist mit ihm?“
„Reiß ihn auf“, lachte er leise verschwörerisch.
„Was?“ fragte ich heftig und manövrierte mich aus seinem Arm, um ihn ungläubig anzublicken, „bist du verrückt geworden?“
„Daran liegt es vielleicht“, meinte er und sah mich herausfordernden Funkeln in den Augen an, „vielleicht bist du fürs Vögeln einfach zu verklemmt und schüchtern.“
Mir klappte beinahe die Kinnlade hinzu, als ich seine Anschuldigung in mich aufnahm.
„Ich habe viele Typen geküsst, viele angemacht, aber die meisten waren einfach Lappen“, rechtfertigte ich mich.
Überheblich zuckte Wallace mit den Schultern: „Taten sind lauter als Worte. Und Worte meistens Lügen.“
„Du glaubst, dass ich es nicht schaffe, den rumzukriegen?“ fragte ich abschätzig, hoffte dass er den Witz auflösen würde, während ich mit dem Daumen über die Schulter nach hinten deutete.
„Ich weiß es“, schmunzelte er und ich schnaubte empört auf.
„Eine meiner leichtesten Übungen“, meinte ich und begann meine Brüste zu richten, hob sie ein wenig nach vorne und fuhr mir durchs Haar.
Mit festen Schritt ging ich auf ihn, stellte mich an der Bar neben ihn und grinste ihm aus den Augenwinkel an.
Als er meinen Blick ebenfalls mit einem Lächeln erwiderte, mich sogar mit einem flüchtigen Blick in meinen Ausschnitt beglückte, wusste ich, dass es kein Ding der Unmöglichkeit war ihn für mich zu gewinnen.
„Du siehst aus, als würdest du mir was ausgeben wollen“, lachte ich und grinste ihn vielsagend an.
„Ist das so?“ fragte er und lächelte amüsiert.
„Mit ziemlicher Sicherheit“, nickte ich und biss mir grinsend auf die Lippe, rückte zu ihm auf, „also was hattest du den vor mir auszugeben?“
Ein schiefes Grinsen hing auf seinen Lippen, das sich in den rechten Mundwinkel verzog: „Wodka? Tequila?“
„Sambucca?“ führte ich seine Aufzählung fragend fort.
„Warum nicht“, zuckte er mit den Schultern und bestellte die Shots mit der kleinen Kaffeebohne darin.
Ein Kinderspiel wie ich es gesagt hatte.
Nach ein paar weiteren Minuten Smalltalk hatte ich ihn in den Außenbereich gelockt.
Ich küsste ihn.
Ich küsste immer zuerst, ergriff die Initiative, emanzipierte mich und behielt die Kontrolle.
Er war ein guter Küsser, aber ich war zu betrunken, um es wirklich wahrzunehmen.
Seinen Namen hatte ich schon in der ersten Sekunde wieder vergessen und so entzog ich mich ihm, ehe das Gefühl seiner Lippen auf meinem Mund verklungen war.
„Ich erwarte Applaus“, meinte ich, als ich neben Wallace gesellte, der gedankenverloren auf die Tanzfläche starrte.
Er war wirklich unglaublich betrunken, beinahe so sehr, als hätte er seine eigene Realität erschaffen.
„Du bekommst ein Schulterklopfen?“ bot er mir über den lauten Beat der Musik hinweg an.
Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber der Club begann sich auszudünnen, die Leute begannen nach Hause zu gehen und die herumstehenden Gläser auf den Tischen wurden vom Personal eingesammelt.
Erst als ich dieses Bild in mich aufnahm, bemerkte ich, wie müde ich war.
„Gehen wir?“ fragte ich und sah ihn an.
Langsam drehte er den Kopf zu mir und schenkte mir ein liebliches Lächeln – ohne jegliche Zweideutigkeit.
In meinem Körper dehnte sich ein ungewohntes Gefühl aus, es fühlte sich an als... würde mein Herz aufgehen.
Ein Schauer rann über meinen Rücken, als ich meinen Blick in seine so warmen mitternachtsblauen Augen hob.
Er nickte leicht, legte erneut den Arm auf meinen Schultern ab und ich genoss das Gewicht darauf, als er mich hinausführte.
Wir standen in der Kälte, als wir auf ein freies Taxi warten und ich wusste nicht, welche Hirngepinste ich mir da ausmalte, aber ich hoffte, er würde mich in den Arm nehmen.
Er tat es aber nicht.
Seufzend schritt ich auf das nächste Taxi zu, das um die Ecke bog, als meine Geduld bereits über strapaziert war.
Wallace folgte mir schweigend und hielt mir die Tür auf, sodass wir das Taxi einer anderen Gruppe genau vor der Nase wegschnappten.
Irgendwo weit weg hörte ich ihre Flüche in der kalten Nacht verklingen, konnte es mir nicht verkneifen mehr oder weniger leise in mich hineinzulachen.
Eine Weile fuhren wir schweigend, als ich plötzlich meinte: „Wallace?“
Er döste neben mir, hatte den Kopf auf meiner Schulter abgelegt.
„Hmm?“ murrte er und sah mich davon nach oben an.
Ich musste grinsen und blickte aus dem Fenster, sah die Dämmerung in der Ferne über den Häuserkanten aufsteigen, als ich ihm meine Nachricht mitteilte: „Ich schreibe Gedichte. Unglaublich gerne sogar. Sie sind nicht gut, aber ich schreibe sie trotzdem gerne. Das weiß niemand.“
„Das ist ja schön, Mädchen“, grummelte es von vorne und ich war irritiert, dass der Taxifahrer mir antwortete, „aber trotzdem sind wir da und ich bekomme den Fahrpreis.“
Ungeduldig klopfte er mit seinen wulstigen Fingern auf die Anzeige des Taximeters.
Ich zahlte und stieg aus.
Es war Montagmorgen.
Aber es war nicht irgendein Montagmorgen.
Es war der Montagmorgen nach den Ferien und der erste Schultag im neuen Jahr.
Eigentlich war es nichts besonderes, denn ich traf meine Freunde wie jedes Jahr, wie nach jedem Ferienende, aber dennoch war es dieses Mal anders.
Es gab nun einen Wallace in meinem Leben, nicht nur einen Wallace, sondern diesen Wallace.
Alles fühlte sich ein klein wenig anders an, wenn es genau genommen aber immer noch das selbe war.
Ein seltsames Gefühl, aber in keiner Weise befremdlich, sondern eine Veränderung, die ich beinahe zu begrüßen schien.
Seufzend ließ ich mich auf meinen Sitzplatz fallen und vergrub meinen Kopf gähnend zwischen meinen Armen.
Mit der Winterzeit war es morgens immer noch dunkel und meistens ließen die anderen Schüler das Licht im Klassenraum ausgeschaltet, bis der Lehrer eintrat.
Ich war müde und nicht sonderlich auf ein Gespräch ausgelegt, also bevorzugte ich meine Maulwurfstrategie und verbarg mein Gesicht weiterhin.
Allerdings konnte ich alles um mich herum wahrnehmen und begann einigen Gesprächen zu lauschen.
Größtenteils waren sie uninteressant, handelten davon, was die Mitschüler, mit denen ich nichts zu tun hatte in den Ferien gemacht hatten.
Eine hatte ein supertolles Wochenende mit Weinverkostung verbracht, weil sie ja schon so super erwachsen und reif war.
Ich bevorzugte es mich mit billigen Schnaps in einer Disko zu betrinken, anstatt mich wie ein Psyeudoerwachsener aufzuführen.
Als das Gespräch mich von den Trockenstufen eines exquisiten Weines zu sehr langweilte, erweiterte ich meinen Radius und begann den anderen Konversationen zu lauschen.
Auch sie handelten mehrheitlich von der Ereignissen in den Ferien und beinahe hätte ich mich erneut desinteressiert abgewandt, aber dann fiel dieses eine Schlagwort, das mich hellhörig werden ließ.
Ich spürte, wie sich mein Körper anspannte und dieses gezwungene Lächeln legte sich auf mein Gesicht, obwohl es niemand sehen konnte.
Eine Reaktion, die dieses Wort, dieser Name immer bei mir auslöste.
Eine Schauspielerei meinerseits, die passive Anteilnahme, als auch gleichzeitig Ahnungslosigkeit suggerieren sollte.
„Ja, die Party war irre gewesen. Wie immer eigentlich“, meinte Anni, „aber er ist natürlich wieder komplett abgegangen.“
„Kann ich mir vorstellen, hat er sich dieses Mal eine klar gemacht?“ hörte ich einen männliche Stimme lachen, aber ich konnte sie nicht zu ordnen.
Dafür war ich viel vom Inhalt der Frage zu paralysiert
„Glaube schon“, meinte Anni und ihre Stimme klang nach einem Achselzucken, „Miles eben.“
Ein heißer Schmerz zischte durch mein Herz und durch dessen Heftigkeit riss ich den Kopf nach oben.
Ich spürte, wie sich ihre Köpfe zu mir drehten, aber ich hatte Glück.
Es war zeitgleich mit dem Eintreten des Lehrers geschehen, so dass sie meiner Reaktion diesem zuordneten.
Ich seufzte, als ich spürte, wie der Schmerz langsam, sehr langsam, durch meinen Körper ebbte, ehe er sich irgendwo darin verlor und verschwand.
Ich richtete die Augen nach vorne auf das Whiteboard, wo der Lehrer stand und uns mit einem viel zu motivierten Gesichtsausdruck begrüßte.
Eine Gestalt huschte vor ihm vorbei und kam auf mich zu.
Elli hatte rote Wangen und zahlreiche Schneeflocken lagen in ihrem schwarzen, dichten Haar, als sie sich neben mich fallen ließ.
„Schon wieder verschlafen?“ flüsterte ich ihr lachend zu.
Sie verdrehte ihre grauen Augen und meinte: „Jonas wohnt weiter von der Schule weg ausgedacht.“
Überrascht formten sich meine Lippen zu einem O und sie nickte mir vielsagend mit einem Blitzen in den Augen zu.
„Menschen mit einem Liebesleben“, meinte ich und machte eine wegwerfende Handbewegung, die Elli zu einem amüsierten Lachen reizte.
Unser Lehrer warf uns einen mahnenden Blick vor und ich richtete mich unwohl im Stuhl auf, richtete den Blick nach vorne.
Dort sah ich Annis roten Schopf und ihre Worte fielen mir wieder ein.
Ich hasste es.
Ich hasste, dass es mir noch immer so viel ausmachte.
Und in meinem Inneren spürte ich, wie der Schmerz sich klamm und heimlich wieder an meine Seele haftete.
In der Pause lungerten wir auf dem Mädchenklo im zweiten Stock herum, um nicht nach draußen in die Kälte geschickt zu werden.
Elli hatte sich sogar einen Stuhl hineingeschmuggelt und sich auf diesem niedergelassen, während ich mich gegen die kühlen Fliesen lehnte und mein Gesicht halb hinter meinem Schal verbarg.
Ich hörte ihr zu, wie sie von Jonas und ihrem Ausflug in die Berge erzählte und davon, dass sie sich jetzt sicher war, dass sie dort nie wieder hin wollte. Sie meinte, von der Höhe bekäme sie Kopfschmerzen und von dem fehlenden Weitblick Klaustrophobie.
Ich lachte laut, als ich das hörte und erstarrte, als wir das vertraute Quietschen der Tür vernahmen.
Muskmäuschenstill sahen wir uns an und überlegten fieberhaft, wie wir das Nachsitzen, das uns erwarten würde, abwenden konnten.
Aber die Situation war auswegslos. Elli saß auf einem Stuhl hier, auf einem Stuhl.
Ich vertraute die Augen, als ich die Person erkannte, die dann tatsächlich zu uns Klo gekommen war.
Ihr rundliches Gesicht war rot, als sie das Lachen nicht mehr anhalten konnte und über unseren Gesichtsausdruck losprustete.
Hannah lachte Tränen, die ihr an ihren leicht pauschbäckigen Wangen hinunterrannen und klopfte sich auf ihre Oberschenkel.
Sie übertrieb maßlos und erneut verdrehte ich die Augen, löste meine angespannte Haltung erst jetzt w auf und seufzte leise.
„Du hast mir einen halben Herzinfarkt verursacht“, meinte Elli vorwurfsvoll und zog die perfektgezupften Augenbrauen ärgerlich zusammen.
„Tut mir leid“, antwortete Hannah noch immer leicht außer Atem und wischte sich die Tränen unter ihren hellblauen Augen weg, „aber ihr hättet mir auch schreiben können, dass ihr hier seid. Ich musste mich fast agentmäßg hier reinschleichen.“
Sie grinste.
„Schön euch alle wiederzusehen“, seufzte sie und fuhr sich das kurze hellbraune Haar, das ihr in einem modernen Pixie-Schnitt auf dem Kopf lag.
Ich lächelte sie leicht an: „Du bist so kitschig.“
Sie zuckte mit den Achsel und stellte sich uns gegenüber, so dass wir ein Dreieck bildeten.
„Was habt ihr in den Ferien so gemacht?“ fragte sie und beäugte mich besonders.
Ihr Blick war unangenehm, irgendwie ergründet und herausfordernd, sodass ich meinen abwendete.
Wir hätten spärlichen Kontakt über WhatsApp gehalten, aber es war nicht dasselbe wie ein Gespräch.
Gespräche waren ehrlicher.
Als ich Ellis neugierem Blick begegnete, wurde mir klar, dass sie alle nicht vergessen hatten, was vor den Ferien geschehen war.
Mit einem tiefer Seufzer schüttelte ich den Kopf: „Nichts. Ich habe gegessen, geschlafen und gearbeitet.“
Ellis ärgerliches Stöhnen zog die Aufmerksamkeit auf sich und ich sah, wie sie sich verzweifelt den Kopf in den Nacken gelegt hatte, ehe sie ihn hervorschnellen ließ und mich mit einem beinahe wütenden Blick bedachte: „Das ist doch nicht wahr. Du bist so eine schlechte Lügner, Jayden Kasakova!“
Ich erschrak fast, als sie mich mit meinem ganzen Namen ansprach.
Es klang geradezu tadelnd – wie bei meiner Mutter. Gruselig.
Ich hasste es, dass ich vor ihr keine Geheimnisse hüten konnte.
„Vielleicht habe war ich ihm Club und habe mit einem Kerl rumgemacht?“ fragte ich beiläufig und trug mit Unschuldsmiene aus.
Ellis zog die Augen zu amüsierten Schlitzen, ehe sie triumphierend meinte: „Wusste ich es doch! Dir muss man immer alles aus der Nase ziehen.“
Unwohl rollte ich mit den Schultern.
„Ich will alles hören!“, mischte sich Hannah ein und sah mich abwartend an, „wie sah er aus.“
„Gut“, meinte ich und biss mir vielsagend auf die Lippe.
„Wie heißt er?“ fragte Ellis nun auch angefacht.
Sie nahmen mich in ein heftiges Kreuzverhör.
„Und wieso warst du allein im Club?“ fragte mich Hannah nun plötzlich, als ihr dämmerte, dass ich nichts von einer Begleitung erwähnt hatte.
Überrascht sah ich sie an, sah auf ihre gebräunte Haut, die darauf hinwies, dass sie die Feiertage in wärmeren Gefilden verbracht hatte.
„Ich war gar nicht allein“, meinte ich und runzelte die Stirn über meine eigenen Fehler, „ich war mit... Wallace.“
„Wallace?“ fragten beide gleichzeitig und lachten darüber.
Also erzählte ich ihnen die ganze Geschichte.
Davon, wie er mich im Bus angesprochen hatte, wie wir essen waren und wie wir in diesem Club waren.
Sie waren hellauf begeistert von ihm, aber wie konnten sie auch nicht: Es war schließlich Wallace.
„Dir ist klar, dass du uns ihn nicht länger verheimlichen und vorenthalten kannst“, meinte Hannah und Ellis nickte zustimmend.
Ich lächelte und zuckte mit den Achseln: „Ich werde ihn fragen.“
Das Klingeln beendete unsere Konversation und ich fühlte beinahe so etwas wie Erleichterung.
Es ging dieses Mal viel zu viel um mich.
Als wir aus dem Klo traten, verteilten wir uns drei in unterschiedliche Richtungen.
Ich nahm die Treppe nach unten, um zu meiner nächsten Stunde zu kommen und wäre ich doch nur den Gang auf gleicher Ebene mit Elli gegangen und hätte die Südtreppe genommen.
Denn erneut war das Schicksal zum Scherzen aufgelegt.
Ich verabschiedete mich gerade von Hannah, ehe ich den Blick nach vorne wendete und ihm begegnete.
„Hey“, meinte er und lächelte mich an.
Und alles, was ich tat?
Ich starrte ihn an, verspannte und riss den Kopf zu Boden, schritt hastig an ihm vorbei.
Super reagiert, gratulierte ich mir selbst und fand meinen Atem erst wieder, als ich mir sicher war, dass ich seinen verwirrten Blick nicht mehr heiß in meinem Rücken spüren konnte.
Drei Monate vorher.
„Auf die Allstars!“
Ein Gröhlen ging durch die Menge und wir rissen die Arme nach oben, alle ausgestattet mit einem Shotglas.
Ich verschüttete den halben Inhalt auf meinen Mitmenschen, aber alle waren mittlerweile so betrunken, dass es niemanden mehr kümmerte.
Das traditionelle Campen des Abschlussjahrgangs hatte sich zum traditionellen Kollektivbesäufnis des Abschlussjahrgangs gewandelt und ich war eine von denen, die am besten dabei war -wie immer.
Als sich der Gruppentrinkkreis auflöste, hatte ich Hannah und Elli verloren, stand aber ihm schräg gegenüber – Miles.
Er war gutaussehend, aber nicht so übertrieben, dass sich jede weibliche Schülerin auf ihn stürzte.
Unsere Blicke trafen sich und amüsiert prostete er mir zu.
Ich grinste ihm zu und deutete an, ob wir zusammen uns nicht noch einen Drink genehmigen wollten.
Er nickte und ich trat durch die Mitte hinweg zu ihm.
Wir kannten uns, hatten auf ein paar Partys zuvor herumgeblödelt, aber nie war es auf irgendetwas Romantisches zugelaufen.
Ich sah ihn nicht so, jedenfalls zuvor.
Nicht bis wir ab diesem einen Drink den ganzen Abend miteinander verbrachten und ich so viel lachte.
Ich mochte vielleicht betrunken sein, aber ich hatte schon lange nicht mehr so viel gelacht.
Es fühlte sich gut an.
Es fühlte sich auch gut, als wir in der Wiese abseits von den anderen lagen.
Mein Kopf lag auf seiner Brust und wir sahen hoch in den Himmel.
Da wir außerhalb von Burgh campten, war kein künstliches Licht, dass den Himmel verbrauchte.
Es war eine klare Nacht – und mein Gott, ich hatte noch nie einen so atemberaubenden Sternenhimmel gesehen – und das hatte absolut nichts mit meinem Alkoholpegel zu tun.
In diesem Moment hatte ich mich so winzig gefühlt, unter all diesen funkelnden Himmelserscheinungen.
Wir hatten die ganze Zeit geredet, auch wenn ich eine Minute später mich nicht mehr daran erinnern konnte, über was.
Aber dann küsste ich ihn.
Ich küsste ihn und er küsste mich – unter diesen verdammt absolut perfekten Nachthimmel.
Ich hatte das alles so nicht geplant, aber vielleicht kam das Ergebnis dieses Abends umso heftiger auf mich zu.
Text: Alle Rechte liegen bei der Autorin (J.K Pure)
Publication Date: 11-15-2015
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Dedication:
Für dich.
Für alle.
Für uns.