Die westliche Sonnensee im Jahr 233 der Herrschaft des Hauses Belfare.
Vance Livsey zog sich den Hut aus Ölzeug tiefer ins Gesicht, als er auf das schwankende Schiffsdeck hinaustrat. Hinter ihm im Schatten folgten weitere Gestalten. Gischt und Regen schlugen ihm entgegen, sobald er die schützende Treppe zum Unterdeck verließ und bevor er auch nur wenige Schritte über die rutschigen Planken gemacht hatte, war er bis auf die Knochen durchnässt.
Wasser tropfte aus seinem hellbraunen Bart und den langen Haaren. Laternen tanzten an den Schiffsmasten, ihre Flammen kaum mehr als schwache Lichtpunkte in einem Meer aus grau.
Die Windrufer neigte sich zur Seite, als sie von einer weiteren Welle getroffen wurde und Vance hielt sich an der Reling fest. Der Sturm hatte das Schiff fest im Griff. Einen Moment konnte er das Meer steil zu seiner rechten sehen, statt unter sich, wo es hingehörte… dann schlug die Windrufer zurück ins Wasser. Eine der Laternen zerschellte klirrend am Boden, sobald das Schiff aus seiner Schräglage gerissen wurde. Bei diesem Wetter blieb ihnen kaum etwas anderes übrig, als zu warten, bis der Sturm entweder nachließ… oder sie mit sich in den Abgrund riss. Weit und breit gab es nur Wasser. Sie waren weit von jeder Küste entfernt, weiter, als sich ein Schiff eigentlich hinaus wagen sollte. Und genau da lag das Problem.
Der kaiserliche Offizier, der das Kommando hatte, weigerte sich, nach wie vor, umzukehren oder auch nur einen Hafen anzusteuern und das obwohl ihnen langsam die Vorräte ausgingen. Von der Witterung einmal abgesehen. Sie würden alle sterben, wenn das so weiterging. Und wichtiger… Vance wusste nach wie vor nicht welches Ziel diese Expedition eigentlich hatte. Um was auch immer es hier ging, das Kaiserreich schickte kein schwer bewaffnetes Kriegsschiff aus, um vor einer friedlichen Küste Patrouille zu fahren. Dazu band der Krieg mit Laos, nach wie vor zu sehr die Kräfte der Militärgarden.
Um was immer es hier ging, es war groß. Und wenn es nah Vance ginge, hätte er seinen Anteil daran.
Er erkannte die Umrisse von drei uniformierte Gestalten, die auf der anderen Seite des Schiffs Wache standen. Wärmendes Licht drang aus den Fenstern der Kajüte, wo sich der Expeditionsführer verborgen haben musste.
Durch die dichten Regenschleier konnten ihn die Männer unmöglich bemerken. Nicht, solange er nicht ins Licht trat. Und auch die restliche Crew, die sich ihm angeschlossen hatte. Niemand von ihnen wollte hier draußen draufgehen, weil das Kaiserreich stur blieb. Es war ein leichtes gewesen, sie zu überreden. Die Schlüssel für die Waffenkammer und das Pulvermagazin, verwahrte der kaiserliche Offizier, somit war ihnen nur übrig geblieben, sich provisorisch zu bewaffnen. Küchenmesser, scharfkantige Flaschensplitter und was das Schiffsinventar hergab. Außer dem Offizier, gab es nur eine Handvoll kaiserlicher Gardisten an Bord, wenn sie sie überraschten, wurden sie mit ihnen fertig. Und selbst wenn einige von ihnen drauf gingen… was immer das Kaiserreich wollte, wäre es Wert, dachte Vance. Er trat aus den Schatten und hob die Hand zum Gruß, als ihn die Gardisten entdeckten. Es waren zwei mit Musketen bewaffnete Soldaten. Leichtes Spiel, dachte Vance erleichtert, in diesem Sauwetter würde es an ein Wunder grenzen, wenn die Gewehre richtig funktionierten. Nur die dritte Gestalt beunruhigte ihn. Ein türkisfarbener Umhang schützte den Mann vor dem strömenden Regen und den Wellen, die regelmäßig über das Deck spülten. Auf der Herzseite prangte das goldene Emblem eines Tropfens. Zauberer. Verfluchte Schweine …. Vance musste sich zurückhalten um nicht laut zu fluchen. Wo kam der denn her? Sie waren jetzt seit über einem Monat auf See und die ganze Zeit hatte er keinen einzigen verdammten Robenträger zu Gesicht bekommen. Wo bitte hatte der sich bisher versteckt? Hexer. Da waren ihm die Gejarn fast noch lieber. Aber auch nur fast. Die wenigen Tiermenschen, die sie an Bord hatten stanken furchtbar sobald ihr Fell nass wurde. Und bei einem Sturm wie jetzt….
Wenn sie die Kontrolle über die Windrufer gewannen, würde er sie alle über Bord werfen lassen. Es wäre spaßig herauszufinden ob die mit vollgesogenem Pelz überhaupt schwimmen konnten. Wenn überhaupt.
Die Gardisten hoben ebenfalls die Hand zum Gruß. Mit denen wurde er fertig, wenn es darauf ankam. Aber wenn sie den Zauberer nicht überraschten, dann hatten sie schlechte Karten. Vance marschierte an den beiden Soldaten vorbei ohne sie groß zu beachten.
„Abend.“, murmelte er, als er auf Höhe des Magiers kam. „Ich nehme an der Käpt’n ist in seiner Kabine?“
„Möchte nicht gestört werden, während er die Karten überprüft.“, erklärte einer der Gardisten lediglich.
Karten? Was denn für Karten? Sie waren mitten im Nichts, um sie herum sollte es nur eines geben und das war offenes Meer. Mitten im Sturm ihre Position bestimmen zu wollen war Wahnsinn.
Egal, das konnte der imperiale Offizier ihm auch noch erklären, wenn er ihm ein Messer an den Hals setzte.
„Ich sehe schon. Schade. Ich hätte ja einiges mit ihm zu besprechen gehabt.“
„Zum Beispiel?“
Vance reagierte schnell und stürzte auf den Magier zu. Bevor der Mann realisierte, was vor sich ging, hatte er auch schon sein Messer im Hals.
„Wo er die Klinge hinhaben will beispielsweise.“, rief Vance und stieß den toten Zauberer von sich. Blut sprudelte aus der Schnittwunde, an dessen Hals. Götter und Geister, das war fast zu leicht gewesen. Aber wenn er den Mann nicht überrascht hätte, wäre er jetzt vermutlich eine lebende Fackel.
Die restliche Crew stürzte nun ebenfalls aus dem Dunkel und machte sich über die zwei völlig verwirrten Gardisten her. Ein Schuss löste sich aus einer der Flinten, aber die Kugel sirrte wirkungslos in die Nacht davon. Vance stieß derweil die Tür zur Kajüte auf. Der kaiserliche Offizier sprang von seinem Kartentisch auf. Bücher und Schriftrollen rutschten zu Boden, als der Mann schwankend zum stehen kam. Er war ein leicht untersetzter Kerl, mit roter Knollennase. Die Uniform die er trug war ihm definitiv ein Stück zu klein, sodass die goldenen Knöpfe sich gefährlich spannten. Kein Krieger, ganz sicher sogar nicht. Trotzdem riss er sofort einen Säbel hoch, sobald er Vance und das blutige Messer in dessen Hand bemerkte.
Dieser versetzte dem Mann einen Tritt, der ihn durch die Kabine warf. Im gleichen Moment wurde die Windrufer abermals von einer Welle erfasst und der Kapitän verlor endgültig das Gleichgewicht. Bevor er wieder aufstehen konnte, war Vance auch schon über ihm und stieß ohne nachzudenken zu. Einmal, zweimal… erst als der Mann aufhörte zu zucken, lies Vance die Waffe sinken. Er wischte sich übers Gesicht ohne darauf zu achten, dass seine Hände völlig blutverschmiert waren. Das wäre geschafft.
Vance kam stolpernd auf die Füße und ging zum Kartentisch zurück. Was hatte der Kerl eben noch überprüfen wollen… alles was er fand, war die Karte der Gewässer. Eine gewaltige blaue Fläche, in der einzelne kleine Inseln eingezeichnet waren. Die meisten waren mehr Felsblöcke, als das sie diesen Titel verdient hätten. Auch die Bücher gaben ihm wenig Aufschluss. Abhandlungen über Magie. Pah, was sollte er den damit? Vielleicht verkaufen, ja das wäre eine Option. Er warf die Schriftstücke, eines nach dem anderen, über die Schulter. Die anderen kamen derweil ebenfalls in die Kabine gelaufen.
„Was machen wir jetzt?“
Er antwortete nicht. Vance Blick fiel auf eine Schriftrolle, die etwas hervorstach. Es war ein uraltes Pergament, das fast zerbröselte, wenn er es berührte. Die Sprache in der es verfasst war, erkannte er nicht einmal vom Sehen her. Die Zeichen wirkten seltsam verschlungen. Es waren keine menschlichen Runen und auch keine Clanschrift, soviel war klar. Darin eingewickelt befand sich ein zweites Dokument. Und dieses Mal erkannte er die Sprache. Offenbar handelte es sich um eine Übersetzung der ersten Schriftrolle…. Er überflog die Worte nur schnell. Das war allerdings interessant. Sehr interessant. Verflucht, jetzt wünschte er, er hätte den Zauberer doch nicht getötet. Egal, es würde sich eine Gelegenheit finden. Vance ließ das Dokument in seiner Manteltasche verschwinden. Er beugte sich nach vorn und hob den Hut des toten Kapitäns auf, bevor er sich ihn selbst aufsetzte.
„Was wir jetzt tun, meine Herren? Wir haben soeben erfolgreich ein kaiserliches Kriegsschiff in unsere Gewalt gebracht. Und ich persönlich habe nicht vor, hier aufzuhören.“
Kapitel 1
Eden
Wenigstens konnte der Tag nicht mehr viel schlimmer werden, dachte Eden. Ein besonders aufmunternder Gedanke jedoch, war das nicht. Die Kälte, die durch die Ritzen im Holz drang lies ihre Hände und Füße bereits taub werden und in der Dunkelheit aufzustehen und umher zu laufen, war keine gute Idee. Sie wusste nicht, wie viele andere hier waren, aber bei ihrem ersten Versuch, aufzustehen, war sie über mehrere Gestalten gestolpert. Eden konnte nur raten, aber sie musste sich wohl in einem Wagen befinden. Das poltern der Pflastersteine war das einzige Geräusch, das neben gedämpften Gesprächsfetzen bis zu ihr drang. Dünne Lichtbahnen fielen durch die Lücken im Holz des Verschlags und erlaubten ihr, zumindest einen kleinen Blick nach draußen. Sie fuhren durch eine Straße, an deren Rand sich Blockhütten vor dem grauen Himmel abzeichneten. Die schweren Holzbalken waren mit Schnitzereien verziert und trugen hier und dort auch Schriftzeichen, die ihr jedoch wenig sagten.
Schnee lag als feine Schicht auf Dächern und Gehwegen und in der Ferne konnte die Gejarn Berge erkennen. Zum Himmel hoch aufragende Granitgipfel, deren Spitzen mit Eis bedeckt waren.
Geister, wo war sie bloß? Ihr Verstand war wie leergefegt. Aber eigentlich war die Antwort auf diese Frage ganz simpel… es hatte sie nicht zu interessieren, wo sie war. Sie waren alle verkauft worden, so einfach war das….
Als der Wagen langsamer wurde, konnte sie Mauern erkennen. Eine Stadt und offenbar durchfuhren sie im Augenblick grade einmal die Außenbezirke. Sie hielten an. Eden konnte einen Blick auf eine Reihe Wächter erhaschen. Männer in, mit Pelzen besetzten Uniformen, die vor den Stadttoren auf und ab liefen, um sich warm zu halten. Ein paar hatten ein Feuer in einem Kohlebecken entzündet und wärmten sich daran. Einer jedoch musste sich mindestens mit dem Fahrer des Wagens unterhalten. Eden versuchte, zumindest einen Teil des Gesprächs, aufzuschnappen.
„..schon wieder?“ , wollte grade eine der Stadtwachen wissen.
„Ihr wisst, wie Lord Andre ist. Dem sterben die Leute weg wie nichts, wenn es ihm passt.“
„Das ist schon fast gesetzwidrig und Ihr wisst das genau so gut wie ich. Ich kann für de Immerson nur hoffen, das in Silberstedt nie ein kaiserlicher Agent rein schneit.“
Silberstedt… Das musste wohl der Name der Stadt sein. Sie wusste wo sie sich befand. Das war immerhin schon mal etwas.
„Keine Sorge, der Kaiser hat momentan andere Probleme, als die Rechte von Sklaven. Und selbst wenn… in dem Moment wo Konstantin Belfare hier einen Beobachter hinschickt, verfüttert der alte Herr seinen gesamten Hausstand, vermutlich an sein Schoßtierchen. Apropos Schnee, sieht aus, als bekommen wir heute Nacht einen Sturm.“
„Und ich muss oben an den Minen Dienst schieben. Ich verlier noch meine Füße bei der verdammten Kälte.“
Eden schlich vorsichtig durch das Halbdunkel, um über niemanden zu stolpern. Jetzt konnte sie zumindest die Wache sehen, mit der sich der Kutscher unterhielt. Er trug eine hellblaue Uniform, die am Hals und an den Ärmeln mit Pelz verbrämt war. Der Kutscher warf ihm irgendetwas zu und der Mann fing es mit einer behandschuhten Hand auf. Eine kleine, silberne Flasche.
„Sollte Euch warmhalten. So was jetzt? Lasst Ihr uns jetzt durch, ich hab‘s eilig.“
„Ja, klar, seht schon zu, dass Ihr verschwindet.“ Der Wachmann hatte die Flasche bereits geöffnet und nahm einen tiefen Schluck.
„Alter Bandit…“, konnte Eden den Kutscher murmeln hören, bevor der Wagen sich mit einem Ruck wieder in Bewegung setzte. Violette Banner fielen vom Torhaus herab, darauf zu sehen, das Abbild einer silbernen Spinne. Sie konnte sich definitiv schönere Wappentiere vorstellen.
Die Holzbauten wurden durch Steinhäuser aus großen, grauen Blöcken abgelöst. Rauch stieg aus einer Unzahl Kamine in den Abendhimmel und sammelte sich in einer Dunstwolke über der Stadt. Der Geruch von brennendem Fichtenholz war praktisch allgegenwärtig. Eden ließ sich an der Wand der Kutsche zurücksinken. Jetzt hieß es abwarten, was geschehen würde. Irgendwann mussten sie ihr Ziel zwangsläufig erreichen. Und dann… dann würde ihr nur übrig bleiben, zu tun was man ihr sagte.
Sie war nicht frei, das war der simple Fakt, um den sie nicht herum kam. Die Metallringe an ihren Armen und Füßen sprachen Bände darüber. Und ihr Verstand… nach wie vor war alles verschwommen. Eine Nachwirkung der Rituale. Sie war sich nicht sicher, ob es Magie war, oder nicht. Aber es hatte genau ein Ziel, das noch nie versagt hatte: Konditionieren, brechen, den freien Willen vernichten. Aber zumindest für den Moment gehörte ihr Geist noch ihr.
Als sie schließlich anhielten, wappnete sie sich innerlich, für was folgen musste. Trotzdem wurde Eden einen Augenblick geblendet, als die Türen aufflogen. Schnee schlug ihr zusammen mit schneidend kaltem Wind entgegen.
„Raus hier, na los.“, verlangte eine Stimme. Nicht die des Kutschers, da war sie sich sicher.
Die Gejarn musste sich dazu zwingen, aufzustehen. Sie warf nur einen flüchtigen Blick auf ihre Mitreisenden. Gejarn und Menschen gleichermaßen, die mit gesenktem Kopf, einer nach dem anderen, in die Kälte hinaus traten. Ihre zerlumpte Kleidung bot nicht einmal vor dem Schnee Schutz, mal davon abgesehen, das manchen die, durch Licht und Verzweiflung erzeugten, Tränen in den Augen gefroren.
Sie stolperte, als sie auf einen gepflasterten Innenhof hinaus trat. Eine niedrige Mauer umgab einen großen Aufgang. Abgewetzte Steinstufen führten zu einer, von schweren Holzsäulen getragene Halle mit Vordach hinauf. Weitere Gebäude erhoben sich links und rechts auf dem kleinen Hügel, auf dem die Anlage stand. In mehreren großen Becken brannten Holzfeuer, die die hereinbrechende Abenddämmerung verdrängten. Der Himmel hatte seine Farbe mittlerweile von grau zu einem blassen Rosa gewechselt. Jemand versetzte ihr einen großen Stoß. Eine kleine Gruppe Wachen, die ebenfalls mit Pelz besetzte Uniformen trugen hatten ein Auge auf das Dutzend abgerissener Gestalten.
Weitergehen, erinnerte Eden sich selbst. Einfach weitergehen und bloß nicht so aussehen, als würde ich mich für irgendetwas interessieren.
„Wartet hier.“ , kam die barsche Anweisung von einem der Soldaten. Und das taten sie schließlich auch. Sie wusste nicht zu sagen, wie viel Zeit verging. Minuten oder auch nur Augenblicke, Zeit existierte nicht, wenn man dagegen ankämpfte, in der Kälte nicht zu zittern… und dem Drang zu widerstehen, auf und ab zu laufen um sich aufzuwärmen. Gib ihnen keinen Grund, sich auf dich einzuschießen, sagte Eden sich. Das war die Kälte nicht wert. Es gab viel, viel Schlimmeres als bloße Kälte. Die Narben auf ihrer linken Hand sprachen Bände davon.
Es war ihrem ersten Meister in den Sinn gekommen, ihre Handfläche für mehrere Stunden an eine Tür zu nageln. Nicht weil sie etwas verkehrt gemacht hätte. Zumindest nichts, dessen Eden sich bewusst gewesen wäre. Sondern aus simpler Grausamkeit. Die Wunde hatte sich entzündet und es grenzte an ein Wunder, das sie noch alle Finger hatte… oder die Hand auch nur wieder richtig bewegen konnte. Ein Sklave, der nicht mehr arbeiten konnte war Tod, so einfach war das.
Letztlich aber hatte sich das Ganze anfangs als Glücksfall erwiesen. Es hatte einige kaiserliche Beamte veranlasst, sie zumindest vorübergehend zu befreien. Sie hatten nicht viele Rechte, aber sie hatten welche. Sinnlose Grausamkeit war so ziemlich das einzige, was dem Adel Cantons verboten war. Am Ende jedoch, war das offenbar kein Grund, sie frei zu lassen, dachte Eden bitter. Sie war erneut verkauft worden und schlimmer noch, diesem verdammten Ritual unterzogen worden. Sobald sie die Augen schloss, tanzten immer noch bunte Schatten vor ihren Lidern. Schmerzendes Licht. Das war alles, woran sie sich erinnerte. Sie fühlte sich nicht anders, aber das würde kommen.
Eden hatte es bei anderen gesehen. Der Tod wäre die bessere Option gewesen. Doch diese Wahl blieb ihr nicht mehr. Und hier war sie jetzt also. Wartend in der aufziehenden Dämmerung.
Eine Bewegung auf der Treppe, die hinauf zum Herrenhaus führte, zog ihre Aufmerksamkeit auf sich.
Soeben hatte eine Frau die Gebäude verlassen und kam rasch die Stufen zum Hof hinab. Sie hatte kurzes, an den Schläfen graumeliertes Haar. Einige braune Locken lugten unter einer schlichten Haube hervor, ansonsten entsprach ihre Kleidung jedoch ganz der des hohen Adels. Ein rotes Kleid, das in der mit Schnee überzuckerten Landschaft, fast surreal fehl am Platz wirkte. Ganz offenbar fror sie ebenfalls furchtbar und der ungehaltene Ausdruck auf ihrem Gesicht war auch alles andere als vielversprechend.
„Ach, immer dasselbe.“, polterte sie los, sobald sie die Wachen und das Dutzend Sklaven erreichte. Sie musterte die Gruppe abfällig.
„Hässlich, ungepflegt, krank… die Hälfte von denen könnt ihr gleich weiter in die Minen schicken.“ Sie deutete scheinbar willkürlich auf einige Leute in der Gruppe, die sofort von zwei der Soldaten bei Seite geführt wurden, zu einem kleinen Verschlag, auf der anderen Seite des Geländes. Offenbar eine nur notdürftige Unterkunft. Holzbretter, die kaum Schutz vor der Kälte bieten dürften… Geister, die würden alle schon in der ersten Nacht erfrieren, wenn sie Pech hatten. Das war ein Todesurteil… jemand schubste sie ebenfalls in die Richtung der Barracken.
„Moment.“, hallte die Stimme der Frau wieder über den Platz. „Die da nicht.“
Eden war einen Moment unsicher, ob sie erleichtert sein sollte, oder nicht. Bisher kannte sie nur eines ihrer möglichen Schicksale. Minenarbeit. Das überstand niemand lange, aber wenigstens wäre es auch gnädig schnell vorbei.
„Die ist für den Haushaltsdienst.“
Eden wurde an der Schulter angehalten. Sie hatte sich schon eine Weile daran gewöhnt, mehr wie ein Gegenstand behandelt zu werden, den nicht interessierte, wenn man über ihn sprach.
„Herrin, Ihr wisst, das Lord Immerson keine Gejarn im Haus wünscht.“, wagte es einer der Wächter anzumerken.
„Andre wird schon drüber hinweg kommen.“, erklärte sie lediglich. „Außerdem ist sie hübscher, als die üblichen Flohfänger, die ihr anschleppt. Also hopp. Sie und der Rest ins Haus. Lasst sie kurz überprüfen. Aber Beeilung. Ich friere und das Abendessen muss noch serviert werden. Dann können wir gleich sehen, wer bleibt.“
Eden atmete einen Moment erleichtert auf. Haushaltsdienst. Das konnte nicht zu schlimm werden. Im Gegenteil. Das konnte man vor allen Dingen überleben. Sie war sich unsicher, was sie gerettet hatte. Vermutlich ihr Pelz. Schneeweiß zog sie damit scheinbar die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich. Was in ihrer Situation alles andere als Wünschenswert war. Diesmal hatte ihr das aber offenbar einmal Glück gebracht.
Zusammen, mit den übrigen vier Neuankömmlingen, wurde sie auch schon die Treppe hinauf gejagt. Sie musste aufpassen, nicht zu stolpern. Die Stufen waren mit Eis überzogen und ihre Beine nach wie vor halb erfroren. Zuerst dachte sie, man würde sie in irgendeines der Nebengebäude bringen. Umso mehr staunte sie, als die Wachen ihnen bedeuteten, durch den Haupteingang zu treten. Das war allerdings ungewöhnlich, aber Eden hinterfragte es nicht. Solange das hieß, das sie endlich aus der Kälte kamen….
Sie betraten eine dunkle, weitläufige Halle. Schwere Säulen, die über und über mit Schnitzereien verziert waren, stützten eine hohe Decke. Dicke Wandteppiche isolierten die Wände gegen die Kälte und über den ganzen Raum verstreut brannten Kohlebecken. Der plötzliche Temperaturwechsel war ein kleiner Schock. Es waren die kleinen Dinge. Die wohltuende Wärme sorgte dafür, dass langsam das Gefühl in ihre Finger und Füße zurückkehrte.
„Na los, etwas Beeilung.“ Sie wurden schnell weiter geführt, aus der großen Halle hinaus in einen kurzen Gang, der schließlich vor einer verschlossenen Tür endete. Einer der Wachmänner klopfte an.
„Die Neuen.“, rief er nur. „Die müsste sich mal jemand ansehen.“
Die Tür wurde aufgerissen und ein ziemlich ungehalten wirkender Mann trat heraus. Er trug einen grünen Mantel, der ihm bis über die Knie fiel und war definitiv schon Älter. Leicht gebeugt gehend, besah er sich die stumm wartenden Sklaven. Er nickte ein paar Mal, blieb aber abrupt stehen, als er bei Eden angelangt war. Er schüttelte ungläubig den Kopf.
„Wer von euch Hohlköpfen hat die denn rein gelassen? Wollt ihr, dass Andre uns alle einen Kopf kürzer macht? Oder Schlimmeres? “
Eden zögerte. Sollte sie etwas sagen… oder einfach darauf vertrauen, dass die Wachen den Mann schon darauf hinweisen würden, dass sie auf Wunsch von jemanden hier waren. Zumindest eines wusste sie: Raus, in die Kälte, wollte sie jetzt nicht mehr zurück.
„Ich…“ Ihre Stimme versagte direkt wieder.
Der Mann machte beinahe einen Satz.
„Hey, die kann ja sprechen.“
„Ich wollte es grade sagen. Sie ist hier, weil Lady Varia sie offenbar unbedingt haben will. Fragt mich nicht, was die Frau damit bezwecken will. Vermutlich den Lord zur Weißglut treiben.“
„Mhm.“ Offenbar war die Sache für den Mann damit erledigt, denn er wandte sich wieder Eden zu. „Pfoten her.“, verlangte er barsch.
„Was ?“
„Pfoten, Hände, Gliedmaßen halt. Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.“ Unsicher streckte sie die Hände vor. Der Fremde warf nur einen kurzen Blick darauf, bevor er sich wieder zu den Wachen umdrehte. „Wollt ihr mich verarschen, Herrschaften? Oder wollt ihr jemanden tot sehen?“
„Was…“ Der Wachmann, der sich als Ziel seines Zorns wiederfand zuckte nur mit den Schultern.
„Die hat noch Krallen. Habt ihr mal gesehen, was ein Gejarn damit anrichten kann? Fragt den Obersten des Sangius-Ordens, dem armen Kerl haben sie fast den Arm amputiert. Wenn ich nicht wüsste, dass ihr alle nicht die Hellsten seid, würde ich echt sagen, ihr schmuggelt mir hier grad ‘nen Attentäter ins Haus. Auf alles muss man selber achten.“
„Und was bitte sollen wir jetzt machen? Sie wieder rauswerfen und uns von Varia anschnauzen lassen? Das geht dann aber auf eure Rechnung, Frank.“
„Von wegen, da gibt’s einfachere Methoden. Die Krallen müssen schlicht entfernt werden. Einfach ziehen lassen. Hat jemand eine Zange? Ansonsten such ich schnell den Hofschmied.“
Eden musste sich anstrengen, einfach still stehen zu bleiben. Weglaufen war sinnlos. Das machte die Sache bestenfalls schlimmer bei dem Aufgebot an Wachen. Verflucht… hatte sie an den Stadttoren wirklich noch gedacht, der Tag könnte nicht mehr viel schlimmer werden? Offenbar konnte der Tag sogar noch um einiges schlimmer werden….
Kapitel 2
Das Ultimatum des Ordens
Die Schmerzen klangen nur langsam ab. Eden hatte sich in einer Ecke der Sklavenquartiere zusammengekauert und überließ sich ganz der alles überdeckenden Pein. Blut tropfte von ihren Fingerspitzen.
Wie? Wie konnte irgendjemand so etwas tun ohne auch nur mit der Wimper zu zucken?
Sie hatte dem Kerl, Frank, in die Augen gesehen und er hatte offenbar nicht mal den Anstand gehabt, wegzusehen. Soweit sie das sagen konnte, denn sobald der Mann einmal die Zange angesetzt hatte, blieb von ihrer Welt nur noch alles verzehrende Qual übrig.
Die Antwort war eine sehr einfache. Sie war kein Lebewesen für diese Leute. Und jetzt hör auf, dir darüber Gedanken zu machen, sagte sie sich selbst. Das führte zu genau gar nichts. Nur zu mehr Schmerzen. Sie hatte es aufgegeben, sich groß gegen irgendetwas aufzulehnen.
Schritte und knarrende Holzstufen rissen die Gejarn aus ihren Gedanken.
Der Raum in dem Eden sich befand, lag irgendwo direkt unter dem Dach eines der Außengebäude des Herrenhauses. Es war kalt und zugig, aber der kleine Holzofen im Zentrum des Raumes hielt wenigstens die schlimmste Kälte ab. Und das gusseiserne Gefäß stellte auch die einzige wirkliche Einrichtung dar. Ansonsten gab es eine unübersichtliche Zahl von Strohmatten und zwei gläserne Öllampen, die die Finsternis erhellten und den Raum mit dem Geruch von Petroleum füllten. Eigentlich ein ziemlich großes Risiko. Wenn sie wollte, könnte sie den gesamten Dachboden einfach in Brand setzen. Das Stroh der Matten musste brennen wie Zunder.
Aber… wenn man keinen freien Willen hat, ist es völlig egal, wie viele gefährliche Gegenstände es hier gab. Und letztendlich, was würde es bitte bringen? Sie würde bestenfalls mit verbrennen. Die Türen des Raums waren verschlossen. Sie hasste das. Auch nach der ganzen Zeit, dieses Gefühl eingesperrt zu sein, das Gefühl, das der Raum viel zu klein war, obwohl sie aufrecht stehen und die Hände ausstrecken konnte, ohne eine Wand zu berühren… es trieb einen irgendwann in den Wahnsinn. Und jetzt war sie schon mehrere Stunden hier. Die Schmerzen konnten sie nur notdürftig darüber hinwegtäuschen, aber wenigstens halfen sie ihr, ruhig zu bleiben. Geister, hätte sie noch Krallen gehabt, sie hätte sie bei dem Versuch abgeschliffen, durch die Türen zu kommen….
Für den Augenblick zumindest, war sie alleine hier. Die übrigen Sklaven, die mit ihr hier angekommen waren, waren offenbar schon für irgendwelche Arbeiten eingeteilt worden. Eden wusste nicht, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war. Für den Augenblick reichte es ihr, dass sie einen Moment Ruhe hatte. Das würde nicht mehr so schnell geschehen, egal wie es weiterging.
Sie war hungrig, ihr war kalt, die Schmerzen wollten nicht verschwinden… und zum ersten Mal hatte sie Angst. Es war einfach sich immer einzureden, das notwendige zu tun. Aber hier, in der Stille gab es keine Regeln, die sie beachten, keine Anweisungen, denen sie folgen musste. Nur sie und ihre Gedanken. Gedanken, die sie sich verbot, weil jeder einzelne nur wehtat.
Schließlich jedoch, wurde die Tür geöffnet. Sie zwang sich dazu, aufzustehen. Auf dem Boden sitzend gefunden zu werden, konnte ihr nur Ärger bringen. Der Mann der eintrat war offenbar ein weiterer Bediensteter des Hauses. Er trug die Kleidung eines freien Dieners. Ein dunkler Gehrock.
„Mitkommen.“, lautete die simple Aufforderung des Fremden. Eden zögerte nicht. Raus hier, das wäre zumindest etwas. Sie konnte nicht weglaufen, aber wenigstens wäre sie nicht mehr eingesperrt. Im kurzen Gang, der von den Quartieren zur Treppe führte, wartete neben dem Wächter noch der in grün gekleidete Mann. Frank, erinnerte sie sich erneut. Es gab zu viele Namen, die sie in den letzten Stunden gehört hatte. „Hände.“
Eden zögerte. Aber was brachte es. Weigern konnte sie sich schlicht nicht. Das war vorbei. Und sie wollte nicht herausfinden, was der Zauber mit ihr anstellte, wenn sie es versuchte. Geister, das war schlimmer, als die Schmerzen in ihren Händen. Unsicherheit. Sie wusste, die Magie war da, aber sie konnte sie weder spüren, noch sehen. Fesseln, die konnte man wenigstens abnehmen. Deren Gewicht konnte man jederzeit spüren. Das hier hingegen, das war dauerhaft….
Die Gejarn streckte die Arme vor.
„Na bitte, sieht doch schon besser aus. Keine Sorge, das verheilt in ein paar Tagen.“
Eden erwiderte nichts und offenbar erwartete Frank auch keine Antwort, sondern winkte sie lediglich weiter, die Stufen hinab. Wenn der Mann glaubte, das würde irgendetwas besser machen, hatte er sich aber getäuscht. Jedoch… es ging hierbei natürlich nicht um sie. Wer sorgte sich darum, was ein Sklave von einem denken mochte? Zu hören bekam man es bestenfalls einmal. Und das wäre dann auch gleichzeitig das letzte Mal. Er tröstete sich damit allerhöchstens selbst.
Am Ende der Treppe ging es weiter durch mehrere Gänge. Verglaste Fenster gingen auf die Stadt zu Füßen des Herrenhauses hinaus. Mittlerweile war es fast völlig dunkel und Schneeflocken tanzten durch die Nacht. Nur ein schmaler Streifen silbernes Licht am Horizont durchbrach noch die Finsternis. Und natürlich das Leuchten von Silberstedt im Tal. Wirklich Zeit, die Aussicht zu betrachten, blieb Eden jedoch nicht. Zu schnell führte ihr Weg sie durch die Korridore des Hauses, zurück in die große Eingangshalle, in der sie sich anfangs wiedergefunden hatte. Die Kohlenfeuer waren heruntergebrannt, gaben aber nach wie vor Wärme ab. Und zu ihrer Überraschung, war der Saal nicht verlassen. Eine kleine Gruppe Gestalten, hatte sich vor einer der Säulen versammelt. Zwei Männer und eine Frau. Die Frau kannte sie schon. Varia de Immerson.
Einen der Männer erkannte Eden ebenfalls sofort als das, was er war. Der türkisfarbene Mantel mit dem goldenen Emblem auf der Brustseite ließ daran nicht den geringsten Zweifel. Ein Zauberer. Und damit ein Abgesandter des Sangius-Ordens. Eden schauderte, bevor sie irgendetwas dagegen unternehmen konnte. Das konnte nur Ärger bedeuten. Aber wenigstens nicht für sie….
Offenbar kam der Magier direkt von draußen, den auf seinen Schultern schmolzen noch die letzten Überreste von Schnee.
Vermutlich wären sie einfach weitergegangen. Etwas, das verändert hätte, was geschehen sollte….
Wenn in diesem Moment der zweite Mann nicht laut auf den Magier eingeredet hätte.
„Das ist nicht akzeptabel. Hört Ihr mich Hexer, Ihr seid nicht das Gesetz!“
Die Wache, die sie begleitete, blieb stehen und legte nervös die Hand aus Schwert.
Der Zauberer jedoch reagierte überraschend gelassen. Oder eher sogar verständlich. Ein einzelner mit einem Degen bewaffneter Mensch war kaum ein Gegner für dieses Wesen.
„Tatsächlich, Lord Andre de Immerson, sind wir das in diesem Fall. Es war schon Simon Belfare der verfügte, das alle geborenen Magier dem Orden gehören.“
Das war also der Herr des Hauses. Andre… sie hatte den Namen jetzt schon ein paar Mal gehört. Und meist nicht grade so, als wäre mit diesem Mann zu spaßen. Er trug einen violetten Gehrock, der mit schwarzen Zierelementen versehen war. Die Hände hatte er auf dem Griff eines Gehstocks gestützt, der mit mehreren Edelsteinen besetzt war. Und im Augenblick zitterten seine Hände vor unterdrückter Wut.
Die angegrauten dunklen Haare trug er offen, sodass sie ihm fast bis auf die Schultern fielen. Die Züge des Mannes waren hager, sodass seine Wangenknochen hervortraten. Er wirkte irgendwie… ungesund, dachte Eden lediglich.
„Herr…“, setzte der Wachmann nervös an.
Andre de Immerson machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Lasst ihn gehen. Schon gut.“
Der Zauberer drehte sich in einer fließenden Bewegung um.
„Wir erwarten Euch in spätestens drei Monaten. Oder wir holen uns, was uns gehört.“, erklärte er noch, bevor er durch den Haupteingang in der Nacht verschwand. Schnee und Kälte strömten in die Halle, als der Mann die Türen mit einer Handbewegung auffliegen ließ.
„Eines muss man diesen Kerlen ja lassen, sie wissen wie sie einen Auftritt hinlegen, der sich gewaschen hat.“, murmelte Frank, mehr zu sich selbst, als das er irgendjemand bestimmtes ansprach.
Es gab in diesem Haus also einen Magier, dachte Eden. Und irgendwie hatte der Orden davon erfahren. Das war nun wirklich ein Grund sich Sorgen zu machen. Wenn es eines gab, das man zum überleben wissen musste, dann, dass man sich von einem Hexer fernhielt. Aber wer….
Sie sah zu den drei Gestalten, als sie ihren Weg fortsetzten. Der Wächter erinnerte sie mit einem unsanften Stoß daran, weiterzugehen. Sie musste vorsichtig sein, dachte Eden. Und sich bloß nicht anmerken lassen, dass sie sich umsah. Und dann bemerkte sie den Jungen. Er war vielleicht acht Winter alt, kaum mehr und hielt sich hinter der Säule versteckt, an der nach wie vor Lord Andre und Varia warteten. Doch offenbar war die Neugier stärker als die Angst gewesen. Ein paar Augen lugten hinter dem Holz hervor. Die Iris hatte einen markanten Einschlag ins türkisgrüne. Ein Farbton, hinter dem ein unsichtbares, kaum wahrnehmbares Feuer zu brennen schien.
Eine vierte Person betrat die Halle und entdeckte den Kleinen ebenfalls. Ein junger Mann mit kurzgeschnittenen, dunklen Haaren. Ein blauer Gehrock wehte hinter ihm her, während er sich vor dem Jungen auf die Knie setzte.
„Zachary, ich suche Dich schon überall, wie bist Du denn wieder hier runter gekommen?“
„Ich… konnte nicht schlafen.“, murmelte der Junge nur betreten.
„Walter, Ihr solltet doch auf ihn aufpassen.“, rief Varia lediglich
„Habe ich doch.“, erklärte der als Walter angesprochene lachend, während er Zachary auf den Arm hob. „Aber leider ist mein kleiner Bruder hier schlimmer als ein Sack Flöhe. Sag bloß Du wolltest Dich um die Zeit wieder raus schleichen?“
„Ich mag Schnee.“
„Schnee hast Du auch morgen noch genug.“, erklärte der Mann, während er mit dem Jungen aus der Halle verschwand. „Leider. Der verschwindet hier nicht so schnell….“ Wenigstens fielen für Eden jetzt ein paar Puzzlesteine an ihren Platz. Sie hatte offenbar grade die gesamte Adelsfamilie Immerson vor sich.
Und auf eine Art verspürte sie einen Anflug von Mitleid mit Zachary. Der Orden hatte das Recht, jeden einzufordern, der auch nur mit einem Funken magischer Begabung geboren wurde. Und sie damit aus ihren Familien zu reißen, mochten diese noch so mächtig oder noch so arm sein, es spielte keine Rolle. Es war allerdings seltsam, Mitleid mit einem Wesen zu empfinden, dass sie mit einem Gedanken töten könnte. Selbst wenn sich der Kleine wohl kaum darüber Bewusst war, was er war. Er würde es bald erfahren. Sich dem Orden zu wiedersetzen war sinnlos.
Sie beeilte sich, weiterzugehen und hielt den Blick jetzt streng zu Boden gerichtet. Das ging sie alles überhaupt nichts an. Ganz im Gegenteil. Sie würde jederzeit tauschen.
„Was hat dieses Ding hier zu suchen?“ Andre de Immersons Stimme hallte im Saal wider. Eden blieb abrupt stehen, genau wie der Wachmann und Frank. Sie hatte sich erst halb herumgedreht, als sie auch schon eine flache Hand mitten im Gesicht traf. „Schafft mir diesen lebenden Bettvorleger sofort aus meiner Halle.“
Eden stolperte rückwärts, halb betäubt von dem überraschenden Schlag. Die Gejarn fing sich wieder, darum bemüht, die Augen weiter auf den Boden geheftet zu lassen. Ein kurzer Blick nach oben, in die vor Wut glühenden Augen von Andre de Immerson, sagte ihr alles, was sie wissen musste. Dieser Mann würde keinen Moment zögern, sie tot zu prügeln, wenn es ihm in den Sinn kam….
„Das wirst Du bleiben lassen. Ich hab sie immerhin ausgesucht.“, erklärte Varia trotzig.
Andre schüttelte den Kopf und ließ die für einen zweiten Schlag erhobene Hand sinken.
„Und warum sagst Du mir sowas nicht? Schön… solange ich den verdammten Luchs nicht allzu oft zu Gesicht bekomme. Schafft es… keine Ahnung in die Küche von mir aus. Das Abendessen sollte ohnehin bald so weit sein.“
Dampfschwaden schlugen ihr entgegen.
Die Küche entpuppte sich als ein heilloses Durcheinander. In einem Raum , der gut und gerne noch einmal halb so groß wie die Eingangshalle war, reihten sich Öfen aneinander, auf denen eine unübersichtliche Zahl an Töpfen vor sich hin blubberte. Drehspieße mit Fleisch wurden über offenen Flammen geröstet. Eden gab es auf, die Leute zu zählen, die in all dem Chaos hin und her liefen und sich hier und da etwas zubrüllten. Ein bulliger Koch schien das Zentrum des ganzen Treibens zu sein.
Er trug eine soßenfleckige, weiße Schürze und drohte den Sklaven wie freien Dienern mit dem Kochlöffel, wenn er den Eindruck gewann, sie wären zu langsam.
„Ach, Neuzugang, hierher.“, brüllte er lediglich, als er Eden in der Tür stehen sah.Sie beeilte sich, sich einen Weg durch die Küche zu bahnen, wobei sie mehrmals den für sie scheinbar ziellos umherirrenden Arbeitern auswich.„So…“ Der Koch betrachtete sie einen Moment scheinbar alles andere als zufrieden. Der Geruch hier rief Eden erst in Erinnerung, wie hungrig sie selbst eigentlich war. Und das sich daran für die nächste Zeit, wohl auch nichts ändern würde. Wann hatte sie das letzte Mal etwas gegessen? Auf dem ganzen Weg hierher zumindest nicht… zwei Tage? Drei? Es war solange her, das der Hunger mittlerweile schon Gewohnheit geworden war.
„Fell, großartig.“ Trotz seiner Worte lächelte er etwas. „Pass bloß auf, dass Du keinem Topf zu nahe kommst, oder Du suchst mir jedes Haar einzeln raus, Wollknäul. Warte einfach einen Moment, das Essens sollte gleich fertig sein, das heißt, wenn diese Schwachköpfe hier mal Salz von Pfeffer unterscheiden lernen.“
„Ich… dachte ich soll hier…“, setzte Eden an.
„Ja, ja, ja, wie gesagt, Du kannst Ihnen das Essen gleich rausbringen.“ Der Koch machte eine hektische Geste in Richtung einer Reihe von Leuten, die grade Fleischstücke zuschnitten. „Beeilt euch mal ein bisschen da.“
„Wem?“
Er wirbelte wieder zu ihr herum.
„Wie wem? Es gibt hier genau vier ,wem‘ in diesem Haus und die heißen alle ,de Immerson‘ und sitzen da draußen an einem Tisch. Auch wenn ich nicht verstehe was… ein Gejarn… oh“ Der Koch sah nun selber verwirrt drein. „Sag bloß die haben Dir nichts gesagt? Mein Beileid.“ Eden verstand nach wie vor nicht, was los war.
„Ich soll in der Küche arbeiten.“, erklärte sie lediglich.
„Nun, das stimmt offenbar nicht ganz. Laut Lady Varia sollst Du heute das Essen servieren.“
Sie erstarrte. Geister, das konnte doch bitte nur ein Missverständnis sein.
„Lord Andre hasst mich.“
„Das ist echt nicht mein Problem, Kleine. Aber das ist mal wieder typisch für die Beiden. Varia und Andre lassen auch nichts unversucht dem anderen eins auszuwischen.“
Der Koch drückte ihr einen schweren Topf in die Hand.
„Ich dachte sie sind….“
„Verheiratet?“, fragte der Mann, während er einen zweiten Behälter auf den ersten stapelte und sie mit einem Schubs Richtung Tür schickte. „Sicher. Aber sagen wir einfach, das ist mehr Politisch. Die bringen uns noch mal alle um, glaub mir. “Eden setzte unsicher einen Schritt vor den anderen, während sie versuchte, die Töpfe in Balance zu halten „Einfach durch die Tür direkt in den Speisesaal.“ Der Koch deutete auf einen Durchgang fast am anderen Ende der Küche.
„Danach gibt es Essen für die Diener, Sklaven und den ganzen Rest.“
Die Gejarn musste sich zusammenreißen, um sich zum weitergehen zu zwingen. Geister… hoffentlich ging das gut. Einfach den Blick gesenkt halten, sagte Eden sich. Einfach nichts tun, das irgendjemanden wütend machen könnte. Das war nicht ihre Schuld… nur ob das den Lord interessierte, wagte sie zu bezweifeln. Ihre Wange brannte noch.
Kapitel 3
Freier Wille
Der Speisesaal war eine kleine, holzgetäfelte Halle. Eine Wand wurde fast vollständig von einem gewaltigen Kamin eingenommen, in dem halbe Fichtenstämme verbrannten. Trotz der Flammen war es nach der Küche angenehm kühl hier, dachte Eden.
Ein hölzerner Tisch nahm die Mitte des Raums ein. Daran saßen über die ganze Länge verteilt, Andre, Varia, Walter und schließlich als der letzte im Bunde Zachary. Es gab weitere Stühle, die jedoch unbesetzt blieben. Entweder für Gäste oder weitere Mitglieder des Adelshauses von Silberstedt. Eden tat ihr bestes, niemanden direkt anzusehen. Achte nur darauf, wo du langgehst….
Es war ihr schnell aufgefallen, dass die meisten Menschen kaum Notiz von ihr nahmen, solange sie sich unauffällig genug verhielt. Mehr noch, die meisten taten grade so, als wären die Sklaven eines Haushalts Luft. Vielleicht funktionierte das auch hier.
Zumindest die Gespräche gingen weiter.
„Wir werden und dem Orden beugen müssen, fürchte ich.“, meinte Andre de Immerson grade. „Ich habe bereits einen Termin für die Abreise festgesetzt.“
Walter sprang fast im selben Moment von seinem Platz auf. „Ihr wagte es nicht, Zachary einfach auszuliefern!“
„Ich fürchte doch. Tatsächlich dachte ich sogar, dass ich Euch dafür aussende. Aber Ihr seid zu weich, Walter.“
„Lass ihn bloß.“ , erklärte Varia. „Sei lieber froh…“ Sie verstummte im Satz und ihr Blick wanderte zu Eden
Andre de Immerson schnaubte lediglich verächtlich als er die Gejarn bemerkte und sah misstrauisch zu Varia herüber. Geister, die Mienen kamen Eden mittlerweile wirklich wie die bessere Option vor. Es wäre schneller vorbei, als das Ziel des Zorns und des Streits dieser beiden zu sein….
Eden trat vorsichtig an den Tisch heran und stellte den ersten Topf so leise wie möglich ab. Gib ihnen einfach keinen Grund überhaupt zu merken, dass du da bist. Denk nicht darüber nach, wie aussichtslos das alles ist, wag dich auch nur einen Moment daran zu denken, dass dein Leben nicht mehr dir gehört….
Sie machte einen vorsichtigen Schritt… und stolperte plötzlich über etwas. Ein Fuß… einen Moment schwankte alles, sie drehten den Kopf und sah dabei in das Gesicht einer schwach schmunzelnden Varia de Immerson. Verfluchte… Eden konnte nicht einmal den Gedanken zu Ende bringen, als sie endgültig das Gleichgewicht verlor. Sie hatte ihr ein Bein gestellt… sie hatte….
Der Topf fiel ihr aus der Hand und der komplette Inhalt ergoss sich über Walters Hemd . Zum zweiten Mal an diesem Abend sprang der Mann auf.
„Götter, verflucht nochmal.“, rief er, während Eden zu Boden stürzte.
Halb erwartete sie schon, einen Tritt abzubekommen und kauerte sich instinktiv zusammen um sich wenigstens etwas vor dem zu schützen, was folgen musste. Nur lass ihn mich nicht umbringen, dachte sie. Gefolgt von der Frage, die sie nicht wagte zu stellen… warum überhaupt noch leben wollen, warum nicht hoffen, das gleich alles vorbei war? Sie fürchtete die Antwort, fürchtete, dass es keinen Grund gab, noch mehr als die Schläge.
„Das sowas auch mir immer passieren muss.“, murmelte Walter lediglich, während die Gejarn es nach wie vor nicht wagte, sich zu bewegen. Eine Spur Selbstironie schwang in seiner Stimme mit.Eden blinzelte verwirrt, als eine ausgestreckte Hand vor ihrem Gesicht auftauchte. „Komm, auf die Füße mit Dir.“
Sie zögerte einen Moment. Das war ein Trick. Das musste fast schon einer sein….
„Nein.“, murmelte sie lediglich kraftlos.
So leise, das es wohl keiner der Anwesenden hören konnte. Und das war auch gut so. Die plötzliche Erkenntnis traf sie heftiger, als der Tritt Andres, der Walter zurückriss. Tatsächlich spürte sie die neuen Schläge kaum noch. Sie merkte nur noch, wie sie von zwei Wachen wieder auf die Füße gezogen wurde. Die nur verschwommen sichtbaren Gestalten, jagten sie nur unter mehr Schlägen und Tritten, aus dem Raum und durch die Hallen. Wohin auch immer, es war egal… der Schock machte alles dumpf und grau. Ihr wurde nur langsam bewusst, was sie da grade getan hatte.
Was hatte sie da grade getan… sollte nicht möglich sein. Sie hatte Nein gesagt. Sie hatte eine Aufforderung ausgeschlagen. Ohne, das irgendetwas passiert war. Nach wie vor wartete Eden auf den Schock, die Wirkung des Zaubers. Aber es geschah nichts. Nichts zumindest, das sie spüren würde. Das war das eine, das nicht möglich sein konnte. Das , was nicht vorstellbar gewesen war. Das sie…. das sie frei war. Das sie noch einen freien Willen hatte… um sie herum brach eine Welt zusammen. Ruhig, bleib ruhig, sagte sie sich selbst, kaum darauf achtend, wohin die Wachen sie brachten. Die unendliche Panik, die nach ihr griff, blendete alles Denken, alle bewusste Wahrnehmung aus.
Erst die schneidende Kälte, als sie in einen Innenhof hinaus gestoßen wurde, brachte sie wieder halb zu Bewusstsein. Eden stürzte in den Schnee und blieb einige Herzschläge einfach liegen. Die Türen zum Herrenhaus wurden mit krachendem Ton zugeschlagen. Alles tat ihr weh. Sie musste praktisch überall blaue Flecken haben. Rücken, Schultern Arme… eine Platzwunde an ihrem Kopf färbte den Schnee unter ihr rot. Und sie hatte mehrere Schnitte, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wovon die stammen mochten. Nur vereinzelte Schneeflocken segelten vom Himmel. Offenbar hatte der Schneesturm, der vor ein paar Stunden noch getobt hatte, mittlerweile nachgelassen.
Statt dunkler Wolken schillerten jetzt bunte Lichtbahnen am Himmel. Eden wusste einen Moment nicht, ob sie lachen oder weinen sollte und blieb einfach liegen. Das Farbenspiel über ihr war… wunderschön. Sie fragte sich einen Moment, ob sie grade nicht einfach starb und das der Tod war….
Die Lichter brachen sich in einem bunten Kaleidoskop, als sich ihre Augen mit Tränen füllten.
Schließlich jedoch, zwang sie sich zumindest hinzuknien, als die Kälte unerträglich wurde. Schritte, die hinter ihr im Schnee knirschten, veranlassten sie dazu, sich umzudrehen. Sie wusste nicht, wen sie erwartet hatte. Auf jeden Fall nicht den Koch. Der Mann stellte einfach eine Schale an den Stufen ab, die hinein ins Haus führten und setzte sich auf die Treppe.
„Essen.“, meinte er lediglich und stellte eine Schale neben sich ab. Dampf stieg über dem Gefäß auf. „Habe von Eurem… soll ich es Missgeschick nennen, gehört. Keine Sorge, irgendwann holen sie Euch wieder rein. Dafür sorgt spätestens Varia. Ihr seid offenbar doch ein wenig zu teuer gewesen, als das sie Euch einfach erfrieren ließen. Oder an Andres Haustierchen verfüttern… da passen sie schon auf.“
„Ich bin frei.“, murmelte sie lediglich.
Der Koch war bereits wieder aufgestanden und hielt kurz inne.
„Was ?“
„Ich bin frei.“ Die Verzweiflung schlug endgültig wie eine Welle über ihr zusammen.
Der Koch jedoch zuckte nur mit den Schultern und verschwand im Inneren des Herrenhauses.
„Schön für Euch.“, meinte er noch. Offenbar hielt er sie jetzt schlicht für verrückt. Und Eden war tatsächlich kurz davor, genau das zu werden….
Das machte nichts besser. Gar nichts. Im Gegenteil. Es zerstörte alles. Den kleinen Frieden, den sie mit ihrem Schicksal geschlossen hatte, gab es nicht mehr. Die Mauern, die sie errichtet hatte, bröckelten innerhalb von wenigen Herzschlägen zu weniger als nichts…. Sie war frei… und damit so gut wie tot, wenn es jemand bemerkte. Zumindest wenn sie Glück hatte. Und das würden sie zwangsläufig. Und was dann folgen musste… das Ritual wiederholen, wenn sie Pech hatte.
Nein. Nein. Und noch einmal Nein. Das würde sie nicht erlauben. Hass flammte in ihr auf. Alle Gedanken, die sie sich bisher nicht erlaubt hatte, stürzten auf sie ein. Die kleinen Lügen, die sie erschaffen hatte, um bei Verstand zu bleiben. Das es Hoffnung gab. Das sie leben könnte. Das… das das nicht das Ende war….
Sie schrie auf. Ihre Worte verhallten unbeantwortete im Schnee, der sich unter ihren Fingerspitzen nach wie vor dunkel färbte. Eden stand endgültig auf und wankte unsicher zu den Stufen. Sie setzte sich vorsichtig, um keine ihrer Verletzungen wieder aufzureißen. Sie nahm die Schüssel, die der Koch dagelassen hatte. Wässrige Suppe. Eigentlich hatte sie nicht wirklich etwas anderes erwartet. Aber wenigstens war es etwas Warmes. Eden zögerte einen Moment zu Essen, sondern ließ die Wärme der Schale ihre Finger wieder etwas auftauen. Erst dann trank sie einen Schluck. Es war praktisch aufgeheiztes Wasser, in das jemand sämtliche Küchenabfälle geworfen hatte. Kartoffelschalen, Knorpel, Knochen und Reste von Gemüse. Aber fürs Erste, stillte es den gröbsten Hunger. Eden stellte die leere Schale beiseite.
Sie war frei… und es würde nicht lange dauern, bis das irgendjemanden auffiel. Und es gab nur eine Möglichkeit, das zu verhindern. Das Letzte, über das sie selbstbestimmen konnte, war ihr Leben. Alles andere war weg. Und sie würde es nie zurückbekommen, egal wie lange sie sich bisher darüber hinweggetäuscht hatte. Und wenn sie nicht wollte, dass sie das auch noch verlor, blieb ihr genau eine Möglichkeit: Sie musste einen Weg finden zu sterben. Bald….
Sich einfach wieder in den Schnee zu legen war keine Option. Wie der Koch gesagt hatte. Man würde sie nicht einfach hier draußen sterben lassen. Irgendjemand würde genau darauf achten. Und das war das Problem….
Es war leicht, einmal den Entschluss zu fassen. Etwas ganz anderes war es, das auch umzusetzen.
Wenn man ständig unter Beobachtung stand, wenn man nie alleine war und schlimmer, man jeden Moment spuren musste, um sich keine weiteren Hiebe einzuhandeln, dann blieb einem wenig Zeit, über den Tod nachzudenken. Oder über irgendetwas, als die vor einem liegende Aufgabe, was das anging. In der gesamten nächsten Woche gab es keine Gelegenheit, bei der sie nicht irgendjemanden im Nacken gehabt hätte, ob das nun Lord Andre war, der nach wie vor keine Gelegenheit ausließ, sein Missfallen an Varias Entscheidung an ihr auszulassen… oder einer der Aufseher des Hauses, wie Frank. Putzen, Essen servieren oder kleine Botengänge erledigen. So seltsam es war, die Arbeit kam Eden schon beinahe angenehm vor. Es gab viel, viel Schlimmeres, hätte sie nicht im Zentrum des Streits der Hausherren gestanden.
Während des Küchendiensts spielte sie einmal mit dem Gedanken, einfach eines der Messer zu nehmen und es sich in den Bauch zu rammen. Ihr würde niemand zur Hilfe kommen, da war sie sich sicher. Aber das war zu unsauber, die Klingen praktisch stumpf… sie könnte am Ende noch überleben und dann wäre endgültig heraus, dass das Ritual bei ihr versagt hatte. Sie musste sicher gehen, dachte Eden. Ihr blieb nur ein einziger Versuch.
„Hey, nicht träumen, verflucht !“ Andres Stimme hallte durch den Raum und bevor sie sich ganz herumgedreht hatte, traf sie auch schon eine Faust. Eden lief dem Lord viel zu oft über den Weg. Es schien so, als wollte der Mann sie schlicht kontrollieren.
Die Gejarn ließ beinahe das Messer fallen. Aber nur beinahe. Ihre Hände schlossen sich um den Holzgriff der Klinge, während sie zu dem Hausherren aufsah. Sie könnte einfach zustoßen, schoss es ihr durch den Kopf. Warum nicht. Andre stand viel zu dicht, als das er entkommen könnte. Sie war nicht die kräftigste und kaum mehr als Fell und Knochen. Aber auf die Entfernung spielte das keine Rolle. Nur mühsam konnte sie verbergen, dass ihre Hand anfing zu zittern. Sie hasste diesen Mann. Sie hasste alle hier… mühsam zwang sie die brodelnde Wut nieder und atmete ruhig weiter. Nein, sagte sie sich. Das war es nicht Wert. Ach? Wollte eine zweite Stimme in ihrem Kopf wissen. Wäre es das nicht? Rache nehmen. Die Idee schwirrte einen Moment in ihrem Kopf herum. Das war es wirklich nicht wert, sagte sie sich wieder. Nicht bei dem, was dann folgen würde. Wenn man ihren freien Willen entdeckte, dann würden sie nur diesen endgültig auslöschen. Aber wenn sie jetzt den Lord tötete… sie würde ihr Ziel erreichen, oh ja, sie würde sterben. Aber nicht schnell.
Sie könnte Andre sicher leicht provozieren, doch zweifelte sie daran, dass der Mann sie wirklich töten würde. Das schien immerhin genau das, auf das Varia abzuzielen schien, warum auch immer.
Und der Lord würde ihr sicher ungern auch nur diesen kleinen Sieg gönnen. Geister, alles wäre besser, als zwischen die Fronten dieser beiden geraten zu sein. Aber sie brauchte nur eine kurze Gelegenheit…
„Seht zu das Ihr Varia das hier bringt.“ Der Lord warf eine Schriftrolle vor sie auf dem Boden und verschwand wieder aus der Küche.
Eden stand einen Augenblick wie betäubt da und wagte nicht, sich zu rühren. Erst als sie die Schriftrolle aufhob, wurde ihr langsam bewusst, welche Gelegenheit sich ihr bot. Halb erwartete sie, dass sie irgendjemand begleiten würde. Das wieder eine Wache, oder ein Hofdiener, oder sonst jemand mit ihr die Küche verlassen würde. Aber nichts dergleichen geschah. Als die Gejarn auf einen der Flure des Herrenhauses hinaus trat, war sie allein. Einen Moment wog sie den Brief unentschlossen in einer Hand. Dann ließ sie ihn einfach auf einer Fensterbank liegen. Es würde etwas dauern, bis man sie vermisste, dachte Eden. Also jetzt oder nie….
Kapitel 4
Zac
Eden betrat den Dachboden mit den Sklavenquartieren. Sie beeilte sich, die Tür hinter sich zu schließen. Verriegelt werden konnte sie nur von außen. Aber das war egal. Hier oben sollte um diese Zeit niemand sein. Es war der letzte Ort, an dem jemand suchen würde, wenn auffiel, das sie verschwunden war. Rasch nahm sie eine der erloschenen Glaslaternen von der Decke und zerschmetterte die Lampe auf dem Boden. Die Laterne zersprang sofort und ohne den geringsten Widerstand. Eden lauschte, ob jemand auf das Geräusch aufmerksam werden würde. Nichts rührte sich. Um diese Tageszeit herrschte allgemein hektisches Treiben im Herrenhaus. Niemanden würde es verwundern, wenn irgendwo etwas zu Bruch ging. Zu Bruch gehen. Vermutlich würde man sie auch als genau das Verbuchen. Ein Gegenstand, der schlicht kaputt gegangen war. Sie lachte halb irre und musste sich selbst eine Hand vor den Mund halten um aufzuhören. Vielleicht wurde sie genau das. Wahnsinnig. Sie spürte wie der Irrsinn mit kalten Fingern nach ihr griff. Eden ließ sich an der Tür zu Boden sinken.
Geister, gleich wäre das alles wenigstens vorbei. Die Gejarn las eine große Scherbe aus dem Stroh am Boden auf. Das zerbrochene Glas wäre scharfkantig genug. Sie zwang sich dazu, noch einmal aufzustehen und sich in eine der dunklen Ecken des Dachbodens zu setzen. Selbst wenn jemand hier hoch käme, würde er sie nicht bemerken. Zumindest zu spät um sie zu stoppen.
Eden hielt die Scherbe fest umklammert. Dass sich das Glas dabei in ihre Finger schnitt kümmerte sie kaum. Alles war jetzt bereits weit weg. Sie hatte den Entschluss getroffen. Es war besser, als alle anderen Möglichkeiten. Wie konnte sie es anstellen, um wirklich sicher zu sein… der scharfkantige Splitter verharrte einen Moment über ihrem Handgelenk. Wie lange würde es dauern? Minuten? Stunden? Nicht Stunden, da war sie sich sicher. Eden hielt noch einmal kurz inne und setzte die Scherbe an.
Schritte auf der Treppe hätten sie fast dazu veranlasst, den Splitter fallen zu lassen. Stattdessen rutschte sie mit der Scherbe ab. Der Schnitt ging quer über ihr Handgelenk, war aber kaum so tief, wie sie beabsichtigt hatte. Die Wunde blutete nicht einmal besonders stark.
Nein, verflucht. Nicht ausgerechnet jetzt. Eden zog sich ein Stück weiter in die Schatten zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Im selben Moment wurde auch schon die Tür aufgezogen. Wer konnte das sein? Schlimmstenfalls einer der Aufseher. Bestenfalls hatte sich jemand verlaufen. Das war durchaus möglich. Auch wenn sie jetzt gut anderthalb Wochen hier war, sie kannte längst nicht die Hälfte aller Gänge. Das Herrenhaus mit all seinen Nebengebäuden war weitläufig, wie eine kleine Stadt.
Eden staunte jedoch nicht schlecht, als sie erkannte, wer sich nach hier oben verirrt hatte. Zachary de Immerson lugte zur Tür herein und schloss sie hinter sich. Der Junge wirkte irgendwie abwesend, wie er sich mit seinen seltsam leuchtenden Augen im Halbdunkel umsah. Hoffentlich verschwand der Kleine gleich wieder, was immer er hier auch wollte. Eden versuchte leise zu atmen und bloß durch nichts, auf sich aufmerksam zu machen. Aber… was machte er überhaupt hier?
Es kümmerte sie nicht. Sie hatte keine Zeit zu lange zu warten.
Sie könnte ihn einfach töten. Der Gedanke schoss ihr durch den Kopf, bevor sie irgendetwas dagegen unternehmen konnte. Es war ohnehin egal, wenn sie starb. Eden zitterte und nicht nur, weil es auf dem Dachboden kalt war. War sie wirklich schon so weit? So dermaßen… zerstört, dass sie ein Kind umbringen konnte? Egal zu welcher Familie der Kleine gehörte, ihn traf doch keine Schuld. Die Scherbe fiel ihr aus der Hand und zerplatzte am Boden. Zachary wirbelte sofort in die Richtung des Geräuschs herum und starrte einen Moment ins Halbdunkel. Natürlich er konnte in der Finsternis vielleicht halb so gut sehen, wie sie.
„Hallo?“
Es hatte keinen Sinn, sich noch zu verstecken, dachte sie. Eden rutschte ein Stück ins Licht.
„Was machst Du hier oben?“ Der Klang ihrer eigenen Stimme überraschte sie. Kratzig, leise, ohne wirkliche Kraft. Es war vielleicht der längste Satz, den sie in einem halben Monat gesagt hatte. „Du bist wieder ausgerissen, oder?“
Der Junge ließ sich auf dem Boden nieder, ein paar Schritte von ihr entfernt.
„Und Du nicht?“
Helles Köpfchen, dachte sie.
„Mit dem Unterschied, dass ich dafür zahlen werde.“ Wenn sie es nicht zu Ende brachte. Was nach wie vor nicht ausgeschlossen war, sobald Zachary endlich verschwand.
„Warum?“
Eden antwortete nicht. Er verstand es wohl schlicht nicht besser. Irgendwann würde er es vermutlich, aber es war nicht ihre Aufgabe ihm zu erklären, was es hieß… nicht frei zu sein. Eden korrigierte sich. Er würde es vermutlich sogar sehr bald erfahren, wenn der Orden ihn holte….
„Du weißt, dass Deine Eltern dich wegschicken wollen, wie?“
„Natürlich weiß ich das, ich bin ja nicht blöd.“ Zachary sprach mit einem Trotz in seiner Stimme, der Eden zum schmunzeln brachte. Geister, wann hatte sie das letzte Mal gelächelt? „Ich war bisher noch nie außerhalb von Silberstedt.“, erklärte Zachary unsicher. „Ist es überall… wie hier ?“
Er würde wohl auch noch verstehen, warum es seltsam war, ausgerechnet sie das zu Fragen. Aber.. sie würde so oder so sterben, also warum nicht?
„Nein. Zum Glück nicht… Zachary, richtig?“
„Zac für Freunde.“ Freunde…dafür, dass sie kurz davor gewesen war einem kleinen Kind die Kehle durchzuschneiden, war das ein seltsames Wort.
„Die Herzlande sind ganz anders.“, erklärte sie. „Vor allem... wärmer. Selbst im Winter gibt es kaum Schnee. Und je weiter man zu den Küsten kommt, desto weniger wird es. Und dann ist da noch das Meer… ich bin am Wasser aufgewachsen. Glaube ich.“ Ihre Erinnerungen waren bestenfalls verschwommen. Es tat weh zurück zu denken. Und es war noch gefährlicher, als sich darüber klar zu werden, was ihre vermeintliche Willensfreiheit bedeutete. Von einem Tag auf den anderen zu leben, das hatte sie bisher davon abgehalten, verrückt zu werden. Und jetzt, wo sie die Tore zu ihren Erinnerungen einmal aufgestoßen hatte, wo sie sich einmal erlaubte wieder… nachzudenken, da zerbröckelte alles unter ihren Fingern.
Sie wollte jetzt leben. Nichts mehr als das. Und gleichzeitig war ihre einzige Wahl der Tod. Oder alles zu verlieren. Eden drehte sich weg, als sie spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Verflucht. Das fehlte jetzt wirklich noch….
„Was ist?“
Sie wischte sich das Wasser aus den Augen.
„Gar nichts.“
Eden sah zu der zerbrochenen Scherbe. Es gab eine einfache Entscheidung zu treffen. Tod… oder ein ungewisses Leben. Ein vermutlich genauso schnell tödliches und kurzes Leben. Eines ohne Chance. Sie streckte die Hand aus… und fegte die verbliebenen Splitter bei Seite.
„Nichts.“, erklärte Eden. „Gar nichts.“
Zachary war anzusehen, dass er ihr nicht glaubte. Helles Köpfchen, dachte sie nur wieder. Statt jedoch etwas zu sagen, förderte er einen dunkelroten Kristall zu Tage. Der Stein war vielleicht so groß wie ihr Daumen.
„Was ist das?“
„Hab ich gemacht. Ein kleiner Zauber. Walter meint immer, ich soll sowas nicht aber… soll ich dir zeigen wie er funktioniert?“ Eden nickte lediglich. Dieses Kind hatte also wirklich Magie erschaffen? Zachary hielt das Juwel in einen Lichtstrahl, der seinen Weg durch einen Riss in der Dachwand fand. Der Stein nahm sofort einen helleren Farbton an und als Zachary ihn schließlich aus dem Licht nahm und dagegen schnippte, brachen plötzlich Flammen aus dem Kristall.
Eden machte einen Satz zurück, als der Stein anfing zu brennen. Zachary schnippte lediglich erneut gegen das Juwel und die Flammen verschwanden. Die Farbe war wieder etwas dunkler geworden und er hielt den Zauber erneut ins Sonnenlicht.
„So etwas kannst Du?“
Zachary nickte, bevor er ihr das Juwel hinhielt.
„Hier. Ich schenk es Dir. Wenn Du willst… Ich kann mir jederzeit ein neues machen.“
Eden zögerte einen Moment. Das war genau einer der Gegenstände, die sie in wirkliche Schwierigkeiten bringen konnten, fand man sie bei ihr. Ein Feuerzauber. Auf der anderen Seite… sie hatte schon kaum mehr etwas zu verlieren.
„Danke.“
Der Stein war überraschend kalt, als sie ihn in die Hand nahm. Mit einer Bewegung ließ sie das Juwel in der Tasche verschwinden. Die Entscheidung stand. Sie würde das Risiko eingehen. Leben.
Eden stand auf. Sie musste sich beeilen. Den Brief zurückholen und überbringen, bevor jemand bemerkte, das sie weg war. Zachary folgte ihr, als die Gejarn aufstand und die Treppe hinunterrannte. Geister, jetzt arbeitete die Zeit erst wirklich gegen sie. Wie lange war sie weg gewesen?
Sie stolperte fast auf den letzten paar Stufen, als sie die Flure des Herrenhauses erreichte und Richtung Küche rannte. Dorthin, wo sie die Schriftrolle zurückgelassen hatte. Zachary blieb rasch hinter ihr zurück.
Eden hastete an der Küche vorbei zur Fensterbank. Draußen begann es grade erst, dunkel zu werden. Gut. Sie war nicht zu lange weg gewesen. Noch konnte sie das ganze irgendwie rechtfertigen. Auch wenn das Lord Andre sicher nicht interessierte. Silberstedt schimmerte im letzten Sonnenlicht rötlich. Rasch tastete sie die Fensterbank ab. Nichts… das konnte doch nicht sein. Eden suchte erneut, schob einen Blumentopf mit vertrockneten Pflanzen beiseite… nach wie vor, der Brief blieb verschwunden.
Ruhig, sagte sie sich. Geh nur zu Varia. Lass sie wissen, dass es eine Nachricht gibt. Und dann… sag das er dir gestohlen wurde, oder… irgendwas, das sie dir abkaufen würden.
Ihre Hände zitterten wieder. Verflucht. Irgendjemand hatte das Dokument mitgenommen. Die Gejarn wandte sich vom Fenster ab. Gut, das half jetzt alles nichts mehr. Sie musste zu Lady Varia und wohl oder übel zugeben, dass der Brief weg war. Und das diese, das gleich ausnutzen würde um Andre wütend zu machen, war ihr schon fast klar. Eden lief los. Wenn sie die Tageszeit richtig einschätzte, wäre Varia jetzt irgendwo im Wohnflügel des Herrenhauses. Vielleicht in ihrem Kleiderzimmer, oder....
Sie rannte weiter und achtete kaum darauf, dass sie mehreren Dienern aus dem Weg springen musste. Auch die wütenden Rufe waren ihr jetzt egal. Sie wollte es nur hinter sich bringen. Und dann müsste sie sehen, wie es weiterging. Irgendwie würde sie schon einen Weg finden. Jetzt war sie entschlossen vor allem zu überleben.
Eden lief durch die große Eingangshalle und den Speisesaal, ohne jemanden zu begegnen… dann jedoch stieß sie die Türen zum Wohnflügel auf. Und wusste im gleichen Augenblick, dass sie einen Fehler gemacht hatte.
Varia de Immerson war hier. Allerdings nicht alleine. Andre stand, von zwei Wachen umgeben und auf einen Gehstock gestützt da. Die finstere Miene des Lords sagte ihr alles, was sie wissen musste. Und der Brief in seiner Hand….
Nein… jetzt wusste sie wenigstens, wo die Schriftrolle hingekommen war. Hatte er etwa auch gesehen, das sie in die Quartiere verschwunden war?
„Das wars Varia.“, erklärte er, überraschend ruhig für das, was Eden bisher erlebt hatte. „Ich lass mir das nicht mehr bieten.“
„Was interessiert mich, was Du Dir bieten…“
„Schweig.“ Andres Stimme war tödlich leise. „Schweig einfach. Ich habe mir das jetzt lange genug mit angesehen. Du hattest Deinen Spaß, aber hier hört es auf. Ich lasse mir von einer verdammten Sklavin nicht auf der Nase herumtanzen.“
„Ach und was willst du machen hm?“, rief Varia. „Sie in die Minen bringen, da habe ich auch noch ein Wort….“
Andre brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen.
„Nein…“, erklärte er lediglich, während er auf Eden zutrat. „Ich fürchte ich habe eine bessere Idee.“
Die Wachen des Lords packten sie an den Schultern.
„Männer, ihr wisst wohin. Ich nehme Wette an, wie lange sie überlebt….“
Eden versuchte sich loszureißen. Egal, was dieser irre Mensch vorhatte, sie würde das sicher nicht mitmachen. Sie warf sich nach vorne und tatsächlich lockerte sich der Griff der Wächter einen Moment. Eine Sekunde und sie wäre frei… ein brennender Schmerz in ihrer Seite brachte jeden Widerstand zum erliegen. Andre hatte den Stock genommen und prügelte damit ohne Rücksicht auf sie ein. Dieses Mal konnte sie sich nicht einmal zusammenkauern, sondern musste die Hiebe tatenlos über sich ergehen lassen. Eden war nur noch halb bei Bewusstsein, als die Wachen sie schließlich durch die Flure hinaus schleiften. Durch weitere Gänge und Treppen… in diesem Teil des Hauses war sie noch nicht gewesen. Zumindest soweit sie das sagen konnte.
Und sie mussten mittlerweile tiefer unter der Erde sein….
Sie konnte keine Geräusche aus anderen Teilen des Herrenhauses mehr hören. Nur das ferne tropfen von Wasser. Die Wände waren hier unten aus grob behauenem Stein, nicht aus feinen Holz und Fliesenarbeiten und stellenweise hatten sich Eiszapfen gebildet, wo Wasser in die Gewölbe eingedrungen war. Geister, wohin brachte man sie? Eden erfuhr die Antwort, als ihr Weg vor einem verwitterten Holztor endete. Einer der Männer zog das Tor auf, sie erhaschte noch einen kurzen Blick auf blanke Felswände, als man sie hindurch stieß… und dann fiel die Pforte auch schon wieder hinter ihr zu….
Kapitel 5
Überleben
Eden wirbelte herum und schlug gegen die Tore. Letztlich vergeblich. Das Holz mochte alt wirken, war aber nach wie vor stabil. Kein durchkommen. Und niemand reagierte auf ihre Rufe….
Die Gejarn hielt inne. Das brachte definitiv nichts, sagte sie sich, während sie sich umdrehte. Und ihr Gefängnis betrachtete. Oder… war es überhaupt eines? Die Felswände hier waren unbearbeitet, nur hier und da gab es Werkzeugspuren… fast so als wäre das hier eine natürliche Höhle. Die Kammer, in der sie sich befand, war vielleicht fünfzig Schritte breit. Moose und Farne, die der eisigen Kälte trotzten, wucherten an den Wänden. Zwei Tunnels, die in Schatten lagen, führten links und rechts von ihr weiter. Und über ihr, kam Licht durch ein großes Gitter herein….
Zum klettern war es viel zu hoch, mal davon abgesehen, das ihr jeder Knochen schmerzte. Verflucht, diesmal hatte Andre sie wirklich erwischt. Das waren nicht mehr nur blaue Flecken, stellte sie beunruhigt fest. Ihr Brustkorb schmerzte bei jedem Atemzug. Eine angebrochene Rippe und das auch nur, wenn sie Glück hatte. Fühlte sich eher wie mehr an….
Vor dem Licht oben gab es eine Bewegung. Großartig, also beobachtete sie jetzt auch noch jemand. Und wenn das nicht Lord Andre war, wusste sie auch nicht wer. Verfluchter Bastard….
„Hey, was soll das, soll ich hier unten verhungern? Habt Ihr nicht mal den Mut, es selber zu Ende zu bringen?“
Es hatte spätestens jetzt keinen Sinn mehr, sich zurückzuhalten. Sollte er nur wissen, was sie von ihm hielt, wenn sie hier schon sterben musste….
Eden erhielt keine Antwort. Sei‘s drum. Sie würde auch nicht hier sitzen bleiben. Zwei Gänge. Eigentlich war es töricht zu hoffen, dass es einen Ausgang gab. Man hätte sie sicher nicht hier herunter gebracht, wen dem so war. Aber zu warten, das wäre auch sinnlos. Vielleicht fand sich irgendetwas. Und wenn es nur reichte um die verfluchte Tür aufzubrechen….
Blieb nur noch die Frage, ob nach links oder rechts. Beide Gänge sahen auf den ersten Blick fast gleich aus. Letztendlich ging sie nach links. Verwitterte Holzbalken stützten den Tunnel, dessen Decke so niedrig war, das sie sich ducken musste. Unter ihren Füßen knirschte Kies und im schwachen Licht, das aus der Hauptkammer bis hierhin drang, konnte sie verrostete Schienen erkennen. In den Wänden glitzerte schimmerndes Erz. Das musste eine alte Silbermine sein. Eine der Grundlagen für Silberstedts Reichtum… aber dieser Ort sah so aus, als wäre er seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten, verlassen. Wenigstens wurde es wärmer. Erfrieren wurde damit schon einmal unwahrscheinlicher. Wasser lief nun an einigen Stellen die Wände hinab. Also würde sie auch nicht verdursten, dachte Eden. Rasch schöpfte die Gejarn mit einer Hand Wasser und spritzte sich eine Handvoll ins Gesicht. Es war eiskalt, aber wenigstens brachte sie das wieder etwas weiter zu Bewusstsein. Und betäubte ein wenig die Schmerzen. So schlecht sah es bisher gar nicht aus. Sicher, es gab nach wie vor keinen sichtbaren Ausgang… aber sie würde hier unten nicht sterben. Zumindest nicht direkt. Verhungern war nach wie vor ein Problem, aber Eden hatte schon Tage ohne Essen überstanden.
Sie kam an einer verlassenen Lore vorbei, die mitten auf den zerfallenen Schienen stand. Mehrere leckgeschlagene Behälter standen im Inneren des Gefährts. Eine dunkle Masse war daraus ausgelaufen und bedeckte den Boden. Petroleum oder Walöl…. Das Zeug stand in Pfützen auf dem Boden und schien sich über den ganzen Tunnel zu verteilen. Der Geruch zumindest, war überall. Hier war wirklich seit Ewigkeiten niemand mehr gewesen. Mal von Krabbelvieh ausgenommen….
Eden wischte ein paar Spinnweben beiseite, die die Tunnelwände bedeckten und wie Tropfsteine von der Decke hingen. Und selbst der Boden schien damit bedeckt. Die klebrigen Fäden wieder von ihren Füßen abzuschütteln wurde eine echte Herausforderung, während sie ihren Weg fortsetzte. Wenigstens wichen die Tunnelwände jetzt weiter zurück und gaben nach einem Stück weiteren Weg den Blick frei in eine weitere Höhle. Auf der anderen Seite führte ein weiterer Tunnel wieder hinaus. Die Ölspur und die verrosteten Schienen führten dazwischen weiter. Aber Geister, was war das für ein Ort? In den Wänden schimmerte, überzogen von weiteren Spinnweben, erneut Silbererz. Aber diesmal in großen Lagerstätten, die sich, hoch und breit wie Häuser, im Stein abzeichneten. Hier unten lag noch ein kleines Vermögen, eingebettet im Fels.
Warum sollte das jemand hier zurücklassen? Eden erhielt ihre Antwort wenige Schritte später, als etwas unter ihrem Fuß zersprang. Unter dem weißen Gewebe am Boden hatte sie es nicht rechtzeitig erkannt….
Knochen… sie drehte sich im Kreis. Überall. Die gesamte Kammer war voll mit Überresten, wenn man sie denn einmal bemerkte. Kleine Hügel, die sich unter den Spinnweben abzeichneten. Wie viele?, fragte sie sich heimlich. Hundert, zweihundert Körper ? Eden wollte es überhaupt nicht wissen. Und noch weniger wollte sie herausfinden, was dafür verantwortlich war…. Die waren hier sicher nicht alle einfach verhungert oder sie hätte schon vorher welche gefunden. Eden hielt den Blick jetzt streng auf den zweiten Tunnel gerichtet. Nichts wie raus hier, sagte sie sich. Es fiel ihr schwer ruhig zu bleiben und obwohl sie es besser wusste, fing sie an zu rennen. Alles war besser, als eine Sekunde länger hier zu bleiben. Die Schatten schienen sich plötzlich zu verschieben. Über ihr….
Eden zwang sich, nicht hinzusehen. Ein paar Schritte noch und sie könnte in den Gängen verschwinden. Dann jedoch geschah es. Sie trat auf einen weiteren Knochen. Doch dieses Mal zerbrachen die Überreste nicht. Stattdessen rollten sie unter ihr weg. Eden strauchelte… und schlug der Länge nach auf dem Boden auf. Jetzt war ihr Blick zwangsweise genau nach oben gerichtet.
Geister, Götter und Ahnen… im Geist ging sie alle göttlichen Wesen durch, die sie kannte. Das war doch ein böser Scherz. Was sich da an der Decke bewegte, war eine Spinne… aber eine, die einem ausgewachsenen Schlachtross der kaiserlichen Armee Konkurrenz hätte machen können. Eden hatte niemals Angst vor Spinnen gehabt. Bis zu genau diesem Augenblick.
Die Fänge des Dings troffen voller Gift. Dunkle Borsten bedeckten den Körper und hatten es, bis es sich bewegt hatte, eins mit den Schatten werden lassen. Sie musste hier weg. Sofort. Das waren die einzigen klaren Gedanken, die sie noch formulieren konnte.
Eden wollte aufspringen, wurde aber von den Spinnweben am Boden zurück gehalten. Geister, das Zeug band einen wie Stahlseile. Nur langsam, zäh wie Teer, rissen die einzelnen Seile. Viel zu langsam, wie ihr mit einem Blick nach oben klar wurde. Die verdammte Kreatur kletterte grade die Wand zu ihrer Rechten hinab. Sie hatte was? Noch ein paar Herzschläge, bevor es über ihr wäre? Sie würde hier sterben. Der Gedanke durchzuckte sie wie ein Stromstoß. Sie konnte nicht weglaufen.
Das einzige, was sie bewegen konnte, war eine Hand….
Der Feuerstein den Zachary ihr gegeben hatte. Das Juwel war nach wie vor in ihrer Tasche. Wenn sie schnell war und die Fäden einfach wegbrannte, die sie an den Boden fesselten….
Ihre Hand schloss sich um den Kristall. Der Geruch von Öl stieg ihr in die Nase. Die Höhle war, wie die Tunnel, voll davon. Genau wie die Fäden, die sich sicher damit vollgesogen hatten. Verflucht, vermutlich würde sie sich selbst verbrennen. Aber… ein Blick herauf zu dem, nun gefährlich nahen Monster sagte ihr, das das besser wäre, als die Alternative. Sie schnippte gegen den Stein, der sofort lichterloh in Flammen stand. Das Licht des Feuers war in der Dunkelheit gleißend und blendete sie einen Moment. Jetzt. Sie hatte keine Zeit mehr zu warten. Eden hielt den brennenden Stein an die Netze, die sie gefangen hielten. Wenn sie hier irgendwie wieder herauskam, würde sie Lord Andre de Immerson mit bloßen Händen erwürgen. Die Flammen fraßen sich sofort durch die Spinnweben und Eden sprang noch im gleichen Augenblick auf. Feuer griff nach ihrem Fell und versengte ihr Haar, das teilweise in Brand geriet. Egal, sagte sie sich. Nur weiterrennen. Und nicht umdrehen….
Das nun einmal entfachte Feuer griff auf die Ölspur über und breitete sich mit rasender Geschwindigkeit in der Kammer aus. Eden konnte hinter sich einen grauenhaften Schrei hören. Gut so. Hoffentlich verbrannte das Vieh langsam.
Nun drehte sie sich doch um. Statt ihr den Gefallen zu tun und einfach zu verbrennen, war ihr die Spinne jetzt wieder dicht auf den Fersen. Giftzähne, so groß wie ihr Unterarm schnappten nach ihr. Eden warf sich zur Seite, konnte dem Angriff aber nicht ganz entgehen. Die Klauen trafen sie nicht direkt, schlugen sich aber trotzdem noch in ihren Rücken und hinterließen tiefe, blutende Wunden.
Brennender Schmerz schoss sofort durch ihren ganzen Körper, aber sie achtete nicht darauf. Weiterlaufen hatte keinen Zweck mehr. Sie packte den nach wie vor lodernden Feuerstein und wirbelte herum. Das Monster war keine Armlänge mehr entfernt und so schmetterte sie dem Ding das brennende Juwel direkt gegen den Kopf. Das glühend heiße Kristall steckte die Borsten der Kreatur sofort in Brand und mit einem Heulen wich sie endlich zurück. Durch die mittlerweile die halbe Höhle ausfüllende Flammenwand….
„Dein Abendessen musst du dir schon verdienen.“, knurrte Eden.
Es reichte ihr endgültig. Und tatsächlich wich die Spinne jetzt vor ihr zurück, als die Gejarn einen Schritt auf sie zumachte. Dieses Ding hatte Angst vor ihr. Gut so… um sich vor dem Feuer zu retten kletterte das Monster jetzt langsam wieder die Wand hinauf.
Die Gejarn wendete sich ab. Sie musste hier raus. Sie hatte leider nicht den Luxus einfach nach oben zu verschwinden. Stattdessen hielt sie wieder auf den zweiten Tunnel zu, der aus der Höhle führte.
Das Feuer war jetzt überall und die Flammen griffen nach ihrer Kleidung. Eden machte einen letzten Satz nach vorne… und landete schmerzhaft auf dem sicheren Tunnelboden. Sie rollte sich rasch ab um alle eventuellen Flammen zu löschen, bevor sie einen Moment auf dem Rücken liegen blieb. Ihr Blickfeld verengte sich und die Welle aus Müdigkeit, die über sie schwappte war mehr als nur schlichte Erschöpfung. Hatte sie vorher jeden Knochen gespürt, so fühlte sie jetzt bestenfalls ein Gefühl tiefer Ruhe. Alles war schon so weit weg….
Eden zwang sich mit purer Willenskraft, die Augen offen zu halten. Und stand schwankend wieder auf. Entweder war der Biss der Spinne giftig oder der Rauch nahm ihr langsam das Bewusstsein. Aber wenn sie jetzt stehen blieb… dann war es vorbei. Unsicher setzte sie einen Schritt vor den anderen.
Der Tunnel beschrieb einen weiten Bogen nach rechts, wie sie schnell feststellte. Und sie fürchtete bereits, was das bedeuten konnte….
Trotzdem schleppte die Gejarn sich weiter. Doch nach einer Weile gab es schließlich keine Zweifel mehr. Wenigstens wusste sie jetzt, wohin der zweite Tunnel geführt hätte. Sie war wieder genau da, wo sie angefangen hatte. Sie war nach links gegangen… und kam nun von rechts zurück.
Die Lichtstrahlen, die von oben durch die Gitter fielen, waren nun schon deutlich schwächer. Es musste endgültig dunkel werden.
„Hey!“ Eden musste sich anstrengen um sich verständlich zu machen. Ihr Hals war trocken und mittlerweile zitterte sie nicht nur vor Kälte, endlose Müdigkeit, Schmerzen, Todesangst und das Dutzend kleinerer und größerer Verletzungen, die sich über ihren ganzen Körper zogen, das alles hatte seinen Tribut gefordert. „Ich glaube Euer verdammtes Haustier hat grade ein wenig den Appetit verloren, Andre!“
Eden war unsicher, was geschehen würde. Ob man sie einfach ignorieren würde. Oder ob der Lord nicht einfach eine Handvoll Wachen hier runter schickte, um es selbst zu Ende zu bringen. Nur über eines war sie sich ganz sicher. Sie wollte hier raus… und besser noch, wenn sich ihr die Gelegenheit bot, weg von hier. Jeder Fluchtversuch würde vermutlich nur mit ihrem Tod enden. Aber es wäre besser, es wenigstens zu versuchen, als einen Augenblick länger als nötig in diesem Haus zu bleiben. Sie wollte leben. Überleben. Sie konnte nicht darauf hoffen, das innerhalb dieser Mauern zu tun. In jedem anderen Haushalt, selbst beider zerstörerischen, brutalen Minenarbeit hätte sie eine Chance. Aber nicht hier….
Nach einiger Zeit des Wartens, wurden schließlich die Tore aufgerissen und acht oder mehr uniformierte Wächter strömten in die Höhle. Gewehrmündungen wurden zusammen mit Klingenspitzen auf sie gerichtet. Eden umklammerte den brennenden Stein in ihrer Hand.
Andre de Immerson folgte in kurzen Abstand.
„Fallen lassen.“, verlangte einer der Soldaten und deutete auf den Zauber. Sie reagierte nicht. Sicher, der Kristall war keine Waffe, aber besser als nichts. Schließlich jedoch, ließ sie das Juwel los, das auf den Boden fiel und in tausend Scherben zersprang, die noch einmal kurz aufleuchteten… und dann zu Asche zerfielen.
Bevor Eden noch reagieren konnte, bekam sie einen Tritt in die Kniekehlen, der sie auf die Knie zwang.
Andre riss derweil einen seiner Wächter die Muskete aus den Fingern.
„Es war wohl sogar noch zu viel verlangt, darauf zu hoffen, dass Ihr einfach sterbt wie all die anderen. Nein, man muss Euch erschießen wie einen tollwütigen Hund.“
Der Lord legte mit der Waffe auf sie an. Auf die Entfernung konnte er gar nicht verfehlen.
„Wartet.“ Andre drehte den Kopf zu der unerwarteten Stimme herum und auch Eden blinzelte verwirrt, als die Gewehrmündung vor ihrem Gesicht verschwand. Zumindest für den Moment.
Zachary ? Wussten die Ahnen, was den jungen Magier hier herunter trieb, Eden war nur froh, dass ihre Hinrichtung scheinbar noch einmal verschoben war. Die Frage blieb nur… für wie lange.
Kapitel 6
Abreise
Eden wartete. Das einzige Geräusch, das die Stille durchbrach, war das Geräusch des Schmelzwassers, das von den Wänden tropfte. Müdigkeit und Schmerzen ließen die ganze Welt um sie herum unwichtig und weit weg erscheinen. Schließlich jedoch durchbrach Andre de Immersons Stimme das Schweigen. Er stellte das Gewehr ab.
„Und erklärst Du mir auch, wieso ich sie nicht einfach töten sollte?, wollte er wissen. Dieses Vieh hat jetzt wirklich genug Ärger verursacht.“ Eden hätte nie gedacht, dass der Mann jemals freundlich klingen könnte. Aber bei dem Jungen schien sich seine Laune zumindest ein wenig aufzuhellen. „Mehr noch, sie hat einen Zauber hier herein geschmuggelt. Was hätte passieren können, wenn sie das Haus in Brand gesteckt hätte?“
Zachary zögerte mit einer Antwort.
„Aber… ich habe ihr doch den Kristall gegeben.“
„Wie bitte? “
„Und ich hab sie auch aufgehalten.“, erklärte er mit fester Stimme. „Deshalb hat sie den Brief nicht überbracht. Es ist schlicht nicht ihre Schuld.“
Andre drehte sich zu Eden um.
„Stimmt das? Du kannst mich nicht anlügen, also… stimmt das?“
Sie wusste einen Moment nicht, wie sie antworten sollte. Tatsächlich konnte sie sogar sehr wohl lügen. Das wusste aber der Lord zu ihrem Glück nicht.
„Es ist wahr.“ Bis auf, das sie ohne Zachary nicht bloß schlicht zu spät gekommen wäre… sie läge jetzt tot auf dem Dachboden des Herrenhauses. Und ohne den Kristall jetzt wohl im Magen einer Riesenspinne. Sie schuldete dem Kleinen was, dachte sie.
Andre raufte sich die Haare, bevor er das Gewehr mit einem Tritt in die nächste Ecke beförderte.
„Du lügst.“ Stellte er schlicht und ergreifend fest.
Der Faustschlag traf Eden nicht unerwartet, aber brachte sie trotzdem dazu zusammenzuzucken. Eden konnte nur noch müde darüber lächeln. Glaubte dieser Irre eigentlich immer noch, es kümmerte sie, was mit ihr geschah? Ihr Tod stand nach wie vor als wahrscheinlichste Option im Raum. Bevor Andre wieder zuschlagen konnte, stellte sich ihm jedoch Zachary in den Weg. Es war ein seltsamer Anblick, den erwachsenen Mann und das halbe Kind direkt gegenüber zu sehen.
„Das ist ungerecht, hör endlich auf damit. Ich hab dir gesagt, dass sie nicht Schuld ist.“
„Von wegen. Ich werde nicht zulassen, dass Du für irgendeinen Niemand lügst.“ Der Lord trat wie beiläufig an Zachary vorbei. „Und ich werde die Wahrheit schon erfahren…“ er machte wieder einen Schritt auf Eden zu… bevor er jedoch weit kam, schubste der Junge den stärkeren Mann zurück. Und was eigentlich nicht hätte möglich sein sollen geschah. Andre flog mehrere Schritte durch den Raum, als hätte ihn die Faust eines Riesen und nicht die eines Kindes getroffen. Der Adelige schlug hart auf dem Boden auf und schlitterte noch ein gutes Stück weiter, bis er endlich liegen blieb.
„Ich habe gesagt aufhören!“
Eden hätte niemals gedacht, das sie je Angst vor einem Kind haben könnte. Doch Zachary war etwas mehr als das. In seinen Augen tanzten wilde Funken und seine geballten Fäuste zitterten. Flammen tanzten über seinen Handrücken, so als könnte er den Strom der Magie, der durch seine Adern floss nur mühsam unter Kontrolle halten.
Andre richtete sich schwerfällig wieder auf und noch während der Lord wieder auf die Beine kam, tauchten Varia und Walter im Gang hinter den Toren auf.
„Götter, was ist denn hier los?“ , wollte der junge Mann wissen. Offenbar kam Walter direkt von draußen, denn neben einem schweren Wollmantel, der über seine normale Kleidung fiel, trug er noch ein Barett, auf dem sich Schnee gesammelt hatte.
„Nichts, dass irgendjemanden von Euch etwas angeht.“, erklärte Andre entnervt, bevor sich sein Blick auf Eden fokussierte. Die brennende Wut darin hätte jemand anderen zum wegsehen gebracht. Die Gejarn jedoch hielt dem Blick stand und sah direkt zurück. Schließich war es Andre, der sich abwandte. „Also gut. Sieht wirklich aus, als hättest Du nochmal Glück gehabt. Fürs Erste….“
„Andre, was ist passiert?“ , verlangte Varia nun zu wissen.
„Nichts.“, wiederholte er nur noch einmal. „Und Ihr reist in ein paar Tagen mit Zachary ab. Zur Festung des Sangius-Ordens. Die verfluchten Zauberer warten nicht ewig. Und wenn Ihr das tut…“ er deutete auf Eden. „Nehmt dieses… Ding da bloß mit.“
Mit diesen Worten drehte Andre sich um und stürmte, in Begleitung seiner Wachen, aus dem Raum.
Eden versuchte aufzustehen und stellte fest, das ihr das nur mit Schwierigkeiten gelang. Der Boden schien viel zu weit entfernt, als die Gejarn sich schließlich aufrichtete. Sie schwankte, doch bevor sie stürzen konnte, hielt Walter sie am Arm fest.
„Hey, Hey, ganz vorsichtig.“
Zu ihrer eigenen Überraschung empfand Eden tatsächlich einen kurzen Anflug von Dankbarkeit. Gleich gefolgt von dem Gedanken, ob es den Versuch wert wäre, den Kopf des Mannes gegen die Felsen zu schmettern. Dankbarkeit… für etwas, auf das jeder ein Anrecht haben sollte. Sie wehrte die Hand des Mannes ab und machte einige stolpernde Schritte in Richtung der Türen.
Varia sah sich mit versteinerter Miene zwischen den Versammelten um.
„Nun wenn das geklärt wäre, zurück mit ihr in die Küche. Das Abendessen wartet nicht.“
Eden erwiderte nichts. Wozu auch. Es hatte sich absolut nichts geändert. Nicht das Geringste… mit den anderen kehrte sie über Treppen und Gänge wieder in das Herrenhaus über den alten Minen zurück. Der Koch sagte kein Wort, als sie in ihrem Zustand in die Küche stolperte. Er bedeutete ihr lediglich sich in eine Ecke zu setzen und zu warten. Vermutlich konnte ihr jeder ansehen, was sie durchgemacht hatte. Und die geflüsterten Gerüchte, dass jemand die Katakomben überlebt hatte, begleiteten sie, seit sie wieder die belebteren Teile des Hauses betreten hatte. Eden kümmerte das alles nicht. Sie schloss einfach die Augen und schlief schließlich ein, ohne es zu wollen. Das hier nahm einfach kein Ende….
Die nächsten Tage verliefen erstaunlich ruhig. Eden begegnete kaum noch einem der Familienmitglieder, vom Abendessen abgesehen, um das sie sich nach wie vor kümmern musste. Offenbar rückte der Tag von Zacharys Abreise nun immer näher. Eine Unmenge fremder Leute tauchten im Herrenhaus auf und verschwanden wieder. Pferde, Schlitten und Kutschen fuhren im Innenhof auf und wurden überprüft, während es in der Küche geschäftiger wurde denn je. Vor allem die Frage, wie viele und ob man überhaupt Vorräte für die Reise brauchte wurde schnell zum einzigen Thema, das die Verwalter und Köche beschäftigte. Eden hielt sich aus allem raus. Wenn Andre seine Aufforderung wahr machte, sie mit Walter und Varia zu schicken, würde sie zumindest nicht alleine mit dem Lord hier zurück bleiben. Auch wenn der Mann mittlerweile darauf achtete, das Zachary nicht mitbekam, wenn er sie schlug… hier zu bleiben wäre ihr Tod, da war sie sich ganz sicher. Hingegen mit dem Rest des Adelshauses in die Berge zu reisen, in denen der Sitz des Sangius-Ordens lag, das war vielleicht genau das, auf was sie gewartet hatte. Entkommen… jetzt wo sie den Plan einmal gefasst hatte, würde sie auch einen Weg finden, da war Eden sich sicher. Auch wenn sie vielleicht nicht weit kam, sie musste es einfach versuchen. Und eine solche Gelegenheit würde so schnell nicht wieder kommen. Die Wächter, die sie begleiten würden, hatten sicher besseres zu tun, als auf eine einzelne Sklavin zu achten, deren verschwinden, Lord Andre vermutlich noch belohnen würde.
Nur um Zachary würde es ihr irgendwie leidtun. Der Orden war dafür berüchtigt, das er kaum Rücksicht auf seine Mitglieder nahm, wenn das irgendwie seinen Zielen diente. Magie war die Faust des Kaisers. Eine Waffe, die vor allen im Krieg mit Laos gebraucht wurde. Hier oben im Norden, hörte man bestenfalls Gerüchte über die Bemühungen des Imperiums, sich die Wüsten und Steppen einzuverleiben, die das Reich der Laos-Kultisten bildeten. Im Augenblick waren die Fronten wohl eingefroren und keine Seite konnte mehr Boden gutmachen oder zurückgewinnen. Kaiser Konstantin Belfare hatte es sich offenbar zum Ziel gemacht, die südlichen Länder hinter den großen Grenzflüsse, unter seine Kontrolle zu bringen. Etwas, an dem seine Vorgänger bisher gescheitert waren.
Und Eden konnte es egal sein, ob diese Pläne aufgingen, oder ob das Kaiserreich von Canton einen Schlag einstecken musste. Viel interessanter war, dass ihr Aufbruch nun endlich in greifbare Nähe rückte. Wie es aussah, klarte das Wetter in den Bergen jenseits von Silberstedt langsam auf und die Pässe wurden jetzt jeden Tag zugänglicher.
Und dann war es schließlich soweit. Der Aufbruch erfolgte frühmorgens, als die Welt draußen noch in grau gehüllt war. Eden war schon seit einigen Stunden auf den Beinen, erledigte Botengänge und leichtere Arbeiten und wartete darauf, dass es losging. Ihre Wunden waren noch nicht richtig verheilt und schmerzten nach wie vor. Vor allem die Fänge der Spinne hatten tiefe Narben auf ihrem Rücken hinterlassen. Aber wenn sie erst einmal hier raus wäre….
Auf dem Hof sammelten sich neben einer kleinen Gruppe Wächter, alle, die sie auf der Reise begleiten würden. Einige Diener und Beamte… und natürlich Walter, Varia und Zachary. Andre, der auf den Stufen am Eingang zum Herrenhaus zurück blieb, schien froh zu sein, dass sie endlich verschwanden. Etwas, das auf Gegenseitigkeit beruhte, dachte Eden, als sie schließlich aufbrachen. In einer langen Kolonne, zog das Gefolge durch die Straßen Silberstedts. Die Gejarn sah sich mit einer Spur Neugier um.
Bisher hatte sie die Stadt nur aus der Ferne gesehen und einmal bei ihrer Ankunft hier. Der allgegenwärtige Geruch von brennendem Fichtenholz war nach wie vor allgegenwärtig und zog durch die gepflasterten Straßen. Einige Bewohner, die als Schutz vor der schneidenden Kälte in dicke Pelzmäntel gehüllt waren, sahen den Vorbeiziehenden nach.
Auch wenn ihr nach wie vor jeder Schritt weh tat und ihre Muskeln rasch anfingen zu brennen, es tat gut unterwegs zu sein. Endlich etwas zu tun, von dem sie glaubte, es könnte sie weiterbringen hatte etwas unglaublich befreiendes. Die Gejarn ging mit den letzten Nachzüglern und versuchte sich wieder einmal so unauffällig wie möglich zu verhalten. Am besten wäre es, wenn die meisten gar nicht wirklich registrierten, dass sie sie begleiten sollte. Dann würde auch ihr späteres Verschwinden nicht so schnell auffallen.
Als sie die Tore der Stadt passierten begann es zu schneien. Anfangs nur einzelne Flocken, die vom grauen Himmel fielen. Die im Wind tanzenden Eiskristalle segelten bald überall um Eden herum zu Boden und bedeckten die Straße der sie folgten unter einer feinen Pulverschicht.
Die vereinzelten Wälder um Silberstedt waren ruhig und verlassen. Tannen standen dicht an dicht und hüllten alles jenseits des schmalen Wegs, dem sie folgten, in Finsternis. Nur ab und an ächzte ein Ast unter der Schneelast auf seinen Zweigen.
Eden sog die klare Luft ein und sah einen Moment zurück nach Silberstedt. Der Weg dem sie folgten, verlief in Serpentinen immer weiter nach oben und die Stadt wirkte aus der Ferne nun schon beinahe winzig. Die Berggipfel, die vor ihnen und um die Metropole herum aufragten hingegen, hatten etwas Ehrfurcht gebietendes. Als würde man einen Blick auf die Stützen der Welt werfen.
Wenn es nach ihr ginge, dachte die Gejarn, wäre das hier das letzte, was sie je von diesem Ort sah. Und wenn sie doch noch einmal hierhin zurückkehrte, dann nur mit einem Dolch, der für Andre de Immerson bestimmt wäre. Und einem zweiten für Varia….
Die Straßen wurden nun schnell steiler, während die Täler Silberstedts endgültig hinter ihnen zurück blieben. Felsen ragten auf einer Seite des Wegs in die Höhe, während auf der anderen, Klippen in die Tiefe führten. In Stein geschlagene Stufen zogen sich scheinbar endlos die Granitflanken der Berge hinauf. Eden geriet schnell außer Atem und die Kälte begann sich bemerkbar zu machen. Zwar trug sie einen zerlumpten Wollmantel, den irgendjemand für sie aufgetrieben hatte, aber der hatte mehr Löcher als Stoff. Und damit dem Bergwind leider nicht viel entgegenzusetzen.
Hinzu kam, dass der Schneefall nun zunehmend dichter wurde, je höher sie kamen. Eden konnte die Rufe der Zugführer hören, die den anderen den Weg wiesen. Und doch schloss sich langsam aber sicher ein Vorhang aus weiß um Eden und die kleine Gruppe, die sie schließlich noch sehen konnte. Der Wind peitschte den Schnee zu kleinen Hügeln auf der Straße auf, über die sie hinweg klettern musste. Ihre Füße sanken im pulvrigen Untergrund ein und jeder Schritt kostete mehr und mehr Mühen. Irgendwann blieb sie schließlich stehen und sah sich um. Die Straße war vollständig unter den Schneemassen verschwunden. Eden schirmte die Hand mit den Augen ab. Sie konnte bestenfalls ein paar Schritte weit sehen. Sie lauschte, ob sie irgendwo die Rufe der anderen hörte. Nichts… Nur das Heulen des Winds. Keine Pferde, keine gesprochene Worte, nicht einmal Schritte.
Eden zog den löchrigen Mantel enger um sich. Sie war alleine….
Kapitel 7
Schneesturm
Eden stapfte weiter durch den Schnee, obwohl sie längst nicht mehr wusste, wo sie sich befand. Um sie herum sah alles gleich aus. Formlos geworden, durch den Schleier, der zu Boden fallenden Flocken.
Sie schleppte sich mittlerweile nur noch aus Gewohnheit voran. Ohne etwas sehen oder hören zu können, wusste sie nicht einmal, ob sie noch der Karawane folgte, oder sich schon restlos verirrt hatte. Und es schien auch niemanden zu kümmern, wenn sie wirklich verloren gegangen war.
So jedenfalls hatte sie nicht geplant zu verschwinden, dachte sie träge. Ihre eigner Verstand schien bedrohlich langsam zu arbeiten. Zum wiederholten Male hielt sie an, ob sie irgendetwas hörte… oder auch nur roch. Aber die Kälte hatte jegliche Gerüche aus der Luft gewaschen.
Es blieb ihr nur übrig, weiterzugehen. Hier draußen stehenzubleiben, bedeutete den sicheren Tod. Schon wieder… Geister, wann hatte sie das letzte Mal so etwas wie Glück gehabt?
Ihre Füße versanken abermals im Schnee. Sie konnte ihre Zehen längst nicht mehr spüren, fürchtete aber, was sie sehen würde, wenn sie nachsah. Frostbrand. Vor ihr schien der Schnee jetzt schon ab und an deutliche Umrisse zu bilden, oder vielleicht war das nur eine Folge ihres erschöpften Verstands und Körpers. Eine einzelne Gestalt, die sich rasch durch den Sturm zu bewegen schien….
Zu spät erkannte Eden, dass sie sich nicht irrte. Durch den Schnee gedämpft, hörte sie die Hufschläge erst, als das Pferd zu nah war, um noch sicher auszuweichen. Die Gejarn warf sich sofort zur Seite, während das Tier schnaubend an ihr vorbeiraste. Sie konnte nur einen flüchtigen Blick auf den Reiter werfen, der sofort wieder im Unwetter verschwand. Aber das blaue Barett, das der Mann trug… war das eben Walter gewesen? Wenn ja, dann wo wollte er hin? Entweder Eden hatte es irgendwie geschafft, die Karawane im Schnee zu überholen oder der Adelige war grade wirklich einfach davongeritten. Und zwar so, als wäre ein wildgewordener Wyver hinter ihm her. Die kleinen Drachen der Berge, stellten für eine gut gerüstete Gruppe eigentlich keine Bedrohung dar. Trotzdem, irgendetwas stimmte nicht. Die Neugier weckte ihre Lebensgeister wieder etwas. Wenigstens wusste sie jetzt, dass sie noch auf dem richtigen Weg war. Eden beschleunigte ihre Schritte, soweit das ihre verbliebenen Kräfte zuließen. Der Gedanke an Flucht war nicht vergessen, aber für den Moment war ihre einzige Chance zu überleben, die anderen wiederzufinden. Vielleicht konnte sie entkommen, wenn der Sturm etwas nachließ, aber so wie die Dinge momentan standen, war es Selbstmord alleine hier draußen zu bleiben. Sie atmete erleichtert auf, als sie ein flackerndes Licht vor sich im Schnee sah. Es war noch weit weg aber ganz sicher keine optische Täuschung. Der orangerote Schein eines Feuers. Vermutlich hatte die Reisegemeinschaft Halt gemacht, um den Sturm abzuwarten. Und warum war Walter dann zurück geritten? Vielleicht gab es neben ihr, noch weitere Nachzügler, nach denen man auch suchen wollte. So oder so. Ein Feuer bedeutete Rettung.
Doch schon beim näherkommen merkte Eden, das irgendetwas nicht stimmte. Die Flammen waren zu hoch für ein schlichtes Lagerfeuer. Der Schein des Feuers viel zu intensiv, selbst durch das Schneetreiben… und dann stolperte sie über den ersten Toten. Es war einer der Wächter, die sie aus Silberstedt begleitet hatten, da war sie sich ganz sicher. Er trug ein kleines silbernes Emblem in Form einer Spinne. Das Zeichen des Hauses de Immerson. Schon bei ihrer Ankunft hier, hatte das Wappen sie beunruhigt. Und nun verstand sie besser, warum. Der Mann lag in einer Lache seines eigenen Blutes. Mehrere Löcher in seiner Uniform zeigten, wo er von Kugeln getroffen worden war. Sein eigenes Gewehr lag, scheinbar unbenutzt, halb im Schnee begraben. Eden hob die Muskete auf. Sie hatte keine Ahnung, wie man mit Feuerwaffen umging. Aber auf eine Art war das schwere Gefühl des Gewehrs beruhigend. Ihren Fund als Krücke nutzend, um sich besser durch den Schnee zu kämpfen, ging sie weiter. Rote Blutspuren im Schnee tauchten jetzt überall auf. Der noch nicht ganz weggewaschene Geruch von verbranntem Schwarzpulver hing über dem ganzen Gebiet…. Über die nächste Leiche, ein aufgeschnittenes Pferd, kletterte Eden einfach hinweg. Dahinter zeichneten sich weitere, schon halb vom Eis begrabene Umrisse im Schnee ab. Geister, was war hier nur passiert?
Und viel wichtiger, war wer oder was auch immer hierfür verantwortlich, war noch in der Nähe?
Eden schleppte sich weiter auf die Flammen zu, während sie sich im dichten Schneegestöber umsah.
Aber sie konnte niemanden entdecken. Niemanden zumindest, der noch Leben würde….
Beim näherkommen erkannte sie schließlich die Ursache des Feuers. Eine Kutsche war mitten auf der Straße umgekippt und scheinbar angezündet worden. Dicker öliger Qualm stieg zum Himmel und vermischte sich dort mit den Schneewolken. Rund um das brennende Gefährt schmolz der Schnee und gab den Blick wieder auf das Pflaster darunter frei. Und mitten davor saß Zachary, der sich mit vor Schreck geweiteten Augen umsah. Der Mantel den er trug, war blutbefleckt, aber auf den ersten Blick schien er nicht verletzt.
„Zachary ?“
Der Junge zuckte beim Klang ihrer Stimme sichtbar zusammen. Er versuchte rückwärts wegzukriechen, bis er gegen die brennende Kutsche stieß.
Geister… Eden ging in die Hocke in der Hoffnung, so weniger bedrohlich zu wirken. Und wenn ihr jemand gesagt hätte, dass jemand mal Angst vor ihr, einem ausgehungerten Nervenbündel, haben könnte, hätte sie ihn bis zu diesem Moment für verrückt erklärt. Der Junge war ganz offenbar nicht auf der Höhe. Aber eine dunkle Spur des Wiedererkennens flackerte in seinem Blick auf.
„Hey… Zac.“ Zac für Freunde, hatte er gemeint. Hoffentlich kam das an. „Ich bin‘s nur. Eden.“ Ihr fiel, viel zu spät ein, wie blöd das war. Zachary wusste überhaupt nicht wie sie hieß, wenn sie sich richtig erinnerte. Sie hatte ihren Namen nie genannt.
Sie streckte vorsichtig die Hand aus.
„Komm her. Das… das wird wieder gut.“ Eden konnte ihren eigenen Worten kein Gewicht geben. Wie sollte das hier wieder gut werden? Vermutlich erfroren sie beide hier draußen. Und der Junge war nicht ihre Verantwortung, oder? Aber… aber sie wusste, wie er sich fühlen musste. Sie wusste es nur zu gut. Das Gefühl völlig hilflos zu sein… trotz aller Magie über die er verfügen mochte, trotz der Macht, die mit dem Jahren in ihm wachsen sollte und ihm eines Tages vielleicht zu einem der mächtigsten Zauberer Cantons machen könnte….
In diesem Augenblick war Zachary de Immerson ein verängstigtes Kind, das nicht wusste, was um es herum geschehen war.
„Das wird irgendwie wieder gut.“, murmelte sie.
Zachary jedoch deutete nur hinter sich… auf die andere Seite des umgestürzten Gefährts.
Es wiederstrebte ihr, den traumatisierten Jungen auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. Aber wenn es dort etwas gab, das ihm wichtig war, musste sie wohl nachsehen. Eden setzte sich auf und schlurfte um das brennende Wrack herum. Was sie hier sah, unterschied sich kaum von den anderen Überresten des Konvois, über die sie bisher gestolpert war. Mit einem Unterschied.
Drei tote Soldaten und mehrere Diener lagen im Schnee verstreut… und vor den Toten gegen die Bodenwand der Kutsche gelehnt, saß Varia de Immerson. Eden brauchte nur einen Blick auf sie zu werfen, um zu wissen, dass die Frau kaum noch am Leben war. Ein Dolch ragte aus ihrer Brust. Die Waffe hob sich bei jedem Atemzug mit und schnitt sich dabei etwas tiefer ins Fleisch. Ihr komplettes Kleid war von Blut durchtränkt.
Die Gejarn trat vorsichtig weiter. Varia war tot. Sie wusste es nur noch nicht. Eden empfand kein Mitleid mit dieser Frau, die sie zum Spielball ihrer Launen gemacht hatte. Ein Teil von ihr sagte ihr, dass es sogar richtig war, dass Varia genau das hier verdiente. Aber langsam und qualvoll zu verbluten… Eden schüttelte den Kopf. Niemand verdiente so etwas. Sie kniete sich vor die Gestalt, die sie nur langsam überhaupt wahrzunehmen schien. Und als Varia schließlich zu ihr aufsah, war ihr Blick glasig und leer.
Bevor Eden jedoch etwas tun konnte, hatte die Frau sie schon gepackt. Schmerzhaft gruben sich ihre Hände in ihre Schultern und rissen dabei bestimmt mehrere Fellbüschel aus. Die Gejarn versuchte sich loszureißen, aber Varia hielt sie wie in einem Schraubstock fest.
„Ihr…. warum von allen überlebt ausgerechnet ihr …“
„Ich weiß es nicht.“, gestand Eden. „Aber ich bin hier um Euer Leid zu beenden.“
Varia lachte und hustete gleichzeitig Blut.
„Schwört mir…“
Eden zuckte zurück.
„Was ?“
Selbst in ihren letzten Augenblicken, fiel dieser Frau nichts Besseres ein, als sie ein letztes Mal herumzukommandieren. Einen letzten Befehl zu geben….
„Schwört mir, dass Ihr auf Zachary achtet. Ich weiß, dass er noch lebt….“
Eden hätte sie am liebsten gefragt, wie sie auf die Idee kam, dass Eden nach all dem auch nur darüber nachdenken würde, was mit irgendjemanden aus dieser kranken Familie geschah….
Stattdessen jedoch nickte sie nur. Den Jungen traf keine Schuld. Im Gegenteil. Und wie groß waren ihre Überlebenschancen ohnehin? Wenn kein Wunder geschah, hielten sie vielleicht noch ein paar Stunden durch.
Varias Griff um ihre Schultern lockerte sich und die Adelige sank mit brechendem Blick in den Schnee zurück.
„Mögen die Götter Euch verfluchen, wenn Ihr jemals auch nur darüber nachdenkt diesen Schwur zu brechen.“
„Ich halte meine Abmachungen. Und was Eure Götter angeht, so hassen diese mich schon.“, erklärte Eden nur kalt. Mit diesen Worten griff sie nach dem Dolch, der aus Varias Brust ragte… und drehte die Klinge um. Varia zitterte noch einen Augenblick und lag dann still.
Eden stand auf und ging wieder um den Wagen herum. Halb erwartete sie, das Zachary verschwunden wäre. Doch der Junge saß nach wie vor genau da, wo sie ihn eben zurückgelassen hatte. Im Windschatten des langsam herunterbrennenden Wagens.
Eden zögerte. Sie konnte sich nicht zurück auf den Weg nach Silberstedt machen. Nie wieder. Mal ganz davon abgesehen, das sie überhaupt nicht wusste, wo zurück in diesem Fall überhaupt wäre.
Aber sie konnte Zachary auch nicht hier lassen. Selbst ohne den Schwur Varia gegenüber, hätte sie auch nur darüber nachgedacht, den Jungen einfach im Eis zurück zu lassen? Nein. Und das wäre ein Todesurteil, vollstreckt um sich an einem Mann zu rächen, der für sie außer Reichweite war. Und an einer Frau, die sich nun jenseits aller irdischen Verantwortung befand.
Eden streckte eine Hand aus.
„Komm mit. Wir… wir verschwinden beide von hier, ja?“
Zuerst glaubte sie, Zachary würde sie nicht verstehen, oder es nicht einmal wagen, sich zu bewegen. Er sah sie nur weiterhin aus diesen seltsamen Augen an, die einem Angst machen konnten. Aber nicht ihr. Sie hatte Schlimmeres hinter sich, als den Blick eines Zauberers. Schließlich jedoch stand er auf und nahm ihre Hand. Eden lächelte, obwohl dafür kein Anlass bestand. Wann hatte sie das letzte Mal eine Berührung gespürt, die nicht mit Schmerz verbunden war, sondern simpler… Menschlichkeit. Als sie den ersten Schritt aus dem Schutz der Kutsche machte, schlug ihr der Wind sofort wieder eisig entgegen und machte die Wärme des Feuers im Nu zunichte. Sie bedeutete Zachary hinter ihr zu bleiben, soweit das ging. Es reichte, wenn einer von ihnen durch den Sturm auskühlte. Sie würden so oder so nicht weit kommen, dachte Eden. Sie würde alles tun, außer Zachary das zu sagen, aber... es sah nicht gut aus. Schon bald blieb die überfallene Karawane hinter ihnen zurück und das Feuer wurde zu nichts, als einer bloßen Erinnerung. Eine Erinnerung, die die Kälte jetzt umso grausamer machte. Eden verlor bald die Kraft, mehr zu tun, als weiter einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Sie wusste nicht, wie weit sie gekommen waren, als ihr Ende besiegelt wurde. Die Landschaft sah hier überall gleich aus. Aber als sie anhielt und sich zu Zachary umdrehte, schwankte dieser plötzlich. Bevor er in sich zusammenbrach, war sie schon bei ihm und fing den bewusstlosen Jungen auf. Einen Herzschlag lang wusste sie nicht, was sie tun sollte. Und so stand sie, Zachary im Arm, mitten im Sturm. In einer Welt, die nur aus ihnen und endlosem Weiß zu bestehen schien… Eden wich bis an eine Schneewehe zurück, die wenigstens etwas Schutz vor dem Wind bot und grub rasch eine kleine Mulde. Ihre Finger waren taub und sie fürchtete, nun auch einige davon einzubüßen. Was ihre Zehen anbelangte, war sie sich mittlerweile sogar sicher, dass mehrere davon gefroren sein mussten.
Sie duckte sich in den notdürftigen Unterschlupf und zog Zachary an sich.
Sie würden hier draußen sterben.
Kapitel 8
Lore
Als Eden die Augen öffnete, blendete die Sonne sie einen Augenblick. Das Licht war ein fast schon schmerzhaft unvertrauter Anblick. Sie blinzelte ein paar Mal, bis ihre Sicht wieder klarer wurde. Eine holzgetäfelte Decke erstreckte sich über ihr. Und irgendwo plätscherte Wasser. Die Gejarn wusste nicht, wo sie sich befand. Offenbar in einem Haus, aber wie war sie hierhergekommen? Sie erinnerte sich nur noch daran, wie sie irgendwann im Sturm eingeschlafen war. Sie hatte nicht damit gerechnet, noch einmal aufzuwachen. Schon gar nicht… so
Zachary… der Gedanke an den jungen Magier schüttelte die restliche Müdigkeit von ihr ab. Wo war er? Nur mit Mühe konnte sie den Kopf zur Seite drehen um sich weiter umzuschauen.
Weiß getünchte Wände begrenzten den Raum nach allen Seiten. Mit Ausnahme einer geschlossenen Tür und eines Fensters, durch das Sonnenlicht hereindrang. Neben einer Liege, auf der sie selbst lag gab es nur einen kleinen Tisch mit einem einzigen Stuhl daran. Irgendjemand hatte einen Laib Brot und eine dampfende Kanne Tee darauf zurückgelassen. Eden spürte, wie sich ihr Magen zu Wort meldete. Vorsichtig setzte sie sich auf. Ihr ganzer Körper schmerzte, aber… irgendjemand schien sich die Freiheit genommen zu haben, ihre Wunden zu verbinden. Leinen zog sich über Arme, Rücken und Brustkorb. Und auch ihre Füße waren in Laken gewickelt. Erstaunt stellte sie fest, dass sie alle Zehen bewegen konnte. Kein Zeichen von Frostbrand.
Die Gejarn stand auf. Ihre alte Kleidung, lag ordentlich zusammengefaltet am Fußende des Betts. Daneben wiederum ein weiterer Satz sauberer Wäsche. Ein grauer Rock und ein Hemd mit dazugehöriger Weste. Offenbar hatte jemand schon damit gerechnet, dass sie bald aufwachen würde.
„Hallo ?“ Ihre Stimme klang nach wie vor ungewohnt rau. Und natürlich erhielt sie keine Antwort, dachte Eden. Aber für den Moment würde sie sich nicht beschweren. Und vor allen Dingen musste sie wissen, was aus Zachary geworden war, dachte Eden, während sie sich anzog. Im Vorübergehen riss sie ein Stück von dem Brotlaib ab. Sie zögerte jedoch beim Tee. Misstrauisch roch die Gejarn einen Moment an der dampfend heißen Flüssigkeit. Kräuter, Honig….
Jetzt werd‘ bloß nicht paranoid, sagte sie sich. Warum auch immer sie noch lebte und wer dafür verantwortlich war… sie wären schon tot, wenn der oder diejenige das wünschen würde.
Trotzdem rechnete sie schon halb damit, dass die Tür verschlossen und sie damit eingesperrt sein würde. Aber auch das war natürlich Blödsinn. Das Fenster stand offen, Sie könnte einfach raus klettern. Auch wenn das einfach in ihrem Zustand nicht ganz zutraf.
Die Tür schwang ohne Probleme auf. Eden trat hindurch und fand sich in einer kleinen Küche wieder. Ebenfalls verlassen. Gedämpftes Licht fiel durch ein weiteres Fenster, vor dem ein niedriger Baum wuchs. Die Zweige verhinderten, dass sie nach draußen sehen konnte und raschelten in einer sanften Windbrise. Die Blätter waren hellrot und goldgelb verfärbt, so als stünde die Pflanze in Flammen. War es wirklich schon Herbst?, fragte sie sich unwillkürlich. In Silberstedt hatte es keine erkennbaren Jahreszeiten gegeben.
Ein erloschener Herd und ein weiterer Tisch bildeten die einzige Einrichtung des Raums. Auch hier war niemand. Eine kleine, wacklig wirkende Treppe führte hinauf in ein zweites Stockwerk. Aber Eden war mehr darauf aus, endlich herauszufinden, wo sie sich befand. Eine zweite Tür auf der anderen Seite der Küche sah so aus, als müsste sie nach draußen führen. Durch ein kleines Ornament aus Buntglas in Kopfhöhe fiel Sonnenlicht. Die Gejarn stieß die Tür auf und trat endlich hinaus ins Freie. Eines wusste sie sofort. Sie war nicht mehr in den Bergen. Zwar konnte sie die schneebedeckten Granitgipfel noch in der Ferne sehen, aber zwischen ihr und den Felsen lag eine weite Ebene bedeckt mit gelbem Gras, das sich im Wind wiegte. Einzelne Wälder mit Laub- und Nadelbäumen, sprenkelten die Steppe und wie schon bei dem Baum am Fenster, waren die Blätter bunt verfärbt, oder lagen bereits in dichten Teppichen am Boden. Das Haus, das sie nun hinter sich ließ, lag auf einem kleinen Hügel über einer Siedlung. Ein ummauerter Garten, in dem Kräuter und Gemüse wuchsen nahm den Eingangsbereich ein. Eden ging auf den, zwischen den Beeten ausgelegten, Steinplatten entlang. Scheinbar war auch hier alles verlassen. Unten in der Siedlung jedoch konnte sie ganz klar Bewegungen ausmachen. Es waren bestimmt an die hundert Hütten und Häuser, die sich zwischen Kieswegen und weiteren Gräten oder kleine Felder schmiegten.
Ein breiter Bach zog sich einmal quer durch die komplette Ortschaft. Am Ufer wucherte Schilf und die Äste einer mit den Wurzeln schon im Bach wachsenden Weide, berührten fast das Wasser.
Eden wusste einen Augenblick nicht, ob sie besser hier warten oder sich auf die Suche nach jemanden machen sollte. Sie musste unbedingt herausfinden, was geschehen war. Und wo Zachary sich aufhielt. Sie hatte geschworen ein Auge auf ihn zu haben. Und eigentlich sollte ihr dieser Schwur weniger als nichts wert sein, dachte sie.
Im gleichen Moment erschien eine Gestalt am Tor, das hinaus auf die Straßen des Dorfs führte.
„Na da brat mir doch einer einen Storch. Und ich hab Bruder Markus gesagt, Ihr würdet frühestens in ein paar Stunden wieder wach sein….“ Der Mann, der über die gusseiserne Tür in den Garten setzte war ein Gejarn. Er trug einen leichten Gehrock aus schwarzem Stoff. Ein grau-schwarz geschecktes Fell zeichnete sich darunter ab. Ein Schneeleopard…
„Jiy , komm mal her.“
Auf den Ruf des Mannes kam, eine scheinbar kleiner Version seiner selbst, aus dem Haus gelaufen. Eden musste das Mädchen wohl schlicht übersehen haben… oder sie war im oberen Stockwerk gewesen.
Sie schätzte die Kleine auf vielleicht dreizehn Sommer. Eine Mähne schwarzer Haare wehte hinter ihr her, als sie auf den Fremden zu rannte, der sie mit ausgebreiteten Armen auffing.
Der Mann lachte, bevor er das Mädchen absetzte.
Eden räusperte sich.
„Verzeiht… wer seid ihr? Und wie… wie komme ich hierher?“
„Also, Zeit mich vorzustellen nicht? Mein Name ist Zabrim und das ist meine Tochter, Jiy. Und ehrlich gesagt, wissen wir das gar nicht so genau. Markus kam gestern in Lore an, euch auf dem Arm und den kleinen Jungen an der Hand. Er meint er hätte euch in den Bergen gefunden.“
Zachary… Eden atmete erleichtert auf. Also ging es ihm schon einmal gut. Und wie es sich anhörte, hatte sie mehr Glück als Verstand gehabt, das sie in dem Schneesturm jemand gefunden hatte.
„Dann… vielen Dank dafür.“, meinte sie.
„Dafür nicht. Ihr wäret nicht die ersten erschöpften Reisenden, die die Berge einfordern. Und von Euren Verletzungen zu urteilen… verzeiht, darum musste ich mich kümmern, habt Ihr einiges hinter Euch.“
Sie nickte lediglich. Für den Augenblick war etwas anderes ohnehin viel wichtiger.
„Wo ist er?“
„Wer ?“
„Zachary. Der Junge der mit mir hier ankam.“
„Ach so heißt er also. Er hat nicht wirklich gesprochen, seit ihr hier seid. Zumindest nicht mit mir oder Markus. Ich kann mir vorstellen, dass Ihr hungrig seid….“
Eden schüttelte den Kopf.
„Ich… will erst einmal nach ihm sehen.“
„Er müsste bei Markus sein, glaube ich. Der ist mit ihm runter zum Bach, er wollte ihn wohl nicht allein lassen.“ Zabrim deutete auf den Weidenbaum, der Eden schon zuvor aufgefallen war. „Ihr könnt sie nicht verfehlen. Markus schläft sogar da unten an dem Baum, egal wie oft ich ihm ein Zimmer anbiete. Ist wohl Teil seiner Philosophie.“
„Philosophie ?“
„Man könnte ihn einen wandernden Gelehrten nennen, schätze ich, aber Ihr lernt ihn schon kennen. Dann kann er sich gleich selbst vergewissern, dass es Euch gut geht.“
Eden verabschiedete sich von dem Mann.
„Danke nochmal.“, erklärte sie, bevor sie durch die Tore des Gartens trat.
Der Weg durch die Siedlung gab ihr ein wenig Zeit zum nachdenken. Sie hatte wirklich Glück gehabt, so viel stand fest. Wenn dieser Markus sie nicht zufällig gefunden hätte….
Dann wäre alles vorbei gewesen. Mal wieder. Aber konnte sie jemand trauen? Sie war jetzt nicht bloß eine flüchtige Sklavin. Sie war flüchtig zusammen mit einem Adelskind und Magier. Geister, was sollte sie bloß mit dem Jungen machen? Vielleicht gab es die Möglichkeit, ihn irgendwie nach Silberstedt zurück bringen zu lassen, ohne dass jemand erfuhr, wer er oder sie war.
Im ganzen Dorf schien geschäftiges Treiben zu herrschen. Sie sah mehrere Gejarn und auch einige Menschen, die damit beschäftigt waren, Feuerholz kleinzuhacken, Tische zu schleppen oder Essen zuzubereiten. Andere waren daran, Girlanden zu flechten oder machten sich, scheinbar mit Nachrichten, auf dem Weg aus dem Dorf. Offenbar stand hier irgendetwas bevor, dachte Eden.
Als sie schließlich den Bach erreichte, ging sie eine Weile am Ufer entlang. Die Sonne spiegelte sich auf den Wellen und mehr als einmal konnte sie einen Blick auf einen vorbeischwimmenden Fisch erhaschen. Trotz der späten Jahreszeit war es erstaunlich warm. Eden konnte den Baum jetzt schon deutlich am anderen Ufer sehen und trat ins Wasser. Die Steine unter ihren Füßen waren kalt, aber… sie hatte wohl Glück überhaupt noch auf beiden Beinen laufen zu können. Tatsächlich saßen zwei Gestalten unter den Zweigen der Weide. Eine davon war Zachary. Der junge Zauberer lehnte am Stamm des Baumes und flocht scheinbar Grashalme zusammen. Ein paar Blätter hatten sich in seinen Haaren verfangen, aber er schien sie gar nicht zu bemerken. Die zweite Person musste wohl Markus sein. Ein Mensch. Er saß am Ufer und schien nur damit beschäftigt, dem Strom des Wassers nachzusehen. Der Mann trug eine kurze Robe, auf deren blauen Stoff ein grünes Wappen gedruckt war. Offenbar ein Baum, dessen eine Hälfte in voller Blüte stand, während die andere kahle Zweige besaß.
Seine Haare wirkten auf die Entfernung wie eine Leuchtfackel. Orangerot waren sie wohl schwer zu übersehen. Und die grün funkelnden Augen des Mannes gaben ihm endgültig das Aussehen eines freundlichen Kobolds. Er schien schon älter, war aber noch weit davon entfernt, ein Greis zu sein. Als er die Gejarn im Bach bemerkte, stand er auf und hob die Hand zum Gruß.
„Guten Morgen.“ Markus Stimme war erstaunlich kräftig. „Hatte Zabrim mir nicht versichert, ihr wäret bestimmt noch ein paar Stunden bewusstlos?“
„Morgen. Ich bin ganz froh, wieder auf den Beinen zu sein“, erwiderte Eden, als sie das andere Ufer erreichte. „Ich hatte ehrlich gesagt, nicht damit gerechnet. Zachary?“
Der Junge stand von seinem Platz am Baum auf und kam rasch die Uferböschung herab.
„Wie geht es dir?“, wollte Eden wissen. Zachary antwortete jedoch nicht. Er sah lediglich zu ihr auf.
„Er hat einiges durchgemacht, nicht?“, wollte Markus hinter ihr wissen. „Ich versuch jetzt schon eine Weile mit ihm zu sprechen. Er ist doch nicht stumm, oder? Dann käme ich mir nämlich dumm vor.“
„Nein… nein… ich schätze nicht. Wie Ihr sagtet. Er hat… einiges hinter sich.“
„Wie Ihr auch, wie mir scheint. Ich bin Markus. Bruder Markus für die meisten hier.“
„Eden.“, stellte sie sich vor. „Mein Name ist Eden.“
Markus lachte. Ein volltönender Laut, der ein paar Vögel aufschreckte.
„Ist das kein Männername?“ Eden war klar, dass der Mann nur versuchte die Atmosphäre aufzulockern, aber es änderte nichts daran, dass ihr das Ganze, einen Stich versetzte.
„Ich glaube nicht, aber… mein Vater wollte wohl lieber einen Sohn. Da bin ich mir sogar ziemlich sicher. Ihr wart es der uns gefunden hat, oder? Danke.“
„Auch wenn ich euch beinahe übersehen hätte. Ihr wart schon halb im Schnee begraben, Eden. Am Anfang hab ich ja gedacht, Ihr wärt tot, aber Euer Junge hier hat darauf bestanden, dass ich Euch auch mitnehme.
„Ich dachte er spricht nicht.“, bemerkte Eden.
Markus wurde ernst.
„Das braucht keine Worte. Und wenn er den Schnee um sich herum zum Schmelzen bringen kann, dann….“
„Ihr wisst was er ist….“
„Und es ist mir völlig egal.“, winkte Markus ab. „So egal, wie was oder wer ihr seid. Mich interessiert nur, dass ihr Hilfe brauchtet. Was ihr danach tut, ist mir egal.“
„Dann muss ich Euch abermals danken.“
„Nur eine Bitte hätte ich. Und die ist sogar in Eurem Interesse. Der Junge scheint ja ganz in Ordnung, aber Ihr… Bleibt eine Weile hier, ich bitte Euch. Erholt Euch.“
„Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.“ Selbst wenn niemand nach Zachary oder schlimmer noch ihr suchte….
„Dann bleibt wenigstens heute hier. Spezifischer heute Abend. Ich verspreche Euch, Ihr verpasst sonst wirklich was.“
„Was denn?“
„Das Fest der brennenden Bäume. Ein ziemliches Spektakel, das die Siedler in dieser Gegend jedes Jahr veranstalten. Ich bin eigentlich nur deshalb überhaupt in der Gegend.“
Kapitel 9
Brennende Bäume
Als die Nacht sich über Lore senkte, erstrahlten die Straßen der kleinen Siedlung in hellem Glanz.
Girlanden waren zwischen den Häusern gespannt worden und auf den Wiesen brannten helle Feuer. Ob es einen Zauber gab oder einen anderen Trick, aber einige der Flammen loderten in intensiven rot, oder goldgelb und hüllten die nähere Umgebung in ihren Schein. In den Schein durch den Herbst in Brand geratener Blätter… Eden sah von ihrem Platz aus zu, wie einzelne Nachtfalter in den Feuern und aufgestellten Fackeln verglühten.
Der Duft von bratendem Fleisch und Gemüse füllte die Luft. Eden schätzte, dass mindestens doppelt so viele Leute hier waren, als sonst eigentlich im Dorf leben dürften. Menschen und Gejarn gleichermaßen , aus verschiedenen Clans und Siedlungen. Warum ausgerechnet Lore als Treffpunkt ausgewählt worden war, daran schien sich niemand mehr erinnern zu können.
Eden saß an einem Tisch unter freiem Himmel, zusammen mit Zachary und Markus. Zabrim hatte sich ein paar Plätze weiter niedergelassen und seine Tochter lief wohl mit einem Dutzend weiterer Kinder irgendwo zwischen den Feuern umher.
Die Gejarn wusste nicht, wie lange ihre letzte, richtige Mahlzeit her war. Oder wie lange die Letzte, die nicht aus verwässerten Resten bestand. Hier jedoch schien kein Mangel an irgendetwas zu herrschen. Es war… überraschend wie selbstverständlich die Leute sie hier aufnahmen, dachte Eden. Beinahe schon seltsam… oder sie war Freundlichkeit schlicht nicht mehr gewohnt. Sie fürchtete beinahe, dass letzteres die wahrscheinlichere Antwort war.
Und das machte ihr auf eine seltsame Art Angst. All die Jahre hatten etwas zerstört, das ihr jetzt erst wieder bewusst wurde. Und sie wusste nicht einmal, was es war. Vielleicht die Fähigkeit, je wieder jemanden den Rücken zuzukehren, überlegte Eden, während sie Reste von einem Knochen nagte. Sie sah sich in der Runde um, als rechne sie damit, dass jeder ihr ansehen müsste, dass etwas mit ihr nicht stimmte… mit ihrer Art zu denken.
Jedoch es war nur Markus, der wieder einmal schallend lachte.
„Ihr müsst ja wirklich ausgehungert sein.“, meinte er, bevor er einen Becher Wein herunterstürzte. Der wievielte wusste Eden längst nicht mehr. Nur das er bereits zwei Männer, die er offenbar kannte, unter den Tisch getrunken hatte. Die beiden schliefen jetzt irgendwo im Gras abseits der Tische und Bänke in den Gärten.
Wenn der Mann ein Geistlicher war, wie es sein Titel vermuten ließ, dann verbot seine Religion offenbar nicht den Alkohol.
„Wir haben heute genug von allem.“, meinte er nur.
Eden ließ den Knochen fallen, als hätte sie sich verbrannt. Auf eine Art riefen Markus Worte erst wach, wie recht er damit hatte. Sie war nicht mehr auf alles angewiesen. Eden spürte, wie ihre Hände anfingen zu zittern und nahm sie unter den Tisch. Sie war frei. Wirklich und endgültig frei….
Und sie hatte keine Ahnung, was sie mit dieser Freiheit anfangen sollte, wenn sie ehrlich zu sich selbst war. Niemand schien wirklich zu bemerken, was in ihr vorging und dafür war sie allen Geistern dankbar. Vor der versammelten Tafel in Tränen auszubrechen, hätte ihr grade noch gefehlt.
„Lasst mich das korrigieren: Wir würden genug haben, wenn Ihr nicht alles schon alleine wegtrinken würdet, Markus.“, rief Zabrim zu ihnen herüber.
Der Mann ignorierte den Leoparden, als er den Becher wieder auffüllte.
„Lasst mich raten… Risara-Wein, oder ? Die machen den Besten.“
„Und wenn unser Dorf auf Eurer Route nicht zufällig vor Risara liegen würde, würdet Ihr den Winzern da die Keller leer saufen, alter Freund.“
„Was für eine Art Geistlicher seid Ihr eigentlich genau?“, wollte Eden wissen.
„Ich bin ein Anhänger des Vivendi“, antwortete Markus.
„Und das heißt?“
„Grundlegend glaube ich an genau zwei Dinge.“, erklärte er ernst. „Die einzigen beiden Wahrheiten, die sich niemals ändern werden, komme was da wolle. Es gibt Leben und es gibt den Tod. Das sind die Aspekte, die mein Gott verkörpert. Es sind zwei Punkte, auf einer Linie. Die Line beginnt irgendwo… mit dem Leben. Also akzeptieren wir, dass sie auch irgendwo wieder Enden muss. Denn unendliche Existenz ist allen Dingen entgegen gerichtet und zutiefst widernatürlich. Dieses Ende ist meiner Überzeugung nach der Tod.“
„Das hört sich aber wenig nach einer Philosophie an, die eine Religion vertreten würde.“
Markus schmunzelte.
„Und doch ist es eine sehr Lohnenswerte. Denn wenn ich mich zwischen diesen beiden Punkten bewege… und unaufhaltsam in eine Richtung bewege, nämlich das Ende, was anderes kann ich tun, als die Fahrt so gut wie möglich zu genießen.“
„Verzeiht, aber das klingt, als würdet Ihr einfach tun, was Euch grade in den Sinn kommt und wenn das Mord wäre….“
„Es kommt auch noch mehr dazu. Wenn andere nach uns auf den gleichen Spuren wandeln, wenn wir unsere Zeichen in dieser Welt hinterlassen, daran wird man über uns urteilen. Nicht unser Gott richtet, er hat gar kein Interesse daran, er gibt uns nur die Chance, unseren Weg einmalig zu gestalten. Die Menschen nach uns und die, die wir auf dem Weg treffen, aber, die werden letztlich durch uns inspiriert. Und das ist meine Unsterblichkeit. Eine, die ich mir verdienen kann, wenn mir danach ist. Oder eben nicht. Inspiration bildet letztlich das Richtmaß.“
Zabrim lachte.
„Im Augenblick, mein Freund, inspiriert mich Euer Gerede vor allem, morgen mit einem riesigen Kater aufzuwachen.“
„Die meisten Katzen die ich hier gesehen habe sind eher klein gewesen. Vielleicht findet ihr irgendwo einen Tiger. Allerdings müsstet ihr Jiy erklären, dass sie jetzt zwei Väter hat und das möchte ich sehen….“
Der Gejarn verpasste Markus einen Schlag gegen den Hinterkopf. Markus lachte nur und füllte sich Wein nach.
Eden sah derweil nach Zachary, der scheinbar abwesend auf seinen Teller starrte. Sie musste irgendetwas unternehmen, dachte sie. Es war schlimm genug, das der junge Zauberer mit niemand sprach und sie deshalb schon nichts unternehmen konnte… aber das war überhaupt kein Platz für ihn. Sie konnte sich unmöglich um ihn kümmern. Nicht, wenn sie nicht selber irgendwie wieder auf die Beine kam, warf eine zweite Stimme ein.
Aber… er gehörte schlicht und ergreifend gar nicht hierher.
Ach, und er gehört also wohin ? Zum Orden?, wollte wieder ein anderer Gedanke wissen. Du weißt ganz genau, wie diese Bastarde Magier einfach nur verheizen.
Das änderte aber nichts an der simplen Tatsache, dass er Unmöglich bleiben konnte. Sie machte sich damit doch praktisch direkt zur Zielscheibe für die de Immersons wie für den Sangius-Orden.
Frag ihn wenigstens, meinte wieder die zweite Stimme. Lass ihn entscheiden.
„Was ist eigentlich mit Euch, Eden?“
„Hm ?“
„Woher kommt Ihr eigentlich? Ich hab Euch in den Bergen gefunden, aber ansonsten wissen wir alle wenig über Euch.“
Eden zögerte. Es war sicher keine gute Idee, diesen Leuten auf die Nase zu binden, dass sie ein entlaufener Sklave war. So freundlich alle waren… das konnte sich ändern.
„Ich war auf Reisen und sollte… Zachary zu seiner Familie bringen.“, antwortete die Gejarn schließlich. Das war genau genommen nicht einmal eine wirkliche Lüge. Es ließ nur die Details aus. Und ihr kam eine Idee. „Markus, seid Ihr oft in den Bergen unterwegs?“
„Ich mag die Ruhe dort oben. Also ja.“
„Wie weit kommt Ihr bei euren Reisen denn herum? Vielleicht bis nach Silberstedt?“
„Selten, aber ich war schon zwei, dreimal so weit. Aber die Berge in diese Richtung zu überqueren wird in letzter Zeit immer gefährlicher. Es gibt Berichte, das Wyvern jetzt vereinzelt Reisende angreifen, besonders wenn sie alleine sind. Und offenbar gibt es auch Bedrohungen eher… menschlicher Natur. Bevor ich Euch gefunden habe, bin ich über eine ausgebrannte Karawane gestolpert. Restlos geplündert…“ Markus grüne Augen funkelten.
„Ihr hattet aber nichts damit zu tun, oder?“
„Nein.“, erwiderte Eden nur. Ob der Mann ihr glaubte oder nicht, konnte sie nicht abschätzen. Er zuckte nur mit den Schultern.
„Mich hätte nur interessiert, was da oben passiert ist. So wie es aussah, war der Konvoi eigentlich gut geschützt. Zu gut, für einfache Banditen zumindest. Da hätte man schon eine große Gruppe gebraucht. Oder einen Magier.“
Zabrim wirkte beunruhigt.
„Sind sie wirklich so mächtig?“
„Das kommt darauf an, wie stark ihre Begabung ausgeprägt ist.“, meinte Markus. „Meine Mutter hatte die Gabe. Aber sie war nicht sehr talentiert. Der Orden hat… für solche Leute wenig Verwendung. Die Zauberei lässt sie unglaublich schnell ausbrennen und altern.“
„Das tut mir leid.“, flüsterte Eden.
„Muss es wirklich nicht. Sie starb als ich noch recht jung war. Aber ich bin wohl dankbar, dass ich sie wenigstens so lange hatte. Und Ihr ? Habt Ihr Familie zu die Ihr zurück könntet?“
Eden schüttelte den Kopf.
„Ich… es gibt noch meinen Vater, aber dem komme ich nicht mehr unter die Augen, wenn es nach mir geht. Er hat versucht mich zu ertränken.“
Markus kniff die Augen zusammen.
„Wieso das denn?“
Sie lachte bitter.
„Weißes Fell. Bringt Unglück. Wenn man die Ältesten meines Clans fragt zumindest.“
Zabrim schüttelte den Kopf.
„Tradition, verstehe. Damit hatten wir hier oben auch eine Weile zu kämpfen. Die Leute hier kommen aus dem ganzen Herzland. Viele der Gejarn unter uns hatten wohl einfach genug von dem ganzen Irrsinn der Ältesten. Und wir haben wohl Glück, das wir so viele sind. Da trauen sich die… konservativeren Clans nichts. Ich habe gehört, vor allem die Wölfe jagen jetzt schon diejenigen unter sich, die ihre alte Lebensart aufgeben.“
Eden stand auf und wandte sich an Markus.
„Könnte ich mich einen Moment alleine mit Euch unterhalten?“
Der ungewöhnliche Geistliche stand auf.
„Natürlich. Aber gibt es irgendetwas, das hier nicht alle hören sollen?“
Sie nickte lediglich und nach einem Moment des Zögerns, folgte Markus ihr, hinaus aus dem Garten, in die erleuchteten Straßen des Dorfs.
„Ich muss Euch um einen Gefallen bitten.“, erklärte die Gejarn, sobald sie sicher sein konnte, das zumindest ein Mensch sie nicht mehr hören konnte. Oder genauer gesagt Zachary.
„Wenn ich ihn denn auch erfüllen kann.“
„Da bin ich mir sogar sicher. Wärt Ihr bereit, Zachary bei Eurer nächsten Reise, mit nach Silberstedt zu nehmen?“
Markus runzelte die Stirn, was ihn noch mehr das Aussehen eines alten Kobolds gab. Allerdings nun einem mit düsterer Miene.
„Ja. Das wäre kein Problem, aber… Ihr könnt das nicht selbst erledigen, weil…“
„Weil ich nie in diese Stadt zurückkehren kann. Wenn Ihr bereit seid das zu tun, findet einfach die ansässige Adelsfamilie. De Immerson. Sie sind… kaum zu verfehlen. Und sagt ihnen dann auch, Ihr hättet meine Leiche bei der Karawane gefunden.“
„Ihr hattet also doch damit zu tun. Ich habe das Wappen der de Immersons da oben gesehen… Wer ist dieser Junge? Und wichtiger, wer seid ihr dann?“
„Ich bin… niemand. Einfach nur Eden. Und was den Jungen angeht, so lautet sein voller Name Zachary de Immerson.“
„Ich schätze es ist Sinnlos zu fragen, was passiert ist…“
„Als ich dort ankam, war schon alles vorbei.“, erklärte sie. „Also, wärt Ihr bereit mir zu helfen?“
„Wenn ich Euer Wort habe, dass mir Eure Adelsfamilie nicht direkt den Kopf abschlagen lässt, wenn ich Euren Namen erwähne. Ihr scheint es wirklich darauf anzulegen, dass sie Euch vergessen.“
Eden nickte nur.
„Ich fürchte das kann ich nicht. Aber ich… ich wollte Zachary ohnehin erst fragen, ob er damit einverstanden ist.
„Der Junge spricht nicht.“
„Ich weiß, aber… ich kann es zumindest versuchen.“ Mit diesen Worten, kehrten sie an den Tisch zurück. Die anderen warteten nach wie vor. Jiy hatte sich zu ihnen gesellt, saß gegen Zabrims Schulter gelehnt da und betrachtete alles aus schläfrigen Augen. Langsam aber sicher, zerstreuten sich die einzelnen Gemeinschaften in den Gärten und Straßen und machten sich auf den Heimweg, oder auf die Suche nach einem Schlafplatz.
Eden setzte sich ein Stück von Zachary entfernt auf die Bank.
„Zac…“ Sie traute ihrer eigenen Stimme einen Moment nicht.
Der junge Zauberer drehte den Kopf in ihre Richtung und sah sie fragend an.
„Markus hat zugestimmt, Dich nach Hause zu bringen.“, erklärte Eden.„Das heißt, Du kannst bald zurück nach Silberstedt. Ich werde nicht mitkommen. Markus wird ihnen sagen, ich wäre Tod. Und… Du müsstest das auch. Und… wenn Du gehst… Der Orden wird sicher nicht aufgeben.“
„Nein.“
Sie wäre beinahe rückwärts von ihrem Platz gefallen. Geister, Zachary hatte etwas gesagt. Endlich wieder.
„Was heißt nein?“
„Ich gehe nicht zurück. Ich kann nicht. Genau so wenig wie Du, oder?“ Zachary erklärte nicht wieso. Und das war für Eden auch nicht nötig. Es war entschieden. Sie strich dem Jungen einmal durch die Haare.
Sie wusste nicht wie sie, sie durchbringen würde. Sie wusste nicht einmal ob es möglich wäre. Aber… Geister, sie würde ihr bestes tun. Und etwas wurde Eden dabei klar… sie hatte nie wirklich vorgehabt, Zachary gehen zu lassen. Nicht wenn das bedeutete, das er in den Mühlen des Ordens landete.
Kapitel 10
Nach Risara
Die Zeit verging in Lore, ohne dass sie viel davon mitbekommen hätte. Tage, Wochen und schließlich ein ganzer Monat zogen ins Land, während die Bäume um die Siedlung langsam kahl wurden. Doch noch ließ der Winter, zum Glück auf sich warten. Eden wusste nicht, ob man den Ort nach dem ersten Schneefall noch sicher verlassen könnte. Es reichte ihr, einmal fast zu erfrieren.
Meistens tat sie nicht viel. Mal half sie Zabrim im Haus aus, auch wenn dieser vehement behauptete, das sei nicht nötig, mal begleitete sie Markus auf seiner Wanderschaft, rund um die Dörfer der Gegend. Alles in allem war es… langweilig. Aber auf eine angenehme Art.
Und es gab Eden die Zeit, die sie brauchte, um wieder auf die Füße zu kommen. Anfangs konnte sie kaum mit Markus mithalten, obwohl der Mann leicht dreimal so alt als sie war. Doch je mehr Zeit sie hier verbrachte, desto besser ging es ihr wieder. Knochen und Rippenbögen, die sich zuvor deutlich sichtbar unter ihrer Haut abgezeichnet hatten, verschwanden. Wenn sie nicht vorsichtig war, dachte Eden, lief sie tatsächlich Gefahr, dick zu werden. Der Gedanke hatte etwas Amüsantes.
Auch ihre alten Verletzungen verschwanden eine nach der anderen. Nur die Narben würde sie, für den Rest ihres Lebens mit sich tragen. Sie hatte einmal einen der wenigen Spiegel in Lore benutzt um nachzusehen. Vor allem auf ihrem Rücken, wo sich die Fangzähne in ihren Körper gegraben hatten, blieben deutlich sichtbare kahle Stellen im Fell zurück. Doch alles andere konnte die Zeit heilen.
Zachary hingegen, war nach wie vor beunruhigend still. Und wenn er mal etwas sagte, blieb er einsilbig und kurz angebunden. Eden wusste nicht, wie viel er von dem Massaker an der Reisegruppe mitbekommen hatte. Doch sie fürchtete, dass es schlicht zu viel gewesen war.
Auf die Frage, ob Markus etwas dazu einfiele, erwiderte er aber nur, dass man nur abwarten könnte.
Abwarten und Ruhe. Eden wusste, dass sie die Langeweile nach all der Zeit mehr genießen sollte… aber der Frieden konnte nicht ewig halten.
An dem Tag, an dem Eden die Nachricht erhielt, versuchte Markus grade, seine Ansichten klar zu machen, nachdem Eden ihm am Vortag gefragt hatte, wozu er bei seiner Philosophie einen Gott bräuchte. Es war nur eine beiläufige Frage für sie gewesen, aber der rothaarige Geistliche hatte sich das offenbar zu Herzen genommen. Wie Zabrim ihr erzählt hatte, hatte der Mann tatsächlich die halbe Nacht wach gesessen und sich eine Antwort überlegt.
Sie und Zachary saßen am Flussufer unter dem Baum, wo Eden dem Mann das erste Mal begegnet war. Markus hingegen hantierte mit einem leeren Glas, einer Kerze und einem brennenden Stück Holz herum.
„Passt auf, ich denke, danach werdet ihr es verstehen.“, meinte er, während er die Kerze entzündete und in das Glas fallen ließ. Nichts passierte. Die Flamme schwankte lediglich etwas durch den Sturz.
„Ich hab Euch doch schon mal gesagt, ich habe nur so gefragt….“, erklärte Eden zum wiederholten Mal. „Und bisher bin ich auch nicht beeindruckt.“, fügte sie hinzu.
Markus grinste lediglich breit.
„Wartet nur einen Moment ab.“, sagte er beschwichtigend. „Und achtet mir ja auf die Flamme.“
Eden zuckt mit den Schultern. Gut, tat sie ihm eben den Gefallen. Einige weitere Herzschläge tat sich überhaupt nichts…. dann jedoch flackerte die Kerzenflamme plötzlich und erlosch keinen Moment später einfach.
„Wie habt ihr…“
„Ich habe überhaupt nichts gemacht.“, erklärte Markus stolz. „Ich denke, die schlauen Köpfe an der Universität in Vara, könnten Euch das besser erklären als ich, aber die Idee ist, dass das Feuer, Luft braucht um zu brennen. Und sobald diese in dem Glas verbraucht ist…“
„Hier ist überall Luft, die müsste doch nachströmen.“
„Genau. Also muss irgendetwas, das schwerer als die Luft hier draußen ist, ersetzen, was die Flamme verbrennt. Mein Punkt ist aber, die Kerze braucht Luft um zu brennen.“
Bevor Eden etwas erwidern konnte, war es Zachary, der sich einmischte.
„Ich glaube ich weiß, worauf Ihr hinaus wollt, aber… ist das nicht etwas weit hergeholt?“
„Irgendetwas muss dahinter stehen. Etwas, das die Kerze Luft verbrennen lässt. Genauso muss etwas hinter mir stehen. Ein warum.“
Zachary schüttelte den Kopf.
„Das Feuer braucht halt eben Luft. Das ist eine schlichte Eigenschaft einer Flamme.“, erklärte er ruhig um kleinlaut hinzuzufügen: „Warum ist hier… überflüssig.“
Edens ah nur einen Moment zwischen dem jungen Zauberer und dem Geistlichen hin und her.
„Verzeiht, ich glaube Zachary wollte Euch sicher nicht auf die Füße treten.“
Markus lachte und winkte ab.
„Nein… nein ich fürchte ja sogar, er hat recht. Es ist ein dummer Vergleich wenn ich es so betrachte. Passt mir nur gut auf den Jungen auf, Eden, der scheint was im Kopf zu haben. Und ich dachte, ich könnte etwas demonstrieren.“ Markus kratzte sich am Kopf, bevor er überzeugt fortfuhr: „Wartet nur ab, ich werde mir etwas anderes überlegen.“
Eden hoffte bei sich, dass das nicht zu schnell geschehen würde. Markus war in Ordnung aber dieser Mann beschäftigte sich mit Dingen, die sie absolut nicht interessierten.
„Woher kennt Ihr eigentlich Zabrim?“, wollte sie wissen, um das Gespräch auf ein anderes Thema zu bringen.
„Das liegt schon ewig lang zurück. Und es hängt mit der Tatsache zusammen, dass er nicht schwimmen kann. Und es auch nicht lernen will. Ich glaube ja, er ist einfach nur genau so wasserscheu, wie die große Katze, die er ist. Lore dürfte damals was… Zwanzig Einwohner gehabt haben? Es war zumindest ziemlich am Anfang. Damals haben sie wohl versucht weiter Stromaufwärts eine Brücke zu bauen. Der Bach wird dort recht tief, zumindest kann man nicht mehr stehen, oder zu Fuß herüberkommen. Und Zabrim hat es natürlich geschafft, ins Wasser zu fallen, als er versucht hat, über einen unfertigen Übergang zu gelangen. Nicht nur, dass er dabei die Arbeit von drei Tagen zunichte gemacht hat, nein es hat mich leider auch gezwungen, einen zappelnden Gejarn ans Ufer zu ziehen. Aber um ehrlich zu sein, er hatte wohl wirklich Glück, das ich zufällig hier vorbei kam. Ich habe bis dahin nicht mal gewusst, dass es in dieser Gegend noch mehr Dörfer gibt.“
„Und seitdem dürfen wir Euch noch mit durchfüttern, Markus.“ , erwiderte eine Stimme von der Kante der Uferböschung aus. Zabrim setzte den kleinen Hügel zwischen Flussufer und Straße hinab, bis er sie erreicht hatte.
„Ach, kommt, wie oft bin ich denn hier?“, erwiderte Markus grinsend, „Einmal alle paar Monate vielleicht.“
„Und in der Zwischenzeit denken wir alle, Euch hätte es endgültig erwischt und das Ihr Euch in den Bergen von einem Wyvern habt fressen lassen.“
„Ich bin denen längst zu zäh.“, erklärte er lediglich. „Also, was treibt Euch hier raus?“
Zabrim setzte sich zu ihnen ans Ufer.
„Ich fürchte, ich bringe schlechte Nachrichten. Es gibt Neuigkeiten über den Überfall in den Bergen, den Ihr erwähnt habt. Offenbar haben die Magier des Ordens und die kaiserlichen Garden den Vorfall untersucht. Wie es aussieht, macht Lord Immerson die Clans der Gejarn jetzt für den Überfall verantwortlich.“
Markus sah alles andere als begeistert aus.
„Wie bitte?“
„Sie haben wohl…. Fellbüschel bei der Leiche von Varia de Immerson gefunden.“
Eden hätte sich beinahe auf die Zunge gebissen. Das Fell stammte von ihr… das war gar nicht gut, das war… das war sogar eine Katastrophe. Wenn de Immerson auch nur vermutete, dass sie noch lebte und schlimmer etwas mit dem ganzen zu tun hatte….
„Die Clans werden es sich nicht gefallen lassen, dass man sie des Mordes bezichtigt. Die Situation in den Herzlanden ist so schon alles andere als sicher. Einige Clans suchen schon lange einen Grund, sich vom Kaiserreich loszusagen. Das könnte grade der Tropfen sein, der für manche das Fass zum Überlaufen bringt.“
Man würde nach ihr suchen, schoss es Eden durch den Kopf. Mehr noch, man würde vor allem in der direkten Nähe der Berge suchen. Und Lore lag nicht weit davon entfernt.
„Sie werden hier suchen, oder?“, fragte Zachary und schien ihre Gedanken damit auszusprechen.
Markus nickte.
„Früher oder später ganz sicher.“ Er sah zu Eden.
„Sagt mir noch einmal, das Ihr nichts mit der Sache zu tun habt.“
„Ich habe den de Immersons einmal…gehört. Zufrieden?“
„Ich habe die Narben gesehen, aber es nicht gewagt, nachzufragen.“, meinte Zabrim mit Mitleid in seiner Stimme.
„Das erklärt allerdings einiges.“
„Sklaverei. Verdammte Barbaren.“, fluchte Markus. „Das halbe Kaiserreich hat dem längst abgeschworen, oder es zumindest stark beschränkt. Aber natürlich braucht Lord Andre billige Arbeiter für seine Silberminen.“ Er schien einen Moment darüber nachzugrübeln, dann sah er auf. „Wenn das stimmt, was Ihr mir erzählt, dann müsst ihr hier weg. Und zwar so schnell wie möglich.“
Eden seufzte. Davon war sie ausgegangen, seit sie gehört hatte, dass jemand den Überfall untersuchte.
„Kann ich euch dann Zachary anvertrauen?“
Zabrim schüttelte den Kopf.
„So gerne ich zusagen würde, denkt nach…. Wenn sie hier suchen, werden sie nicht nur nach euch Ausschau halten, sondern sogar ganz sicher auch nach jedem Vermissten. Und damit auch nach ihm.“
Sie nickte. Auch das war ihr schon fast klar gewesen. Aber sie hätte es Zachary trotzdem gerne erspart… auf der Flucht zu sein, würde alles andere als einfach. Und ob sie das dem jungen Zauberer zumuten konnte, wusste sie nicht. Eden empfand keinen Stolz dabei, aber sie hatte Schlimmeres überstanden. Sie wünschte es wäre nicht so, aber sie wusste nur zu gut, was sie aushalten konnte und wie weit sie gehen durfte. Zachary hingegen, hatte bisher, ein recht behütetes Leben geführt….
Aber sie würde sich diesem Problem stellen, wenn es nötig wurde.
„Wisst Ihr einen Ort, an den wir fürs erste könnten?“, wollte Eden wissen.
„Hier in der Gegend könnt ihr nicht bleiben.“, meinte Markus. „Nicht wenn wirklich nach Euch gesucht wird. Aber es gibt einen Weg Euch schnell weit weg zu bringen.“
„Wie ?“
„Einige Tagesreisen östlich von hier liegt Risara. Ihr könnt die Stadt eigentlich kaum verfehlen. Die Weinberge um den Ort sind berühmt.“
Zabrim wirkte nicht überzeugt.
„Ich bezweifle, dass das weit genug ist.“
„Ist es auch nicht. Aber Ihr werdet auch nicht lange dort bleiben. Wenn Ihr Risara erreicht, begebt Euch zum Hafen. Fragt dort am besten nach einem Mann namens Alvarez. Kapitän Alvarez Cartesius. Ich warne Euch gleich, der Kerl ist ein Arschloch erster Güte, aber er schuldet mir noch was. Sagt ihm einfach, dass Markus Euch schickt und ihm den Kopf abreißt, wenn er irgendetwas Dummes versucht. Er kann Euch dann sicher weiterhelfen. Zumindest kann er Euch übers Meer viel schneller wegbringen, als zu Fuß.“
Eden nickte: „Danke. Noch einmal. Euch allen….“
„Das ist wirklich kein Problem.“, meinte Zabrim, bevor er aufstand. „Und ich denke, ich habe noch etwas für Euch. Markus, kommt mit. Und Zachary am besten auch.“
Eden erhob sich und folgte dem Gejarn rasch zur Straße hinauf und durch die Straßen der Siedlung bis zu dessen Haus.
„Wartet hier einfach einen Moment.“, meinte er, bevor er im Gebäude verschwand. Markus lehnte sich entspannt an die Hauswand und sah über Lore hinweg, während Eden darauf lauschte, was der Mann tat. Sie hörte Stoff rascheln, einige polternde Schläge… für sie klang es so, als würde Zabrim sein Haus abreißen. Als er dann jedoch schließlich wieder im Eingang des Hauses auftauchte, hatte er ein schweres Bündel auf dem Arm und Jiy an einer Hand.
„Das hat etwas gedauert.“, erklärte er entschuldigend, bevor er den Stapel an Markus weiterreichte. „Vorräte für ein paar Tage, nichts Besonderes, aber es wird Euch reichen, dazu ein Zelt und… ein paar Silbermünzen, die ich entbehren kann.“
Eden schüttelte den Kopf.
„Das ist zu viel.“, erwiderte sie. „Das ist viel zu viel. Ich… ich kann das nicht annehmen. Warum solltet ihr das für mich tun?“
„Das macht man so. Ihr braucht Hilfe, also bekommt ihr sie auch. Ich kann auf etwas verzichten, ohne deshalb Hungern zu müssen. Aber ihr Eden, habt gar keine Wahl… wenn Ihr mir jedoch wirklich etwas zurückzahlen wollt, ich leihe Euch das hier nur. Solltet es Euch eines Tages wieder hierhin verschlagen, dürft Ihr mir gerne alles zurückgeben. Oder dafür zahlen. Bis dahin reicht es mir, mir vorzustellen, das Ihr nicht wieder in den Fängen eines Sklaventreibers landet. Sorgt einfach dafür, dass das auch Wirklichkeit wird.“
Statt etwas zu erwidern, nickte Eden nur. Sie hätte auch ihrer Stimme nicht mehr getraut. Die Leute hier waren alles, was sie in ihrem Leben bisher nicht erlebt hatte. Freundlichkeit… und mehr noch Selbstlos…. Wenn Zabrim eine Gegenleistung erwartet hätte und ihr fiel nur eine Möglichkeit ein, die sie auch aufbringen könnte… sie hätte vermutlich nicht gezögert. Mehr noch, sie hätte gar keine Wahl gehabt. Und schon wieder konnte sie nur das Schlechteste vermuten, stellte Eden traurig fest. Aber der Mann war, genau wie sein menschlicher Freund schlicht jemand, der seine Erfüllung daran fand, für andere da zu sein.
„Nun… noch einmal Danke für alles.“, murmelte Eden.
Zabrim lachte, bevor er fortfuhr:
„So, bevor ich hier noch sentimental werde, eine Kleinigkeit noch.“
Ganz oben auf dem Stapel mit Ausrüstung, den er Markus gegeben hatte, lag ein metallener Gegenstand. Der Gejarn griff danach und hielt ihn einen Moment ins Licht. Es war ein Kurzschwert. Rost schimmerte auf der Hülle der Klinge, die wohl einmal mit feinen Einlegearbeiten aus Stahl verziert gewesen war. Jetzt wirkte die Waffe jedoch, als hätte sich seit Jahren keiner mehr darum gekümmert.
„Ihr könnt es haben.“, meinte er. „Ich habe keinerlei Verwendung mehr dafür und es dürfte wohl das letzte Schwert in ganz Lore sein. Anfangs hatten wir mal ein paar Probleme mit Banditen, aber seit die Siedlung gewachsen ist, traut sich keiner mehr uns anzugreifen.“ Er drückte Eden das Schwert in die Hand. „Könnt ihr eigentlich damit umgehen?“
„Nein…“, gestand sie lediglich.
„Und wir haben wohl kaum die Zeit, es Euch beizubringen. Ich schätze aber, die Waffe allein wird dafür sorgen, das sich die meisten zweimal überlegen, ob sie sich mit Euch anlegen.“ Er zwinkerte.
„Wollt ihr noch heute aufbrechen, oder bis morgen warten?“ , fragte Markus.
Eden warf einen Blick Richtung Sonne. Diese stand noch hoch am Himmel und müsste erst noch ihren Zenit erreichen.
„Desto früher ich gehe, desto besser. Ich… bin kein Freund langer Abschiede. Und am Ende bekommt ihr mich so weit, dass ich doch lieber hier bleibe…. versprecht ihr mir nur, dass ihr auf euch aufpasst. Beide. Wenn ich euch alles zurückzahlen kann, möchte ich das persönlich tun.“
Markus grinste.
„Eines Tages wie?“
„Eines Tages. Wenn ich genug Gold besitze, um den de Immersons ihre ganze Stadt abzukaufen und sie auf die Straße zu werfen.“
„Möget ihr dieses Ziel erreichen, wenn die Götter es zulassen.“, erwiderte Zabrim. „Das wäre ein Anblick den ich mir nicht entgehen ließ.“
Eden drehte sich ohne ein weiteres Wort um. Entweder sie ging jetzt oder nie.
„Zachary…“ Der Junge stand bereits neben ihr und schulterte seinen Teil der Vorräte und Ausrüstung. Eden nickte, warf sich ihren zerlumpten Mantel über die Kleidung, die sie aus Lore hatte und zurrte das Schwert an ihrem Gürtel fest. Das Gewicht hatte etwas beruhigendes, beinahe vertrautes. Auch wenn sie noch nie eine Waffe geführt hatte….
Nicht in diesem Leben, meinte eine sarkastische Stimme in ihrem Kopf. Genau, als ob sie an die Ahnenrückkehr der Gejarn glaubte.
Kapitel 11
Reise
Lore verschwand bald hinter ihnen in der Ferne, als sie sich auf dem Weg durch die Felder und Steppen machten. Nur die in der Ferne blau schimmernden Gipfel blieben ihre ständigen Begleiter. Eden wusste nicht, wie weit sich die Berge erstreckten, aber so wie es aussah, könnten sie durchaus bis an die Ostküste heranreichen. Zu dem Ort, an dem ihr Ziel lag. Die Landschaft änderte sich auch während des zweiten Tags ihrer Wanderschaft wenig. Lediglich die zunehmend kahler werdenden Wälder, schufen etwas Abwechslung zu der weiten Graslandschaft. Einzelne Nadelbäume ragten noch als grüne Tupfer aus den Ebenen heraus. Ansonsten war klar, dass der Winter in diesen Teil des Kaiserreiches Einzug halten würde. Nur hoffentlich, dachte Eden, ließ er sich damit noch Zeit, bis sie die Stadt erreichten.
Zachary hüllte sich nach wie vor in Schweigen. Eden wusste nicht, ob sie sich das nur einredete, aber es wirkte nicht mehr ganz so bedrückend, wie noch zuvor. Auch wenn er nichts sagte, der Junge sah sich mit leuchtenden Augen in der Landschaft um. Für Zachary musste das Ganze in erster Linie ein Abenteuer sein. Für sie… nun es wäre vielleicht gar nicht so verkehrt, es als genau das zu sehen. Der Weg der vor ihnen lag, führte für sie beide ins Unbekannte. Aber es konnte nur besser sein, als das, was sie in Silberstedt hinter sich gelassen hatte.
Am dritten Tag schließlich, mussten sie sich vor einem plötzlichen Regenschauer in Sicherheit bringen. Dunkle Wolken bedeckten den Himmel, als sie einen weiteren Wald verließen. Vor ihnen erstreckte sich ein kleines Tal mit abgeernteten Feldern und Scheunen. Und Eden konnte sich nicht sicher sein, aber in der Ferne meinte sie einen Schimmer von blau zu erhaschen. Das Meer….
Als die ersten Regentropfen zu Boden fielen und der Wind sie vor sich hertrieb, suchten die beiden Reisenden schließlich Schutz in einem offen stehenden Schuppen. Das Gebäude stand direkt am Wegrand und war wohl als Zwischenlager für die Ernte benutzt worden. Strohreste bedeckten den Boden und gaben eine gute Sitzgelegenheit ab, während sie darauf warteten, dass der Sturm vorbei ging. Blitze zuckten über den pechschwarzen Himmel und Regenwasser tropfte durch einige Lücken im Dach herein. Eden wusste nicht, ob das Wetter heute noch einmal aufklaren würde.
Sie setzte sich an den Eingang der Scheune und starrte hinaus ins Unwetter. Sie hatte das Schwert, das Zabrim ihr gegeben hatte, vor sich auf den Boden gelegt.
„Hast Du Angst?“, fragte Zachary, der sich geräuschlos neben ihr nieder ließ. Der Junge sah ebenfalls zu den Sturmwolken hinauf. Ohne eine Spur von Angst… Zachary mochte ein Kind sein, aber es brauchte mittlerweile wohl mehr, als ein Unwetter um ihn zu beunruhigen.
„Nicht vor dem Gewitter.“, antwortete sie.
„Ich wünschte, ich könnte heim.“
„Wieso bist Du nicht gegangen?“ , wollte Eden wissen. Ein weiterer Blitz zuckte über den Himmel und tauchte einen Moment alles in gleißendes Licht.
„Weil ich meine Familie kenne. Oder… was davon übrig ist. Das ist einfach so. Walter ist abgehauen… er hat uns im Stich gelassen. Und mein Vater….“
„Andre kenne ich gut genug. Was Walter angeht… ich weiß nicht, ob ich in seiner Lage nicht auch geflohen wäre. Sei nicht zu hart mit ihnen.“
Zachary lachte. Ein bitterer Laut, der gar nicht zu dem Jungen passen wollte.
„Du sagst das… aber Du meinst es nicht. Wenn jemand Grund hat uns zu hassen, dann Du. Und selbst jetzt, wo Du es sein könntest, bist Du nicht frei wegen mir.“
Statt einer Antwort legte sie lediglich einen Arm um Zachary.
„Das stimmt nicht. Und das solltest Du auch niemals denken.“
„Ma, hat Dir einen Schwur abgenommen, das war... falsch.“
Eden lachte.
„Glaubst du, das bedeutet mir irgendetwas? Du bist hier, weil ich niemand bin, der jemanden in einem Schneesturm zurück lassen würde.“, erklärte sie mit fester Stimme. „Dafür braucht es keinen Schwur und keine Worte. Ich habe mich freiwillig dazu entschieden. Und wir schaffen das irgendwie. Wenn wir erst einmal weit genug weg sind… irgendwie geht es immer weiter.“ Irgendwie….
Denn das war genau der Teil, über den sie sich noch unsicher war. Sie würde irgendwo Arbeit finden müssen, eine Unterkunft… ein ganz normales Leben aufbauen eben. Zu den Clans zurück wollte sie nicht. Und ob man sie nach all den Jahren überhaupt willkommen heißen würde, war die andere Frage. Nach dem was sie in Lore gehört hatte, trieb es immer mehr Gejarn weg von den Clans. Leute wie Zabrim, die uralte Traditionen und das Nomadenleben einfach hinter sich lassen wollten.
Es waren schon verrückte Zeiten… Eden spürte ein ungewohntes Gewicht an ihrer Schulter und als sie den Kopf drehte, sah sie das Zachary an ihrem Arm eingeschlafen war. Sie blieb noch eine Weile wach, bis sie sicher war, dass der Sturm nicht so schnell vorbeiziehen würde. Das stetige Tropfen des Wassers hatte etwas Beruhigendes. Schließlich schlief sie selbst ein, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte. Tief und traumlos umfing die Schwärze sie irgendwann….
Der vierte Tag begrüßte sie schließlich mit strahlendem Sonnenschein. Das einzige was von den Stürmen des Vortags geblieben war, waren einige Pfützen auf der Straße und ein Sturzbach, der gestern noch nicht dagewesen war und sich mitten durch die leeren Felder zog. Eden sah nach Zachary, der nach wie vor schlief. Bevor die Gejarn den Zauberer weckte, packte sie ihre Sachen zusammen und überprüfte, was ihnen an Vorräten blieb. Die Ausbeute war ernüchternd, aber wenn alles gut ging, würden sie die Stadt ohnehin bald erreichen. Und sie sollte Recht behalten. Nachdem sie das Tal mit der Scheune hinter sich ließen, stieg der Weg eine Weile steil an. Nicht so extrem wie an den Pässen, nahe Silberstedt, aber sie gerieten rasch außer Atem und mussten mehrmals kleinere Pausen machen. Sie passierten eine Reihe kleinerer Teiche, die auf Terrassen an der Bergflanke angelegt worden waren. Eine Unzahl Fische schwamm darin und für das Mittagessen versuchte Eden sich am fischen. Ohne eine Angel blieb ihr nur, die bloßen Hände zu benutzen, was Zachary mehrmals zum Lachen brachte. In den kleinen Teichen konnten die Fische zwar nirgendwo hin fliehen… aber die Tiere waren so glitschig, das sie ihr praktisch wieder aus den Pranken entkamen.
Bis es ihr schließlich gelang, einen festzuhalten und ans Ufer zu werfen, war sie längst klatschnass.
„Sieh bloß zu, das der nicht wieder ins Wasser hüpft.“, rief sie Zachary zu, der sofort ein Messer packte und den Fisch erlöste. Einen Moment glaubte Eden, er würde zögern, dann jedoch führte er einen einzigen, sauberen Schnitt. Das Tier war sofort tot.
Sie amtete erleichtert auf. Nun also zu Nummer zwei….
„Wenn ich noch meine Krallen hätte…“, murmelte Eden, mehr zu sich selbst. Sie konnte bloß hoffen, dass die irgendwann nachwachsen würden.
Nachdem es ihr schließlich gelungen war, den zweiten Teil ihres Mittagessens zu fangen und die Fische gebraten und verzehrt waren, machten sie sich wieder auf den Weg. Bald schon hatten sie endlich den Gipfel des Berges erreicht. Und im gleichen Moment wusste Eden, das sie es geschafft hatten. Vor ihnen lag, eingebettet zwischen den Bergen und der See, eine Stadt. Das Meer schimmerte blau in der Herbstsonne und sie konnte die Silhouette mehrere Schiffe sehen, die auf die Stadt zuhielten oder sich grade davon entfernten. Rote Ziegeldächer und weiß getünchte Häuser hoben sich gen Himmel. Eine einfache Holzpalisade mit zwei offen stehenden Toren begrenzte die Siedlung. Davor erstreckten sich Felder und einige kleine Schonungen mit Fichten und weiteren Nadelhölzern. Und näher an den Bergen zogen sich Terrassen in die Höhe, die über und über mit Weinreben bestanden waren. Eden pflückte im vorübergehen eine Handvoll. Rote und weiße Trauben, um die sich einige verstreut arbeitende Menschen kümmerten. Ein paar nickten den Reisenden kurz zu, andere waren scheinbar zu sehr in ihre Arbeit vertieft, um auf sie zu achten. Sandwege führten zwischen den Weinbergen hindurch hinab zur Stadt. Das musste wohl einfach Risara sein. Schon während sie sich den Stadttoren näherten, konnte sie die Schreie der Möwen über dem Wasser hören. Die einzelne Wache, die den Strom der Reisenden überblickte, musterte sie nur einen Moment und lies sie dann ungehindert passieren. Vermutlich mutete es seltsam an, eine Gejarn und ein Menschenkind zusammen zu sehen, aber es war auch nichts Besorgniserregendes. Etwas anderes wäre es wohl gewesen, wenn sie in ihrem alten Zustand hier angekommen wäre. Mit zerlumpten Kleidern, blutenden Wunden und blauen Flecken. Es wäre ein Wunder gewesen, wenn man sie dann hätte passieren lassen. Die Wege in Risara waren angenehm leer. Zwar waren Dutzende von Leuten unterwegs, aber die großen Straßen boten mehr als genug Platz für alle. Eden sah sich genau um. Neben der Unzahl an Wohngebäuden, gab es Geschäfte aller Art. Über Schmieden und Schneidereien bis hin zu einer Niederlassung des Sangius-Ordens, vor der mehrere in türkisfarbene Roben gekleidete, Gestalten, Wache hielten. Zauber waren teuer und lohnenswertes Diebesgut. Aber nur ein absoluter Idiot würde jemals versuchen, den Orden zu bestehlen. Seit dem Aufstieg von Simon Belfare zum Kaiser vor fast 300 Jahren, hatte der Orden seine Macht beständig ausgebaut und kontrollierte heute praktisch alleine sämtliche Magie auf dem Kontinent. Und damit oblag es auch dem Orden, Zauber für die Allgemeinheit herzustellen und zu verkaufen. Zu Preisen, die sie alleine bestimmen konnten. Damit war Tyrus Lightsson, der momentane oberste Zauberer, ein Mann, dessen Macht nur hinter der des Kaisers selbst und vielleicht noch dessen Hochgeneral zurückstand.
Zwar gab es noch einige wenige freie Zauberer, aber durch die Gesetze waren diese gezwungen, in den Schatten zu arbeiten und dort ihre Dienste anzubieten. Illegale Zauberei, ohne kaiserliche Prüfung. Die Magie war instabil, von schlechter Qualität und teilweise sogar lebensgefährlich zu benutzen. Vor allen weil den Zauberern im Untergrund Materialien fehlten. Trotzdem gab es genug Leute, die ihre Arbeit in Anspruch nahmen. Entweder aus Sparsamkeit oder weil sie nicht wollten, das das Kaiserreich von ihren… Einkäufen erfuhr.
Eden lenkte ihre Schritte an der Ordensniederlassung vorbei in Richtung Hafen. Man konnte dem Gebäude schon von außen ansehen, welche Stellung dem Orden zukam. Banner mit dem Blutwappen wehten von den oberen Stockwerken herab.
Sie beeilten sich, den Ort hinter sich zu lassen. Eden wusste nicht, ob einer der Magier Zachary aufspüren könnte oder nicht, aber es war wohl besser, kein Risiko einzugehen.
Der Hafen schließlich, war ein einziges geschäftiges Durcheinander. Ein Dutzend oder mehr Schiffe und eine unübersichtliche Zahl kleinerer Boote, lagen an den Kaimauern vor Anker und ein Strom Arbeiter war damit beschäftigt, Ladung zu löschen, neue Vorräte an Bord zu bringen oder in einer der zahlreichen Kneipen, die die Hafenmeile säumten, neue Crewmitglieder anzuwerben.
Und mehr als einmal sah Eden, wie ein Sarg von einem der Schiffe geschleppt wurde. Es gab Verluste dort draußen, dachte sie. Eine kleine Patrouille kaiserlicher Gardisten in rostroten Uniformen überwachte das Gebiet. Oder sie versuchten es offenbar, denn hier die Übersicht behalten zu wollen, war wohl reichlich aussichtslos, dachte Eden. Und trotzdem musste sich hier irgendwo der Mann aufhalten, den sie nach Markus Anweisungen finden mussten. Kapitän Alvarez Cartesius.
Es würde schon Glück brauchen, hier eine einzelne Person zu finden. Aber vielleicht wusste ja jemand, wo er sich aufhalten konnte. Einfach jemanden auf der Straße zu fragen war unmöglich. Die meisten Hafenarbeiter waren mit ihren eigenen Problemen beschäftigt und sie wollte auch keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich oder Zachary lenken.
Vielleicht in einer der zahlreichen Taverne, überlegte die Gejarn. Es wäre wohl weniger Auffällig, dort nachzufragen, ob jemand den Kapitän kannte. Und selbst wenn nicht… sie würden sowieso ein Zimmer brauchen, wenn sie länger hier bleiben mussten.
Eden achtete darauf, das Zachary sich in dem Durcheinander nicht zu weit von ihr entfernte, dann lenkte sie ihre Schritte auf eine der Gaststätten zu. Rasch kramte sie in ihrer Tasche nach der Handvoll Silbermünzen, die Zabrim ihr gegeben hatte. Sie wusste nicht, wie viel es war, aber die Münzen wirkten massiv und lagen schwer in der Hand. Ein kleines Vermögen war es schon, wenn sie sparsam damit umging. Woher der Gejarn die wohl hatte….
Kapitel 12
Vertrag
Die Taverne war gut besucht, als Eden, gefolgt von Zachary, durch die Türen trat. Offenbar liefen die Geschäfte gut, denn alle Tische schienen besetzt. Ein Dutzend Schankdamen liefen umher und verteilten Krüge oder Mahlzeiten. Das Gemurmel von einer Vielzahl von Stimmen lag in der Luft. Gesprächsfetzen über Wetter, Meer und Politik erreichten Edens Ohren, als sie sich einen Weg zum Tresen bahnte. Offenbar war die Nachricht, über den Überfall in den Bergen auch schon hier angekommen, aber die wenigsten schienen sich großartig darum zu kümmern. Die größte Sorge, die die Leute hier anscheinend hatten war, was das für den Handel über die Pässe bedeuten würde. Eden atmete erleichtert auf. Das war gut. Es war zwar unwahrscheinlich, das irgendwann die weiße Gejarn und den kleinen Jungen, mit den Geschehnissen in Verbindung brachte, aber sicher war sicher.
Sie wartete am Tresen und sah sich derweil um. Der Schankraum war groß genug, dass trotz der Anzahl an Besuchern genug Platz blieb um überall durchzukommen. Die Tische bestanden entweder aus grob behauenen Holzstücken, oder teilweise auch aus umfunktionierten Fässern. Einige Treppen führten ganz am anderen Ende des Hauses hinauf in ein zweites Stockwerk.
„Ja?“, wollte eine müde Stimme wissen. Der Wirt, der schließlich auftauchte, kam vom Aussehen wohl einem Zwerg am nächsten. Auch wenn diese, sich schon vor Ewigkeiten aus Canton zurückgezogen hatten um irgendwo auf der anderen Seite der Welt ein neues Reich zu errichten. Oder zumindest lauteten so die Gerüchte, denn ob ihnen das gelungen war, wusste niemand. Seit über einem Jahrtausend gab es keinen Kontakt mehr zu ihnen.
Eden musterte den Mann einen Moment. Er war stämmig und vielleicht grade einmal einen Kopf größer als Zachary. Ein langer brauner Bart bedeckte ein mürrisches Gesicht und die Haare hatte er sich mit einem Tuch zurück gebunden.
Sie entschied, dass es wohl taktvoller wäre, nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen.
„Für mich… Met wenn Ihr welchen habt und für den Jungen… Wein, aber mit einem großzügigen Schluck Wasser, ja?“
Der Mann zuckte mit den Schultern, so als wolle er sagen, dass ihm das doch egal sein konnte und verschwand einen Moment. Eden nutzte die Gelegenheit sich weiter umzuschauen. Die meisten Leute hier gehörten wohl zur Besatzung der Schiffe draußen im Hafen. Manche spielten Karten, andere rauchten Tabak oder würfelten. Einige unterhielten sich nur und einige wenige schien es zum Opium zu ziehen, das von den Mohnfeldern des Südens stammte. Das Kaiserreich hieß das zwar nicht gut, aber tat auch wenig um den Handel damit direkt zu unterbinden. Stattdessen stand fast der gesamte Anbau unter imperialer Kontrolle und somit verdiente der Kaiser direkt am Verkauf und konnte Preise fast frei bestimmen. Wie mit Magie war es ein Monopolgeschäft. Ein wirksameres Mittel als die Geldbörsen der Leute gab es wohl nicht zur Kontrolle, dachte Eden.
Als der Wirt schließlich mit ihren Getränken kam, hielt sie ihn noch einen Moment an.
„Verzeiht, ich weiß nicht ob Ihr mir helfen könnt, aber ich suche nach jemand.“
„Das tun viele.“, seufzte er. „Wen denn?“
„Einen Kapitän Alvarez Cartesius.“
Bevor Eden ihn aufhalten konnte, hatte der Mann auch schon einen Trichter mit den Händen geformt und rief:
„Kennt hier jemand einen Alvarez? Alvarez Cartesius?“
Die Gejarn fluchte leise. Das war genau die Art Aufmerksamkeit, die sie eigentlich vermeiden wollte. Da hätte sie auch gleich draußen im Hafen nach dem Mann fragen können.
„Und ob ich den kenne.“, meinte eine Stimme und der dazugehörige Mann trat zu ihnen an den Tresen. „Habe ihm vor ‘ner Stunde gesagt, dass er meinen restlichen Lohn behalten kann. Mit dem fahr ich nicht nochmal raus.“
Er musterte Eden einen Moment.
„Und wenn Ihr klug seid macht ihr das auch nicht.“
„Ich müsste fürs erste nur einmal mit ihm reden.“, erklärte sie.
„Der ist bestimmt noch ‘ne Weile damit beschäftigt, seine Leute hin und her zu scheuchen. Mindestens bis heute Abend. Und dann versäuft er ganz sicher den Lohn, den er ohnehin nicht zahlen würde.“, erklärte ihr gegenüber. „Aber ich kann ihn sicher herschicken. Wenn ich‘s mir recht überlege, hätte ich meine Heuer doch ganz gerne und wenn ich ihn dafür ein bisschen schütteln muss….“
„Er bezahlt seine Crew also nicht?“
„Sporadisch.“, antwortete der Mann grinsend. „Tut Euch selbst einen gefallen und nehmt einen anderen Käpt’n, wenn Ihr Arbeit sucht.“
„Er soll mich lediglich von hier wegbringen.“, erwiderte Eden,
„Ist ja nur Eure Beerdigung. Wie gesagt, vor morgen früh ist der sicher nicht mehr ansprechbar. Aber ich werde ihm… hmm... freundlich mitteilen, dass er sich mal hier blicken lassen und nach einem weißen Luchs suchen soll.“
Eden seufzte. Großartig. Sie hatte jetzt schon keine Lust, diesen Kerl kennen zu lernen. Aber… er war ihre einzige Chance. Auf einem anderen Schiff eine Überfahrt zu suchen, würde teuer. Und sie konnte sicher jede Münze gebrauchen.
„In diesem Fall, habt Ihr noch Zimmer frei?“ , fragte sie an den Wirt gerichtet.
Wie sich herausstellte, gab es noch Zimmer. Als die Sonne langsam über Risara versank, betrat Eden einen der Räume im oberen Stockwerk des Gasthauses. Durch ein kleines Fenster konnte sie den Hafen überblicken, dessen Geschäftigkeit auch in der Abenddämmerung kaum abnahm. Einige der Schiffe waren während der letzten Stunden verschwunden, andere hatten ihren Platz eingenommen, aber ansonsten veränderte sich nichts. Das Zimmer war schlicht, würde aber reichen. Es gab zwei Betten, eine leere Kommode und einen Tisch, auf dem sich Papier, Federn und Siegelwachs fanden. Eden kam eine Idee, als sie die Schreibutensilien sah. Wenn dieser Alvarez wirklich ein derart unangenehmer Zeitgenosse war, würde sie sich ihre Überfahrt, am besten schriftlich geben lassen….
Da gab es nur ein Problem.
„Zachary…“ Eden zögerte zu fragen. „Kannst Du schreiben?“
Der junge Zauberer nickte, bevor er hinzufügte.
„Du nicht?“
„Ein wenig. Aber… ich hatte wirklich nie die Gelegenheit es richtig zu lernen, wenn Du verstehst…“ Schreiben war nicht wirklich etwas, das man von einem Sklaven erwartete. Was das Lesen anging, war sie zwar mit den menschlichen Runen vertraut, aber die Muster auch lesbar zu Papier zu bringen, war etwas ganz anderes.
„Ich will, dass es uns dieser Kapitän Alvarez schriftlich gibt, wenn er zustimmt, uns von hier wegzubringen.“, erklärte sie, bevor sie sich in die Kissen fallen ließ. „Nach Westen, wenn möglich in die westlichste Stadt, die er auf seiner Route ansteuert.“
Zachary setzte sich an den Schreibtisch und zog einen Bogen Pergament zu sich heran.
„Ich hab so viele Dokumente in Silberstedt gesehen… ich glaub ich weiß, wie ich das schreiben muss.“
Eden lachte.
„Nur verzichte auf sämtliche Titel, ja? Ich glaube nicht, dass dieser Kerl wissen sollte, dass er einen entlaufenen Zauberer und eine entlaufene Sklavin übers Meer bringt.“
Der Junge nickte lediglich, bevor er sich an die Arbeit machte. Nach weniger als einer halben Stunde legte er schließlich die Feder beiseite und reichte das Schriftstück an Eden weiter. Diese überflog die Worte nur. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie sagen, sie hätte ein Dokument von einem offiziellen Schreiber vor sich. Saubere Handschrift und Wortwahl. Sie sah wieder zu Zachary.
„Das ist gut…“, meinte Eden nur. „Wirklich gut.“
„Ich hab auch in Silberstedt nicht nur gespielt.“, erklärte er mit einem Anflug von Stolz und Ernst.
Sie nickte. Zachary war in den letzten Wochen auf eine Art… erwachsener geworden. Erneut fürchtete sie, dass ihn die Ereignisse im Gebirge noch mehr verändert hatten, als sie jetzt schon ahnen konnte. Oder war ihr das alles bloß zuvor nicht aufgefallen? Armer Junge. So oder so. Seine Kindheit war abrupt beendet worden. Draußen ging die Sonne nun endgültig unter und tauchte den Hafen ein letztes Mal in rot glühendes Licht.
Eden gähnte unwillkürlich.
„Komm, wir sollten wirklich etwas schlafen.“
Zachary nickte, bevor er mit einem Grinsen auf den Stuhl am Tisch kletterte…. und einen Satz auf das freie Bett machte. Eden lachte leise. Vielleicht irrte sie sich ja auch, was den Jungen anging. Sie hoffte zumindest, dass es so wäre.
„Das ist zumindest bequemer als der Waldboden.“, meinte Zachary, als Eden die Lampen im Raum löschte.
„Es gibt durchaus unbequemeres als Laub.“, antwortete die Gejarn in der Dunkelheit.
„Wirklich ?“
„Glaub mir.“ Eden lachte schwach. „Ich habe schnell gelernt, dass man so ziemlich überall schlafen kann.“
„Und wie ?“
„Man muss nur müde genug sein.“ Dann konnte man sogar mit einer Handfläche schlafen, durch die jemand einen Nagel getrieben hatte….
Als Eden am nächsten Morgen die Treppe in den Schankraum hinunterstieg, war dieser weitestgehend verlassen. Nur einige andere Gäste saßen bereits mit ihrem Frühstück vor sich an den Tischen. Die Gejarn suchte sich einen freien Platz an der Rückwand der Taverne. Zachary setzte sich ihr gegenüber, sie aber behielt die Tür im Auge. Hoffentlich tauchte Alvarez auch wirklich auf. Sie hatte keine Lust, dem Mann hinterherzujagen. Zumindest der Wirt tauchte bald auf und servierte den beiden eine einfache Mahlzeit. Brot, Käse, Wurst und eine Karaffe mit Wasser. Eden hielt sich beim Essen zurück und musterte lieber die anderen Gäste. Nicht dass irgendjemand davon sich für sie interessierte. Das wäre paranoid.
Und du wirst wirklich paranoid, sagte ihr eine leise Stimme in ihrem Kopf. Trau den Leuten endlich einmal so weit, dass dir nicht jeder ansieht was du einmal warst. Und selbst wenn, wie viele würde es wirklich interessieren? Du trägst keine Ketten mehr, Eden. Du bist nur noch dir selbst verantwortlich.
Für immer. Wenn alles gut ging. Nein… nicht nur wenn alles gut ging. Sie würde sich eher töten lassen, bevor sie noch einmal in irgendjemandes Gefangenschaft geriet. Und noch weniger Besitz….
Als die Türen zur Taverne das nächste Mal aufschwangen, sah Eden wieder auf. Der Mann der eintrat, wirkte als hätte er die ganze Nacht durchgezecht und dabei eine ordentliche Tracht Prügel kassiert. Er trug einen schwarzen Gehrock, dessen Rockschöße teilweise zerrissen waren. Ein Hut mit abgeknickter Feder hing ihm schief auf dem Kopf und er hatte ein deutlich erkennbares blaues Auge.
Lass das nicht Alvarez sein, dachte Eden sofort. Offenbar hatte der Mann von gestern seine Drohung wahr gemacht, sich seine ausstehende Heuer zu holen.
Eden reichte dem Wirt grade ein paar Silbermünzen für das Essen, als der Mann auf ihren Tisch zutrat. Also doch….
„Alvarez Cartesius, nehme ich an?“
„Richtig.“ Er ließ sich unaufgefordert in einen Stuhl am Tisch fallen. „Und Ihr seid?“ Ihr gefiel der Blick mit dem der Mann sie musterte schon gar nicht. Seine Augen verharrten viel zu lange, wo sie gar nichts zu suchen hatten. Und er saß viel zu nah neben ihr.
„Eden.“ Ihre Hand wanderte instinktiv zum Schwertgriff. Ruhig bleiben, Nicht in Panik ausbrechen, sagte sie sich selbst. Es änderte aber nichts daran, dass sie dem Kerl jetzt schon nicht mochte. Aber da musste sie wohl durch. „Und mich interessiert nur eines, dann könnt Ihr auch gleich wieder abhauen.“ Und hoffentlich schnell. „Ich brauche eine Überfahrt in den Westen. So weit wie möglich. Könnt Ihr das arrangieren oder weicht das zu weit von Euren eigenen Plänen ab?“
Alvarez kratzte sich einen Moment am Kopf. Eden konnte bis hierhin riechen, dass er vermutlich noch immer halb betrunken war. Selbst wenn sie ignorierte, was sie gestern gehört hatte, der Mann konnte unmöglich ein vernünftiger Schiffskapitän sein. Aber das musste er auch nicht, wenn es nach Eden ging. Er musste nur eine einzige Fahrt machen und danach sehen, wo er blieb.
Zum ersten Mal lächelte Alvarez.
„Sicher. Das dürfte kein Problem sein. Ich segle mehrere Städte an der Westküste an. Es wird allerdings eine lange Reise, da muss ich euch gleich warnen. Der Krieg hat ein paar der üblichen Routen über die Landbrücke zwischen Ost- und Westsee blockiert und wir müssen sehen, dass wir eine passierbare Wasserstraße finden.“ Er klang freundlich, beinahe zu nett, aber vielleicht hatte sie sich ja nur von seinem Äußeren beeinflussen lassen. Die Aussicht auf Kunden jedenfalls schien seine Laune zu bessern. Und seine Manieren. „Aber vielleicht besprechen wir die Details später? Heute Abend sollte ich Zeit finden, aber bis dahin muss ich sehen, das ich neue Crew auftreibe….“
Das wiederum konnte Eden nur zu gut verstehen…. Der Mann würde vermutlich Glück brauchen, wenn in diesem Hafen noch jemand bei ihm anheuern wollte.
Kapitel 13
Diebstahl
Eden wollte den Rest des Tages nutzen, sich noch etwas in der Stadt umzusehen. Risara war nicht besonders groß, wenn sie es mit Silberstedt verglich, trotzdem lebte eine Unzahl Menschen hier. Die Weinberge, die den gesamten Ort einrahmten, schimmerten im Licht der aufgehenden Sonne. Jetzt wo die letzten Tage des Herbstes näher rückten, waren die Winzer alle darauf aus, die letzten Trauben einzubringen. Auch wenn hier an der Küste selten Schnee fiel, mittlerweile bildete sich schon erster Frost auf den Feldern. Wie Eden erfuhr, wurden manche der Trauben noch gefroren geerntet, um einige Spezialitäten daraus herzustellen. Extrem süße Weine, für die Risara berühmt war. Doch nun waren auch diese eingebracht und es blieb nur noch, die Gärten Winterfest zu machen. Im Hafen jedoch änderte die Jahreszeit wohl nur wenig. Der Strom der Händler, Reisenden, Abenteurer und Zwielichtigen Gestalten riss höchstens bei Sturm einmal ab. Und auch der Orden war präsent. Mehrere der Schiffe im Hafen trugen Flaggen, die nicht nur das Doppelbanner von Löwe und Adler trugen, sondern zusätzlich noch das Goldene Wappen der Zauberer. Offenbar unterhielten die hier ihre eigene kleine Flotte. Und warum auch nicht. Über den Seeweg konnten so, schnell Magier tief nach Süden gebracht werden, wo die Kämpfe in den Wüsten und Steppen, nach wie vor nicht abflauten. Im Gegenteil. Wie sie erfuhr, schien das Kriegsglück sich jetzt sogar zu wenden. Auf den öffentlichen Plätzen wurden immer wieder offizielle Nachrichten verlesen und Eden blieb eine Weile stehen und lauschte den Berichten. Natürlich beherrschten die Eroberungen im Süden nach wie vor alles. Anfangs hatte Laos dem Kaiserreich nichts entgegenzusetzen gehabt. Vor allem, da ihre Krieger die Verwendung von Feuerwaffen ablehnten, war es bis vor kurzem ein sehr einseitiger Kampf gewesen. Doch nun wurden die Berichte, die aus dem Süden kamen, zunehmend beunruhigender. Offenbar versagten die bewährten Gewehre nun bei den Panzerungen der Krieger aus dem Süden. Nur noch die schweren Schiffsgeschütze konnten angeblich noch etwas gegen den einzigartigen Stahl ausrichten, über den die Kultisten verfügten. So waren die kaiserlichen Truppen zunehmend gezwungen, sich Richtung Küste zurückzuziehen und nun selber eine Verteidigung aufzubauen.
Die Schwertmeister von Helike, dem Herrschersitz des Laos-Kults, waren selbst für die Elitegarde des Kaisers würdige Gegner. Wirklich bedrohlich war das jedoch nicht. Nach wie vor verfügte das Imperium der Belfare-Kaiser über eine nahezu endlose Militärische Schlagkraft. Neben Magie und Handel die vielleicht wichtigste Stütze des Herrscherhauses.
Eden ging bald weiter. Der Krieg konnte ihr egal sein und die Fronten lagen derart weit weg, dass man zu Fuß, Monate bräuchte um sie zu erreichen. Sie wollte nur selber überleben.
Sie lenkten ihre Schritte weg von den Erzählern und auf einen der Märkte. Es war nun schon später Nachmittag und die Gejarn wollte die Gelegenheit nutzen, für sich und Zachary etwas Essbares zu besorgen. Als sie einen Stand fand, der frisch gebackenes Brot verkaufte, tastete sie nach ihrer Geldbörse… und erstarrte. Vielleicht hatte sie den Beutel mit dem Silber einfach nur verschoben ohne es zu bemerken. Sie tastete ihre Hüfte ab. Nichts. Das Geld war weg. Eden wirbelte sofort herum und sah sich in der Menge um. Wenn sie jemand bestohlen hatte, würde derjenige sicher zusehen, dass er hier wegkam…. Aber wohin sie auch schaute, die Leute wirkten alle träge, langsam… nicht so, als hätten sie grade eine größere Menge massiver Silbermünzen gestohlen.
Eden ließ einen Moment Ohren und Schweif hängen. Verflucht… sie hätte das Geld wirklich gebrauchen können. Geister, zum Glück hatte sie zumindest das Zimmer in der Taverne eine Woche im Voraus bezahlt. Offenbar sah der Wirt den Rest als Kaution an. Zwar gab es nur abends für sie eine inbegriffene Mahlzeit, aber das würden sie schon überstehen, bis Alvarez endlich ablegen konnte.
„Zachary… ich fürchte, wir werden uns mit dem Essen doch noch ein wenig Gedulden.“, gestand Eden, als sie ihre Schritte schließlich vom Marktplatz lenkte.
„Was ist passiert?“ Der junge Zauberer merkte sofort, dass irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
„Ich glaube, irgendein Bastard hat mich bestohlen. Wir… wir haben keine einzige Münze mehr. Vielleicht kann ich die Miete für unser Zimmer teilweise zurück verlangen. Wir werden wohl keine Woche mehr bleiben, aber… das ist weniger als ein Bruchteil von dem, was wir hatten.“
„Wir schaffen es, oder?“
„Ich hoffe es. Aber Du kannst kein Gold erschaffen, oder?“
Zachary zögerte.
„Nein. Oder besser, ich… weiß es gar nicht. Illusionen sind… ziemlich unzuverlässig, glaube ich. Und bei so etwas wie einer Münze das die Leute anfassen und herumreichen… das ist sehr schwer aufrecht zu erhalten.“
Eden zuckte mit den Schultern.
„Es war nur eine Idee. Nun irgendwie geht es weiter.“ Es gab immer einen Weg. Nur von jetzt an, dachte Eden, würde sie verflucht gut aufpassen, dass sich das nicht wiederholte. Und dabei hatte sie sich fest vorgenommen, nicht mehr ganz so misstrauisch zu sein. Das hatte sich jetzt erledigt. Und wenn sie den Dieb doch noch fand, konnte derjenige zu all seinen Göttern um Vergebung beten….
Die Sonne machte sich bereits auf ihrem Weg Richtung Horizont, als sie schließlich wieder im Hafen ankamen. Eden suchte sich einen Weg zwischen den Hafenarbeitern hindurch und zurück zur Gaststätte. Erstaunlicherweise war trotz der bereits späten Stunde weniger los, als noch gestern Abend. Hoffentlich tauchte Alvarez bald wieder auf, damit sie erfuhr, wie bald sie hier verschwinden konnten. Risara war eine schöne Stadt, aber nun arbeitete die Zeit plötzlich gegen sie. Wenn der Kapitän länger als eine Woche zum Aufbruch bräuchte, hätten sie ein Problem. Ob sie so schnell Arbeit fand, wäre fragwürdig.
Das Abendessen lies nicht mehr zu lange auf sich warten. Eintopf, der wohl aus allem zusammengemischt wurde, was in der Küche des Hauses über die Woche anfiel. Doch Eden hatte definitiv schon schlechter gegessen. Sehr viel schlechter. Es war einfaches Essen, aber es machte satt. Sobald sie wusste, ob und wie viel Miete sie von dem Wirt zurück verlangen könnte, könnte sie auch wieder darüber nachdenken, ihren Speiseplan zu erweitern. Wobei es wohl besser wäre, einen Teil des Geldes zurück zu behalten. Das waren alles Dinge, um die sie sich nie hatte Gedanken machen müssen… aber auf eine Art war es eine Herausforderung, die Spaß machte. Wie sie schon gesagt hatte, sie würden es irgendwie schaffen, egal ob das einfach würde oder nicht. Und wer weiß, vielleicht ging am Ende alles besser aus als gedacht. Eden lächelte. Ihre gute Laune sollte jedoch nicht lange halten.
Es war keine ganze Stunde vergangen, nachdem ihre Teller abgeräumt waren, als Alvarez endlich zurückkam. Der Kapitän wirkte zumindest weniger mitgenommen, als noch heute Morgen. Das blaue Auge stach nicht mehr zu sehr hervor und er hatte offenbar den Hut ausgewechselt.
Allerdings schien sich wirklich nur sein Äußeres verändert zu haben. Erneut ließ er sich ohne Vorstellung oder Nachfrage auf einen Stuhl an ihrem Platz fallen. Offenbar war er auch nicht völlig nüchtern, denn er riss beinahe seinen Sitzplatz um. Er rettete sich nur, indem er sich an Zacharys Stuhllehne festhielt und den Jungen, mitsamt Sitzplatz, dabei zu Boden riss.
„Na pass doch halt auf.“, brummte er, als ob es die Schuld des kleinen Zauberers gewesen wäre.
Eden ballte unbemerkt die Fäuste, sagte aber nichts.
„Also, ich habe soweit alles beisammen was ich brauche, und es kann morgen losgehen. Nur wie wollt Ihr eure Überfahrt eigentlich finanzieren?“
„Gar nicht.“ , erwiderte Eden.
„Ich schätze Ihr kennt jemanden namens Markus. Er sagte….“
„Ja, ich kenne so jemanden. Aber Markus ist nicht hier.“
Sie war kurz davor, einfach aufzuspringen und dem Mann eine Ohrfeige zu verpassen. Die Gejarn musste sich zwingen ruhig zu bleiben. Wenn sie es sich mit diesem Kerl verscherzte, hätte sie noch größere Probleme, als ohnehin schon. Das brachte nichts. Oh doch, meinte eine zweite Stimme in ihrem Kopf. Es würde dafür sorgen, dass sie sich besser fühlte.
Sie biss die Zähne zusammen.
„Ich besitze keine Münze, also was wollt Ihr?“ Eden musste nur kurz aufsehen um die Antwort zu kennen. Eine ihrer Hände wanderte zum Schwertgriff, ohne dass sie sich dessen überhaupt bewusst gewesen wäre. Es wäre die paar Jahre Gefängnis wert, diesen Kerl mit einer Klinge im Herz zu sehen, meinte wieder diese allzu vertraute Stimme in ihrem Kopf. Aber der rationale Teil von ihr kannte die kalte Wahrheit, die verhinderte, dass sie sich auch nur bewegte.
Dass sie keine Wahl hatte. Sie wusste, was Alvarez wollte. Allein die Idee, sich von diesem Kerl berühren zu lassen… Eden schloss einen Moment die Augen.
„Verflucht….“
Der Kapitän schien auf eine Entscheidung zu warten. Eden stand langsam von ihrem Platz auf.
„Zachary… warte hier, ja? Ich muss nur mit Alvarez… reden.“ Es war ein Wunder, dass sie es schaffte, ihre Stimme ruhig zu halten.
„Was…“, setzte der Zauberer an.
„Warte einfach hier.“ Sie beeilte sich, die Treppe hinaufzugelangen und achtete nicht einmal darauf, ob der Kapitän ihr folgte. Die Schritte, hinter ihr auf den Stufen waren schon genug. Trotzdem sah sie schließlich zurück. Wie gerne hätte sie Alvarez einfach das Lächeln aus dem Gesicht gewischt. Jeder einzelne Schritt brachte sie nur dazu, diesen Kerl noch mehr zu verabscheuen. Nicht nur, dass er sie hierzu zwang, nein er musste auch noch dämlich dabei grinsen.
Bevor sie die obere Stufe erreichte, zog sie etwas am Schweif und sie wirbelte erneut herum.
In ihr kochte Wut, aber… die brachte jetzt nichts, sagte sie sich wieder. Das änderte jedoch wenig daran, dass ihre Hände zitterten. Eden stieß die Zimmertür auf und verriegelte sie auch im gleichen Moment wieder, in dem Alvarez eintrat. Sie zögerte, sich auch nur zu dem Mann umzudrehen. Stattdessen begann sie einfach ihre Jacke aufzuknöpfen. Bring es einfach hinter dich, sagte sie sich. Du hast durchaus Schlimmeres durchgemacht. Eden legt die Weste beiseite, das Hemd folgte… sie hielt inne, bevor sie sich Alvarez zuwandte.
„Ihr seid ein Bastard und wenn Ihr auch nur darüber nachdenkt, euren Teil nicht einzuhalten, werde ich…“ Eden versagte die Stimme. Alvarez hatte einen Fehler gemacht, wie ihr plötzlich klar wurde. Und zwar einen, der so dämlich war, das… das er perfekt zu diesem Kerl passte, vollendete die vertraute zweite Stimme in ihren Kopf den Satz. Der Kapitän hatte seinen Gehrock über die Stuhllehne gehängt und band grade einen Stiefel auf. Was aber Edens Blick auf sich zog, war ein kleiner Beutel an seinem Gürtel. Vorher war er wohl durch Alvarez Mantel verdeckt gewesen, doch jetzt….
Das war nicht einfach irgendeine Geldbörse, wie ihr klar wurde. Sie erkannte den Stoff wieder. Einige Überreste ihres Winterumhangs, die sie während der Reise hierher zurechtgeschnitten hatte….
Und mit Entsetzen wurde ihr klar, dass der Mann nicht nur ein bloßes Arschloch war, wie Markus sie gewarnt hatte. Er war durch und durch intrigant. Geister, er musste das praktisch alles geplant haben. Alvarez musste gesehen haben, wie sie am Morgen das Essen bezahlt hatte und hatte sich was… spontan entschlossen, ihr Geld zu stehlen, nur um später auch noch Sex für die Überfahrt von ihr zu erpressen…. Deshalb war er ihr derart nah gekommen, er hatte natürlich an die Geldbörse gewollt.
Für wie dämlich hielt sie dieser Mann, dass ihr das nicht irgendwann auffallen würde?
Alvarez schien noch nichts bemerkt zu haben, aber in dem Moment, als er zu ihr aufsah, dämmerte ihm wohl, dass etwas nicht stimmte.
„Das ist mein Silber das Ihr da mit euch herumschleppt, Ihr Mistkerl.“
Der Kapitän wurde von jetzt auf gleich Kreideweiß.
„Von wegen….“
„Glaubt Ihr ernsthaft, ich erkenne nicht die Geldbörse wieder, die ich selber hergestellt habe?“, schrie Eden ihn an und der Mann wich etwas Richtung Fenster zurück. „Ich habe ja sogar noch den restlichen Stoff bei mir, mit dem ich es beweisen kann.“
„Ach was, Ihr… Ihr habt das doch sowieso irgendwo gestohlen….“
Das reichte. Das war der eine Tropfen, der das Fass für Eden zum überlaufen brachte. Irgendetwas in ihrem Inneren kippte endgültig. Wie ein Gewicht, das eine Waage nicht nur verschob, sondern direkt umwarf und aus dem Gleichgewicht brachte.
Sie schlug zu. Kein simpler Faustschlag, keine Ohrfeige sondern mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte. Und nach einem Monat Ruhe war sie erstaunlich kräftig geworden. Ihre Faust traf den verdutzten Mann direkt ins Gesicht und sie spürte und hörte gleichermaßen, wie seine Nase brach.
Alvarez schrie auf und stolperte gegen das Fenster. Das Glas splitterte und bohrte sich noch zusätzlich in seine Haut. Eden gab ihm nicht einmal die Gelegenheit, sich wieder zu sammeln, sondern setzte sofort nach.
Der nächste Hieb traf ihn in die Magengrube… und der danach, schleuderte ihn endgültig durch den Fensterrahmen, der unter dem Gewicht des Kapitäns nachgab. Er fuchtelte noch einen Moment mit den Armen, als könnte er so das Gleichgewicht halten… oder als versuche er zu fliegen, wie Eden amüsiert dachte. Sie konnte die nackte Angst in seinen Augen sehen. Alles was es brauchte, war ein kleiner Schubs. Eden schlug noch einmal zu, hörte wie Alvarez nun in Todesangst aufschrie… und haltlos in die Tiefe stürzte.
Zu seinem Glück jedoch, war sein Sturz nicht tief genug, um Alvarez zu töten. Der Kapitän fiel ein paar Fuß tief und schlug dann auf dem Vordach der Gaststätte auf. Unkontrollierte rollte er die Schräge hinab, riss Schieferplatten und Holzstücke mit sich… und landete dann unsanft auf dem harten Steinpflaster der Hafenmole, wo er benommen liegen blieb.
Doch so einfach kam ihr der Bastard jetzt nicht mehr davon, dachte Eden. Sie wolle nach wie vor ihr Geld wieder… und möglicherwiese noch etwas auf ihn eindreschen, wenn sie niemand aufhielt.
Rasch warf sie sich wieder ihre Weste über, stürmte aus dem Zimmer und die Treppe in den Schankraum hinab.
„Was ist denn da oben…“, setzte der Wirt an, der wohl spätestens mitbekommen hatte, wie Alvarez grade aus dem zweiten Stock geflogen war. Bevor er den Satz allerdings beenden konnte, war Eden schon an ihm vorbei und auf der Straße. Ein paar Köpfe sahen der halbnackten Gejarn noch nach, bevor sie aus der Schankstube verschwand.
Alvarez versuchte grade erst wieder, sich aufzurichten. Die Gestalt des Kapitäns machte bestenfalls einen lächerlichen Eindruck, ohne Jacke und mit einem fehlenden Stiefel.
Eden zog das Kurzschwert und setzte es dem Mann ohne ein Wort an die Kehle. Ihre Hand zitterte. Eine Stimme in ihren Kopf schrie danach, diesen Kerl zu töten. Die andere, viel, viel leisere, versuchte sie davon zu überzeugen, dass sie ihn schlicht brauchte.
Alvarez war für einen Moment zu allem geworden, was sie hasste. Mehr als die de Immersons. Die hatten sie töten wollen, ja. Aber wenigstens hatten sie daraus nie einen Hehl gemacht. Sie hatten nie derart schäbige Tricks und….
„Bitte… Ich hatte nie vor….“
„Was hattet Ihr nie vor?!“ Ihre Stimme donnerte über das ganze Hafenbecken. Mittlerweile kamen bereits Schaulustige angelaufen, die sehen wollten, was los war. „Ihr hatte nie vor mich zu bestehlen, Ihr hattet nie vor mich zu benutzen, Ihr hattet nie vor mich zu betrügen, was, Herr Cartesius? Denn das wären alles Lügen! Ihr seid ein Lügner und ein Dieb und vermutlich Schlimmeres. Aber zu meinem Unglück… und eurem Glück… brauche ich euch.“
Sie zog das Schwert zurück, dachte aber keine Sekunde darüber nach, es beiseite zu legen. Stattdessen fischte sie ein Stück Papier aus ihrer Tasche. Das Dokument, das Zachary angefertigt hatte.
„Unterschreiben, wenn Ihr nicht erfahren wollt, ob es die Hallen Eurer Ahnen gibt. Auch wenn ich bezweifle, dass selbst Eure Mutter euch dort willkommen heißen würde.“
Mittlerweile tauchte auch der Wirt des Gasthauses auf und sah entsetzt nach oben zum zerstörten Fenster.
„Meine Taverne… Götter und heilige Ahnen, was habt ihr getan?“
„Keine Sorge.“, erwiderte Eden und nickte in Richtung Alvarez. „Er wird sicher für alle Schäden aufkommen, glaubt mir.“
„Und warum sollte ich das tun?“ , murmelte Alvarez zwischen einigen ausgeschlagenen Zähnen hervor. Eden nahm das zum Anlass dem Kerl noch einen Tritt in die Nieren zu verpassen, bevor sie ihre Geldbörse wieder an sich nahm.
„Weil ich sonst die Wache rufe und die sind sicher froh, Euch zu sehen. Und wenn nicht die Wache, dann vielleicht ein paar Eurer ehemaligen Crewmitglieder, denen ihr noch Lohn schuldet.“ Sie trat nochmal zu und vermutlich hätte Alvarez diese Nacht doch nicht überlebt, wenn nicht plötzlich Zachary unter den Schaulustigen aufgetaucht wäre. Eden lies die Fäuste sinken.
„Eden… was… was ist hier passiert? Was hast Du gemacht…“ Sie ließ das Schwert fallen und rannte zu dem jungen Magier.
„Alles in Ordnung.“, erklärte sie nur, bevor sie den Jungen an sich zog. Ihr sollte zum Weinen zumute sein stattdessen… fühlte sie sich, als könnte sie lachen. Geister, es hatte ihr Spaß gemacht.
„Alles in Ordnung.“, murmelte sie mehr zu sich selbst, als zu Zachary und strich ihm einen Moment durch die Haare. Zu spät viel ihr auf, das ihre Hände blutüberströmt waren.
Kapitel 14
Das Westmeer
Eden sah mit gemischten Gefühlen nach Risara zurück, als sie schließlich aufbrachen. Die roten Dächer der Stadt blieben rasch hinter ihnen zurück und wenn sie anfangs noch ein Dutzend kleinere und größere Schiffe begleiteten, gab es bald nur noch den Ozean um sie herum. Blaues, endloses Wasser, durch das die Tiamat, Alvarez Schiff, trieb.
Die Gejarn trat einen Schritt von der Reling zurück. Es war eine unsichere Reise. Sie glaubte nicht, dass Alvarez noch irgendetwas wagen würde. Nicht, nachdem er nun die gesamte Überfahrt mit krummer Nase und mehreren Verbänden verbringen musste. Und der Fakt, dass die neu angeworbene Crew offenbar schon mitbekommen hatte, mit wem sie sich da eingelassen hatten. Woran Eden nicht ganz unschuldig war. Die ziemlich einseitige Schlägerei vor dem Gasthaus hatte sich wohl herumgesprochen. Nein, der Kapitän war erledigt. Alles auf diesem Schiff schien nur auf eine gute Rechtfertigung zu warten, ihn über Bord zu werfen.
Die Crew selbst bestand überwiegend aus Menschen. Eine bunt zusammengewürfelte Truppe, die wohl aus den verschiedensten Ecken des Reichs stammte. Von den dunkelhäutigen Menschen der Westküsten bis zu den in bunte Roben gekleideten Männern, der neu eroberten Südprovinzen.
Eden blieb zwar die meiste Zeit auf Abstand, aber während die Wochen auf See dahinzogen, wechselte sie doch mit den meisten ein paar Worte.
Einer der wenigen Gejarn an Bord, war ein schwarzer Kater, der wohl schon praktisch zum Schiffsinventar gehörte. Wie sie erfuhr, war der Mann seit über einem Jahrzehnt mit Alvarez unterwegs.
„Und Ihr haltet das wirklich schon so lange mit dem Kerl aus?“, wollte sie eines Tages Wissen. Mittlerweile kam die Ostküste Cantons wieder in Sicht. Wie es aussah hatte Alvarez vor, hier nach einem möglichen Wasserkanal zu suchen um ins Westmeer zu gelangen. Den um den Kontinent herum zu segeln, das war noch keinem gelungen. Im Norden war der Ozean angeblich bis auf den Grund gefroren und im Süden beherrschten nach wie vor fremde Stämme, Länder und Stadtstaaten das Wasser.
Der Gejarn lachte.
„Bei dem, was er mir jetzt schuldet, gehört mir das Schiff schon praktisch. Noch ein paar Monate und ich verklag ihn darauf.“
„Das könnt Ihr?“
„Na ich will‘s mal hoffen, oder er darf doch bald anfangen, seine Schulden abzustottern. Wisst ihr, Alvarez ist trotz allem einer der besten Seeleute, die ich je getroffen habe.“
„Ja?“ , fragte Eden.
„In zwölf Jahren hat er noch nie einen Sturm gekreuzt oder sich verfahren. Das will etwas heißen. Nur menschlich….“ , Der Gejarn unterstrich seine Worte damit, dass er auf eine alte Narbe an seinem Arm deutete. „Ein kleiner Streit, zu meinem Glück ist Alvarez ein lausiger Schütze. Und generell eher ein Feigling. Aber ich habe gehört, das habt ihr schon selber mitbekommen.“
Sie nickte. Und ob.
„Muss ich mir deshalb Gedanken machen?“
Ihr gegenüber winkte ab.
„Ich glaube nicht, dass er so dumm ist. Aber ich würde die Ohren aufhalten.“ Er streckte ihr eine Hand hin.„Ich bin übrigens Leander.“
„Eden.“
Es dauerte keine Woche mehr, bis Alvarez schließlich behauptete, eine schiffbare Wasserstraße gefunden zu haben. Eden konnte diese Behauptung schlecht überprüfen, also musste sie sich in dieser Hinsicht wohl auf den Kapitän verlassen. Die Tiamat hielt bald direkt auf die Küste zu. Wenn es hier in der Nähe Siedlungen gab, so entdeckte Eden sie zumindest nicht. Die gesamte Küstenlinie war mit dichter Vegetation bestanden. Bäume so hoch wie Türme ragten überall auf und sie war kurz davor, Alvarez zu fragen, wo denn die Wasserstraße sei, als sie ihren Irrtum bemerkte. Ein schmaler Flusslauf schnitt an einer Stelle durch das ansonsten undurchdringliche Grün. Die Mündung war kaum doppelt so breit wie der Rumpf des Schiffs. Und dieser Weg sollte sie von einem Ende des Kontinents zum anderen bringen…. Sicher, das Land, das die beiden Ozeane trennte war schmal, aber die Idee mit einem Schiff eine solche Strecke zu bewältigen, war trotzdem… beunruhigend.
Eden hatte ihre Zweifel, dass das Schiff überhaupt auf dem Fluss fahren könnte, ohne auf Grund zu laufen. Alvarez jedoch machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Davon versteht Ihr eben nichts.“
Die Gejarn hätte ihm am liebsten die Meinung gesagt. Aber auf seine Art hatte er damit Recht. Sie hatte keine Ahnung von der Seefahrt. Aber, dass die Idee aberwitzig war, das konnte sie auch in den beunruhigten Gesichtern der übrigen Crew sehen.
Sie entschied die Gelegenheit zu nutzen um nach Zachary zu sehen. Der Magier war vermutlich unter Deck. Die Tiamat war kein großes Schiff, aber man konnte sich gut verstecken. Und Zachary schien in letzter Zeit darauf bedacht, selbst ihr aus dem Weg zu gehen. Eden fürchtete den Grund zu kennen. Der Junge hatte schon zu viel Blut gesehen. Und sie hatte nicht grade dazu beigetragen, dass es weniger wurde. Aber Geister, was hätte sie den ansonsten tun sollen? Und wenn es nicht wegen Zachary gewesen wäre, sie hätte Alvarez vermutlich eiskalt getötet. Sicher, sie hatte sich mehr als einmal geschworen, Andre zu töten, aber das hier… wirklich in der Situation zu sein, hatte sie überrascht.
Nein, sagte sie sich selbst, das war nur die halbe Wahrheit. Die Leichtigkeit, mit der sie es über sich gebracht hätte, diesem Mann die Klinge in die Kehle zu rammen, das war es, was sie erschreckt hatte.
Die Gejarn fand Zachary schließlich im Laderaum des Schiffes. Schwere Fässer, das meiste davon Wein aus Risara, waren bis unter die Decke gestapelt. Bei einem Sturm wäre es hier unten schnell lebensgefährlich, doch so nahe an der Küste war das Wasser ruhig. Der junge Zauberer saß an eines der Fässer gelehnt und war scheinbar in ein Buch vertieft.
„Hey.“
Zachary sah auf und klappte das Buch zu, als er Eden bemerkte.
„Hallo.“, meinte er mit belegter Stimme.
Sie hielt etwas Abstand, als sie sich neben ihn auf den Boden setzte.
„Darf ich fragen was Du da liest?“
Zacchary zuckte mit den Schultern und reichte ihr das Buch. Der Einband wirkte mitgenommen und der Titel war kaum mehr lesbar.
„Kannst Du mir verraten, wo Du das her hast?“
„Markus hat es mir gegeben. Bevor wir Lore verlassen haben.“, erklärte er lediglich kalt.
Eden seufzte, Das würde nicht einfach werden, oder? Sie legte das Buch neben sich bei Seite und schlang die Arme um die Knie.
„Du bist seit wir aufgebrochen sind praktisch nur hier unten.“ Und du weichst mir aus, fügte sie in Gedanken hinzu.
„Und ?“
„Ich hatte keine Wahl, Zac. Ich weiß es gibt Dinge, die Du nicht hören oder sehen wolltest, aber… was hätte ich tun sollen? Und ich habe Alvarez nicht getötet….“
„Aber Du wolltest es.“
Eden hätte gerne gesagt, dass das nicht stimmte. Sie hätte viel dafür gegeben, das ehrlich behaupten zu können. Aber es wäre eine Lüge. Und sie würde Zachary nicht anlügen. Das konnte sie sich nicht erlauben. Und das der Zauberer manchmal den Eindruck erweckte, als könnte er direkt durch sie hindurch sehen schob dem ohnehin einen Riegel vor.
„Du hast Angst, oder?“ , fragte Eden. Und das vor mir . Geister bin ich dämlich“
„Nein nicht vor Dir.“, erklärte Zachary hastig. „Aber… vor dem was Du tun kannst, vielleicht?“
„Und ich kann Dir nicht versprechen, dass es dabei bleibt. Ich habe geschworen auf Dich aufzupassen, Zac. Und was immer passiert, ich habe vor, dieses Versprechen zu halten. Wer versucht uns was zu tun….“
Zachary nickte.
„Ich versteh es Eden. Ich verstehe es ja.“
Sie schüttelte den Kopf.
„Ich wünschte, Du würdest das nicht sagen. Du solltest es nicht verstehen, Vielleicht in ein paar Jahren, aber nicht jetzt. Aber kannst Du mir wenigstens verzeihen?“
Zachary nickte und Eden atmete erleichtert auf. Wenn es nach ihr ging, würde es auch bei dem einen Vorfall bleiben. Sie hatte diese Seite von sich bisher noch nie so … deutlich erlebt. Und sie war sich nicht sicher, ob sie ihr gefiel.
Und das ist wieder eine Lüge, meinte eine Stimme. Es hat dir gefallen. Mehr als das….
Ja. Es war…eine Art dunkler Gerechtigkeit in dem Ganzen gewesen. Und diese dunkle Seite brodelte jetzt dicht unter der Oberfläche ihres Verstandes. Sie strich Zachary sacht durch die Haare. Solange ihm dabei nichts geschah, sollte es eben so sein. Eden stand auf.
Im gleichen Moment ging ein Ruck durch den ganzen Schiffsrumpf. Sie mussten die Flussmündung erreicht haben, schoss es ihr durch den Kopf. Im gleichen Moment gerieten ein paar, der aufgestapelten Fässer ins schwanken. Eden sah, wie sich eines direkt über ihr, aus seiner Verankerung befreite. Oh Verflucht….
„Pass auf…“ Der plötzliche Stoß, der sie von den Füßen riss, rettet ihr vermutlich das Leben. Eine Welle aus verdichteter Luft schleuderte sie mehrere Schritte weit beiseite, während das Fass an der Stelle in Stücke brach, an der sie eben noch gestanden hatte. Der rubinrote Inhalt ergoss sich über die Planken und durchtränkte ihre Kleidung. Zachary war sofort an ihrer Seite.
„Entschuldige, ging nicht anders.“ , meinte er, während die Gejarn sich wieder aufrichtete. „Der Zauber war fast nicht schnell genug.“
Eden nickte dankbar. Zachary jedoch schien nicht mit sich zufrieden. Die Magie hatte ihr grade das Leben gerettet. Aber offenbar war sie nicht die einzige, die mit sich zu kämpfen hatte
Sie lächelte aufmunternd.
„Wir passen schon aufeinander auf, ja?“
Zachary nickte lediglich stumm.
Als sie schließlich mit dem Magier an Deck zurückkehrte, war der Ozean nur noch durch ein Dickicht an grünen Blättern zu erkennen. Alvarez hatte offenbar wirklich Vertrauen in sich, dachte Eden. Die schmale Wasserrinne, durch die sie das Schiff mit einer Reihe langer Holzstanden navigierten, wurde rasch noch schmaler als ohnehin schon. Zu beiden Seiten ragten die Ufer nur einige Handbreit vom Rumpf der Tiamat entfernt auf. Und die schwere Holzkonstruktion auch noch gegen den Strom des Flusses zu steuern, war alles andere als eine leichte Aufgabe. Eden tat das wenige was sie konnte. Sie verteilte Wasser, aber ihr Angebot eine der schwereren Aufgaben zu übernehmen, lehnte jedes einzelne Crewmitglied dankend ab.
Selbst Leander der Kater versicherte ihr, dass das wirklich keine Arbeit für sie wäre. Nun... wenn die wüssten, dachte sie im Stillen. Trotz des dichten Blätterdachs, das sich über ihnen spannte, war es brütend heiß. Die Luft war so feucht, das sich das Wasser in Edens Pelz sammelte und sie bald ständig das Gefühl hatte, grade einem Fluss entstiegen zu sein. Und dann waren da die Mücken. Die lästigen Insekten machten ihr und der Handvoll anderer Gejarn weit weniger zu schaffen, als der menschlichen Crew. Bald wurden sie es müde, ständig nach den kleinen Quälgeistern zu schlagen und ertrugen die ständigen Nadelstiche nur noch schicksalsergeben. Im Lauf der nächsten Tage, war Alvarez praktisch ständig damit beschäftigt, die Wassertiefe zu messen und soweit Eden das beurteilen konnte, wurde der Fluss beständig flacher. Vor allen Dingen, nachdem sie von dem Kanal, den sie bisher gefolgt waren, auf einen Seitenarm auswichen, der hoffentlich im Westmeer endete.
Am Beginn der zweiten Woche, die sie auf den Flüssen verbrachten, zog er das Seil aus dem Wasser und erstarrte praktisch auf der Stelle. Und Eden sah sofort warum.
Einem einzigen Knoten tief stand das Wasser noch unter dem Rumpf des Schiffes. Ein kleiner Fehler und sie würden auf Grund laufen.
„Großartig.“, seufzte der Kapitän und zog eine kleine Silberkantine aus seinem Mantel. Er nahm einen tiefen Schluck und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. „Also gut… also gut, ich will, dass ihr ein paar Fässer hier raufbring und ans Ufer werft. Wir müssen das Schiff irgendwie leichter bekommen und zwar sofort.“
Keiner stellte eine Frage und niemand zögerte. Auch wenn sie alle Alvarez nicht mochten, mit einem hatte Leander wohl recht behalte. Er wusste durchaus, was er tat. Und tatsächlich ging der Plan des Kapitäns auf. Es grenzte an ein Wunder, aber sie kamen durch, ohne dass das Schiff einen Kratzer bekam. Am Nachmittag desselben Tages hatten sie bereits wieder mehr als eine wortwörtliche Handbreit Wasser unterm Kiel.
Und als sich der Abend schließlich über den Dschungel senkte, konnten sie einen schwachen silbrigen Schimmer in der Ferne sehen. Das offene Meer war zum greifen nahe. Sie hatten es geschafft.
Die westliche Sonnensee lag direkt vor ihnen.
Kapitel 15
Hintergangen
Eden atmete die salzige Luft tief ein, als sie nun die Westküste Cantons hinter sich ließen. Sie hatten es tatsächlich geschafft. Die offene See wieder vor sich zu haben, war nach der Zeit auf dem beengten Fluss, ein geradezu erhabenes Gefühl. Der Wind im Gesicht kühlte die vielen kleinen Insektenstiche und spülte die letzten Überreste des Geruchs von vermoderndem Holz hinweg.
Die Weite des Ozeans hatte etwas hypnotisches, dachte Eden. Und etwas anziehendes. Wenn sie eine Stadt an der Westküste erreichten, würde sie versuchen eine Weile an der Küste zu bleiben. Die Idee, Arbeit auf einem Schiff zu finden, tauchte kurz in ihrem Verstand auf. Das wäre sogar beinahe perfekt. Sie könnte in Bewegung bleiben und so die Wahrscheinlichkeit verringern, dass irgendjemand herausfand, dass sie noch lebte. Aber das schien unmöglich. Sie hatte ja schon die Reaktionen der übrigen Crew gesehen, als sie helfen wollte. Und diese Leute respektierten sie auf ihre raue Art zumindest schon einmal. Auf einem fremden Schiff anzuheuern würde praktisch unmöglich werden.
Aber das lag alles noch in der Ferne. Wenn sie eine Stadt im Kerngebiet des Kaiserreichs erreichen wollten, blieben ihnen noch mehrere Wochen auf See.
Auch Zachary schien die Reise zu gefallen, seit er sich wieder an Deck sehen ließ. Eden wusste, dass die Aussprache nötig gewesen war und auch wenn es so viele Dinge gab, die sie beschäftigten… das war eines der wichtigsten gewesen.
Gegen Abend war die Küste erneut, hinter ihnen im Nebel verschwunden und die Tiamat trieb alleine über die ruhige Wasserfläche hinweg. Eden saß an einen der zwei Schiffsmasten gelehnt und starrte nach oben zum Sternenhimmel. Die Crew zog es vor, meist unter Deck zu schlafen, aber bei ruhigem Wetter wie jetzt, fiel es der Gejarn gar nicht ein, sich in eine der stickigen und beengten Kabinen zu zwängen.
Zachary war neben ihr eingeschlafen. Gedankenverloren strich sie dem Kind eine Locke aus den Haaren. Denn das war er nach wie vor, wie sie sich erinnern musste. Auch wenn davon nicht viel geblieben war. Eden zweifelte daran, dass er das Ganze nach wie vor als bloßes Abenteuer betrachten konnte. Nicht mehr.
Aber verflucht wollte sie sein, wenn dem Jungen jemals etwas geschah, solange sie es verhindern konnte. Niemals. Eden ließ den Blick vom Himmel über das Meer wandern. Mondlicht spiegelte sich auf den Wellen. Aber irgendetwas irritierte sie daran….
Die silbern glitzernde Fläche erstreckte sich beinahe endlos in alle Richtungen. Nur ein Stück nördlich von der Tiamat nicht. Dort schien es, als wäre ein Schatten über das Wasser gefallen. Etwas, das das Sternenlicht abfing. Ein zweites Schiff. Es war noch so weit weg, dass sie die Positionslichter nur erahnen konnte. Aber in der klaren Nacht waren die dunklen Umrisse nicht zu verkennen.
Nun irgendwann mussten sie ja auf weitere Schiffe stoßen, dachte sie verschlafen. Kein Grund sich Sorgen zu machen. Vor morgen würde sie wohl nicht einmal in die Nähe kommen. Nicht wenn der Wind nicht auffrischte. Mit diesen Gedanken schlief sie schließlich selbst ein.
Irgendetwas schüttelte sie an den Schultern. Eden blinzelte.
„Ist ja schon gut… lieg ich Euch im Weg?“, murmelte sie noch, bevor sie die Augen ganz öffnete. Sofort wusste sie, dass etwas nicht stimmte. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Im Gegenteil, nicht einmal ein schwacher Schimmer Morgenlicht war am Horizont zu sehen. Stattdessen mussten wohl Wolken aufgezogen sein, denn von Mond oder Sternen war nichts mehr zu sehen. Vor ihr kniete eine, in der Dunkelheit kaum erkennbare Gestalt. Lediglich die gelb-grünen Augen gaben ihr einen Hinweis darauf, wen sie vor sich hatte.
„Leander ? Was ist los?“ Sie war sofort hellwach, aber der schwarze Kater bedeutete ich ruhig zu bleiben.
„Kein Laut.“, erklärte er leise. „Nicht wenn Euch Euer Leben lieb ist. Ich fürchte, Ihr habt ein Problem.“
Eden setzte sich so geräuschlos wie möglich auf und sah kurz zu Zachary herüber. Der Junge schlief noch.
„Hört zu, ich weiß nicht wer Ihr seid, oder wer der Junge da ist und es interessiert mich auch ehrlich gesagt nicht. Aber Alvarez scheint irgendetwas zu wissen. Euer junger Freund da wird gesucht und zwar für eine gewaltige Belohnung. Ich hab den Käpt’n vor weniger als einer Stunde belauscht. Er durchsucht grade das Unterdeck nach Euch. Offenbar will er Euch festsetzen, bevor wir morgen den ersten Hafen anlaufen.“
Eden zuckte zusammen. Verflucht. Natürlich hatte sie dem Kapitän nicht trauen können.
„Nur er?“ Mit dem Kapitän würde sie auch ein zweites Mal fertig. Aber dieses Mal würde sie ihn direkt an die Haie verfüttern.
„Alvarez ist gierig. Euer Glück. Ich habe nur zwei Leute bei ihm gesehen. Sonst weiß keiner etwas. Und er wird es ihnen wohl auch nicht sagen, wenn er die Belohnung alleine einstreichen will.“
Sie legte die Hand auf den Schwertgriff, während sie Zachary weckte und ihm bedeutete leise zu bleiben.
„Warum helft Ihr mir?“, wollte die Gejarn wissen, als sie sich wieder zu Leander umdrehte.
„Ich könnte jetzt sagen, weil ich kein Freund von so was bin. Aber…“ er lachte leise, „Ich bin wirklich kein Freund von so was. Hört zu, die Küste ist zu weit, Ihr kommt nicht vom Schiff. Aber ich kann Alvarez Gefährten ablenken. Dann knöpft Ihr ihn Euch vor. Nur… bringt ihn nicht um, ja? Er schuldet mir wie gesagt noch einiges.“
Sie nickte.
„Klingt nach einem Plan.“
„Gut. Passt auf, ich rufe die beiden raus. Sobald die an Deck sind, seht Ihr zu, das Ihr nach unten verschwindet und schnappt Euch den Kapitän.“
Mit diesen Worten verschwand der Gejarn in der Nacht und die Treppe hinab, die zum Unterdeck führte. Eden duckte sich in die Schatten neben dem Segelmast und wartete darauf, dass sich etwas tat. Zachary kauerte neben ihr.
„Hör zu… ich muss Alvarez wohl leider noch einmal klar machen, dass er seine Tricks lassen soll. Ich will das Du hier bleibst, verstehst du mich? Egal was passiert….“
Der junge Zauberer nickte nur.
„Ich meine das ernst.“, fügte sie hinzu, als sich schließlich etwas auf der Treppe bewegte.
Leander rannte die Stufen hinauf, gefolgt von zwei Männern, die sie nur als Schatten erkennen konnte.
„Los, sie muss hier irgendwo sein, sucht da vorne.“ Leander deutete auf die andere Hälfte des Schiffs. Jenseits der Treppe und ihres Verstecks. Dann rannte er selber in die entgegengesetzte Richtung.
„Gut, das hat schon einmal funktioniert.“, meinte er , als er zu Eden zurückkehrte. „Jetzt seid Ihr dran, ich passe auf Zachary auf.“
Eden nickte.
„Wagte es Euch, mich zu hintergehen.“, sagte sie nur düster.
Leander wich tatsächlich ein Stück zurück.
„Keine Sorge, ich häng an meinem Leben.“, meinte er nervös.
Die Gejarn hoffte es. Eden sah noch einmal zurück, dann lief sie los. Es war nicht weit bis zur Treppe, aber wenn sie jemand sah, würde es gefährlich. Doch ihre Sorge war unbegründet. Ohne Schwierigkeiten erreichte sie schließlich den Abstieg zum Unterdeck und verschwand die Stufen hinab. Der Großteil der Crew schlief zu ihrem Glück tief und fest. Zwei Dutzend Matten und Decken waren auf dem Boden des Decks verteilt. Ohne einen Laut schlich Eden zwischen den reglosen Gestalten hindurch.
Schließlich erreichte sie den Laderaum und duckte sich in die Schatten des Eingangs. Sie hatte gefunden, was sie gesucht hatte.
Alvarez stand, eine Fackel in der einen und einen Säbel in der anderen Hand vor den Weinfässern.
„Verflucht“, murmelte er, während er versuchte hinter die Wand aus Behältern zu spähen. „Sie muss doch irgendwo sein.“
Sein Schatten tanzte im unsteten Licht der Flamme über die Wände. Eden legte die Hand auf den Schwertgriff und zog die Klinge so geräuschlos wie möglich. Dann erst trat sie aus ihrem Versteck. Der Kapitän schien nichts zu bemerken. Stattdessen wandte er sich von der aufgestapelten Ladung ab und machte Anstalten zu Gehen. Eden brachte sich grade noch rechtzeitig in Deckung und verschwand hinter einem der Fässer. Die Gejarn versuchte ruhig zu atmen. Sie musste ihn hier erwischen, zwischen der schlafenden Mannschaft wäre es zu riskant. Und wenn er ihr auch nur den kleinsten Anlass dazu gab, würde das heute sein letzter Fehler. Eden tauchte aus ihrem Versteck auf und rannte das kurze Stück Entfernung zwischen ihr und dem Kapitän. Alvarez kam nur noch dazu, sich halb umzudrehen, bevor die Gejarn ihn von den Füßen riss. Der Degen wurde ihm aus der Hand geschleudert und landete klirrend irgendwo auf den Planken, genau wie die Fackel, die, eine Glutspur hinterlassend, davon rollte.
Der Kapitän schlug mit der Faust nach ihr und erwischte Eden einmal am Kopf. Der Hieb war heftig genug, das es einen Moment schwarz um sie wurde. Ihre Finger ließen das Schwert los, welches Alvarez sofort außer Reichweite trat.
„Ich hätte euch schon in Risara erledigen sollen.“ Eden sprang zurück um dem nächsten Angriff des Mannes zu entgehen. Der Faustschlag ging ins Leere, aber sie stolperte beim zurückweichen beinahe über ein Fass. Verflucht, sie brauchte ihre Waffe zurück…. Alvarez lachte. „Ja ich gebe zu, ich hatte vor, Euch mit auszuliefern, aber… das hat sich jetzt erledigt. Ihr bedeutet zu viel Ärger.“
Die Gejarn sah sich rasch um. Das Kurzschwert war nirgendwo zu sehen, vielleicht war die Klinge einfach unter die Ladung gerutscht… aber Alvarez Säbel lag keine zehn Schritte entfernt. Der Kapitän war ihrem Blick wohl gefolgt.
Eden sprang vor, noch ehe ihr Gegner reagieren konnte, schlitterte ein Stück über den Boden… und bekam das Heft der Klinge zu fassen. Sie sprang sofort wieder auf die Füße und richtete die Schwertspitze auf Alvarez. Dieser lächelte nur müde. Er hatte nicht einmal versucht, an die Waffe zu gelangen….
Stattdessen zog er lediglich eine Steinschlosspistole aus seinem Gürtel und richtete die Mündung der Waffe auf die Gejarn. Leander hatte gemeint, der Kapitän sei ein lausiger Schütze. Aber auf die kurze Entfernung konnte er gar nicht verfehlen, schoss es Eden durch den Kopf.
„Der Junge ist lebend, Gold wert.“, erklärte Alvarez schwer atmend. „Ihr hingegen… „ er stützte die Waffe mit einer Hand ab. „Ihr hingegen, macht viel zu viel Ärger um sich noch länger mit Euch herumzuschlagen….“
Eden zögerte. Sie konnte der Kugel nicht entgehen, das wusste sie. Aber die Entfernung zu dem Kapitän betrug nur wenige Schritte. Wenn er sie nicht tödlich traf, könnte sie nahe genug an ihn heran, um ihm das Schwert zwischen die Rippen zu rammen. Geister, das würde wehtun. Ihre Hände schlossen sich um den Griff des Säbels.
Was jedoch als nächstes geschah, damit hatte keiner von ihnen gerechnet.
„Fremdes Schiff in Sicht.“ Der Ruf kam von irgendwo vom Oberdeck.
„Oh verflucht, wo kommen die den …“ der Rest des Satzes ging im allgemeinen Getöse unter.
Ein gewaltiger Schlag warf sowohl sie als auch den Kapitän von den Füßen. Im gleichen Moment zersplitterte die Seitenwand des Lagerraums. Fässer zerbarsten. Salzwasser und Wein gleichermaßen ergossen sich auf die Planken und die Luft füllte sich mit Holzsplittern. Der Schuss, der sich aus Alvarez Waffe löste, war in all dem Lärm kaum zu hören. Nur der scharfe Schmerz, als das Projektil in ihren Arm drang, sagte Eden, das Alvarez doch kein ganz so mieser Schütze sein konnte. Die halbe Rückwand des Raumes fehlte plötzlich, wie Eden feststellte, als sie sich wieder aufrichtete. Den Säbel als Stütze nutzend, stemmte sie sich gegen das Wasser, das durch die entstandenen Lücken hereinströmte. Es war nicht viel, die Treffer waren noch oberhalb der Wasserlinie erfolgt. Aber was sie sah, ließ sie den Mut verlieren. Sie hatte doch gewusst, dass sie am Abend ein Schiff gesehen hatte. Mittlerweile schob sich draußen die Sonne hinter dem Horizont hervor und beleuchtete den hölzernen Leviathan, der direkt parallel zur Tiamat stand. Eden machte sich gar nicht erst die Mühe, die Anzahl der Geschütze abzuschätzen, die auf das kleine Handelsschiff gerichtet waren. Das war ein imperiales Schlachtschiff….
Sie drehte sich zu Alvarez um. Verflucht, hatte dieser Irre etwa die Behörden über sie und Zachary informiert? Aber von dem Kapitän fehlte jede Spur. An seiner Stelle hätte sie sich wohl auch irgendwo ein sicheres Versteck gesucht, dachte sie. Langsam trieb das schwere Kriegsschiff näher an die Tiamat heran und nun konnte die Gejarn auch den ins Holz gebrannten Schiffsnamen erkennen.
Windrufer.
Geister, sie musste Zachary wiederfinden… und Leander. Und dann hier verschwinden….
Kapitel 16
Piraten
„Zachary!“ Eden stürmte an Deck, den verletzten Arm leicht angewinkelt vor der Brust haltend. Schwaden von Pulverdampf füllten die Luft, sodass sie kaum erkennen konnte, was vor sich ging. Wenigstens hatte das Kriegsschiff nach der einen Salve das Feuer eingestellt. Aber das hieß nichts. Nicht nur unter Deck hatten die Kanonenkugeln schwere Schäden verursacht. Die Reling war fast auf der ganzen Länge des Schiffs zersplittert. Einer der Segelmasten hing nur noch halb auf seinem Sockel und sie sah mehr als eine Gestalt, die verletzt durch den Nebel torkelte. Und mehrere, die sich gar nicht mehr bewegten. Eden rannte jetzt. Geister, wo konnten Leander und der Junge nur sein? Das Schiff war nicht groß und wenn sie sich unter Deck geflüchtet hätten, wäre sie ihnen begegnet.
Da sah sie schließlich die Umrisse des Gejarn aus dem Nebel auftauchen. Zusammen mit einem Dutzend weiterer Matrosen, die sich verwirrt und nervös in Richtung des Kriegsschiffes umsahen.
Die Windrufer hatte sich etwas zurückfallen lassen, kam nun aber wieder näher. Geister, die wollten an Bord, schoss es Eden durch den Kopf. Und die Tiamat würde so schnell nirgendwo mehr hinfahren. Eine einzige Breitseite hatte das kleinere Schiff fast völlig lahmgelegt.
Aber irgendetwas stimmte mit dem kaiserlichen Kriegsschiff nicht. Durch den Pulverdampf wirkte es nur wie ein Schatten, aber… es gab keinerlei Hoheitszeichen, keine Flaggen oder Wappen….
Leander hustete mehrmals, als er, Zachary im Schlepptau, auf Eden zu rannte.
„Ich denke mal, Ihr habt Eure Differenzen mit Alvarez geklärt?“
„Zumindest glaube ich nicht, dass der sich so schnell wieder blicken lässt.“, erklärte sie, während sie sich auf ein Knie niederlies und Zachary in den Arm nahm. Es ging ihm gut. Das war wenigstens etwas in dem ganzen Chaos.
„Dein Arm….“
„Geht schon, keine Sorge.“ Sie wandte sich an Leander.
„Wer sind die Kerle? Imperiale Marine?“
„Das glaube ich weniger.“, erwiderte der Gejarn. „Die feuern vor allen Dingen nicht ohne Vorwarnung auf einen. Zumindest meistens. Das Schiff ist praktisch aus dem Nichts aufgetaucht. Wir haben es erst gesehen, als die Sonne aufging und da war es auch schon zu spät.“
„Und wer sind die dann?“
Leander grinste düster.
„Piraten. Fürchte ich. Mit den Kämpfen im Süden hat das Kaiserreich nicht mehr die Mittel, die Küsten völlig sicher zu halten.“
„Großartig.“ Sie stand wieder auf. „Wir müssen irgendwas unternehmen.“
„Was denn?“ Der Gejarn zuckte ratlos mit den Schultern.
„Kämpfen.“, erklärte Eden entschlossen. Wenn sie hier nur herumsaßen würde es auch nicht besser werde. Im Gegenteil.
Leander lachte bitter.
„Womit? Das hier ist ein Handelsschiff, wir haben vielleicht ein paar Gewehre und eine Handvoll Schwerter im Magazin, das war‘s. Keine Kanonen, keine Geschütze. Die machen einfach Kleinholz aus uns.
„Dann muss das eben ausreichen.“, erwiderte Eden. „Ruft die gesamte Crew zusammen. Jetzt. Gebt die Waffen aus die wir haben und danach soll jeder benutzen, was er findet. Und wenn ihr Gabeln statt Messer verwendet.“
„Alvarez hat den Schlüssel zum Magazin.“, warf jemand ein. „Und der ist verschwunden.“
„Dann brecht die verdammte Tür auf.“, rief Eden zurück. „Und beeilt euch damit. Vielleicht ist es euch nicht aufgefallen, aber dieses Schiff ist gleich auf einer Höhe mit uns und dann wird es hier oben verdammt ungemütlich. Los, Jetzt!“
Der Mann nickte nur, und verschwand mit einer Handvoll der kräftigsten Matrosen unter Deck.
„Hört zu, die wollen an Bord gelangen und uns nicht versenken. Das hätten sie sonst längst getan. Wenn wir sie lange genug abwehren können, wenn wir sie genug Blutzoll entrichten lassen, ziehen sie vielleicht wieder ab.“ Leander schaute sie entgeistert an.
„Das ist Euer Plan?“
„Wenn Ihr einen besseren habt, dann bitte raus damit. Oder setzt Euch in Bewegung.“
Der Gejarn grinste.
„Das ist so verrückt, das könnte sogar funktionieren.“ Mit diesen Worten rannte Leander zu den übrigen Mitgliedern der Crew um ihre Anweisungen weiter zu geben. Eden sah derweil zu dem näherkommenden Kriegsschiff. Ohne es zu wollen war sie grade irgendwie zur Anführerin der kleinen Truppe an Deck geworden. Aber das würde wohl nicht zu lange halten. Sie hatten keine Chance…
Als die ersten Matrosen mit Gewehren und Schwertern bewaffnet, aufs Deck zurückkehrten, hatte die Windrufer endgültig zu ihnen aufgeschlossen. Das Schiff überragte die Tiamat bei weitem.
Eden schloss die Hand um den Schwertgriff.
Der erste Mann, der vom Kriegsschiff aus an Deck sprang, wirkte wie ein Geist auf sie alle. Er trug eine silberne Maske vor dem Gesicht. Die fein geätzten Runen darauf glühten zusammen mit dem Licht einiger Kristalle, die auf der Stirnfläche angebracht waren. Eine Verzauberung, dachte Eden. Schwache Magie, die Kugeln oder Schwertstreiche ablenken konnte. Der Mann trug in jeder Hand einen Säbel. Ein pechschwarzer Mantel, fiel wie ein zweiter Schatten um seine Gestalt. Weitere Gestalten, die ähnlich gekleidet oder maskiert waren, traten aus dem Nebel.
Eden spürte, wie die Matrosen hinter ihr dichter zusammenrückten, während die Piraten einen Halbkreis bildeten. Sie konnte ihre Angst riechen. Und ihre eigene spüren….
Wüsste sie nicht sicher, dass unter der Kleidung dieser Gestalten Menschen stecken mussten, sie hätte wohl ähnlich reagiert. Aber ihr Geruch verriet sie. Ihre Gangart verriet sie. Menschen aus Fleisch und Blut. Aber wenn das so weiterging, würden die anderen gleich die Waffen fallen lassen….
Und dann wäre alles vorbei. Diese Kerle wirkten nicht so, als seien sie auf Gefangene aus.
Eden stürzte vor, auf die Gestalt zu, die als erstes an Bord gekommen war. Der Mann war scheinbar einen Moment überrascht, dass ihn tatsächlich jemand angriff. Er riss die Klingen hoch, aber nicht mehr schnell genug. Eden hatte keine Ahnung vom Schwertkampf, aber wenn ihr Gegner erst gar nicht dazu kam, sich ihr zu stellen, machte das auch nichts. Edens Schwert hätte ihn genau in die Brust getroffen, wenn die Klinge nicht plötzlich einen ungewollten Bogen beschrieben hätte. Der Maskenzauber natürlich. Wie hatte sie so dumm sein können, den zu vergessen. Aber die Magie war nicht stark genug, den Mann völlig zu retten. Das Schwert der Gejarn drang ihm in die Schulter und er schrie auf. Eden riss die Klinge sofort zurück und setzte nach. Der Schutzzauber hatte sich erschöpft und diesmal fand sie ihr Ziel.
Der Mantel des Piraten färbte sich noch einen Ton dunkler, als er nun von Blut durchtränkt wurde. Eden trat rasch zurück. Der Mann machte noch einen torkelnden Schritt nach vorne….
Dann brach er in sich zusammen. Einen Moment wurde es totenstill auf dem Deck der Tiamat.
„Tötet sie alle!“
Mit dem Ruf war auch der Bann gebrochen, der über der Crew gelegen hatte. Ein Dutzend Musketen, die zeitgleich abgefeuert wurden, füllten die Luft auf Deck erneut mit Pulverdampf.
Die Kugeln wirkten verheerend auf die dicht zusammenstehende Wand aus schwarz gekleideten Piraten. Und spätestens jetzt wurde den letzten klar, dass es sich bei diesen nicht um Geister handelte. Die ersten kippten tot um, bevor die anderen überhaupt reagieren konnten. Und einen Moment blitzte so etwas wie Hoffnung in Edens Gedanken auf. Dann jedoch entbrannte die Schlacht an Deck vollends und sie verlor schnell jegliche Übersicht. Klingen prallten aufeinander und wer kein Schwert hatte, kämpfte mit dem Bajonett weiter. Die ersten Kugeln pfiffen von Seiten der Windrufer durch die Luft. An der Reling des Kriegsschiffs waren weitere Männer aufgetaucht, die mit Pistolen und Gewehren auf die kleine Gruppe Verteidiger feuerten.
Eden spürte, wie ein Projektil ihre Haare streifte. Sie wehrte eine Klinge ab, die auf ihre Schulter zielte und stellte erstaunt fest, wie leicht ihr das Kämpfen viel. Es war fast, als hätte sie selten etwas anderes getan. Und es erfüllte sie mit einer seltsamen Genugtuung. Etwas tun… nicht mehr Gefangen sein….
Sie bekam nur am Rand mit, wie die anderen zurückwichen, als ein weiterer schwarzgekleideter Pirat vor ihr zusammenbrach. Sie hob eine zweite Klinge auf und warf sie mit aller Kraft einem anstürmenden Gegner entgegen. Das Schwert bohrte sich in seinen Hals. Es war beinahe Übelkeit erregend einfach… sie spürte ihre Verletzungen nicht, die Wunde an ihrem Arm war vergessen….
Nur ein letzter Faden der Vernunft, der Rationalität sagte ihr, dass sie sich zurückziehen musste. Und dieser Gedanke brachte sie langsam wieder zurück in die Wirklichkeit. Sie ließ die Waffen sinken ohne auf die toten Körper um sich herum zu achten. Als sie zu den Matrosen zurückkehrte, die sich nach wie vor in alle Richtungen verteidigten, wichen einige vor ihr zurück. Sie sah in Gesichter, die so kreidebleich waren, als fürchteten sie, die Gejarn könnte sich gleich gegen sie richten. Geister, was hatte sie getan? Die Erschöpfung traf sie mit einem Schlag. Eden spürte all die kleinen Schnitte, denen sie zuvor keine Beachtung mehr geschenkt hatte und musste sich auf dem Schwert abstützen. Ihr weißer Pelz war an mehreren Stellen rot verfärbt. Und das wenigste davon war ihr Blut….
Wut, meinte eine flüsternde Stimme in ihrem Kopf. Wut war mehr als nur ein gutes Schmerzmittel.
Sie brauchte einen Moment Ruhe… und trotz allem war die Schlacht lange nicht zu ihren Gunsten verlaufen. Neben den Dutzend Piraten, die auf dem Deck zurück geblieben waren, lagen viel mehr Matrosen der Tiamat. Rasch rannte sie zu Zachary um nach ihm zu sehen. Leander hielt sich nach wie vor Wache, in der Nähe des Jungen. Mit einer Pistole und einem stumpfen Küchenmesser bewaffnet machte der Kater einen gefährlichen und komischen Eindruck zugleich.
„Wir…“ Eden schüttelte den Kopf und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Was hatte sie sagen wollen?
Im gleichen Moment wurde eine weitere Salve von der Reling der Windrufer abgefeuert. Mit wenigen ihrer eigenen Leute im Weg, konnten die Schützen diesmal kaum verfehlen. Eden spürte, wie sie erneut ein Projektil streifte, während um sie herum die Überreste der Mannschaft zu Boden gingen. Leander wurde mehrmals in die Brust getroffen und stolperte zurück. Er blinzelte verwirrt, so als könnte er noch nicht ganz begriffen, dass er verwundet war… dann gaben seine Beine unter ihm nach. Danach wurde es eine Weile sehr ruhig um Eden. Sie kniete sich neben den gefallenen Gejarn. Leander war tot….
Für einen Moment war das sanfte knarren der Schiffsplanken das einzige Geräusch, das die Stille durchbrach. Dann ertönten die schweren Schritte von Stiefeln auf den Holzdielen. Eden sah nicht auf. Sie war als einzige übrig… sie und Zachary, der sich neben sie kauerte. Irgendjemand drückte ihr einen Pistolenlauf in den Nacken.
„Bei allen Meeresgöttern, wer ist denn für diese Sauerei verantwortlich?“ , donnerte eine Stimme über das Deck. Eden wagte es, den Kopf so weit zu drehen, dass sie etwas erkennen konnte.
Ein Mann in der gleichen schwarzen Kleidung, wie die übrigen Piraten trat aus dem Pulvernebel. Er hatte braune, lockige Haare und einen zerzausten Bart, der ihm auf die Brust fiel. Seine Augen blickten ungerührt über das Blutbad auf dem Deck. Nur das er über eine der Leichen gestolpert war, die Eden hinterlassen hatte, hatte ihm einen Fluch entlocket.
Einer der maskierten Männer deutete auf Eden, die nach wie vor ruhig da saß. Das waren zu viele, sagte sie sich. Und mit der Waffe im Nacken konnte sie sowieso nichts tun. Aber sie war noch nicht tot. Das war etwas. Sie drückte Zachary an sich, während sie ihre Gedanken sammelte.
„ Ich hoffe, der Tod Eurer Leute, versaut euch nicht den Tag.“
Eden rechnete fest damit, dass der Mann wütend werden würde. Stattdessen schmiss er den Kopf in den Nacken und lachte lauthals.
„Normalerweise häute ich Tiere wie euch einfach.“, erwiderte er. „Es gibt da ein paar Adelige, die zahlen ganz gut für Gejarn-Pelze. Nur werd ich wohl Schwierigkeiten haben, das ganze Blut aus Eurem zu bekommen.“
„Vance…, was sollen wir mit ihr und dem Jungen machen?“
Der als Vance angesprochene Mann winkte ab und drehte sich bereits wieder um.
„Schert mich nicht. Wenn Ihr sie wollt nehmt sie Euch. Oder verpasst ihr ‘ne Kugel. Und macht schnell. Ich will, dass das Schiff in einer Stunde durchsucht ist, alles, das was wert sein könnte, rüber auf die Windrufer. Wobei…“ er hielt inne. „Für ‘nen Kapitän gibt’s wohl doch etwas Lösegeld. Oder?“ Eden gefror das Blut in den Adern. Verflucht, jetzt hielten sie sie also für die Anführerin des Schiffs. Aber das konnte ihr zumindest das Leben retten, oder?
Leander neben ihr lachte und hustete Blut gleichzeitig. Geister, er lebte noch… sie war zu erstarrt um irgendetwas zu tun. Und irgendwann lag der Mann dann schließlich auch still....
Diesmal wohl endgültig. Eden schloss einen Moment die Augen. Alvarez war nach wie vor irgendwo hier, wenn ihn die erste Breitseite nicht getötet hatte. Und wenn sie ihn fanden….
„Ich bin nicht der Kapitän.“
„Was?“
„Der hat sich verkrochen.“, erklärte sie. „Und mir das Kommando überlassen.“
„Seid Ihr eigentlich lebensmüde?“ Vance lachte wieder. „Götter, Ihr müsst lebensmüde sein, mir das zu sagen.“
„Nur praktisch.“, erwiderte sie. „Ihr findet den Bastard vermutlich ohnehin unter Deck. Kein Grund Eure Zeit zu verschwenden.“
Vance verzog das Gesicht.
„Ein Kapitän der seine Mannschaft im Stich lässt…“ der Pirat spuckte aus.
Er nickte dem Mann zu, der Eden die Pistole an den Kopf hielt. Sie schloss die Augen. Bitte lass sie wenigstens Zachary mitnehmen, dachte sie. Der Bastard wird kein Kind töten, oder? Sie schloss ihre Hand um die des jungen Magiers. Dann verschwand der Waffenlauf aus ihrem Nacken.
„Bringt mir diesen Käpt’n hier herauf.“, befahl Vance. „Lebend. Ich glaube ich muss mich einmal mit dem Kerl… unterhalten. Und bringt mir eine Flasche Rum. Den starken. Den der brennt….“
Kapitel 17
Feuer
Wenige Minuten später wurde Alvarez unter Schreien und Tritten an Deck geschleift. Der Kapitän machte einen genau so abgerissenen Eindruck, wie die Leichen, die über das Deck verstreut lagen. Eden sah sich panisch nach einer Möglichkeit um, zu entkommen, aber sie hatte, nach wie vor, mindestens ein Dutzend Piraten im Rücken, die sie nicht so einfach davon kommen lassen würden.
Die Gejarn sah in Richtung Reling. Schwimmen. Das wäre ihre einzige Chance. Geister, wenn sie wüsste ob die Küste nah genug dafür war. Und in welcher Richtung… und noch wichtiger, konnte Zachary schwimmen? Sie hätte auf keinen Fall die Kraft, ihn längere Zeit mitzuziehen.
Nicht mit all den kleinen und größeren Verletzungen, die sich jetzt, wo das Adrenalin verschwand, immer deutlicher bemerkbar machten.
Vance wandte sich derweil an Alvarez, dem eine Klinge an die Kehle gelegt wurde. Auf einen Fingerzeig des Piraten jedoch, verschwand das Schwert. Als würde er einen alten Freund begrüßen, packte er den Mann bei den Schultern und zog ihn auf die Füße.
„Nun, Sir, sieht aus als fänden Wir Uns in einer unschönen Situation wieder was ?“ Vance lachte, als würde es das Blutbad um ihn herum überhaupt nicht geben.
Der Kapitän zwang sich zu einem gequälten Lächeln.
„Ja… sieht… sieht ganz so aus.“
„Nun vielleicht können wir ja herausfinden, was passiert ist meint Ihr nicht auch? Von Käpt’n zu Käpt’n.“ Vance grinste noch immer, aber Eden konnte sehen, das seine Augen dabei kalt blieben. Blaue Eiskristalle, die keinen Moment von Alvarez Gesicht schwenkten. „Ihr seid doch der Kapitän dieses Schiffes?“
„Alvarez Cartesius. Ich bin Mitglied der Händlergilde von Risara, wenn ihr….“
„Das habe ich nicht gefragt.“ Vance winkte einen seiner Männer herbei, der ihm eine Flasche Rum in die Hand drückte. Er nahm einen tiefen Schluck und wandte sich dann wieder Alvarez zu. „Wie es aussieht, oder wie es für mich aussieht, habt ihr Euch unter Deck verkrochen während Eure Crew hier draußen… verunglückt ist, ja? Das hätte doch alles vermieden werden können.“
„Und wer sollte euch das verraten…“ sein Blick blieb bei Eden hängen. „Glaubt der bloß kein Wort. Diese Frau macht nichts als Ärger, schon seit Wochen.“
Vane achtete nicht darauf sondern schüttete Alvarez den restlichen Inhalt der Flasche über die Weste. Der Kapitän zuckte zusammen und versuchte wegzuspringen, im gleichen Moment jedoch, wurde er von zwei Männern an den Armen gepackt.
„Schnauze.“, meinte Vance kalt, während nun der beißende Geruch von Alkohol in die Luft stieg. „Nun Herr Cartesius, ich glaube, was ich sehe. Und ich sehe sie hier, zwischen den Leichen Eurer Matrosen. Wo eigentlich ihr stehen solltet.“ Vance griff nach einer weiteren Rumflasche, bevor er nahe an Alvarez herantrat. Seine nächsten Worte waren leise, aber dennoch deutlich genug, das sie niemand überhören konnte. „Wisst Ihr… es gibt zwei Dinge, die ich wie nichts auf dieser Welt hasse. Das erste sind Gejarn. Kann die Pelztiere nicht ausstehen versteht Ihr?“
Alvarez grinste nervös.
„Ja natürlich, natürlich… ich sage ja, sie lügt. Man kann Gejarn nicht trauen nicht wahr?“
Vance lachte und klopfte dem Mann auf die Schulter. Dabei schwappte der Rum über den Kapitän und durchtränkte nun auch noch dessen Haare.
„Na bitte. Ich sollte die da…“ er deutete auf Eden. „Also eigentlich häuten und Euch einsperren und irgendwo gegen Lösegeld eintauchen, oder?“
Alvarez wischte sich den überschüssigen Schnaps aus den Haaren wagte aber wohl nicht, wegzugehen. Vance hatte sich umgedreht immer noch lachend.
„Ist das nicht was, Leute?“ Einige der umstehenden Gestalten stimmten unsicher in das Gelächter ihres Anführers ein.„Nun Kapitän. Wisst Ihr, was die zweite Sache ist, die ich verabscheue? Die ich noch zehnmal mehr hasse, als jeden Gejarn?“ Alvarez lächeln gefror.
„Was…. “
„Einen Feigling.“ Vance hatte sich wieder umgedreht und hielt einen kleinen Kristall in der Hand. Tiefrot schimmerte das Juwel. Eden erkannte es wieder. Ein Zauber….
Der Kapitän sah es auch und versuchte sich loszureißen. Er trat nach den Männern, die ihn festhielten. Seine Kleider waren nach wie vor mit Alkohol durchtränkt….
„Wartet… wartet....“
„Ihr seid ein Feigling, Alvarez.“, erklärte Vance ganz sachlich und kalt. Dann schnippte er einmal gegen den Stein. Sofort schlugen Flammen daraus hervor. „Und wisst Ihr, was ich mit Feiglingen mache? Ich lasse sie brennen.“
Er ließ den Stein in die Rumpfützen zu Alvarez Füssen fallen. Sofort loderten bläuliche Flammen in die Höhe und griffen nach der Kleidung des Kapitäns. Seine zwei Bewacher ließen Alvarez los, als die Flammen sich rasch ausbreiteten. Blind und schreiend, riss sich der Kapitän los und torkelte, nun eine lebendige Fackel, auf dem Schiffsdeck umher. Eden wandte sich ab und zog Zachary mit sich. Geister, sie hatte sich gewünscht den Kerl tot zu sehen. Aber ganz sicher nicht so. Das war nur… grausam.
Alvarez versuchte wohl, mit einem letzten Anflug klaren Verstandes, in Richtung Rehling zu gelangen. Seine Hände legten sich auf das Holz. Die Haut darauf warf bereits Blasen und der Geruch von brennendem Fleisch, brachte die Gejarn fast dazu sich zu übergeben. Bevor der Kapitän dazu kam, sich über Bord zu stürzen, zog Vance eine Pistole aus seinem Gürtel, richtete sie auf Alvarez und drückte ab. Die Kugel zerschmetterte ihm den Schädel und der nach wie vor brennende Leichnam kippte vornüber ins Meer.
„Warum?“, flüsterte Eden leise.
Vance hörte sie offenbar trotzdem. Er drehte sich zu ihr um und schien einen Moment unsicher, ob er die nächste Kugel gleich für sie verwenden sollte.
„Ich beurteile Menschen genau nach einer Sache. Nach ihrem Nutzen. Und einen Feigling braucht niemand. Nicht mal die Ahnenhallen. Sagt jetzt bloß, der Mann der seine Crew dem Tod überlässt, hätte das nicht verdient.“
„Nicht so.“
Der Pirat ließ die Waffe sinken.
„Und wer seid Ihr, dass Ihr glaubt, das bestimmen zu können?“
„Mein Name ist Eden…. “
„Nun, Eden, dann ein paar Worte zum Abschied... oder wollt Ihr mir erklären, warum ich Euch nicht einfach über Bord werfen sollte? Oder Ihr nehmt die Pistole. Ist vermutlich schneller vorbei, als irgendwann langsam zu ertrinken. Sucht es Euch aus.“
Sie merkte wie ihre Hände anfingen zu zittern. Geister… was sollte sie tun. Was konnte sie tun?
„Alles.“
Vance hob eine Augenbraue.
„Wie bitte?“
„Ich tue was Ihr wollt. Wenn Ihr mich nur verschont. Und den Jungen.“
Der Piratenkapitän schlug sich mit einer Hand vors Gesicht, so als hätte sie grade tatsächlich etwas unglaublich dämliches gesagt. Aber aus Edens Sicht war es das einzige, das ihr eine schmale Chance gab, ihre beiden Leben noch einmal zu retten.
„Vielleicht ist es Euch nicht aufgefallen, aber Ihr habt nichts, was mich interessiert. Und ich habe auch meine Ehre. Abgesehen davon, dass ich Gejarn nicht besonders mag, wie Ihr mitbekommen haben solltet. Was bringt Euch also auf die verrückte Idee ich wollte eine in meinen Bett? Das wäre der einzige Wert, den Ihr hättet, falls Ihr Euch darüber nicht klar seid. Nein glaubt mir. Euer Weg endet hier.“
Vance zog eine zweite, geladene Waffe aus seinem Gürtel und richtete diese auf sie.
Eden schloss die Augen. Für sie selbst war es vorbei. Aber… sie könnte Zachary vielleicht noch retten. Egal, was das für ihn bedeutete.
„Wenn nicht ich, dann wenigstens Zachary. Ich habe geschworen auf ihn aufzupassen. Er gehört zur Familie de Immerson, wenn Ihr ihn zurück bringen könntet, wäre die Belohnung unvorstellbar.“
Der Kapitän hielt abermals inne und ließ die Pistole sinken.
„Wie? Kein Betteln um Gnade mehr, na dann auch gut. Ich werde darüber… nachdenken, wenn eure Geschichte stimmt. Aber das ist…mutig.“
Vance zielte erneut. Eden wartete. Einen Moment fragte die Gejarn sich, ob sie den Schuss hören würde. Oder ob es vorher schon vorbei wäre. So oder so. Sie hatte getan, was sie konnte, nicht? Hätte sie irgendetwas anders machen müssen? Nein, sagte sie sich. Das war nichts, das sie beeinflussen konnte. Und wie viel Zeit wollte der Kerl sich eigentlich noch lassen?
Eden sah auf und drehte sich zu dem Kapitän um.
„Schießt ihr jetzt, oder was?“
Was sie jedoch sah, machte sie stutzig. Ein Dutzend kreidebleicher Piraten, die vor ihr zurückwichen. Vor ihr… und Zachary.
Vance hatte die Waffe nicht mehr in der Hand. Die Pistole schwebte völlig frei vor ihm in der Luft und drehte sich langsam in Richtung des Kapitäns.
Der junge Magier hatte sich vor Eden gestellt und hätte das in jeder anderen Situation beinahe komisch gewirkt… in der jetzigen war es erschreckend. Eden hatte etwas ähnliches erst einmal erlebt, damals in den Verliesen unter Silberstedt. Doch seitdem waren Monate vergangen. Monate, in denen Zacharys Macht heimlich wachsen konnte.
Als wäre sie unter ein unvorstellbar schweres Gewicht gelangt, verbog sich die Waffe plötzlich und wurde auf einen Schlag und mit lautem Krachen zusammengestaucht. Alles was blieb, war eine Kugel aus Holz und Stahl, die völlig nutzlos zu Boden fiel. Wind, den niemand von ihnen spüren konnte, bauschte die Kleidung des Magiers, als er vortrat. Kleinere Splitter und Holzbruchstücke um Zachary, gingen spontan in Flammen auf.
„Lasst sie in Ruhe.“ Eden hätte nie gedacht, das ein Kind mit Autorität sprechen könnte. Aber entweder verstärkte die Magie auch Zacharys Stimme… oder sie hatte ihn bei weitem unterschätzt.
Einer der Piraten zog nervös das Schwert. Noch bevor er die Waffe sicher gepackt hatte wurde sie ihm jedoch von einer Windböe aus der Hand gerissen. Er stolperte bis an die Reling zurück, während der Säbel ins Meer geschleudert wurde.
Die Gejarn legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter.
„Zachary…“
Sie konnte beinahe dabei zusehen, wie die Farbe aus seinen Haaren wich. Geister, sie hatte vielleicht davon gehört, es aber noch nie gesehen. Die Piraten waren mittlerweile alle bis ganz an die Reling zurück gewichen und offenbar kurz davor, sich zurück auf die Windrufer zu retten. Alle bis auf einen.
Vance lachte, während der magische Sturm um ihn herum tobte.
„Ich glaube, wir müssen doch noch einmal reden.“, rief er über das Tosen hinweg. „Oder Euer Freund da zerschmettert uns alle, aber dann sitz Ihr hier draußen fest.“
„Zachary…“, flüsterte sie wieder. Vance konnte ihr gestohlen bleiben, aber die Angst über das, was sich der Junge da grade antat... er musste aufhören und zwar sofort. „Zachary schau mich gefälligst an.“
Träge drehte der junge Zauberer den Kopf. Sie konnte die Funken der Magie sehen, die in seinen Augen tanzten… und sein Leben verzehrten. Nur langsam flaute der Orkan ab, der auf dem Deck getobt hatte. Magische entfachte Feuer verloschen und der Wind kam zum erliegen. Kleinere Holzstücke, die der Sturm aufgewirbelt hatte, regneten herab. Und… Asche….
Bitte lass die nicht von Alvarez sein, dachte Eden bei sich.
Vance grinste, scheinbar zufrieden.
„Sehr schön. Sehr eindrucksvoll… Der Kleine ist also ein Magier?“
Eden antwortete nicht als Zachary vor ihr zusammensank. Sofort fing sie den Jungen auf. Die grauen Strähnen, die in seinen Haaren glitzerten verschwanden langsam wieder. Er atmete noch, stellte sie erleichtert fest. Aber… das war auch schon alles, was gut an dieser Situation war.
Die Gejarn sah zu Vance und nickte schließlich. Was interessierte ihn das? Jetzt wo Zachary bewusstlos war, könnte er sie nach wie vor einfach töten.
Stattdessen jedoch bedeutete der Kapitän seinen Leuten, zu bleiben wo sie waren.
„Keine Sorge, wir haben einen Schiffsarzt, der kann ihn sich mal ansehen.“ , meinte er jedoch stattdessen.
„Wieso solltet ihr…“ er gab zwei seiner Leute ein Zeichen. Eden zögerte anfangs… dann jedoch ließ sie zu, das sie Zachary sanft aufhoben und in Richtung Windrufer brachten.
„Und wir müssen uns, glaube ich, unterhalten.“, stellte Vance fest. „In meiner Kajüte. Los“ Er achtete nicht darauf, ob Eden ihm wirklich folgte. Aber nachdem sie sich von der allgemeinen Überraschung erholt hatte, stand sie schließlich auf. Sie musste sich beeilen um Vance noch einzuholen.
„Ein freier Zauberer, so etwas…“, murmelte er, als er eine Leiter zum Deck der Windrufer erklomm. Die Tiamat blieb hinter ihnen zurück. Mit einem Ruck löste sich das Handelsschiff von dem größeren Kriegsschiff und trieb schnell zurück in eine Nebelbank.
Kapitel 18
Das Vermächtnis
Eden warf einen flüchtigen Blick über das Deck der Windrufer. Das Schiff war im Vergleich zu Tiamat riesig. Zu anderer Zeit war es wohl einmal ein Herzstück der kaiserlichen Flotte gewesen, doch nun segelte es ohne erkennbare Hoheitszeichen. Und nur noch einem Mann hörig. Vance Livsey.
Eden fragte sich, wie es der Mann geschafft hatte, ein imperiales Schlachtschiff unter seine Kontrolle zu bringen. Man würde eine kleine Flotte brauchen, wenn das Schiff voll besetzt war. Und selbst dann würde vermutliche in Teil davon als Kleinholz enden.
Sie folgte dem Kapitän über das Deck und suchte dabei nach Zachary. Aber wo immer der Junge war, sie konnte ihn nirgendwo finden. Ruhig, sagte sie sich selbst. Vance würde ihm nichts tun, dafür hatte er Gelegenheit gehabt….
Trotzdem wünschte sie sich, noch irgendeine Waffe zu haben. Nur für den Fall.
Vance bedeutete ihr einfach, ihm weiter zu folgen, als er die Tür zur Schiffskajüte aufstieß. Der Raum den sie betrat war groß genug, um einer kleinen Versammlung Platz zu bieten. Für den Augenblick aber, war sie allein mit dem Kapitän, der scheinbar so plötzlich seine Meinung geändert hatte.
Licht fiel durch eine Reihe von Glasfenstern am anderen Ende des Raums und beleuchtete die Einrichtung. Einen Tisch mit Stühlen, ein Bett in fensternähe und zwei Regale. Eines enthielt ein buntes Sammelsurium aus Gegenständen. Schwerter, Pistolen, Trinkbecher und halbvolle oder volle Flaschen. Das andere, war bis unter die Decke mit Büchern und Schriftrollen vollgestopft. Auch wenn die meisten Werke unachtsam aufgestapelt waren und die Buchrücken vielfach beschädigt wirkten, es sah so aus, als würde Vance viel Zeit mit Lesen verbringen.
„Setzt euch doch.“, meinte er beinahe eine Spur zu freundlich, während er das Bücherregal durchsuchte. Eden zog nachdenklich einen der Stühle vom Tisch. Irgendetwas hatte sich verändert, als der Mann erfahren hatte, das Zachary ein Magier war. Die Frage war nur was… und ob das wirklich reichte sie zu retten.
„Könnt ihr eigentlich lesen?“, wollte Vance wissen.
„Ich habe es gelernt, ja.“
Der Kapitän nickte, als hätte er mit dieser Antwort gerechnet.
„Viel zu viele machen sich nicht die Mühe. Ich anfangs auch nicht, aber mit der Zeit lernt man zu schätzen, was man aus ein paar Seiten Pergament lernen kann.“
„Es ist nicht so, dass ich die Wahl gehabt hätte.“, antwortete Eden kurz angebunden.
„Hmm… Soll ich raten? Ihr seid unfrei ja? Mit dem Jungen auf Reise geschickt?“ Vance hatte scheinbar gefunden, was er gesucht hatte, denn er kehrte mit einem Bündel Papier unter dem einen und einer Flasche samt Gläsern in der anderen zurück.
Eden zuckte mit den Schultern.
„Könnte man so sagen. Auch wenn ich bezweifle, dass einer meiner Herren noch weiß das ich lebe. Oder dass es sie groß kümmert.“
Der Kapitän stellte den Stapel Schriftstücke achtsam auf den Tisch ab, bevor er sich selber in einen Lehnstuhl fallen ließ. Er zog den Korken aus der Kristallflasche, die er mitgebracht hatte, roch kurz daran und füllte dann eines der Gläser.
„Branntwein, aus Kalenchor. Ziemlich schwer zu bekommen, vor allem weil die Weingärten dort in letzter Zeit häufiger in Flammen stehen. Ein Glas?“
Eden seufzte.
„Was wollt Ihr? ich bin nicht noch am Leben, weil Euch das grade so eingefallen ist.“
„Und wenn dem so wäre, wäre es egal.“ Vance stellte das Glas beiseite und Begann die Schriftrollen, die er mitgebracht hatte zu durchblättern. Schließlich zog er einen einzigen Bogen brüchiges Pergament unter den anderen hervor und reichte ihn Eden.
„Das ist der Originaltext einer Wandinschrift… die vom alten Volk stammt.“ Eden war nicht abergläubisch, aber selbst ihr lief bei Erwähnung des Namens ein kleiner Schauer über den Rücken. Das Gründervolk. Die erste intelligente Spezies, die den Kontinent beherrschte… und die Welt darüber hinaus. Und die Quelle der Magie. Heute war von ihnen nichts mehr als einige verlassene Tempel und überwucherte Ruinen in den verwilderten Teilen Cantons geblieben. Doch noch immer führte vor allem der Sangius-Orden, Ausgrabungen in diesen lange toten Städten und Siedlungen durch und förderte Artefakte von einer Kunst und Macht zutage, die alle Zauberer des Kaiserreichs nicht nachzuvollziehen mochten. Nur das alte Volk hatte das Kunststück fertig gebracht, kristalline Magiespeicher zu fertigen, die nicht nach einer oder wenigen Anwendungen zersprangen. Auf dem Schwarzmarkt brachte schon ein einziger dieser Steine ein Vermögen.
Sie zog das Pergament zu sich heran, musste aber feststellen, dass sie die geometrischen Muster nicht lesen konnte. Bestenfalls wurde ihr schwindlig, wenn sie die von einer uralten Felswand abgepausten Formen zu lange betrachtete.
„Ich weiß nicht, was da steht…“, gab sie schließlich zu.
Vance lachte.
„Ich auch nicht, aber dafür, habe ich die hier.“ Er zog ein zweites Pergament hervor. Dieses Mal erkannte die sie Schriftzeichen. Mit schwarzer Tinte verfasste Runen.
Aber wirklich schlau daraus wurde sie nicht.
„17 und 21, die ferne Küste, abseits des Mauls des Drachens, bot der Fels die Zuflucht. So ließen wir den Morgendämmerung hinter uns, zu retten was zu retten ist.“ Eden sah verwirrt auf. Wollte sich Vance am Ende nur einen bösartigen Scherz mit ihr erlauben? Er hatte sich auch aus Alvarez Tod einen mehr als düsteren Witz gemacht.
„Was, bei allen Seelen meiner Ahnen, soll das den bedeuten?“
Der Kapitän lächelte.
„Ich habe selber eine Weile gebraucht, um ganz dahinter zu kommen. Und ich musste mehr als einen Gelehrten ähm… überzeugen. Offenbar liebte es das alte Volk, in Rätseln und Metaphern zu sprechen. Die Rede ist von einem Ort, den das alte Volk aufsuchte, als ihre Jahrtausende lange Herrschaft zu bröckeln begann. Eine letzte Zuflucht, abseits ihrer alten Heimat. Wie die Zwerge traten sie die Flucht über die See an.“
Eden musste dem Redefluss des Kapitäns Einhalt gebieten. Vance schien beinahe überschwänglich und sie musste zugeben, dass es… einen Hauch von Faszination auf sie ausübte.
„Moment, das alte Volk ist tot, toter geht es gar nicht. Das einzige was wir finden sind ab und an Skelette.“
„Deshalb können wir davon ausgehen, dass ihr Plan schief ging. Ich habe noch nicht alles gelöst, aber das Maul des Drachens ist offenbar die Meerenge, zwischen der Landbrücke im Osten und den beiden Hälften des Kontinents, mit Canton im Norden und Helike und den Kultisten im Süden. Also ein erster Hinweis. Morgendämmerung ist der Name des alten Volkes für Halven, den Kontinent, den Canton beherrscht. Sie verließen Canton also nach Westen. Über die Sonnensee. Die ferne Küste, muss einfach die Nebelklippen beschreiben, von denen in alten Aufzeichnungen die Rede ist. Der zweite Kontinent.“
„Niemand hat die Nebelklippen in beinahe einem halben Jahrhundert auch nur gesehen oder ist zurückgekehrt um davon zu berichten.“
„Wir müssen sie auch gar nicht erreichen.“, erklärte Vance.
„Ihr sprecht von… bot der Fels die Zuflucht. Fels… eine Insel, oder? Das alte Volk zog sich in seinen letzten Tagen, auf eine Insel vor der Nebelküste zurück.“ Vance nickte breit grinsend.
„Ihr habt ja was im Kopf, Mädchen.“
„Und… was befindet sich dort?“
Der Kapitän lachte.
„Die womöglich größte Sammlung magischer Artefakte die es auf dieser Welt gibt, Eden. Ein Schatz, der den Kaiser arm wirken lassen würde.“ Er schlug mit der Faust auf den Tisch und rollte ein weiteres Pergament aus. Eine Karte Cantons und des umgebenden Meeres. „Ich möchte, dass Ihr Euch das einmal vorstellt. Eine noch nicht von Scharen habgieriger Hexer geplünderte Stadt des alten Volkes. Eine Zuflucht, auf die sie alles brachten, was sie als Rettens wert erachtete. Ihr Wissen. Ihre Macht und am wichtigsten ihre Schätze. Ich habe das Gebiet, in dem ich suchen muss, bereits weit eingegrenzt. Hier.“ Er zeigte auf einen Punkt auf der Karte, den er mit roter Farbe umrandet hatte. Eden besah sich das Gebiet. Es wäre nach wie vor eine riesige Fläche Wasser, in dem dieser Mann hoffte, auf Land zu stoßen. Praktisch zufällig…. Es sei denn… es sei denn, er hätte einen Kompass. Jemanden, der ihm sagen konnte, ob irgendwo Magie in der Nähe wäre.
Sie ahnte was er vorhatte. Trotzdem fragte sie:
„Was hat das mit dem Umstand zu tun, das ich noch lebe?“
„Das ist eigentlich ganz einfach. Euer Junge wird die Insel für mich finden. Es sind drei Monate auf offener See, bis in das Gebiet in dem ich suchen werde. 3 Monate ohne einen Hafen oder die Gelegenheit Vorräte zu bekommen. Aber was mir das einbringen könnte… ich bin seit Jahren dabei, alles für eine solche Expedition zusammenzubekommen. Fast alles, was mir als Kapitänsanteil zusteht, geht seit geraumer Zeit in Vorräte und Ausrüstung für diese Reise. Und jetzt ist es fast so weit, mir fehlt nur noch eines. Ein Zauberer. Jemand, der die Magie der Insel aufspüren kann. Magier haben ein natürliches Gespür für so etwas. Ich muss nur in die grobe Nähe gelangen….“ Vance klatschte in die Hände. „Der Sangius-Orden kauft sicher gerne alles, was wir finden und der kaiserliche Goldschatz kommt dafür auf. Und was übrig bleibt… nun nicht nur der Orden kauft magische Artefakte.“
Vance lehnte sich auf seinem Platz zurück, scheinbar zufrieden damit, seinen Plan dargelegt zu haben. Er faltete die Hände ineinander und schien darauf zu warten, das Eden irgendetwas sagte.
Sie sah auf die Karten und die Schriftrollen. Geister, dass sie in so etwas geriet. Dann sah sie wieder zum Käpt’n. Dieser Mann sprach von nichts geringerem, als davon, den größten Schatz aller Zeiten zu finden. Und mehr… eine Stadt des alten Volkes. Völlig unberührt von anderen Menschen oder Gejarn. Und doch klang er nicht wie ein Wahnsinniger. Grausam, ja, das hatte sie mit eigenen Augen gesehen. Vance würde jeden ohne zu Zögern töten, bei dem er das für nötig hielt. Auch sie. Besonders sie… aber er war nicht wahnsinnig.
Und das hier war eine Gelegenheit, von der sie nie auch nur geträumt hätte.
Die anderen waren alle tot. Es war noch nicht ganz in ihrem Verstand angekommen und sie blieb seltsam ungerührt darüber. Vielleicht war sie einfach schon abgestumpft. Sie konnte an dieser Tatsache schlicht nichts mehr ändern. Aber sie und Zachary lebten noch. Sie lebten, auf der Flucht vor ihren ehemaligen Meistern und ohne Chance auf Sicherheit. Eine Chance, die sich hier genau vor ihr auftat. Geister, selbst mit einem Bruchteil der Schätze von denen Vance sprach, könnte sie sich für alle Ewigkeit loskaufen. Sie hätte die Mittel, für immer zu verschwinden und für den Rest ihres Lebens sorglos zu sein. Eden kannte das Gefühl von Gier. Wenn man ausgehungert auf Essen wartete, lernte man es sogar schätzen. Aber das hier war eine andere Spielart davon. Es war ein Ausblick. Auf ein Leben, das wieder eines wäre. Das ganz und gar wieder ihr gehören könnte. Ein Leben, das sie wollte. Ein Lichtschimmer am Horizont, von dem man schon wusste, dass er einen blenden würde, wenn man näher kam.
„Und was habe ich davon?“, fragte Eden schließlich.
„Ihr bringt mich zur Insel und ich lasse Euch dafür leben.“
Nun war es an Eden, sich auf ihrem Platz zurück zu lehnen.
„Nein.“ Sie hatte nur diese eine Gelegenheit, aus dem Ganzen herauszuschlagen was ging.
Vance wäre beinahe von seinem Platz gefallen. Er sah sie verdutzt an. Fast hätte man meinen können, sie hätte ihn ins Gesicht geschlagen.
„Wie nein?!“ Er klang nicht wütend, sondern noch mehr, als hätte ihn jemand vor den Kopf gestoßen. Und das, erinnerte sich Eden, war genau das, was sie vorhatte.
„Ich will einen Anteil, von allem, was wir finden.“, erklärte sie und genoss tatsächlich ein wenig den Ausdruck, noch größeren Entsetzens auf Vances Gesicht. „Und ich will, dass Ihr mir den zusichert. Mit Brief und Siegel und Eurem Ehrenwort.“
„Ihr seid wirklich nicht in der Situation, irgendetwas zu fordern… Eden. Zwingt mich nicht, Euch daran zu erinnern.“
„Oh, ich glaube schon. Natürlich könntet Ihr mich töten. Aber ob Zachary Euch dann jemals helfen wird, anstatt einfach das Schiff zu Kleinholz zu verarbeiten….“
Vance lachte.
„Ihr wollt, das ich Euch einfach mitschleppe, nur als Bequemlichkeit und Euch dann einen Batzen Gold in die Hand drücke, wenn wir unser Ziel erreichen? Ihr seid vielleicht dreist. Das gefällt mir. Aber wenn ich Euer ehemaliger Herr wäre, ich würde euch an die Haie verfüttern.“
„Spinnen.“, erwiderte Eden trocken.
„Was?“
„Man hat versucht, mich an eine Riesenspinne zu verfüttern. Das ging nicht so gut aus. Für die Spinne.“
„Könnt Ihr denn irgendetwas von Wert beisteuern, außer Eure Fähigkeiten bei der Ungezieferbekämpfung? Jeder in meiner Crew beherrscht das Segeln, wie man Wassertiefen misst, wie man seine Position auf dem Ozean an der Sonne und den entsprechenden Tabellen abliest und wie man einen Kompass bei Sturm benutzt. Könnt Ihr irgendetwas davon?“
Eden schüttelte den Kopf, fügte aber entschlossen hinzu:
„Nein, aber ich kann es lernen….“
„Lernen… Mädchen habt Ihr eine Ahnung von was Ihr da redet?“
„Und ob ich das weiß. Und nebenbei kann ich alle Eure Bücher noch einmal durchgehen. Wenn es Hinweise gibt, die Euch entgangen sind… finde ich die. Mit dem richtigen Anreiz natürlich.“ Sie stand auf und stützte sich mit den Händen auf dem Tisch ab. „Also, was sagt Ihr?“
Kapitel 19
Sturm
Es dauerte eine Weile, bis der Kapitän der Windrufer wieder etwas sagte. Eden wusste nach wie vor nicht, was sie von dem Mann halten sollte. Gefährlich war er allemal, das hatte er mehr als unter Beweis gestellt. Aber auf eine Art auch überraschend vernünftig.
„Also gut. Ich biete Euch den dreißigsten Teil von allem was wir finden“, sagte Vance schließlich.
„Den zehnten“, erwiderte Eden sofort.
Der Kapitän lachte.
„Seid Ihr völlig verrückt? So viel bekommt nicht mal mein erster Maat. Und der ist mir nicht bloß zufällig vor die Nase gelaufen. Fünfundzwanzig.“
„Fünfzehn, oder vergesst es.“
Vance seufzte.
„Einigen wir uns auf 20… Und ihr werdet alles lernen, um euch nützlich machen zu können.“ Er begann die auf dem Tisch verteilten Papiere wieder zusammenzurollen und stürzte den Rest Schnaps herunter.
„Ihr könnt schwimmen?“
„Ja, wieso ?“
Etwas glitzerte in den Augen ihres Gegenübers. Boshafter Schalk, den sie nur zu gut zu kennen glaubte. Es waren die Augen eines Andre de Immerson.
„Weil Ihr garantiert nass werdet.“
Vance streckte ihr eine Hand hin. An den Fingern des Kapitäns glitzerten mehrere Ringe, in die kleinere Juwelen eingelassen waren. Ohne noch zu lange nachzudenken, schlug sie schließlich ein. Dann sollte es so sein. Der zwanzigste Teil… selbst wenn sie nur eine Handvoll magischer Kristalle fänden, würde das ausreichen, um sie und Zachary eine ganze Weile über Wasser zu halten.
Als sie danach auf das Deck der Windrufer hinaustrat, wartete dort bereits Zachary. Der junge Magier stand an der Reling und sah über das Schiff hinweg. Graue Wolken waren am Himmel aufgezogen und feiner Nieselregen überzog alles an Deck mit einer feinen Wasserschicht.
„Wir sind nicht mehr auf der Tiamat, oder? Was ist passiert?“, wollte er wissen. Eden setzte sich zu ihm. Seine Haare hatten wieder ihren gewohnten dunklen braunton angenommen, aber nicht ganz. Einige graue Strähnen waren geblieben, so als hätte etwas den Jungen vorzeitig altern lassen. Und dem war auch so, dachte sie besorgt.
„Einiges“, antwortete sie, während sie zu erzählen begann, was er verpasst hatte. Die Gejarn konnte sich nicht sicher sein, an wie viel er sich nicht erinnerte. Also fasste sie alles zusammen vom Auftauchen der Windrufer bis zu ihrem Gespräch mit Vance. Nur ein paar Details ließ sie aus. Der Junge brauchte sich nicht an Alvarez Tod erinnern. Oder an den der anderen….
Das würde eine lange Reise werden, das war ihr klar. Ihr Erfolg war alles andere als garantiert. Und ob sie Zachary die zumuten konnte, war eine ganz andere Frage. Aber wenn sie sich auf ihren Instinkt verließ… dann war es die richtige Entscheidung. Nicht, dass sie eine Wahl hätte, dachte die Gejarn.
Die nächsten Tage brachte sie vor allen damit zu, wie versprochen, Vance Bücher durchzugehen. Der Mann hatte sich eine kleine Sammlung über das alte Volk zugelegt, wie es schien. Das meiste waren trockene Texte, denen man anmerkte, dass sie zur reinen Dokumentation verfasst worden waren. Sie musste sich zwingen, trotzdem weiterzumachen. Aufzeichnungen über den Mondkalender den das alte Volk verwendete, Schriften mit Aufzeichnungen über Sprache oder Gesellschaft… aber es waren bestenfalls Bruchstücke. Wirklich viel war nicht bekannt und die verschiedenen Gelehrten wiedersprachen sich teilweise ins extreme in ihren Mutmaßungen. Einige argumentierten, das alte Volk sei vielleicht sogar ausschließlich Nachtaktiv gewesen, wegen ihrer Verehrung der Sterne, andere wiederum meinten sogar, sie hätten mit ihrer Magie den Himmel, in weiten Teilen der Welt verdunkelt. Das meiste vergaß sie wieder in dem Moment, wo sie es las. Es war schlicht unwichtig.
Lediglich in einem waren sich alle einig. Die Magie, die die Alten beherrschten würde selbst den mächtigsten Großmagiern des Ordens das fürchten lehren. Was das für ihre Reise bedeutete, konnte Eden unschwer erraten. Wenn es eine Stadt gab, war diese sicher nicht ohne Schutz erbaut worden. Schon gar nicht, wenn es ihre letzte Zuflucht werden sollte. Und egal, wie lange das her sein mochte… magische Fallen waren von der Zeit kaum betroffen. Nur wenn ihre Quelle versagte würden auch die Hindernisse entschärft.
Die Crew bemühte sich, einen weiten Bogen um sie zu machen, etwas das Eden sehr gelegen kam. Sie bezweifelte, dass die schwarz gekleideten Piraten sie so schnell akzeptierten. Vance Befehle hin oder her. Lange jedoch, konnte sie sich nicht von ihnen fern halten. Spätestens, als Vance begann seine Drohung oder sein Versprechen wahr zu machen. Sie lernte… und wurde tatsächlich mehr als einmal nass dabei. Navigation, Segeln, Steuern, aber auch so simple Dinge, wie mit einer Pistole zu zielen und Pulverwaffen nachzuladen. Und offenbar gab es sogar eine Handvoll Leute an Bord, die Zimmermannshandwerk beherrschten, um das Schiff im Notfall notdürftig zu reparieren. Es gab so viele Dinge, von denen sie nicht wusste und sie würde zumindest einen Teil davon beherrschen müssen, bevor diese Reise zu Ende ging. Wenn sie sich ihren Anteil verdienen wollte. Und darauf war sie aus. Es war harte Arbeit aber auf eine Art auch… gute Arbeit. Wie auch schon auf der Tiamat, war es ein leichtes Hochgefühl, das von ihr Besitz ergriffen hatte. Das Gefühl auf dem offenen Meer zu sein, schätzte sie, auch wenn es ihr Unmöglich war, das zu beurteilen. Die Windrufer war das zweite Schiff, auf das sie je einen Fuß gesetzt hatte.
Der leichte Salzgeschmack, den man ständig auf der Zunge hatte, gehörte wohl ebenso dazu, wie der Umstand, dass die Welt niemals zur Ruhe kam. Der Boden schwankte ständig und jetzt, wo das Wetter sich verschlechterte, bekam sie zum ersten Mal einen Eindruck davon, was es hieß, einem Sturm auf dem offenen Meer ausgesetzt zu sein. Die Windrufer war ein Schlachtschiff und gut dreimal so groß wie die Tiamat. Aber den Wellen der See hatte sie trotzdem scheinbar wenig entgegenzusetzen.
Aus den grauen Wolken, die vor einer Woche noch für leichten Nieselregen gesorgt hatten, war ein ausgewachsener Sturm geworden.
Obwohl Vance sie nur den Rand kreuzen ließ, war es doch genug. Zachary und jeder, der nicht an Deck gebraucht wurde, hatte sich unter Deck geflüchtet. Auch dort musste Ladung gesichert, die Luken verschlossen und generell alles darauf überprüft werden, ob es noch Wasserdicht war.
Die Wellen spülten über die Planken und rissen jeden, der unvorsichtig genug war, ohne Probleme von den Füßen. Eden behalf sich, wie viele andere an Deck mit einem simplen Seil um die Hüfte. Besser, als ins Meer gespült zu werden, war es allemal. Auch wenn das vom Wasser her keinen großen Unterschied mehr machte. Der Regen fiel in dichten Fäden vom Himmel und verhinderte dass sie weiter als ein paar Schritte sehen konnte.
Vance hatte damit offenbar kaum ein Problem.
„Holt mir die Segel ein oder der Sturm macht Fetzen daraus“, rief er über das Tosen des Winds hinweg. Der Kapitän war bis auf die Haut durchnässt, wie sie alle. Das Wasser stand ihm vermutlich schon in den Stiefeln und lief in einem stetigen Rinnsal aus seinem Hut.
Eden beeilt sich, wie der Rest der Mannschaft, dem Befehl nachzukommen. Ein paar Leute liefen zu jeden der fünf Masten der Windrufer. Die Gejarn beeilte sich, durch den Regen zum Großsegel zu gelangen. Bevor sie jedoch weit kam, geriet das ganze Schiff erneut in Schieflagelage. Eden hatte aufgehört, sich groß mit den Wellen zu beschäftigen, die die Windrufer trafen. Doch diesmal war irgendetwas anders… Die Planken unter ihr gerieten so weit in die Schräge, so dass ihre nackten Füße auf dem Boden ins Rutschen gerieten. Das Wasser, das plötzlich über Deck spülte, traf sie bereits ungünstig und sie verlor endgültig den Boden unter den Füßen. Einen Moment wirbelte nur alles durcheinander, sie geriet mit dem Kopf unter die Wasseroberfläche, schluckte Salzwasser… und dann kam ihr Sturz mit einem schmerzhaften Ruck endlich zu einem Halt. Das Seil hatte gehalten, dachte Eden benommen, während das Schiff sich nun zur anderen Seite neigte und zurück ins Wasser schlug. Geister, dass die Holzkonstruktion das aushielt. Sie hustete Wasser.
„Hey, Ihr wolltet doch nicht etwa Schwimmen gehen, oder?“, meinte eine spöttische Stimme neben ihr. Eine Hand packte sie unterm Arm und zog sie wieder auf die Füße. Einer der Matrosen, wie sie durch die Regenschleier erkannte. Wie hieß der Mann? Armin? Sie hatte noch keine Zeit gehabt, sich alle Namen einzuprägen.
„Ich hab mir das Wetter sicher nicht ausgesucht“, erklärte sie nur und wollte sich losreisen.
„Das ist noch kein Sturm“, erwiderte er nur lachend.
„Aber viel kann man von Euch wohl auch nicht erwarten, ich weiß ja nicht, was in Vance gefahren ist, das er ein Kind und einen Bettvorleger an Bord nimmt.“
„Sonst noch was?“, fragte sie lediglich. Sie würde sich ganz sicher zu nichts provozieren lassen, sagte Eden sich.
Der Griff an ihrem Arm verstärkte sich.
„Ihr habt ein paar meiner Freunde getötet.“
„Es ist nicht so, dass ich eine Wahl hatte. Oder habe ich Euch darum gebeten, ausgerechnet mein Schiff zu überfallen? Vielleicht solltet Ihr den Wunsch Eures Kapitäns einfach respektieren. Ich bin hier. Ende der Geschichte.“
„Ach wirklich? Wir werden sehen….“ Er warf einen Blick in die Richtung wo Vance Schatten im Regen stand.
„Wir werden sehen. Sobald wir aus diesem Sturm heraus sind.“
Mit diesen Worten ließ er sie endlich los und verschwand. Eden ließ sich einen Moment gegen die Reling zurücksinken. Das war einfach großartig. Natürlich hatte sie die Crew gegen sich, nachdem sie ein Dutzend von ihnen auf der Tiamat getötet hatte. Und vor allem wohl diesen Kerl. Eden entschied im Stillen, das es wohl besser wäre, Armin in nächster Zeit auszuweichen. Sie musste sich mit niemanden an Bord dieses Schiffs verstehen, sie musste sie nur überleben.
Gegen Abend schließlich, hatten sie den Sturm hinter sich. Die grauen Wolken lichteten sich und die Sonne brach wieder durch die Lücken. Das Wasser reflektierte den Schein und im Norden zeichnete sich, kaum erkennbar, die Küste Cantons ab. Nebelschleier trieben über das Meer und tauchten alles in einen bläulichen Schimmer. Eden sah über die Wellen hinweg. Zachary stand einige Schritte von ihr entfernt an der Reling und spähte nach unten, auf das von der Windrufer aufgewirbelte Meer.
Wasser tropfte aus den Segeln und von den hölzernen Masten auf die Planken herab.
„Wie lange werden wir hier draußen sein?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete sie.
„Ein paar Monate bestimmt, selbst im besten Fall. Und das vorausgesetzt, wir finden überhaupt irgendetwas.“
„Und Vance ist in Ordnung?“
„Ich glaube dieser Mann ist schon lange nicht mehr… in Ordnung. Aber ich vertraue darauf, dass er sich an sein Wort hält. Ich glaube, dazu hast Du ihm genug Angst gemacht. Ist eigentlich… wieder alles in Ordnung?“
Zachary kratzte sich am Kopf.
„Ich weiß es nicht. Das war alles… seltsam.“
„Tu so etwas nur… bitte einfach nicht wieder.“ Sie dachte ungern daran zurück. Was immer Zachary getan hatte, es hatte ihr Angst gemacht. Nicht um sie selbst aber… Geister, was würde geschehen, wenn er nächstes Mal nicht einfach das Bewusstsein verlor? Er würde sterben, meinte eine Stimme in ihrem Hinterkopf. So einfach war das. Eden schüttelte den Kopf, ohne es zu merken. Nein, das würde nicht passieren. Und sie würde es schlicht nicht zulassen. Es musste einen Weg geben, das zu verhindern. Natürlich gab es den. Es gab den Orden. Wieder ein klares Nein. Der Sangius-Orden war ein Todesurteil, keine Lösung….
Eden seufzte. Nichts war jemals einfach. Aber wenn es einen Weg gab, würde sie ihn finden. Um ihrer beider Willen. Sich vorzustellen, dass der Kleine so einfach wieder aus ihrem Leben verschwand….
Nein, darüber würde sie erst gar nicht nachdenken. Das war keine Option.
Ein lauter Ruf riss sie schließlich aus ihren Gedanken. Ein Ruf, der jeden an Deck veranlasste, suchend den Blick zu heben.
„Schiff in Sicht!“
Eden erschauerte kurz. Ihre Hände klammerten sich um das Holzgeländer der Reling. Das war nicht gut. Nicht wenn es hieß, das Vance ein weiteres Schiff überfallen wollte. Geister, hoffentlich war es kein lohnendes Ziel. Sie wüsste nicht, ob sie das könnte. Sie hatte getötet ja… Aber immer nur mit gutem Grund, sagte sie sich.
Sie würde kein Mörder werden.
Kapitel 20
Das Schiff
Vance besah sich das Schiff, das in einiger Entfernung zur Windrufer trieb, durch ein Fernrohr. Eden konnte selber nicht viel erkennen. Es war ein Dreimaster, von vielleicht hundert Schritten Länge.
„Was immer die Geladen haben“, meinte Vance neben ihr.
„Der Kahn liegt ziemlich tief im Wasser.“
Mit diesen Worten klappte der Kapitän das Fernrohr zusammen und wandte sich an die Crew, die ebenso begierig wie die Gejarn war, die Entscheidung ihres Anführers zu hören. Wenn auch aus anderen Gründen als Eden. Sie hatte Zachary wohlweißlich unter Deck geschickt. Was immer gleich folgen würde, er musste das nicht mitbekommen.
„Männer, das Schiff holen wir uns“, rief Vance.
„Bringt mir die Windrufer näher ran.“
Die Mannschaft machte sich sofort an die Arbeit. Der Steuermann warf das Ruder herum und das ganze Schiff ächzte einen Moment, während es seinen Kurs änderte. Eden musste sich an der Reling festhalten, ließ das fremde Schiff aber trotzdem nicht aus den Augen. Sie merkte kaum, wie Vance zu ihr trat.
„Und Ihr Eden?“, wollte er wissen.
„Jetzt könnt Ihr zeigen, wo Eure Loyalität liegt.“
Die Gejarn schloss einen Moment die Augen. Das war genau die Situation, die sie gefürchtet hatte.
„Ihr werdet sie töten….“
Vance lachte.
„Was denkt Ihr denn? Natürlich. Also was jetzt?“ Der Kapitän zog den Säbel und eine Pistole und hielt ihr die Waffen hin.
Sie zögerte einen Moment… dann nahm sie die Waffen an sich.
„Also gut…“ hatte sie eine Wahl? Keine Große zumindest. Den Zorn des Kapitäns auf sich zu ziehen vielleicht… aber das würde nichts ändern. Vance würde sich nicht durch Worte davon abbringen lassen, das Schiff zu überfallen.
Bevor sie noch lange darüber nachdenken konnte, zerriss das Donnern der Geschütze die Stille. Die Planken unter ihren Füßen zitterten, als die Welt vor ihnen in Pulverdampf verschwand. Der Geruch von Schwefel stieg ihr in die Nase. Edens Hand klammerte sich um den Schwertgriff.
Das fremde Schiff war jetzt praktisch schon zum greifen nahe. Die Salve aus den Geschützen der Windrufer, hatte das Deck teilweise zersplittert und einer der Segelmasten hing halb zersplittert auf die Planken herab. Eden konnte eine Handvoll Menschen erkennen, die aufgeregt hin und her liefen.
Ein paar trugen rostrote Uniformen und waren mit Musketen bewaffnet. Mietschwerter, Söldner, die in der kaiserlichen Garde dienten. Die offiziellen Berufssoldaten trugen anders gefärbte Kleidung, über grün und Gold, bis hin zum blau der Leibgarde des Kaisers. Aber das war kein Militärschiff… was also bewachten die da? fragte sich Eden. Mittlerweile hatte die Windrufer endgültig zu dem Transportschiff aufgeschlossen. Holzsplitter wurden aufgewirbelt, als die Schiffsrümpfe sich ineinander verhakten. Erste Kugeln sirrten durch die Luft, ohne dass sie ein Ziel fanden. Eden spannte sich an. Wenigstens waren es Soldaten, sagte sie sich. Das war besser, als Matrosen oder unbewaffnete Reisende. Aber nicht viel….
Keiner dieser Leute hatte ihr etwas getan.
Die ersten schwarz gekleideten Piraten sprangen an Bord der niedriger liegenden Galeere und fanden sich sofort im Gefecht mit den wartenden Söldnern und Matrosen.
Die Gejarn selbst hielt noch einen Moment an der Reling inne… dann setzte sie über das niedrige Geländer und landete auf dem Deck unter ihr. Rauch von den Kanonen und den Gewehren stand in dichten Schwaden über dem Schiff. Auf dem zersplitterten Deck zu stehen war schon nicht einfach, geschweige denn zu kämpfen. Eden hielt sich so gut es ging zurück, ohne das es zu offensichtlich wirkte.
Ganz jedoch, gelang es ihr nicht. Ein rot gekleideter Gardist stürzte sich aus dem Nebel auf sie. Eden parierte einen Säbelhieb, der ihr andernfalls den Kopf von den Schultern getrennt hätte. Der Kampf war unausgeglichen. Eden hatte mittlerweile etwas Erfahrung im Schwertkampf, aber der Mann vor ihr war ein ausgebildeter Soldat. Sie sah sich rasch gezwungen, über das zerstörte Deck zurückzuweichen. Etwas, das leichter gesagt, als getan war. In den Planken klafften breite Löcher, wo die Kanonenkugeln sich ihren Weg gesucht hatten. Sie sprang zurück über einen der kleinen Abgründe. Ihre Gegner blieb einen Moment unsicher am anderen Ende stehen und musterte die Gejarn. Offenbar versuchte er abzuschätzen, ob es das Risiko wert wäre, Eden zu verfolgen. Diese nutzte die Gelegenheit und sah nach unten. Direkt in den Laderaum des Schiffs. Mit einem hatte Vance recht gehabt, dachte sie. Das Schiff war schwer beladen. Aber nicht mit irgendeiner Ware, die Eden hätte erkennen können. Eine Unzahl Augenpaare sahen zu ihr herauf. Menschen, Gejarn… alle schmutzverkrustet und mit einer Leere in ihrem Blick, die sie kannte. Die sie nur zu gut kannte. Sie hätte beinahe die Waffe fallen lassen. Die Rufe und der Lärm der tobenden Schlacht waren plötzlich weit weg. Sie war wieder in Silberstedt, wieder in der Kälte, vor den Toren des Herrenhauses. Zusammen mit Dutzenden anderen wie ihr. Sklaven….
Dieses Schiff war ein Sklaventransporter.
Sie bekam aus den Augenwinkeln mit, wie der Gardist mit dem sie gekämpft hatte, über die Lücke im Deck setzte. Blinde Wut hatte von ihr Besitz ergriffen. Sie zog die Pistole, während der Mann sich grade erst wieder aufrichtete. Den Rückstoß des Schusses spürte sie kaum. Nur wie der Kopf des Soldaten plötzlich verschwand und sein Körper zur Seite wegkippte.
Jetzt wusste sie, wozu die Gardisten gebraucht wurden. Eden ließ die nun nutzlose Steinschlosspistole fallen. Sie hatte weder Pulver noch Munition bei sich. Mit dieser Erkenntnis verlor sie auch fast alles Mitleid. Es war, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Das hier schien alles zu verkörpern, was sie hasste, jeden einzelnen Aspekt davon. Die Piraten hatten mittlerweile, die Crew des Schiffs ein Stück weit zurückgedrängt und lieferten sich erbitterte Einzelkämpfe mit der Garde.
Eden hingegen konnte über das Deck in den Rücken der Verteidiger gelangen. Niemand schien sie zu beachten. Nicht, bis die ersten zwei Soldaten mit durchbohrter Brust zu Boden sanken. Waren das noch Menschen, noch Leben, die sie auslöschte? Nicht mehr… es waren nur noch Ziele. Eden wich einer Klinge aus, die auf ihre Schulter zielte und setzte sofort nach. Ein vierter Gardist ging zu Boden. Und doch schien es nicht genug, um das brennende Feuer in ihr zu ersticken.
„Eden…“ die Stimme schien weit weg zu sein.
„Hey, Verflucht, Eden… jemand zuhause?“
Sie kam erst wieder zu sich, als ihr jemand einen Eimer Wasser ins Gesicht schüttete. Die Gejarn blinzelte ins Licht. Um sie herum standen schwarz gekleidete Gestalten und durchsuchten die Toten. Irgendetwas tat entsetzlich weh, aber sie kam nicht dahinter was. Alles schien noch zu taub und weit weg.
Vance stand vor ihr, offenbar düster gelaunt. Ohne ein weiteres Wort hielt er ihr eine kleine silberne Flasche hin. Eden griff danach. Wasser? Sie wusste schon vom Geruch her, dass sie falsch lag. Rum. Es war egal, sie trank trotzdem. Der erste Schluck brannte grässlich, aber wenigstens brachte es sie wieder völlig zu Bewusstsein. Ihre Hände schmerzten. Fell und Haut waren abgescheuert. Sie hatte die Waffe aus irgendeinem Grund viel zu fest umklammert. Und von irgendwo her war auch eine erstaunliche Menge Blut, auf die Ärmel ihres Gehrocks gelangt. Die Erinnerungen prasselten Stück für Stück wieder auf sie ein, auch wenn alles nur verschwommen war. Das Adrenalin verschwand langsam wieder und ließ ihr die Kontrolle über ihren Körper zurück. Kontrolle und Schmerzen.
„Mir geht es gut“, log sie.
Vance nickte.
„Das war… gute Arbeit“, meinte er seltsam fern.
„Los, wir sind hier noch nicht fertig. Unter Deck könnten sich, nach wie vor, ein paar Braunröcke verstecken. Ihr und ihr geht nachsehen.“ Der Kapitän deutete auf zwei Piraten, die beide Masken trugen, wie Eden sie schon gesehen hatte. Schwache, magische Schilde.
„Ich gehe mit“, rief Eden ohne sich dessen selbst ganz bewusst zu sein. Ihr Rachedurst war dahin. Aber nach wie vor waren unter Deck die Sklaven eingesperrt. Sie würde ein Auge auf die beiden anderen haben und zusehen, dass die Gefangenen hier sicher raus kamen. Selbst wenn das hieß, sich mit Vance anzulegen.
Der Kapitän nickte lediglich und hielt ihr den Griff zweier Pistolen hin.
„Für den Fall.“
Eine wackelige Treppe führte in der Nähe der Kapitänskabine, hinab zum Laderaum des Schiffs. Die Konstruktion schwankte, als sie den ersten Fuß darauf setzte. Aber noch hielt sie wohl. Also gut….
Die Gejarn beeilte sich, die Stufen hinab zu kommen, gefolgt von den zwei anderen. Sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, sah sie sich im Halbdunkel um. Bevor sie weit gekommen war, zischte etwas haarscharf an ihrem Kopf vorbei. Sie konnte/ fühlen, wie es ihre Haare streifte. Keine Kugel, dachte sie noch, bevor das Projektil sein Ziel fand.
Einer ihrer zwei Begleiter zuckte, an der Wand an der er stand und presste sich die Hand an die Kehle, zwischen seinen Fingern sprudelte Blut hervor. Ein befiederter Stahlbolzen hatte ihn mit voller Wucht getroffen und ihn glatt an die Holzwand genagelt. Eden warf sich sofort in Deckung, während der zweite Mann einen Schritt auf seinen sterbenden Gefährten zu machte… nur um ebenfalls von einem Bolzen getroffen zu werden, der in seinen Brustkorb drang. Eden atmete schwer, nachdem ihre beiden Begleiter tot dalagen. Geister, wer immer hier unten war, der Kerl war ein Meisterschütze.
Blieb nur die Frage… wo er war? Hinter ihr lag die Treppe und vor ihr ein langer, schwer einsehbarer Durchgang. Wenn sie jetzt aus ihrem Versteck käme wäre es aus. Aber sie musste wissen, wo ihr Gegner war. Leise zog sie sich den Hut vom Kopf und hielt ihn in den Gang hinein. Einen Herzschlag lang tat sich nichts, dann kam ein weiterer Pfeil geflogen und riss ihr den Dreispitz aus der Hand. Eden handelte sofort, tauchte aus ihrem Versteck auf und feuerte die Pistolen blind in die Richtung, aus der das Projektil gekommen war.
Ein lauter Fluch sagte ihr, dass sie nicht verfehlt hatte. Die Pistolen zurücklassend, zog sie den Säbel und rannte den Gang entlang. Sie wurde langsamer, als sie den Schützen schließlich fand.
Der Mann trug einen grauen Kapuzenumhang, auf dessen Schulter ein schwarzes Banner von Adler und Löwe aufgebracht war. Die Wappentiere des Kaiserreiches. Neben ihm lagen eine Armbrust und ein gutes Dutzend Bolzen, in einem speziell dafür gefertigten Gürtel. Der Mann, dem die Kapuze seines Umhangs ins Gesicht fiel, hielt sich den Fuß. Offenbar hatte sie ihn ins Bein getroffen
„Hey… schön gezielt“, meinte der Mann spöttisch, als ihm Eden die Klinge an die Kehle setzte. Er hob gezwungenermaßen den Kopf. Graue Augen, die mit blauen Sprenkeln durchsetzt waren, sahen zu ihr hinauf. Ein paar Strähnen blonder Haare lugten unter der Kapuze hervor. Der Mann grinste breit, wie jemand, der sich schon mit seinem Ende abgefunden hatte. Das war kein Gardist….
„Wer seid Ihr?“, wollte Eden wissen, ließ die Klinge aber nicht sinken. Mit dem Bein war der Kerl wohl kaum noch eine große Bedrohung. Aber sie würde kein Risiko eingehen
Er machte eine, aufgrund seines Zustands nur angedeutete, Verbeugung mit dem Oberkörper.
„Lucien Valaris der Name. Meines Zeichens Agent seiner Majestät Kaiser Konstantin Belfare und… Pechvogel wie es aussieht.“
„Wieso das?“ Eden sah sich im Halbdunkel weiter um, während sie Luciens Waffe und den Bolzengürtel aufhob. Sie sollten den Kerl erledigen und dann sehen, dass sie weiterkam. Vance wartete sicher nicht zu lange….
„Mein erster Einsatz als Beobachter für Sklaverei und dann taucht Ihr auf… ein ganz mieser Tag heute.“
Entweder, er hatte wirklich keine Angst, oder sich schon mit seinem Tod abgefunden, dachte Eden. Ein Beobachter also… Abgesandte des Kaisers, die dafür sorgen sollten, dass die Sklavenhaltung nicht über die Stränge schlug. Zwar versagten sie darin, Edens Meinung nach, kläglich aber… er war wohl einer von den Guten.
„Bleibt einfach da liegen, ich werde nachher sehen, ob ich irgendetwas für Euch tun kann.“ Lucien lachte bitter, während sie ihren Weg fortsetzte.
„Geister, ich hätt bei der Spionage bleiben sollen.“
Eden erreichte einen Bereich, der durch ein großes Gitter von dem Gang abgetrennt war. Licht fiel durch einige Lücken im Deck herein und enthüllte, was sie gesucht hatte. Die Sklaven wichen vor ihr zurück, als sie an den Gitterstäben erschien. Eden musste einen Moment die Augen schließen.
„Alles… alles in Ordnung.“ Ihre Worte waren leise, kaum ein Flüstern. Sie ging rasch weiter und versuchte sich davon abzuhalten, zu genau hinzusehen. Die Gefangenen waren in grässlichem Zustand. Unterernährt, sodass sie bei den Meisten, die Rippen hätte zählen können und mit Blessuren übersäht. Blutende Wunden schwärten im Fell einiger der Gejarn. Eden fand die Tür, die ins Innere des Gefängnisses führen musste. Lediglich durch ein rostiges Schloss gesichert, würde es für sie kein großes Hindernis darstellen.
Sie atmete tief durch, dann schlug sie mit dem Knauf ihrer Waffe auf den Schlossbügel. Dieser brach schon beim ersten Versuch und die Tür schwang quietschend auf. Die verängstigten Insassen jedoch, duckten sich nur weiter in die Ecken ihrer Zelle. Verflucht… erneut kochte Wut in ihr auf. Und zu ihrem Unglück war niemand mehr übrig, an dem sie diese auslassen konnte.
„Es ist alles in Ordnung“, murmelte sie wieder und spürte, wie ihre eigenen Beine unter ihr nachgeben wollen. Nichts war in Ordnung. Nicht für diese Leute. Sie trat vorsichtig in die Zelle und streckte eine Hand aus.
„Kommt nur mit dann… dann finde ich irgendeinen Weg für euch.“
Eden wusste selber, das sie log. Es gab vielleicht keinen Weg. Vance würde sie vielleicht alle Töten. Aber… sie musste es versuchen.
Vance staunte nicht schlecht, als Eden schließlich wieder die Treppe zum Oberdeck hinauf kam. Lucien auf einen Arm gestützt und einen der Sklaven, dem eine tiefe Verletzung am Fuß zu schaffen machte. Die anderen folgten ihr nur zögerlich ins Licht. Als sie den oberen Treppenabsatz erreichte, setzte sie sowohl den verletzten Agenten als auch den Sklaven ab. Die übrigen Gefangenen blieben auf den Stufen stehen und schienen zu warten. Eden war klar, dass das Ganze, einen bestenfalls bizarren Anblick abgab. Hundert Köpfe, die sich ängstlich in alle Richtungen umsahen und sie mittendrin, eine Armbrust und ein Schwert umgehängt.
„Was bei allen Meeresgöttern soll das bitte werden?“, fragte Vance sichtlich aufgebracht.
„Wie sieht es denn aus? Ich lasse diese Leute hier nicht zurück.“
Der Kapitän schlug sich mit einer Hand vors Gesicht.
„Ahnen… das ich… lasst die Kerle halt einfach mit dem Kahn absaufen“, rief er.
„Hier gibt’s kaum was von Wert und das haben wir schon alles rüber geschafft.“
„Ist ein Leben nichts wert?“, wollte Eden wissen.
„Ich kann diese Leute nicht hier zurück lassen. Lasst sie uns wenigstens bis zum nächsten Hafen mitnehmen.“ Vance seufzte schwer.
„Und was habe ich davon? Die fressen uns die Haare vom Kopf, wenn wir sie mitnehmen.“
„Vielleicht das Gefühl, einmal fair gewesen zu sein. Nehmt ihnen ihr Gold, nehmt ihnen ihren Besitz, wenn Ihr glaubt dass das nötig ist, nehmt ihnen den letzten Fetzen am Leib, Vance. Ich habe damit kein Problem. Aber nicht ihr Leben.“
„Bleibt die Frage, was habe ich davon?“ Vance verschränkte die Arme vor der Brust, aber sie wusste, dass sie ihn fast so weit hatte. Egal was der Kapitän nach außen darstellte, ihm gefiel das doch selber nicht. Es gefiel ihm nicht, hundert Sklaven, die sich nicht verteidigen konnten, auf den Meeresgrund zu schicken. Aber er konnte auch nicht aus seiner Haut, dachte Eden. Und die war nun mal, dass ihm das auch etwas einbringen musste.
„Also gut, Ihr erlaubt mir, die Sklaven mitzunehmen, bis wir den nächsten Hafen erreichen und dafür verzichte ich auf fünf Teile meines Anteils, sollten wir die Stadt finden.“
Vance lachte.
„Jetzt meine Liebe, sprechen wir endlich die gleiche Sprache. Hmm… vielleicht bringen wir besser noch ein paar mehr Sklaventransporter auf, was meint ihr?“ Er schlug der Gejarn auf die Schulter.
„Nein danke, dann bekomme ich bald gar nichts mehr.“
„Ihr gefallt mir langsam. Ist ja Euer Geld, das Ihr verliert. Also schön, Ihr bekommt Euren Willen. Wir nehmen jeden auf diesem Schiff mit, bis wir Lasanta erreichen. Das heißt dann aber, halbe Rationen für alle, bis dahin. Wir müssen ohnehin Vorräte aufnehmen, bevor es losgehen kann. Aber ab da müssen sie selber sehen, wie sie klar kommen.“ Noch immer lachend wandte sich der Kapitän ab.
„Na los Leute. Beeilt euch, schafft mir die Bande an Bord, macht ein wenig Platz in den Lagerräumen. Und sorgt dafür, dass sie unter Deck bleiben, ich kann es nicht gebrauchen, dass mir ein Haufen Fremder an Bord herum stolziert. Das ist immerhin keine Vergnügungsreise. Und passt mir besonders auf den imperialen Graumantel da auf.“
Kapitel 21
Lucien
„Wegen Euch dürfen wir jetzt auch noch bis Lasanta hungern.“
Eden wusste, dass sie Ärger hatte, in dem Moment, als sie die Stimme hinter sich hörte. Die Gejarn drehte den Kopf in Richtung des Mannes. Einer von Vance Matrosen. Einer den sie kannte….
„Armin, oder? Ja und, habt Ihr Angst zu verhungern?“
Es war jetzt zwei Tage her, dass sie das Sklavenschiff hinter sich gelassen hatten. Auch wenn Vance sichtlich nicht zufrieden damit war, hundert oder mehr neue Gesichter an Bord zu haben, hatte er schließlich zugestimmt. Und seiner Crew eingeschärft, dass sie die befreiten Sklaven besser in Ruhe ließen. Die meisten blieben ohnehin unter Deck und was die Piraten anging, so fürchteten sie Vance wohl mehr als gekürzte Lebensmittelrationen.
Über Eden jedoch, hatte der Kapitän nichts gesagt und das bekam sie zu spüren. Die Blicke, die sie nachgeworfen bekam, waren alles andere als freundlich. Aber niemand tat etwas. Nach dem Kampf auf dem Schiff, schienen die Piraten endgültig Angst vor ihr zu haben. Der Name Weißer Schatten machte die Runde. Das sie alleine schon ein Dutzend Gardisten auf dem Gewissen hatte, schienen manche nicht glauben zu wollen. Sie konnte das flüstern hören, die Vermutungen, da sei Magie im Spiel….
Sie hätte die Männer darüber aufklären können, dass es unter den Gejarn keine geborenen Magier gab. Sie war lediglich noch nie in ihrem Leben so wütend gewesen. Aber die Gerüchte gewährten ihr einen kleinen Schutz.
Armin war der erste, der sie offen ansprach.
„Vielen Dank auch nochmal“, erwiderte der Mann.
„Es reicht langsam, Vance hätte Euch nie an Bord holen dürfen. Von seiner verfluchten Schatzsuche einmal abgesehen.“
„Hat er aber. Findet Euch damit ab.“ Sie hielt an ihrem Entschluss fest, sie würde sich nicht von irgendjemand provozieren lassen. Nicht hier. Das konnte nur böse enden. Eine kleine Gruppe Schaulustiger hatte sich um sie gesammelt. Eden stieß ein paar der schwarz gekleideten Gestalten beiseite. Wenn die hier auf einen Kampf hofften, waren sie an der falschen Adresse. Selbst wenn die leise zweite Stimme in ihrem Kopf, das für eine gute Idee hielt.
„Vielleicht will ich das aber nicht“, rief Armin.
„Und bleibt gefälligst stehen, wenn ich mit Euch rede.“
Die Gejarn machte auf dem Absatz kehrt.
„Hört zu, ich habe keinen Streit mit Euch, aber wenn Ihr so weiter macht, endet das für uns beide Böse. Für Euch, weil ihr Eurem Kapitän widersprecht. Ihr wisst, was Vance von Leuten hält, die ihm… im Weg stehen. Und mir weil ich keine Lust habe, Euch eine Lektion zu erteilen.“
Armin lachte. Offenbar gehörte er zu denen, die es vorzogen, den Geschichten die über Eden die Runde machten, keinen Glauben zu schenken.
„Ihr? Ihr brecht Euch bestenfalls den Arm.“
„Nun dann wäre das ein ungleicher Kampf und Ihr wollt Euch sicher nicht vorwerfen lassen, eine Frau geschlagen zu haben. Guten Tag.“
Eden wandte sich nun zum zweiten Mal zum gehen. Hoffentlich war die Sache jetzt endlich erledigt.
„Dann sollen die Pistolen entschieden.“
„Ihr seid Irre“, erklärte die Gejarn, ohne sich wieder zu ihm umzudrehen. Ihre Hand legte sich auf den Griff einer der Steinschlosspistolen. Sie hatte sich mittlerweile angewöhnt, mehrere davon mit sich zu tragen. Die Pulverwaffen nachzuladen dauerte für sie nach wie vor zu lange.
„Ganz im Gegenteil. Es reicht, Ihr habt das jetzt weit genug getrieben.“
Einige der Umstehenden stimmten dem Piraten murmelnd zu. Großartig. Eden seufzte. Wie kam sie hier wieder raus? Es ging ihr nicht um Armin. Wenn sie gewann, war der Mann eben tot. Sie würde ihm keine Träne nachweinen. Aber der Rest der Crew hasste sie jetzt schon. Wenn sie schon wieder einen aus ihren Reihen umbrachte, egal wie provoziert das gewesen wäre….
„Schön“, rief sie laut genug, damit es hoffentlich auch alle hörten. Eden hatte die Hoffnung, dass vielleicht Vance, dem ganzen Einhalt gebieten würde. Aber der Kapitän stand einige hundert Schritte entfernt an die Reling der Windrufer gelehnt. Er harrte scheinbar völlig entspannt der Dinge, die da kommen mochten.
Die Gejarn zog eine der Pistolen aus ihrem Gürtel.
„Dann bringen wir es aber bitte direkt hier zu Ende. Ich habe auch noch wichtigeres zu tun.“ Sofort trat die Menge ein Stück zurück um nicht in der Schussbahn zu stehen.
„Ihr habt gleich überhaupt nichts mehr zu tun.“ Mit diesen Worten riss Armin auch schon eine Radschlosspistole hoch und drückte ab. Eden kam nicht einmal mehr dazu, irgendetwas zu tun, als hilflos zuzusehen. Geister, dieser Bastard hatte keine Sekunde gezögert… der Pulverblitz brannte sich in ihre Augen, während der Knall des Schusses über Deck hallte. Die Gejarn zuckte bereits in Erwartung eines Treffers zusammen….
Die Leute johlten, ein paar sprangen vor und klopften Armin auf die Schultern, während der Seewind den Rauch davon trieb. Eden richtete sich langsam wieder auf. Die Menge verstummte augenblicklich. Sie grinste finster. Unverletzt… Götter, heilige Ahnen und Geister, dieser Tölpel hatte sie tatsächlich verfehlt.
„Ihr solltet wirklich zielen lernen“, erklärte sie seelenruhig. Armin wurde kreidebleich, als sie die Pistole auf ihn richtete. Er wusste, dass er keine Chance hatte, davonzukommen. Seine Kameraden, die ihm eben noch um den Hals gefallen waren, waren so schnell verschwunden, dass Eden sich insgeheim fragte, wer hier mehr Angst hatte. Armin oder die umstehenden Piraten. Mit einer Hand richtete sie die Waffe neu aus und drückte ab. Die Kugel sirrte davon… und verschwand harmlos übers Meer.
„Lasst Euch das eine Lehre sein. Es ist eure letzte“, erklärte Eden, die die Pistole nach wie vor auf die offene See gerichtet hielt. Sie ließ die Waffe fallen und war mit wenigen Schritten bei dem nach wie vor erstarrten Piraten. Was schließlich den Bann brach, war der Tritt in den Unterleib, dem sie ihn verpasste. Armin kippte um, wie ein gefällter Baum. Die Gejarn wich blitzschnell zurück, bevor der Mann, der Länge nach, auf die Planken schlug. Die Matrosen lachten grölend, bis Eden sich zu ihnen umwandte. In ihren Augen funkelte jetzt Wut.
„Noch jemand?“, fragte sie mit ausgebreiteten Armen.
„Merkt euch folgendes. Ich bin jetzt hier. Und ich werde noch eine ganze Weile auf diesem Schiff bleiben. Und solange ich hier bin, will ich, dass ihr eines niemals vergesst. Ihr habt von jetzt an ein Problem. Ihr habt einen neuen Alptraum. Und das bin ich, wenn ihr mir nicht schleunigst aus dem Weg geht.“
Sie würde sich hier nur wenige Freunde machen, das wusste Eden ab jetzt. Aber ab diesen Moment hatte sie ihren Respekt. Und Respekt war genauso gut.
Die Crew sprang ihr praktisch aus dem Weg, als sie sich schließlich abwandte. Sie hatte in letzter Zeit wenig Gelegenheit gehabt, sich mit Zachary zu unterhalten. Der Junge wurde… distanzierter und hielt sich mittlerweile immer öfter unter Deck auf, statt sie nach draußen zu begleiten. Eden war sich nicht sicher aber… wenn es damit zusammenhing, was auf der Tiamat geschehen war, musste sie mit ihm reden. Der Junge behauptete vielleicht, sich an nichts zu erinnern, aber die Macht über die er verfügte…. Sie verschwand die Stufen hinab ins Innere des Schiffs. Vielleicht fürchtete Zachary sich vor sich selbst.
Eden durchquerte eines der drei Geschützdecks. Dicht an dicht gereiht, standen knapp zweihundert Kanonen auf den Holzplanken verteilt. Jede einzelne davon, könnte schon gewaltigen Schaden anrichten, aber eine einzige Breitseite aller Geschütze, konnte mit Leichtigkeit eine ganze Siedlung in Schutt und Asche legen.
Die Gejarn beeilte sich, weiter ins Schiffsinnere zu gelange. Hier unten war, außer den befreiten Sklaven, praktisch niemand. Und letztere hielte sich so gut es ging von allen fern. Angst… und Eden kannte diese Angst nur zu gut.
Sie fand Zachary schließlich an eine der Zwischenwände gelehnt, die die einzelnen Kabinen unter Deck abtrennten. Durch ein verglastes Bullauge fiel Licht in den Raum. Wellen schlugen von außen gegen das Glas. Eden konnte den Boden unter ihren Füßen schwanken spüren. Auf Deck bekam man es weniger mit, als hier im Herzen des Schiffs.
„Hey.“
Der Junge sah auf und nickte ihr einen Moment zu.
„Hi….“
„Komm schon, Du hast Dich in den letzten Tagen kaum sehen lassen… was ist los?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete Zachary.
„Oder besser… ich weiß es.“ Er hob eine Hand und eine der Kanonen hob sich scheinbar schwerelos ein Stück von den Planken. Scheinbar ohne Anstrengung ließ der junge Zauberer das Geschütz einen Moment durch die Luft tanzen, bevor er es wieder absetzte.
„Ich kann es immer besser kontrollieren. Es… dauert eine Weile bis ich hinter einen Zauber komme, aber sobald ich einmal weiß, wie ich es anstellen muss, ist es ein…“ Zachary zuckte mit den Schultern
„Na ja ein Kinderspiel.“
„Das ist doch gut, oder?“, fragte Eden.
„Du darfst es nur nicht übertreiben, ja?“
„Und es macht Dir keine Angst?“
Sie lächelte schwach.
„Doch aber… nicht aus dem Grund, das ich Angst vor Dir hätte. Ich habe aber Angst vor dem, was das aus Dir macht.“
„Es… tut manchmal weh. Wenn ich einen Zauber zu lange aufrechterhalte. Ich weiß nicht was es ist, aber mir wird kalt. Es sind lauter kleine Stiche…“
„Dann lass es.“
Zachary schüttelte den Kopf.
„Nein… das kann ich nicht.“
„Wieso nicht?“
Der Junge suchte einen Moment nach Worten.
„Das wäre wie als würdest Du von einem Vogel verlangen zu Fuß zu gehen.“
„Aber Du kommst damit klar?“ Sie legte dem kleinen Zauberer die Hände auf die Schultern.
„Sei ehrlich?“
„Ich muss nur… lernen“, murmelte er.
„Sei nur vorsichtig… bitte.“
„Keine Sorge ich weiß was ich tue“, meinte er, als Eden aufstand und sich auf den Weg Richtung Oberdeck machte.
„Glaube ich.“
Sie wurde langsamer, sobald sie sicher war, das Zachary sie nicht mehr sehen konnte und blieb schließlich ganz stehen. Nein, er machte ihr keine Angst, dachte Eden. Aber Sorgen. Sie konnte absolut nichts tun… und das war schlimmer, als sich zehnmal mit der gesamten Besatzung der Windrufer anzulegen.
„Der Junge ist also ein Zauberer?“
Eden wirbelte herum und sah sich eine Handbreit entfernt von Lucien entfernt. Er schien praktisch aus dem Boden gewachsen zu sein, sie hatte ihn nicht einmal gehört. Und wer sich an einen Gejarn heranschleichen konnte, war…. mehr als nur gefährlich.
Sie war dem Mann seit ihrem kurzen Treffen nicht mehr über den Weg gelaufen. Offenbar war er die meiste Zeit damit beschäftigt, sich um die befreiten Gefangenen zu kümmern und hielt sich auch sonst eher bedeckt.
Aber etwas machte sie stutzig. Lucien trug nach wie vor den grauen Mantel, in dem sie ihm das erste Mal begegnet war. Aber an seiner Hüfte hing ein Gürtel mit Stahlbolzen… und die Armbrust, die er sich scheinbar als Waffe auserkoren hatte.
„Woher habt Ihr die bitte?“, wollte sie sofort wissen. Vance hatte die Waffen eigentlich verwahrt. Und das der Kapitän einem imperialen Agenten einfach so seine Ausrüstung zurück gab, war eher unwahrscheinlich.
„Das war nicht schwer. Ich hätte auch in eure Waffenkammer einbrechen können, aber ich ziehe die Armbrust dem Gewehr vor. Die machen mir zu viel Lärm“, meinte er grinsend.
„Ihr solltet die das nächste Mal wirklich besser verstecken. Euer Kapitän lässt ja sämtliche Türen… fast unverschlossen.“
„Angeber“, murmelte Eden.
„Gelernt ist gelernt. Aber Ihr habt meine Frage nicht beantwortet. Er ist ein Magier?“ Sie nickte und fügte drohend hinzu:
„Denk nicht einmal daran, den Orden zu informieren. Denk nicht einmal daran Euch nur zu merken, dass Ihr mir je begegnet seid, verstehen wir uns?“
Der Agent hob abwehrend die Hände.
„Keine Sorge. Ich schulde Euch noch etwas dafür, dass wir jetzt nicht alle die Wellen von unten sehen. Ihr wisst, was die Magie mit ihm anrichten wird, oder?“
„Ich fürchte es.“
„Desto stärker der Zauberer, desto schlimmer werden die Nebeneffekte. Ihr merkt es jetzt noch nicht aber….“
„Aber was?“, wollte sie wissen.
„Ich fürchte, Euch wird auf Dauer keine Wahl bleiben, als Euch an den Sangius-Orden zu wenden. Ohne eine Magiequelle, etwas, das seine eigene Lebenskraft schützt… stirbt er früher oder später daran.“
„Ach und ihn in der Armee zu verheizen, ist in irgendeiner Weise besser?“ Edens Stimme zitterte jetzt. Sie hatte eine Hand auf den Schwertgriff gelegt und erwartete halb, dass Lucien einen Fehler machte.
„Nein“, gab er zu.
„Ich sage nur, wie es aussieht. Ihr habt keine Wahl.“
„Und ob wir die haben“, erwiderte Eden. Wenn sie Vance Stadt fanden sogar ganz sicher. Unter den Artefakten die sie dort vermutete, musste es etwas geben.
„Wenn Vance findet, was er sucht schon.“
Lucien lachte.
„Euer Kapitän ist auf Schatzsuche, das habe ich schon mitbekommen. Ich weiß, wer dieser Mann ist, Eden. Vance Livsey, gesucht wegen Piraterie, Mord, Diebstahl, Störung der öffentlichen Ordnung und… überbordender Frechheit.“
„Das ist strafbar?“
„Wenn man es sich mit den falschen Leuten verscherzt, offenbar. Allerdings kann so was einem wohl auch weit bringen.“
„Ja? Ich wüsste nicht wie.“ Ganz im Gegenteil, sie hatte es sich ohne daran schuld zu sein, mit einem der mächtigsten Männer im ganzen Kaiserreich verscherzt. Und daraus war überhaupt nichts Gutes gewachsen. Obwohl… Zachary. Und sie war…. sie war frei, oder? Auf eine verquere Art hatte Lucien vielleicht gar nicht so Unrecht.
„Ich bin der lebende Beweis“, fuhr dieser nun fort.
„Aber ich schätze es gibt spannenderes, als meine Lebensgeschichte.“
Vielleicht will ich sie ja hören“, meinte Eden und setzte sich auf eine Kiste in der Nähe.
„Wie Ihr wollt. Ich sehe das dann als Teilwiedergutmachung. Ich bin in den Straßen von Vara aufgewachsen, mitten in den Herzlanden. Großartiger Ort, wenn ich mich nach der Meinung anderer richten würde. Die Universität dort ist weltbekannt. Aber für mich… war es für Jahre, das was es überall gibt. Die Endstation. Auch wenn die Stadt auf Ordnung pocht, gibt es Armut. Ich habe mich als Taschendieb durchgeschlagen. Und ab und an habe ich auch mal eine Wohnung ausgeräumt. Es hat zum Überleben gereicht, aber nicht für viel mehr. Und dann hab ich eines Tages den falschen Bestohlen.“
„Und wen?“
„Markus Cynric. Den Patrizier von Vara. Ihm gehört die Stadt praktisch. Und er hat mich auch glatt erwischt. Man mag es nicht glauben, aber er kann ziemlich schnell rennen für seine Statur. Statt mich aber in die nächste Zelle zu werfen, was tut er? Er stellt mich ein, als Augen und Ohren. Anfangs habe ich also für Markus gearbeitet und bin dann später weiter an den Kaiserhof. Es hat nicht lange gedauert und man hat mich als Agenten eingestellt. Eine der Hände des Kaisers im Schatten, wenn man so will. Vor einem halben Jahr bin ich dann von den Spionen zu den Sklavenbeauftragten gewechselt. Jetzt, wo der Krieg in vollem Gange ist, gibt es wenig Bedarf an Leuten wie mir. Die Laos-Kultisten lassen sich nur schwer täuschen. Und was soll ich sagen, dann taucht ihr auf, zertrümmert das Schiff auf dem ich bin, verpasst mir eine Kugel ins Bein und hier bin ich.“
„Wieso ausgerechnet als Agent für Sklaven?“
„Ich weiß nicht… ich könnte jetzt sagen, das ich mich dadurch besser fühle aber… vielleicht geht es einfach nur darum, mal nicht den Obersten zu helfen, sondern denen, die es wirklich nötig haben.“
Eden lachte.
„Also… ausgemachtes Pech, wie? Meine Geschichte wäre wohl eine ähnliche. Wenn auch weniger positiv.“
„Und Ihr würdet sie mir wohl auch nicht verraten, wie?“
Eden zögerte einen Moment.
„Vielleicht. Es… fing eigentlich damit an, das ich verkauft wurde.“
Sie konnte sehen wie Lucien sichtlich zusammenzuckte.
„Oh… das tut mir dann wohl leid.“
Sie nickte.
„Keine Sorge, ich glaube, das war noch bevor Ihr das Amt gewechselt habt“, meinte die Gejarn, bevor sie fortfuhr….
Kapitel 22
Lasanta
Die Stadt Lasanta hob sich als Silhouette vor den Sandsteinbergen ab, die sie wie eine Mauer umgaben. Die schlanken Formen mehrerer großer Lagertürme ragten in den Himmel über den Straßen. Und der Hafen, war selbst im Morgengrauen ein einziges durcheinander aus Segelmasten. Vance hatten schon Befehl gegeben, alle Segel zu reffen, als das Land das erste Mal in Sicht kam und nun verstand die Gejarn warum.
Sie hatte noch nie einen derart geschäftigen Hafen gesehen. Kleinere Boote glitten gemeinsam mit Handelsschiffen und hochgerüsteten Galeonen der kaiserlichen Marine durch das Wasser. Schiffe, auf denen Männer mit bunten Flaggen standen, wiesen die eintreffenden und abfahrenden Holzkonstruktionen ein, sodass Kollisionen vermieden wurden. Eden hielt sich an der Reling fest und sah den vorbeiziehenden Schiffen zu.
Vance selbst hatte sich an‘s Steuerrat gestellt und navigierte den langsam dahintreibenden Koloss zielsicher in Richtung der Hafenmole.
„Habt Ihr keine Angst, das Euch die Behörden erwischen?“, wollte Lucien wissen, der mit Eden und Zachary an Deck stand. Der Mann hatte sich endlich von seinem Mantel getrennt und trug nun ein schlichtes weißes Hemd. Trotzdem klebten ihm die blonden Haare an der Stirn. Die Luft soweit im Westen war seltsam, dachte Eden. Auf eine Art dichter und die Temperaturen waren unerträglich. Beinahe sehnte sie sich nach den Bergen oder nach Lore zurück. Dort musste mittlerweile Schnee liegen. Der Gedanke machte sie nachdenklich. Monatelang war sie nun schon auf der Reise.
Vance lachte.
„Keine Sorge. Ich schätze, Ihr kennt die Bürokratie des Kaiserreichs aus erster Hand. Bei dem Chaos hier, fragt niemand mehr nach, wer da genau im Hafen vorbeischaut. Genau deshalb kommen wir ja hierher. Lasanta ist das Drehkreuz für den Seehandel im gesamten Westen Cantons. Und hier bekommen wir auch alles, was wir für eine Expedition in Richtung Nebelküste brauchen. Kann Euer Junge denn auch sicher die Insel finden, die wir suchen?“
Zachary sah von seinem Platz an der Reling auf.
„Keine Sorge… ich kann es überall spüren. Die Luft hier ist getränkt mit Magie. Aber weiter draußen… kann ich bestimmt sehen, aus welcher Richtung sie kommt.“
„Das wollte ich hören.“ Vance schlug dem Zauberer auf die Schulter. „Also gut. Wir werden den Hafen wohl in ein paar Minuten erreiche. Eden… tut mir einen Gefallen und bringt Lucien unter Deck. Sperrt ihn irgendwo ein.“
„Wie bitte?“, Der kaiserliche Agent legte eine Hand auf den Griff der Armbrust an seinem Gürtel.
„Hört mal Bursche, ich lass hier keinen imperialen Spion herumlaufen, solange ich hier bin. Ihr rennt doch direkt zum Orden und erzählt denen, was ihr wisst. Wenn wir abfahren werf ich euch raus, keine Sorge, aber nicht vorher.“
Eden zögerte einen Moment. Aber der Kapitän hatte Recht. Er konnte Lucien nicht trauen… und sie sollte das auch nicht. Und es war ja nur für ein paar Tage. Also gut.
„Kommt mit.“, wies sie den Agenten an.
„Großartig…. Einfach großartig.“, murmelte Lucien während er ihr unter Deck folgte.
„Stimmt das?“ , wollte Eden wissen, sobald sie außer Hörweite des Kapitäns waren.
„Stimmt was?“
„Ihr würdet als aller erstes zum Orden, oder der Garde gehen, um ihnen Bericht zu erstatten?“
Der Mann antwortete nicht sofort, während sie sich einen Weg weiter ins Schiffsinnere suchten.
„Vermutlich. Ich bin einfach ehrlich….“
„Verstehe.“ Edens Hand legte sich um den Schwertgriff. Wenn Lucien auf ihre nächste Frage falsch antwortete, würde sie ihn töten. Egal wie schlecht sie sich deshalb fühlen würde. Der Mann hatte ihr bisher nichts getan. „Und ich werde Euch nur deshalb nicht einfach töten, aber… tut mir einen Gefallen? Lasst Zachary da heraus?“
„Keine Sorge. Ich… hab Euch gesehen. Wenn je ein Zauberer besser aufgehoben war als beim Sangius-Orden… dann bei Euch.“
Sie amtete erleichtert auf. Die richtige Antwort. Die einzige, die sie akzeptieren konnte.
„Ich hoffe aber wirklich, Ihr habt nicht vor, lange hier zu bleiben. Die Schlösser auf diesem Schiff halten mich nicht wirklich auf.“
„Ich weiß. Das habt Ihr schon demonstriert. Ich leg noch ein paar extra Ketten vor die Tür.“, erklärte Eden, während sie eine der Kabinen erreichten. Das Bullauge das für Licht sorgte war zu klein, als das sich irgendjemand hätte hindurchzwängen können. „Keine Sorge, Euch bringt jemand Wasser und Essen.“
Lucien trat in den Holzverschlag und sah sich gründlich um. Er zog die Schublade eines niedrigen Schranks auf, prüfte das Bett mit einer Hand….
„Nicht nötig. Bis heute Abend bin ich hier raus.“
„Angeber. Ich lass Euch das durchgehen. Der Rest der Crew erschießt euch, wenn sie Euch außerhalb dieser vier Wände sehen. Bedenkt das.“
„Dann lasse ich mich von niemanden sehen.“, erwiderte der Agent. „Passt nur auf, wir sehen uns noch, wenn ich‘s hier raus schaffe.“
„Lucien… macht einfach nichts Dummes ja? Bitte?“ Der Mann war anstrengend und für die kruden Späße des Spions hatte sie jetzt keine Zeit. Und vor allen Dingen, wenn sie Lucien irgendwo in den Straßen Lasantas sah, würde sie ihn direkt zu seiner Zelle zurück schleifen. Die Gejarn zog die Tür zu und ließ den kaiserlichen Agenten damit zurück. Rasch drehte sie den Schlüssel im Schloss und ließ diesen dann in ihrer Tasche verschwinden.
Zeit nachzusehen, wie nahe sie dem Hafen schon waren. Bevor sie sich jedoch ganz umgewandt hatte, hörte sie ein metallenes Kratzen an der Tür.
„Ist es eigentlich zu viel verlangt, das ihr mit eurem Ausbruchsversuch wartet, bis ich weg bin?“ , rief die Gejarn. Das Geräusch verstummte sofort,
„Tschuldigung ! Ich weiß nicht… soll ich bis zehn zählen?“
„Tausend. Und am besten zweimal.“ Eden drehte sich um und achte sich auf den Rückweg. Geister, sie sollte jemanden hier runter schicken, der sich direkt vor Luciens Tür setzte. Aber dann entkam er vermutlich noch durchs Fenster… irgendwie konnte sie ihn ja verstehen. Sie war auch nicht gerne eingesperrt aber… dieser Mann schien seine Situation in keiner Weise ernst zu nehmen. Sie wollte auch nicht schuld daran sein, wenn er sich von Vance Matrosen erschießen ließ.
Als Eden an Deck zurückkehrte, brachte Vance das Schiff grade parallel zu einem der zahlreichen Landungsstegs, die die Hafenmole säumten. Rasch wurden Seile zu den Pollern hinab geworfen und einige Matrosen sprangen über Bord um die Windrufer sicher zu verankern. Wenige Augenblicke später wurden Laufplanken zum Pier herabgesenkt und Vance verließ seinen Platz am Steuerrad.
„Also dann.“, meinte er, während jemand die befreiten Sklaven auf Deck brachte. „Meine Herren, ab hier seid Ihr auf Euch gestellt, aber ich würde es… vorziehen, wenn Ihr vergesst, dass ich existiere.“
„Keine Sorge.“, meinte ein deutlich abgemagerter Gejarn. Ein Tiger mit zottigem Fell, das ihm stellenweise Büschelweise ausfiel.
„Wir sind schon dankbar genug für diese eine Chance. Wenn wir unser… Ziel erreicht hätten, hätte man uns dem Ritual unterzogen.“ Er wandte sich an Eden. „Wir… zumindest die meisten von uns, bleiben wohl erst mal eine Weile hier. Ein paar von uns waren Seeleute, bevor… all dem. Wir schulden Euch unser Leben. Solltet Ihr jemals unsere Hilfe brauchen sagt es nur.“ Eden nickte.
„Ich werde es mir merken. Aber lieber wäre mir, ihr passt auf euch auf. Noch einmal komme ich nicht zufällig vorbei um euch zu retten.“ Der Mann nickte, bevor die nun freien Leute einer nach dem anderen über die Laufplanken vom Deck verschwanden. Nachdem die letzten von ihnen im Gedränge am Hafen außer Sicht geraten waren, wandte sich der Kapitän wieder an Eden.
„Die werden mir meinen Ruf ruinieren. Und daran seid nur Ihr schuld. Vance Livsey rettet ein paar verlauste Sklaven… und das ist alles eure Schuld, Eden.“
Die Gejarn schmunzelte.
„Vielleicht ist das gar nicht so verkehrt?“
„Was?“
„Gnade walten zu lassen, wo sie angebracht ist.“, antwortet Zachary für sie. „Aber sie auch denen verweigern, die sie nicht verdienen.“
Eden lief ein Schauer über den Rücken. Das waren nicht die Worte eines Kindes. Das waren die Worte eines Zauberers. Und das Urteil eines solchen. Die Worte eines Mannes, der einmal entweder ein Held… oder ein Monster werden würde. Vielleicht ein Monster wie sein Vater….
Vance raffte sich auf.
„Kommt, es gibt viel zu erledigen.“
Mit diesen Worten trat er über die Laufplanken zum Hafen hinab. Eden folgte ihm im einigen Abstand und winkte schließlich Zachary hinter sich her. Sie wollte ihn ungern auf dem Schiff zurück lassen. Auch wenn diese Stadt ihr fremd war. Selbst die Gerüche waren völlig anders, als alles was sie kannte. Kein Tannenharz und keine toten Blätter in der Luft. Stattdessen Palmöl, das süßliche Aroma von Datteln und über allem, der Dunst von zu vielen Menschen auf engem Raum. Schweiß und Blut.
Die Straßen waren überfüllt und sie nahm Zachary schließlich bei der Hand, um ihn im Gedränge nicht zu verlieren. Vance führte sie vorbei an großen Lagerhallen, an denen Dutzende von Trägern, Waren zu und von den Schiffen brachten und weiter durch einige Wohnviertel. Waren Gejarn in den meisten Städten eher seltener anzutreffen, so entdeckte Eden hier doch eine ganze Menge. Dazu Menschen aus allen Ecken d es Kaiserreichs. Leute, die lange Roben trugen, wie sie im Süden Mode waren. Adelige in den typischen bunten Gehröcken und Schulterumhängen der Oberschicht. Dazwischen die Bewohner Lasantas, die vor allem luftige Kleidung trugen, die die Hitze des Tages erträglicher machte.
Sie erreichten einen kleinen Platz mit Geschäften. Auf dem Platz selbst boten verschiedene Stände ihre Waren feil, von Früchten und Gemüse, über Gewürze bis hin zu Kleidung. Und auch in den Gebäuden um den Platz herum waren Läden. Kleine Holzschilder über den Eingängen gaben Auskunft darüber, was verkauft wurde. Es gab einen Kräuterkundigen, Schmiede, einen Schneider und letztlich etwas von allem. Vance blieb einen Moment stehen.
„Ich werde wohl etwas herum fragen müssen, bis ich weiß, wer mir genug haltbare Lebensmittel für drei Monate besorgen kann.“ Er griff in eine Tasche seines Mantels.
„Seht es als Vorschuss, den ich von eurem Anteil abziehe, ja?“ Der Kapitän zog einen kleinen Lederbeutel hervor und drückte in Eden in die Hand. „Wenn Ihr noch irgendetwas braucht, wäre jetzt wohl die richtige Gelegenheit. Wir treffen uns in zwei Stunden wieder hier.“
„Was bringt Euch auf die Idee, das ich zurück komme?“ , wollte sie wissen.
„Weil Ihr diese Insel genau so finden wollt wie ich, Mädchen. Ich erkenne meine eigenen Augen im Spiegel. Oder seht es so… ich finde einen anderen Zauberer. Irgendwann. Aber Euer Anteil ist dann weg.“
Vance lachte, während er zwischen den Ständen auf dem Markt verschwand. Eden war einen Moment unschlüssig und sah über die Geschäfte hinweg. Ein Schneider… ihre alte Kleidung, die sie aus Lore hatte, war mittlerweile ziemlich mitgenommen. Der Stoff wies neben mehreren Blut und Schmutzflecken, zahlreiche Risse auf und sie hatte vergessen, wie oft sie alles schon wieder zusammengenäht hatte.
Sie zog eine Münze aus dem Geldbeutel, den Vance ihr gegeben hatte. Es waren Goldmünzen… das war… viel, dachte sie nur. Aber immer noch nur ein Ausblick auf das, was komme sollte.
„Hunger?“ , fragte sie an Zachary gerichtet.
„Ein wenig.“
Sie schnippte dem Zauberer die Münze zu.
„Such Dir was, aber… bleib in der Nähe ja? Ich bin in dem Schneiderladen da drüben.“ Sie deutete auf ein Schild auf der anderen Seite des Platzes.
Er nickte lediglich.
„Mach ich.“ Mit diesen Worten rannte Zachary auch schon los. Eden musste schmunzeln, während sie ihm hinterher sah. Die seltsame Angst, die sie auf der Windrufer gepackt hatte, war verflogen. Er war nach wie vor nur ein Kind. Vielleicht eines mit der Macht eines Gottes, die in ihm ruhte … aber ein Kind.
Nur das würde er nicht bleiben nicht?, fragte die altbekannte zweite Stimme in ihrem Kopf. Eine Stimme, von der sie geglaubt hatte, dass sie nun Schweigen würde. Zu was für einen Menschen wird er einmal werden… wenn du nicht mehr bist? Denn du wirst vor ihm sterben, wenn du deine Sache richtig machst….
Eden vertrieb die Gedanken. Das hatte alles noch Zeit. Monate, Jahre, vielleicht ein ganzes Jahrzehnt. Zachary würde nicht in die Fußstapfen eines Andre de Immerson folgen. Allein der Gedanke war lächerlich. Und erschreckend. Sie rieb sich die Arme, obwohl die Sonne nach wie vor auf Lasanta hinab brannte. Es war nicht wichtig.
Kapitel 23
Nebenwetten
Lucien warf nur einen flüchtigen Blick zurück zur Windrufer, während er seine Schritte rasch durch die Straßen Lasantas lenkte. Das Schloss hatte ihm keine fünf Minuten gekostet, aber vom Schiff zu kommen, war eine größere Herausforderung geworden. Auch wenn ein Teil der Crew offenbar auf Landgang war, es waren genug Piraten, um ihn eine Weile aufzuhalten. Der kaiserliche Agent glaubte nicht, dass seine Flucht schon jemanden aufgefallen war. Und das würde sie wohl auch erst, wenn man ihn wieder aus seiner Zelle lassen wollte. Er beschleunigte seine Schritte etwas, um den Hafen endgültig hinter sich zu lassen.
Sowohl der Orden, als auch die Garde besaßen Posten in der Stadt. Es war eine Weile her, das er hier gewesen war und er wusste nicht mehr sicher, wo er hin musste. Zwar hatte der Spion nicht vor, Vance auffliegen zu lassen…. Aber irgendetwas musste es geben, das ihm verriet, wonach genau der Kapitän suchte. Er hatte während seines Aufenthalts auf der Windrufer, mehr als nur ein paar Gerüchte aufgeschnappt. Eine Insel irgendwo vor der Nebelküste… aus irgendeinem Grund hatte er das Gefühl, das ihm das etwas sagen müsste. Alte verstaubte Aufzeichnungen über eine gescheiterte Expedition des Kaiserreichs…. Er wusste nicht mehr, wo genau er die Papiere gesehen hatte, vermutlich im kaiserlichen Archiv in Vara. Aber es war interessant genug, dass er der Sache nachgehen wollte. Wenn jemand etwas darüber wusste, dann wohl der Orden…. oder die Garde. Er blieb einen Moment stehen. An wen sollte er sich am besten wenden? Letztlich war es egal, dachte Lucien. Er könnte genauso gut eine Münze werfen. Die Idee gefiel ihm, aber… ging er zur Garde, würde das ziemlich viele Fragen zur Folge haben. Vor allem, wie ein kaiserlicher Agent mehrere Dutzend Tagesreisen entfernt von seinem eigentlichen Ziel zu suchen hatte. Es blieb dabei, er schuldete Eden etwas. Genug um sie und die Crew der Windrufer erst einmal aus allem raus zu halten. Trotzdem wollte er wissen, womit er es hier zu tun hatte. Blieb nur der Orden….
Die Magier waren vielleicht alles andere als Vertrauenswürdig, wenn es um Geheimnisse ging, aber sie wussten, wann man besser keine Fragen stellte.
Vor Lucien überquerte eine kleine Truppe in schwarzer Uniformen gekleideter Soldaten, die Straße. Die Musketen locker über die Schulter gehängt und leise plaudernd, waren die Männer wohl schon außer Dienst. Ein mit einem Säbel bewaffneter Hauptmann in grüner Uniform folgte und brüllte die Männer an, Ordnung zu halten. Lucien hatte sich geirrt, die Gardisten waren allem Anschein nach lediglich undiszipliniert. Die schwarze Uniform war eigentlich nur den Ungehorsamen… oder denen mit einem starken Todeswunsch vorbehalten. Die Garde stellte diejenigen, die sie loswerden wollte gerne in die vorderste Front. Vielleicht waren es bloß neue Rekruten, hoffte Lucien. Im gleichen Moment kam Bewegung in die Truppe.
Der Agent hielt es für besser, erst einmal zu abzuwarten. Zum Orden konnte er immer noch später gehen. So schnell würde Vance den Hafen wohl nicht wieder verlassen, wenn er es für nötig hielt ihn für die Dauer ihres Aufenthalts hier einzusperren.
Ein einzelner Gardist löste sich aus den Reihen der schwarz gekleideten Truppe. Es war ein Gejarn wie der Agent erkannte. Ein Wolf mit pechschwarzem Fell, was dem Mann ein wenig das Aussehen eines lebendigen Schattens gab.
„Zurück in die Reihen Cyrus, verdammt, was bin ich froh wenn ihr alle erst in Kalenchor seid.“, knurrte der Hauptmann den Wolf an. Dieser ließ sich dadurch scheinbar wenig einschüchtern, sondern grinste nur. Ein seltsames Lächeln, das zu viele Zähne sehen ließ….
Lucien hielt den Zeitpunkt für günstig, dazwischen zu gehen.
„Verzeiht, Ihr wisst nicht zufällig, wo ich die Vertretung des Sangius-Ordens in dieser Stadt finde?“
Der Offizier sah blinzelnd auf. Die Spannung die einen Moment zuvor noch in der Luft gestanden hatte, verflog.
,,Was….“
Es war der Gejarn, der schließlich antwortete.
„Die Straße runter… ist unschwer zu verfehlen, die Zauberer heben sich wirklich gerne hervor.“
Lucien lachte.
„Ja, das merkt man ziemlich schnell. Danke.“
„Nichts zu danken. Ich weiß auch nicht, ob ich mich lieber mit dem Orden herumschlagen würd, als mit den Kultisten in der Wüste Verstecken zu spielen…“
„Hey, wenigstens kann es nicht mehr viel schlimmer kommen, was?“, meinte Lucien zum Abschied. Er beeilte sich jetzt, endlich sein Ziel zu erreichen. Vorbei an einigen Wohnhäusern, die teilwiese aus weißem, kühlen Marmor erreichtet waren. Das musste sicher ein kleines Vermögen kosten, überlegte der Spion bei sich. Aber Lasanta war durch den Handel eine reiche Stadt geworden. Die Niederlassung des Ordens schließlich lag in einer kleinen Villa. Ein Garten mit Palmen und exotischen Blumen, nahm fast die gesamte Frontseite ein. Das Haus hatte zwei Stockwerke und von einem Balkon im Obergeschoss hing, deutlich erkennbar, das golden und türkisfarbene Wappen des Ordens herab. Lucien trat an den Zaun, der das Grundstück umlief und setzte geschickt darüber. Ein mit Sand bestreuter Weg, führte durch die Gärten zum Eingang des Gebäudes. Schon als er sich näherte, erschien eine in die typischen Roben gekleidete Gestalt auf den Stufen des Hauses.
„Ja, was kann ich für Euch tun?“ Von der Stimme her war es wohl eine Frau, dachte der Agent, auch wenn die Roben es schwer machten, das Geschlecht abzuschätzen.
„Lucien Valaris, Agent des Kaisers. Ich… habe einige Fragen, die Ihr mir vielleicht beantworten könnt.“
Im Inneren des Hauses bewegte sich etwas, aber er achtete kaum darauf.
„Fragen?“
„Es geht vor allem, um ein Schiff namens Windrufer.“
Eine zweite Gestalt trat auf die Terrasse vor dem Ordenshaus hinaus.
„Windrufer….“
Der Mann, der sich zu der verhüllten Zauberin gesellt hatte war alt. Älter als die meisten Magier, wie Lucien wusste. Denn auch wenn er ihm erst ein paar Mal begegnet war und meist nur aus der Ferne, so hatte Tyrus Lightsson etwas an sich, das man nicht so schnell vergas. Die grauen Haare fielen ihm bis auf die Schultern, aber das war auch schon das einzige an ihm, das an einen typischen Zauberer erinnerte. Das Gesicht hingegen war glatt rasiert und kantig und seine Augen glitzerten kalt und berechnend. Tyrus war genau so sehr Gelehrter wie erbarmungsloser Krieger. Nur die verkrüppelnde Verletzung seines linken Armes hatte seiner Karriere ein Ende gesetzt. Der oberste Zauberer des Sangius Ordens hielt die verletzte Hand hinter dem Rücken verschränkt. Tiefe Narben zogen sich durch die Haut, geschlagen von Reißzähnen und Krallen, die ihm fast das Leben gekostet hatten.
Wie alle Magier trug er eine schlichte, türkisfarbene Robe, auf der das Symbol des Blutstropfens prangte. Aber Tyrus war auch niemand, der Prunk brauchte um seine Wirkung auf andere zu haben.
Die Drohung der Macht, über die der Alte verfügte, war mehr als genug um selbst hohe Fürsten schnell Respekt zu lehren.
„Lord Tyrus….“ Lucien verbeugte sich, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. „Ich dachte Ihr wärt in der fliegenden Stadt beim Kaiser. Ich habe gehört, Ihr sollt seinen Sohn ausbilden?
Der Mann nickte.
„Und der Junge lernt schnell… beinahe schneller als er sollte.“, meinte er freundlich. „Momentan hält er sich aber in Vara auf und ich werde für eine Weile nicht gebraucht. Also statte ich den Außenposten des Ordens, in der Zwischenzeit einen Besuch ab. Und was führt einen kaiserlichen Agenten hierher? Der Sangius-Orden hält aus Prinzip keine Sklaven, wie Ihr wissen solltet.“
Manche würde das wohl anders sehen, dachte Lucien.
„Was mich herführt, ist wie gesagt, ein Schiff namens Windrufer. Ein Schiff, dessen Besatzung offenbar nach etwas sucht, das in der Nähe des unerforschten Kontinents im Westen liegen soll. Ich tippe mal einfach auf eine Art Insel.“
Tyrus runzelte die Stirn.
„Kommt rein.“, meinte er nach einer Weile und bedeutete Lucien ihm ins Innere des Gebäudes zu folgen. Der Eingangsbereich, bestand aus einem mit schwarzem und weißem Marmor vertäfelten Flur. Seltsam unpassend wirkende Landschaftsbilder, hingen an den Wänden.
Der Zauberer führte den Agenten weiter durch eine große, offene Halle, in der magische Kristalle in schweren Glaskästen standen. Die roten Edelsteine glitzerten und reflektierten das Licht mehrerer Öllampen, die den Saal erhellten. Ein paar Männer und Frauen in den Umhängen des Ordens arbeiteten an den Steinen und stellten neue her. Lucien war der Anblick nicht zu unvertraut.
Tyrus ging weiter, ohne sich groß umzusehen und betrat schließlich einen Raum, dessen Wände mit Bücherregalen vollgestellt waren. Ein einziger schwerer Schreibtisch stand unter einem Fenster, das auf die Gärten hinausging. Der oberste Zauberer nahm auf einem Lehnstuhl Platz und bedeutete Lucien, sich ebenfalls zu setzen.
„Es gab ein Schiff des Kaiserreichs, dass den Namen Windrufer trug. Ich habe es sogar selber losgeschickt. , erklärte er schließlich.
„Ich weiß nicht, woher Ihr davon wisst… aber es verschwand vor mehreren Jahren, während einer Expedition nach Westen. Die Mission galt eigentlich als gescheitert und der Kaiser wollte nicht noch mehr Leute dabei verlieren.“
„Was war seine Mission denn?“
„An Bord des Schiffs befand sich die Abschrift eines Texts des alten Volkes. Eine Passage, die scheinbar beschreibt, wie einige von ihnen vor dem Untergang ihres Reichs nach Westen flohen um einen Neuanfang zu wagen und ihre wertvollsten Besitztümer in Sicherheit zu bringen. Aber wie gesagt, wir haben die Suche danach aufgegeben. Auch wenn uns die erhofften Artefakte in der momentanen Situation im Süden ganz gelegen kämen.“
„Ihr vielleicht, aber offenbar, ist jemand davon überzeugt, dass es diesen Ort gibt…. Und das er ihn erreichen kann. Nur so habe ich ja überhaupt davon erfahren.“
„Jemand ?“
„Ihr verzeiht, aber… es gibt Gründe, aus denen ich Euch nicht mehr verraten kann. Ich will nur herausfinden, ob an der Sache auch etwas dran ist.“
Tyrus Augen verengten sich misstrauisch, trotzdem fuhr er fort:
„Wenn wirklich jemand davon weiß, dann muss er eine Abschrift der entsprechenden Tafel besitzen. Und wenn es diese Abschrift gibt… dann brauchen wir dieses Dokument zurück. Damit können wir den Kaiser vielleicht überzeugen, noch eine zweite Expedition loszuschicken.“
Eden betrachtete sich einen Moment im Spiegel. Zwar war es nicht das erste Mal, dass sie sich selber derart klar sah, aber Geister… es war eine Weile her. Was ihr da aus dem Glas entgegensah schien kaum noch sie zu sein, wie sie sich in Erinnerung gehabt hatte. Vor allen weil die Gestalt im Spiegel ein schwaches Lächeln aufgesetzt hatte. Das waren nicht die ausgehärmten Züge einer entflohenen Sklavin. Schon lange nicht mehr. Ein frisch gekaufter roter Gehrock, fiel ihr über die Schultern. Darunter schimmerten, ein weißes Hemd und ein paar dunkle Hosen. Auf Stiefel hatte sie verzichtet. Sie war barfuß sicherer und anders als Menschen hatte sie kein Problem damit, auf Steine oder Scherben zu treten. Es war… seltsam einmal etwas zu tragen, das nicht aus Fetzen bestand oder geschenkt war.
„Den nehme ich.“, erklärte sie dem Schneider nur und legte ein paar Münzen auf den Tresen des Ladens.
„Wie Ihr wünscht und Ihr seid sicher, dass ich nicht noch etwas für Euch…“
„Nein, nein, danke. Das wird reichen.“ Und sie wollte Vance Großzügigkeit auch nicht überstrapazieren. Anfangs war ihr der Besitzer des Ladens misstrauisch begegnet. Das hielt jedoch nur, bis sie die ersten Goldmünzen für ein paar stabile Handschuhe ausgegeben hatte. Das würde in Zukunft hoffentlich verhindern, dass sie sich die Handflächen mit dem Schwertgriff abschürfte.
Danach wurde der Ladenbesitzer plötzlich geradezu überschwänglich mit seiner Hilfsbereitschaft. Auch wenn es sie einige Nerven gekostet hatte, den Mann davon zu überzeugen, dass sie kein Kleid brauchte, sondern tatsächlich ein paar Hosen und einen Mantel.
Als sie wieder hinaus auf die Straßen trat, sah sie sich rasch nach Zachary um, konnte den jungen Zauberer aber einen Moment nirgendwo entdecken. Die Sonne stand nur noch knapp über den Dächern Lasantas. Viel Tageslicht blieb ihnen nicht mehr.
„Du siehst… anders aus.“, meinte eine Stimme hinter ihr. Die Gejarn drehte sich um und entdeckte den Zauberer schließlich. Zachary lehnte in der Nähe an einer Hauswand und kaute auf einem Stück Süßgebäck.
„Besser, hoffe ich.“, erwiderte sie. „Es wird wohl eine Weile dauern bis ich mich da dran gewöhne. Komm, suchen wir Vance….“
Kapitel 24
Hintergangen
Eden schüttelte den Kopf, als sie Vance schließlich fanden. Trotz der Abmachung sich auf dem Marktplatz zu treffen, war der Kapitän auch kurz vor Sonnenuntergang nicht zurückgekommen. Und so hatten sie und Zachary sich auf den Weg gemacht. Aber Vance blieb verschwunden. Die Gejarn hatte die verschiedenen Händler gefragt, ob sie den Mann gesehen hätte, letztlich erinnerten sich auch einige daran, dass er bei ihnen Vorräte bestellt hatte, die am Morgen zum Hafen gebracht werden sollten. Aber niemand konnte ihr sagen, wo er danach hin war. Auch wenn sie es nicht zugab, machte sie sich Sorgen um ihn. Vance wurde vermutlich vom halben Kaiserreich gesucht. Und wenn ihn jemand erwischt hatte… wäre auch sie vielleicht nicht mehr sicher. Und so seltsam es war, sie mochte den Kapitän mittlerweile sogar. Er hatte seine Eigenheiten… seine durchaus gefährlichen Eigenheiten, aber sobald man damit zurecht kam, konnte man durchaus Vernünftig mit ihm reden.
Was machte sie, wenn Vance wirklich der Garde in die Hände gefallen war? fragte sie sich.
Müde und mit dem Gedanken spielend einfach auf der Windrufer zu warten, ob der Kapitän auftauchte, betrat sie schließlich ein kleines, heruntergekommenes Gasthaus in einer Nebenstraße Lasantas. Schon bevor sie ganz zur Tür herein war, entdeckte sie bereits die vertraute Gestalt, die an einem der Tische saß , rauchte und einen Stapel leerer Krüge vor sich stehen hatte.
„Vance.“ Sie war sich nicht sicher, ob sie lachen oder wütend sein sollte. „Was glaubt Ihr eigentlich hier zu tun?“
„Das Salz aus der Kehle spülen.“, erwiderte er, während er einer Bedienung einen weiteren Bierkrug abnahm. „Solltet Ihr auch mal versuchen. Und entweder seid Ihr in einen Farbeimer gefallen, oder ich sollte doch weniger trinken….“
Eden setzte sich dem Mann gegenüber an den Tisch und Zachary zog sich ebenfalls einen Stuhl heran.
„Habt Ihr alles für die Reise bekommen?“, wollte die Gejarn wissen. Rauchschwaden hingen unter der Decke der Taverne
„Soweit schon. Nahrung für drei Monate hin und drei Monate Rückfahrt, auch wenn wir uns die letzten Wochen wohl ausschließlich von Zwieback ernähren dürfen. Ihr habt hoffentlich kein Problem damit ein paar Reißzähne einzubüßen?“
„Wieso?“ Sie nahm sich selber einen Krug.
„Skorbut, Mädchen. Wenn wir nicht großes Glück haben, bleibt uns das nicht erspart. Auch wenn ich nicht weiß, wie sich das bei Gejarn auswirkt.“ Er lachte, als er ihren entsetzten Gesichtsausdruck sah. „Keine Sorge, das wiegt sich alles in Gold auf.“
Vance sah sich einen Moment in der Taverne um.
„Der Laden ist auch ziemlich herunter gekommen. Und das Bier hier schmeckt grässlich.“
Eden hatte bereits einen Schlug genommen und hätte das lauwarme Getränk fast wieder ausgespuckt. Damit hatte er schon einmal recht….
„Warum trinkt Ihr es dann?“, wollte Zachary wissen.
„Weil es wenigstens wirkt.“, lachte der Kapitän. „Aber verflucht, selbst ich könnte diesen Laden besser führen. Und das will was heißen, die meisten Leute denen ich begegne, leben nicht mehr allzu lange. Vielleicht kauf ich den Schuppen ja, wenn das alles vorbei ist.“
„Ihr wollt wirklich ein Wirt werden?“ , fragte Eden. Sie konnte sich den Mann kaum hinter einem Tresen vorstellen. Oder… das schon. Aber viele Kunden würde er nicht finden.
„Ne, ich setzt mich dann zur Ruhe, stelle mir ein Dutzend hübscher Mädels ein, die den Laden für mich führen… und dann läuft das alles wie von selbst. Aber irgendein Hobby muss man ja haben. Und was macht Ihr mit eurem Anteil? Ihr müsst doch Pläne haben. Die meisten meiner Jungs wollen danach weg von der See. Es sind raue Kerle, aber das Leben da draußen ist… kurz für die meisten. Kurz und brutal.“
„Damit habe ich keine Erfahrung. Ich… muss ehrlich sagen, ich weiß es nicht. Es gibt Leute vor denen ich mich nach wie vor verstecken muss. Mich und Zachary. Und… ich werde eine Lösung für uns finden müssen. Für ihn. Lucien meinte, die Magie würde….“ Sie senkte ihre Stimme. „Sie zerfrisst die Zauberer irgendwann. Ich werde das nicht zulassen.“
Vance sah auf und was sie in seinen seltsam trübblauen Augen sah, hätte sie dort nie erwartet. Nicht bei jemanden wie dem Kapitän. Mitleid.
„Ich weiß nicht, welches seltsame Schicksal euch zusammengeführt hat, aber… ich kann euch dabei nur Erfolg wünschen. Aber ich weiß, dass Ihr das schafft. Ihr werdet das Vermögen eines Königs besitzen, Eden. Wir alle zusammen werden leicht mehr Gold haben, als der Kaiser selbst.“
„Vielleicht kauf ich mir Silberstedt.“, erklärte sie schließlich. „Es gibt ein paar Leute dort, mit denen ich noch eine Rechnung offen habe.“
„Eine Stadt… und Ihr macht euch über mich lustig, weil ich eine Taverne kaufen will?“ Vance lachte schallend.„Aber eines macht mir noch Sorgen. Der Spruch. 17 und 21, die ferne Küste, abseits des Mauls des Drachens bot der Fels die Zuflucht. So ließen wir den Morgendämmerung hinter uns, zu retten was zu retten ist.“
Eden nickte.
„Ihr habt alles gelöst, nur… was soll 17 und 21 bedeuten?“
„Vielleicht finden wir es heraus wenn wir die Insel finden… aber ich habe das ungute Gefühl, wir sollten es wirklich besser vorher wissen. Wenn es dort eine Stadt oder ein Versteck des alten Volkes gibt, ist es sicher nicht ohne irgendeine Verteidigung. Wie ich schon gesagt habe, diese alten Zauberer liebten Metaphern und…Rätsel.“
Eden kratzte sich am Kopf. Schließlich war es Zachary der fragte:
„Hatten diese Zahlen vielleicht irgendeine Bedeutung für sie?“
„Wenn, dann habe ich darüber nichts gelesen. Aber ich habe das meiste auch nur überflogen. Ihr Vance ?“
„Nein. Nichts. Was ist eigentlich mit unserem ungebetenen Gast?“
„Ihr meint Lucien?“
Vance lachte wieder.
„Ihr denkt doch nicht wirklich, ich würde davon ausgehen, dass der ruhig in seiner Zelle sitzen bleibt?“
„Ich würde mich nicht darauf verlassen.“, antwortete sie.
„Dachte ich mir schon… dann verschwinden wir besser so schnell wie möglich von hier. Morgen früh, sobald die Vorräte da sind, geht es los.“
Eden zögerte.
„Ich glaube nicht, dass er uns verraten würde.“
Vance schien einen Moment nachzudenken.
„Er scheint ja ein ganz netter Bursche zu sein, aber für mein Kaliber etwas zu… ordentlich.“
„Und das sagt ein Pirat über einen Taschendieb.“
„Vielleicht ist gründlich das bessere Wort? Ich glaube nicht, dass dieser Mann jemals etwas anderes getan hat als seine Aufgabe durchzuziehen. Nein, der rennt sofort zur Stadtwache, wenn er glaubt damit durchzukommen.“
Eden stand auf.
„Wenn Ihr euch derartige Sorgen macht, sehe ich eben mal nach ihm. Wenn er noch da ist, heißt das.“, murmelte sie , mehr zu sich selbst.
„Nun, solange er nicht weiß, wohinter wir her sind mache ich mir keine Sorgen. Aber… Ihr kennt die Magier, wenn die auch nur irgendwo etwas wittern, das ihnen nützlich sein könnte, fackeln die nicht lange. Aber… ich habe die Schriftrollen beide hier.“ Vance legte zwei Bögen Pergament auf den Tisch. „Er kommt also gar nicht daran, selbst wenn er es versucht.“
„Wirklich, ich glaube einfach nicht, das Lucien uns irgendwie schaden will.“, erklärte sie, vielleicht etwas zu heftig.
„Und zwar aus welchem Grund?“
Eden packte die zwei Schriftstücke und stand auf.
„Wisst Ihr was? Ich sehe jetzt sofort nach. Ich bin mir absolut sicher, dass Ihr Unrecht habt.“
Sie rannte los und Vance war noch nicht einmal aufgestanden, als sie schon zur Tür der Taverne hinaus in die hereinbrechende Nacht lief.
Der Kapitän blieb einen Moment verwirrt sitzen, leerte dann sein restliches Bier in einem Zug und nickte Zachary zu, ihm zu folgen.
„Ich fürchte die Dinge sind grade ein wenig komplizierter geworden.“
Lucien beachtete die beiden ohnmächtigen Piraten, die vor ihm, im Eingang der Kajüte lagen kaum. Er hoffte nur, dass er keinen von ihnen zu ernst verletzte hatte. Es wäre schlicht nicht nötig gewesen.
Leise summend stieg er über die beiden hinweg und betrat den Raum dahinter. Zu seinem Glück schien der Großteil der Besatzung, die Zeit in Lasanta für einen Landgang zu nutzen, so hatte er sich bisher ungestört auf der Windrufer bewegen können.
Die Kabine des Kapitäns war aufgeräumt und überraschend sauber. Vance schien e in Mann zu sein, der Ordnung hielt. Gut… das machte es ihm leichter. Rasch schloss Lucien die Tür hinter sich und trat an eines der Regale im Raum. Insgesamt gab es zwei, eines, das ein buntes Sammelsurium aus Waffen, Flaschen und verschiedenen Gebrauchsgegenständen enthielt und ein zweites, in dem sich Papiere und Bücher türmten. Rasch zog er mehrere Schriftrollen heraus. Tabellen, Seekarten, sogar ein Mondkalender nach Art des alten Volkes… aber nicht, was er suchte. Aber es musste hier sein, oder? Wo sonst würde der Kapitän eine Abschrift aufbewahren, wenn es denn eine gab?
Es war schwer genug gewesen, Tyrus davon zu überzeugen, ihm das alleine zu überlassen. Nach wie vor, er schuldete Eden etwas… zumindest würde er dafür sorgen, dass sie keine Schwierigkeiten bekamen. Trotzdem tat das wenig dazu, sein schlechtes Gewissen zu dämpfen. Jetzt hör auf damit, es ist nicht so, dass du ihnen etwas wegnimmst, das ihnen überhaupt gehören würde, oder?
Nur die Schriftrolle musste zum Orden. Wie der Zauberer gesagt hatte… es könnte dem festgefahrenen Krieg im Süden, endlich wieder eine Wendung geben. Im Augenblick sah es eher so aus, als würden beide Seiten eine erzwungene Waffenruhe schließen. Nicht das das schlecht wäre, oder? fragte Lucien sich. Aber für das Kaiserreich wäre es eine Demütigung.
Man konnte sich seinen Herren, eben manchmal nicht aussuchen. Rasch zog er einige weitere Schriftstücke aus dem Regal und blätterte einige der Bücher durch, für den Fall, das etwas zwischen den Seiten versteckt war. Nichts. Und er wusste nicht, wie viel Zeit ihm blieb. Durch die Glasfenster der Kajüte konnte er sehen, wie die Nacht sich langsam über Lasanta senkte. Irgendwann würde die Crew zurückkehren. Und bis dahin wäre er besser lange weg. Er musste endlich die Abschrift finden. Wenn er damit zum Orden zurückkehrte… Götter, das wäre eine Entdeckung. Aber mittlerweile hatte er fast sämtliche Papiere im Regal durchsucht und nichts gefunden. Er ging zu dem Regal mit den Flaschen hinüber. Hier war auch nichts… verflucht, vielleicht bewahrte Vance seine wichtigen Dokumente doch an einem anderen Ort auf dem Schiff auf….
Er musste vor dem ersten Licht sowieso zurück in seine Zelle, damit nicht auffiel, was er getan hatte.
Bevor Lucien dazu kam, sich umzudrehen um die Kabine zu verlassen, legte sich kalter Stahl an seine Kehle.
„Würdet Ihr mir vielleicht sagen, was Ihr hier tut?“ , wollte Eden wissen.
„Ich… kann das erklären“, meinte er nur.
Eden war lange vor Vance beim Schiff und hechtete die Laufplanken hinauf aufs Deck. Im schwachen Licht des grade erst aufgehenden Monds konnte sie sofort erkennen, dass die Tür zu Vance Kabine weit offen stand. Davor im Schatten lagen mehrere Gestalten auf dem Rücken. Zwei Männer aus Vance Mannschaft. Beiden ragte ein Bolzen aus der Brust. Allerdings war die Spitze feiner als sie es erwartet hätte, kaum mehr als eine dünne Nadel…. Das reichte nicht aus um jemanden wirklich ernsthaft zu verletzen. Trotzdem waren beide Männer bewusstlos. Eine Bewegung im Inneren der Kajüte ließ sie sich blitzschnell in den Schatten ducken. Sie erhaschte einen Blick auf ein graues Stück Stoff. Grau, wie Luciens Umhang… wo immer er den auch wieder her hatte. Also hatte sie Recht behalten. Geister sie hatte sich eigentlich gewünscht, sich zu irren. Lucien war… nett gewesen. Aber das hieß jetzt nichts mehr, sagte Eden sich. Ob sie es selber glaubte war natürlich eine andere Frage. Sie würde ihn nicht töten….
Leise zog sie das Schwert und trat hinter die Gestalt, die grade Vance Bücherregal durchstöberte. Da konnte er lange suchen, dachte Eden. Der kaiserliche Agent bemerkte sie erst, als er schon die Klinge am Hals hatte.
„Würdet ihr mir vielleichtsagen, was Ihr hier tut?“
„Ich… ich kann das erklären“, meinte er nur. Unsicherheit schwang in seiner Stimme mit.
„Umdrehen… langsam.“ Der Spion seufzte und wendete sich ruhig zu ihr um.
„Tschuldigung.“ , meinte er mit einem schwachen Grinsen auf den Lippen.
Eden hätte ihm das Grinsen am liebsten aus dem Gesicht gewischt. Wie gerne würde sie gleichzeitig einfach nur glauben, dass es einen guten Grund für sein Handeln gab. Hatte dieser Kerl eine Ahnung, was er hier tat?
„Ihr sucht nicht zufällig das hier, oder?“
Sie zog eine der zwei Schriftrollen, die Vance besaß aus der Tasche. Die Originalabschrift der Felswand.
Lucien war schnell und trat ihr die Klinge aus der Hand. Das Schwert flog in die Dunkelheit davon und landete klirrend irgendwo auf dem Boden. Eden wich einem Faustschlag des Agenten aus, der sie weit verfehlte. Entweder war er es wirklich gewohnt nur aus der Entfernung zu kämpfen oder hielt sich zurück. Sie schlug ungezielt und traf ihn direkt vor die Brust. Lucien stolperte rückwärts.
Bevor sich der Agent wieder gefangen hatte, hatte sie ihn auch schon gepackt und drückte ihn mit dem Ellenbogen an die Wand. Ihre Hand tastete nach einer zweiten Waffe. Dolch oder Pistole, fand sie aber nicht. Verflucht… jetzt wurde ihr doch glatt die neue Kleidung zum Verhängnis.
„Gebt es zu, Ihr wolltet uns bestehlen.“
„Das tut mir leid, aber…bestehlen ist hier vielleicht das Falsche Wort, wenn Euch der Gegenstand gar nicht erst gehö….“
Sie erhöhte den Druck auf seine Kehle.
„Hintergehen dann eben. Betrügen. Hört auf mit den Wortspielen….“
Ein schwaches Lächeln kehrte auf Luciens Gesicht zurück. Geister, was hatte er jetzt vor?
„Wie Ihr wünscht.“
Mit diesen Worten drückte er seine Lippen auf ihre. Eden war einen Moment zu Perplex um irgendetwas anderes tun, als den Kuss zu erwidern. Sie stolperte zurück und ließ den kaiserlichen Agenten los.
„Was…“ ein plötzlicher, scharfer Schmerz in ihrem Rücken, brachte sie dazu zusammenzuzucken. Die Welt war plötzlich weit weg und verschwommen… Lucien riss ihr die Karte aus der Hand und hielt einen weiteren Bolzen mit Nadelspitze hoch. Nur das von diesem jetzt Blut tropfte.
„Danke… und nochmal, das tut mir wirklich furchtbar leid. Aber… es gibt Dinge in denen haben wir keine Wahl. Wir beide.“ Er machte einen Schritt zurück in Richtung Tür. Eden wollte vorstürzten und ihm aufhalten, aber seltsamerweise trugen ihre Beine sie nicht mehr. Und alles um sie herum schien immer weiter wegzurücken. „Keine Sorge, es wird Euch nicht umbringen und sollte nur ein paar Minuten anhalten. Glaube ich“, meinte Lucien bedauernd, bevor er in die Nacht verschwand.
Eden bekam nur noch mit, wie der Boden plötzlich näher kam.
„Dreißig Sekunden… das ist ein neuer Rekord. So lange bleibt normalerweise keiner auf den Beinen.“
Alles wurde schwarz um sie.
Kapitel 25
Fluchtversuch
„Eden… Vance, ich glaube sie wacht endlich auf.“
Sie blinzelte und erkannte einen Moment Zachary Gesicht, bevor dieser von Vance bei Seite geschoben wurde.
„Hey, Eden, aufwachen, kommt schon.“ Der Kapitän sah gehetzt aus und warf immer wieder nervöse Blicke über die Schulter. Schwach rötliches Licht viel durch die Glasfenster in de Kajüte. Geister… wie lange war sie weg gewesen? Die Gejarn setzte sich vorsichtig auf. Der Raum um sie herum schien beim besten Willen einfach nicht still stehen zu wollen. Selbst die schwachen Sonnenstrahlen, die sich über den Horizont stahlen, blendeten sie. Einen Moment war ihr nicht klar, wie sie hierhergekommen war, doch dann stürzte wieder alles auf sie ein. Lucien….
„Ich bring den Bastard um, wenn ich ihn erwische.“, murmelte sie undeutlich. Ihre Füße trugen sie nur grade eben so und sie musste sich an einem der Regale abstützen.
„Stellt Euch hinten an.“, erklärte Vance ernst.
„Verflucht und ich hab mich übertölpeln lassen.“ Eden schloss einen Moment die Augen. Der Mann hatte sie schlicht und ergreifend alle ausgetrickst. Und vor allen Dingen sie… „und jetzt hat Lucien die Schriftrolle. Das war mein Fehler Vance. Ich habe ihm getraut und… es tut mir leid.“
Der Kapitän winkte ab.
„Wichtig ist doch, dass sonst niemandem etwas passiert ist. Soll der Orden eben die verdammte Originalabschrift haben. Mit der konnte ich sowieso nie etwas anfangen. Aber wir haben nach wie vor die Übersetzung. Die Passage, auf die es ankommt. Seht es positiv wir wissen jetzt ganz sicher woran wir sind.“
Eden runzelte die Stirn.
„Seid Ihr hoffnungsloser Optimist geworden, während ich nicht hingesehen habe?“
„Nein, aber ich werde mich auch nicht ewig lange darüber aufregen. Das bringt uns jetzt nicht weiter. Ihr habt einen Fehler gemacht. Schön, passiert uns allen. Sorgt einfach dafür, dass es bei dem einen bleibt.“ Bevor die Gejarn noch etwas erwidern konnte, stürzte einer der Männer aus Vance Mannschaft herein.
„Käpt’n, ich fürchte wir haben ein Problem. Wir sind noch am verstauen der Vorräte… aber im Hafen scheint sich irgendwas zu tun.“
Vance stürzte, gefolgt von Eden und Zachary an Deck. Wie der Matrose gesagt hatte, war die Crew eilig damit beschäftigt, Kisten und Fässer unter Deck zu schaffen. Soweit Eden das durch die Laufgitter erkennen konnte, war der Laderaum der Windrufer bereits so gut wie voll. Nur noch einige wenige Behälter stapelten sich am Rand des Piers und die Leute beeilten sich, auch noch diese an Bord zu bringen. Die Menschenmenge am Hafen aber war in Aufruhr. Nicht das normale Durcheinander, das sie gestern schon erlebt hatte, dachte Eden. Die Leute sprangen auseinander und die Gejarn erkannte auch rasch warum. Eine Truppe in grüne Uniformen gekleidete Gardisten, drängten sich durch den Menschenauflauf, die Gewehre im Anschlag. Sie zählte mindestens zwei Dutzend Köpfe und vermutlich war das nur der Teil der Wachen, die sie sehen konnte. Also hatte Lucien mehr getan, als sie nur zu bestehlen. Er hatte auch noch die Wache über sie informiert.
„Wir müssen hier weg, jetzt.“
Vance nickte.
„Beeilt euch und bringt mir die restlichen Vorräte an Bord.“, wies er die Mannschaft an. „Wer zu langsam ist, kann schwimmen.“
Offenbar zeigte die Drohung Wirkung, denn die letzten Fässer wurden endlich über die Laufplanken gerollt. Aber nicht schnell genug, wie Eden bewusst wurde. Die Gardisten hatten es endlich geschafft, sich eine Schneise durch die Menge der Reisenden und Bürger zu drängen und rannten jetzt die Mole hinab auf die Windrufer zu. In dem Moment, wo die letzte Kiste auf dem Deck der Windrufer aufsetzte, begannen die Matrosen auch schon, die Seile die das Schiff am Kai hielten durchzutrennen. Eden griff nach ihrem eigenen Messer und machte sich ebenfalls in die Arbeit. Ein letzter nervöser Blick zu den Gardisten sagte ihr, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb. Auf einen Kampf mit der Stadtwache konnte sie gut verzichten.
Die ganze Abteilung Soldaten machte wie auf ein stummes Kommando auf dem Pier halt. Die erste Reihe der Gardisten ging in die Knie und richtete die Gewehrmündungen auf das Schiff.
Geister, sie mussten sofort weg, dachte Eden noch. Dann hallten die ersten Schüsse über das Hafenbecken. Die Gejarn duckte sich hinter die Reling, während die Projektile gegen das Holz schlugen, die Schiffswand durchlöcherten, oder über ihre Köpfe in die Takelage verschwanden. Ein Teil der Salve jedoch, fand auch ein Ziel. Ein Pirat direkt neben Eden, brach mit mehreren Einschusslöchern in der Brust zusammen. Ein zweiter wurde in die Schulter getroffen und stolperte rückwärts. Noch bevor sich der Pulverdampf ganz verzogen hatte, der nun die Gruppe aus Gardisten einholte, brachen diese aus dem Nebel hervor und rannten weiter auf das Schiff zu.
Endlich lösten sich die letzten Taue und das Schiff trieb langsam von der Hafenmauer weg. Ein paar der kaiserlichen Soldaten versuchten noch, an Bord zu springen. Drei von ihnen schafften es auch noch grade so und landeten, wenige Schritte von Eden entfernt, auf den Planken des Decks.
Die Gejarn warf das Messer nach dem ersten der Männer. Die Klinge verfehlte ihn zwar, brachte ihn aber aus dem Gleichgewicht und er ging über Bord, bevor einer seiner Gefährten ihn auffangen konnte. Diese ließen die im Nahkampf nutzlosen Gewehre fallen und zogen die Schwerter. Obwohl ihnen klar sein musste, das die Crew des Schiffs sie um ein vielfaches Übertraf, machten sie keine Anstalten, sich zu retten. Im Gegenteil. Die beiden gingen sofort auf Eden los, die sich einen Moment nur mühsam davor retten konnte, tödlich getroffen zu werden Zwei Gegner waren einer zu viel. Sie wehrte eine Klinge ab, nur um sich direkt wieder der nächsten gegenüber zu sehen. Sie musste das Blatt wenden oder würde kaum lange durchhalten….
Den nächsten Angriff parierte sie nicht, sondern tauchte unter der Klinge durch. Wenn ihr Gegner erriet, was sie vorhatte, war das ihr Ende. Aber nichts passierte. Sie gelangte so plötzlich in die ungeschützte Seite des Soldaten und stieß zu. Der Mann brach mit einer durchbohrten Lunge zusammen. Eden ließ die Waffe keinen Moment sinken. Wo war der zweite Gardist? Eine Bewegung in ihrem Rücken… die Gejarn wirbelte herum und schlug ihrem verbliebenen Gegner die Waffe aus der Hand.
„Noch könnt ihr zum Hafen zurück schwimmen.“, meinte sie und nickte Richtung Lasanta. Der Pier war jetzt zu weit entfernt, als das noch jemand hätte an Bord gelangen können.
Der Gardist zögerte einen Moment… dann setzte er über die Reling und stürzte ins Wasser.
Das wäre geschafft. Eden stützte sich einen Moment auf den Schwertgriff. Geister, wenn ihr jemand vor ein paar Monaten gesagt hätte, dass sie mal auf einem Schiff auf der Flucht vor der kaiserlichen Armee landete… sie hätte denjenigen zwar für Verrückt erklärt, aber es war wohl immer noch besser, als die Alternative.
„Gut gemacht.“, rief Vance von seinem Posten am Steuerrat. Erleichtert stellte sie fest, dass er Zachary beiseite genommen hatte und zwischen dem jungen Zauberer und der Hafenmole stand. Für den Fall, dass doch noch verirrte Geschosse aus dieser Richtung kommen sollten. „Aber noch sind wir nicht aus der Sache raus.“, fuhr der Kapitän fort.
Eden sah auf. Er hatte recht. Die Hafenausfahrt war direkt vor ihnen… und zwischen der Windrufer und dem offenen Meer trieben nun zwei Schiffe auf dem Wasser. Die Gejarn erkannte die türkisfarbenen Banner, die an den Masten wehten. Der Sangius-Orden….
„Die können uns doch nicht aufhalten, oder?“ , fragte sie. „Die Windrufer ist zehnmal so groß, die werden einfach zermalmt, wenn sie keinen Platz machen….“
„Da würde ich mich nicht drauf verlassen.“ Vance nickte zum linken der beiden Schiffe. Die kleinen Barken verfügten über keine Geschütze, mit denen sie zu einer Gefahr werden könnten, aber… die brauchten sie auch gar nicht, wie Eden schlagartig klar wurde. Das war der Orden. Eine Gestalt, die in eine türkisfarbene Robe gekleidet war, war an Deck eines der Schiffe erschienen. Ein Zauberer….
Geister, der Mann könnte die Windrufer mit einem Gedanken in Brand setzen. Eden hob eines der Gewehre auf, die die Gardisten zurück gelassen hatten und zielte in Richtung des Ordens-Magiers. Dieser hatte eine Hand zum Himmel gerichtet. Flammen loderten an seinen Fingerspitzen auf, zusammen mit grellen Blitzen magischer Energie.
Eden zwang sich trotz allem ruhig zu bleiben. Ihre Hände wollten wieder anfangen zu zittern, aber das konnte sie jetzt nicht zulassen. Sie hatte nur den einen Versuch. Auch Magier starben wie alles andere, wenn man ihnen den Kopf wegschoss. Die Entfernung war viel zu groß, das wusste sie. Und bisher hatte sie immer nur mit Pistolen geübt, nicht mit einer Muskete.
Das Licht in der Faust des Magiers wurde heller. Sie zog den Abzugsbügel der Waffe durch. Der Rückstoß des Gewehrs kugelte ihr beinahe die Schulter aus und warf sie herum. Durch den Pulverdampf konnte sie einen Moment nichts erkennen. Erst als sich der Nebel etwas verzog, konnte Eden das Schiff des Ordens wieder sehen… und den unverletzten Magier darauf.
Sie hatte danebengeschossen… verfehlt….
Der Zauberer seinerseits schlug mit den Händen auf die Planken. Eine Wand aus Flammen baute sich über dem Ozean, vor den beiden Schiffen auf und setzte sich in Bewegung. Eden konnte die Hitze bis auf das Deck der Windrufer spüren. Der Ozean kochte um die Feuersäule herum und tote Fische trieben an die dampfende Meeresoberfläche.
„Das Schiff wenden.“, rief sie zu Vance, der mit weit aufgerissenen Augen auf den sich manifestierenden Zauber starrte.
„Zu spät…“, murmelte er nur. Der Kapitän ließ das Steuerrad los und stopfte die Übersetzung der Abschrift tiefer in eine seiner Manteltaschen. Offenbar in der Hoffnung, dass das Dokument dort geschützt wäre. „Wir müssen alle von dem Schiff runter, wenn wir noch eine….“
Die Windrufer neigte sich plötzlich zur Seite und brachte Vance damit aus dem Gleichgewicht. Eden sah auf. Die Feuerwand war nahe, aber noch nicht so nahe….
Der Ozean selbst schien sich plötzlich senkrecht in die Luft zu erheben. Mit unnatürlicher Geschwindigkeit türmte sich das Wasser zu einer immer höheren, durchscheinenden Wand aus Blau auf. Sie konnte die Schatten von Fischen erkennen, die in dem nicht länger der Gravitation gehorchenden Wassermassen trieben… der Wasserspiegel stand plötzlich ein gutes Stück tiefer. Eden konnte den Grund des Hafenbeckens ohne Probleme erkennen und auf einigen nun an der Wasseroberfläche liegenden, Felsen zappelten Fische.
Nicht noch ein Zauber, dachte Eden. Wollten die Magier sie etwa gleichzeitig verbrennen und ertränken? Dann jedoch sah sie zu Zachary. Der Junge wirkte völlig ruhig, aber die Luft auf dem Deck fühlte sich plötzlich schwerer an. Wie vor einem Gewitter oder einem heftigen Sturm. Einem Sturm, der Bäume mühelos entwurzeln konnte. Nicht zum ersten Mal bekam die Gejarn einen Ausblick darauf, was Zachary irgendwann einmal werden würde. Er ist noch ein Kind… wie kann, wie darf ein Kind so eine Macht haben?
Für den Augenblick war die Frage unwichtig. Die magisch erzeugte Welle begann langsam zu brechen. Schaumkronen bildeten sich auf dem Kamm des Wasserbergs, während er langsam in sich zusammen fiel… und auf die Flammenwand zurollte. Edens Finger gruben sich in das Holz der Reling, als die Windrufer erneut ins Schwanken geriet, diesmal, weil der Meeresspiegel im Hafenbecken wieder zunahm. Wasser und Feuer trafen in einem kaleidoskopischen Sturm aufeinander. Dampfwolken schossen gen Himmel, als Teile der Flutwelle verkochten und dabei das Feuer zunehmend erstickten. Die tobende Magie schickte Windböen in alle Richtungen, die Eden fast von den Füßen rissen. Die Windrufer wurde rückwärts getrieben, während der durch die Zauber angefachte Sturm das Wasser zu weiteren, haushohen Wellen bauschte. Der Gejarn blieb nichts anderes übrig, als sich wie die übrige Crew irgendwo festzuhalten und zu warten, was geschehen würde. Einen Moment versank die Welt schließlich in Stille. Die miteinander verwobenen Zauber und das in ihnen entstehende Muster aus Feuer und Seewasser erstarrten…. Lichtbögen tanzten zusammen mit Nordlichtern über dem Himmel. Alles hielt den Atem an.
Und dann endete die Welt für Eden in einem grellen Blitz, der sie blendete und den gesamten Hafen in weißes Licht einhüllte.
Kapitel 26
Die zweite Seite
Die Sonne ging grade erst über Lasanta auf, als Lucien das Ordenshaus erreichte. Ohne sich anzukündigen, sprang er erneut über den niedrigen Gartenzaun, der das Grundstück umgab. Um diese Zeit war wohl kaum schon jemand wach und die Fenster des Prunkbaus waren dunkel. Alle, bis auf eines am Westende des Komplexes. Eine einzelne Kerze sorgte für Licht, das nun schon mit dem rosigen Schimmer der Morgendämmerung konkurrierte. Lucien legte einen Bolzen in die Armbrust. Nicht, das er Tyrus nicht trauen würde… der Mann und er standen auf der gleichen Seite. Aber Zauberer blieben Zauberer.
Er erreichte das Fenster. Wie er gehofft hatte, stand es einen kleinen Spalt breit offen. Lucien griff nach dem Sims davor und zog sich hinauf. Sobald er in den Raum sehen konnte, hielt er jedoch inne. Es war der Raum, der Tyrus als Arbeitszimmer diente. Der oberste Zauberer des Sangius-Ordens saß in einem Lehnstuhl am Fenster, praktisch direkt unter Luciens zweifelhaftem Versteck. Aber der Mann war nicht alleine. Eine weitere Person stand vor dem schweren Tisch, der die Rückwand der Kammer einnahm. Sie trug einen bodenlangen schwarzen Mantel und trug eine Kapuze unter deren Schatten ihre Züge nicht zu erkennen waren.
„Habt Ihr verstanden, worauf ich hinaus will? Wenn die Dinge sich weiter so entwickeln wie bisher, dann könnten sie schon in ein paar Jahren aus dem Ruder laufen.“
„Das ist mir durchaus klar… Aber wir reden hier auch von Kellvians Schicksal… und nur weil Ihr hier auftaucht, mit Euren Befürchtungen, werde ich dem Jungen ganz sicher nichts zuleide tun.“
„Ihr werdet vielleicht keine Wahl haben.“, meinte der Fremde.
„Hinaus!“ Tyrus war von seinem Platz aufgesprungen und deutete in Richtung Tür. „Mir ist gleich, was Ihr seid, Kreatur, aber wenn Ihr nicht sofort meine Räume verlasst, werdet Ihr herausfinden, was Schmerzen sind.“
„Wie Ihr wünscht… oberster Zauberer.“ Der Mann machte eine angedeutete Verbeugung und Lucien war sich fast sicher, das auf dem verhüllten Gesicht jetzt so etwas wie ein höhnisches Lächeln stehen musste. „Ihr werdet die Wahrheit schon noch erkennen.“ Der Fremde drehte sich um und ein blauer Blitz erhellte kurz den Raum. Als Lucien wieder etwas erkennen konnte, war die schwarz gekleidete Gestalt verschwunden. Nur der durch den Zauber veränderte Luftdruck machte sich noch bemerkbar.
Der kaiserliche Agent wollte sich grade zurück ziehen, als Tyrus sich zum Fenster umdrehte.
„Kommt schon rein Lucien, ich habe euch längst gehört.“
Er öffnete das Fenster und der Spion sprang in den Raum.
„Könnt Ihr eigentlich nicht einfach die Tür verwenden wie jeder andere normale Mensch auch?“
„Schon, aber das wäre ja langweilig.“, erklärte Lucien. „Wer war das eben?“
Tyrus Mine verdüsterte sich.
„Jemand der Euch nichts angeht… und jemand dem ich nicht traue. Ihr erfahrt mehr sollte ich gegen ihn vorgehen müssen. Aber für den Augenblick... habt ihr die Dokumente beschafft?“
Der Agent nickte und zog den Pergamentbogen mit den abgepausten Schriftzeichen aus seiner Tasche.
„Da habt ihr eure Schriftrolle. Ich hoffe nur wirklich… das ist es wert.“
Tyrus nahm ihm das Papier ab. „
„Fest steht, Ihr habt uns einen großen Dienst damit erwiesen…“ er überflog die Zeilen. „Wie ich mir dachte. Es sind tatsächlich die Abschriften, die die Windrufer-Expedition bekommen hat… ich war einer der letzten, der die Originaltafeln gesehen hat, noch bevor ich erster Zauberer wurde. Mittlerweile sind sie wohl zerstört. Aber das hier… ist fast genauso gut. Der zentrale Satz gibt mehr oder weniger genau an, wo die Insel zu finden ist. Und mit ihr… eine ganze Stadt des alten Volks.“
„Da solltet Ihr Euch allerdings beeilen, wenn Euch Vance Piraten etwas übrig lassen sollen. Die werden jetzt nicht mehr lange zögern, nachdem sie wissen, dass ich ihre Aufzeichnungen habe.“
„Oh… um die würde ich mir keine Sorgen machen.“
Lucien kniff die Augen misstrauisch zusammen.
„Wie meint Ihr das?“
„Ich habe die Stadtwache informiert, dass sich ein berüchtigter Pirat innerhalb der Mauern unserer Stadt aufhält. Sie werden sich um die Windrufer kümmern. Und wenn nicht, habe ich ein paar eigene Schiffe auf dem Wasser…“
Der kaiserliche Agent musste sich anstrengen um ruhig zu bleiben. Das war nicht gut. Verdammt, das hatte er überhaupt nicht gewollt… was dachte Tyrus sich?
„Ich hatte euch gebeten mir das zu überlassen, oder?“
Tyrus schüttelte den Kopf.
„Ihr klingt beinahe, als würde es Euch um ein paar Piraten leidtun. Ja ich hatte zugestimmt, auch die Situation klären zu lassen. Das habt Ihr getan. Wir haben alles, was wir wollten. Und wir können keine Konkurrenz gebrauchen.“
„Ihr…“ er konnte nichts tun, wie ihm klar wurde. Dafür war es zu spät. Du wirst doch jetzt kein schlechtes Gewissen bekommen, oder? fragte er sich selbst. Du hast Jahre ohne überstanden, das ist ein denkbar schlechter Zeitpunkt dafür. Aber es war nun einmal so, dass er Eden eigentlich sein Leben schuldete. Der einzige Grund, aus dem er sie auf der Windrufer nicht selbst getötet hatte, sagte er sich. Es musste der einzige sein. Und zum Dank hatte er sie und Vance Crew jetzt doch noch den Tod gebracht….
„Ich verstehe.“, seufzte er. „Es mag mir nicht gefallen, aber ich verstehe. Weiß der Kaiser schon Bescheid und hat er sein Einverständnis gegeben?“
„Der Kaiser würde zu lange brauchen um eine Entscheidung zu treffen. Ich respektiere Konstantin, aber bis die Nachricht die fliegende Stadt erreichen würde, würden Tage vergehen. Wochen. Der Orden wird diese Expedition alleine übernehme. Ein Handvoll Zauberer und ein Bataillon Gardisten sollten mehr als ausreichend sein, jede eventuelle Bedrohung zu beseitigen.“
Der Agent nickte.
„Aber ich würde darum bitten, dass…“ seine Worte gingen in einem gewaltigen Schlag unter, der die Mauern des Gebäudes erschütterte. Putz rieselte von den Wänden und eines der schweren Bücherregale kippte beiseite. Lucien rettete sich nur mit einem Sprung beiseite davor Erschlagen zu werden.
Draußen war es urplötzlich Taghell.
„Was bei allen Schatten war das denn?“
Tyrus antwortete nicht, sondern trat nur ans Fenster.
„Zum Hafen.“, meinte er schließlich. „Und zwar schnell….“
Lucien fragte nicht lange, sondern rannte los. Schon als er aus dem Haus trat, konnte er das Licht sehen, das aus Richtung Hafen kam. Götter und Ahnen, es sah so aus, als wäre eine Sonne, einfach mitten im Hafenbecken gelandet. Ein glühender Ball aus reinem, weißem Licht, der allem eine erschreckende Schärfe verlieh. Die Schatten die die Helligkeit nicht wegbrennen konnte, bildeten einen unwirtlichen Kontrast zum Licht.
„Na das ist mal was….“
Der kaiserliche Agent musste die Augen mit den Händen abschirmen, während er sich einen Weg zum Hafen suchte. Tyrus folgte ihm in kurzem Abstand und Lucien war überrascht, wie gut der Alte mit ihm mithalten konnte. Als sie schließlich das Hafenbecken erreichten, war der riesige Feuerball bereits ein gutes Stück in sich zusammengefallen. Trotzdem war es schwer durch den Lichtschleier näheres zu erkennen. Lucien nahm eine Bewegung irgendwo auf dem Wasser war… ein hölzernes Konstrukt, das aus dem Feuer trieb.
Es war eines der Schiffe des Ordens. Er konnte grade noch, die vor sich hin kokelnden Reste eines Banners erkennen. Die Segel der leichten Galeere brannten lichterloh. Mehrere Gestalten sprangen von Bord ins sichere Meer.
Langsam verblasste der fehlgeleitete Zauber endgültig. Lucien blinzelte. Grelle Nachbilder hatten sich in seine Netzhaut eingebrannt und nach dem Licht war der normale Sonnenschein beinahe düster. Trotzdem erkannte er die beiden verbliebenen Schiffe ohne Schwierigkeiten. Eines war ein weiteres Ordensschiff, das mit schwerer Schlagseite auf die Hafenmole zuhielt… und das dritte war die Windrufer. Das Kriegsschiff schien als einziges Unbeschadet aus dem seltsamen Inferno hervorgegangen zu sein und passierte grade die Hafenausfahrt….
Vance hatte das Schiff offenbar aus dem Hafen gebracht, bevor die Stadtwache sie abfangen konnte. Und nun hatte auch noch irgendetwas die Schiffe des Ordens in Brand gesteckt.
Lucien konnte nicht anders als kurz zu grinsen. Das musste einfach Zachary gewesen sein. Eine andere Erklärung gab es nicht….
„Das ist…“ Tyrus blinzelte ebenfalls um die Lichteindrücke abzuschütteln. „Wieso habt Ihr mir nicht verraten dass sie einen freien Zauberer mit der Macht eines Großmagiers auf ihrer Seite haben?“
„Weil dem nicht so ist.“, erklärte er. „Es gab nur… nein da war kein Magier.“ Er würde dieses Versprechen halten. Der Orden würde nicht von Zachary erfahren. Aber wenn das ein Kind anrichten konnte… dann wollte er nicht wissen, was einmal aus ihm werden könnte.
„In diesem Fall will ich wissen, welche Zauberer auf unseren Schiffen waren. Irgendetwas ist hier schrecklich schief gegangen.“
„Sie sind uns entkommen.“, meinte Lucien vielleicht eine Spur zu erleichtert darüber. Aber Tyrus schenkte dem jetzt keine Beachtung. Er zog lediglich die Abschrift aus seiner Tasche.
„Keine Sorge… sie müssen die Insel erst einmal finden. Das ist nichts, was man einfach so tun kann, glaubt mir. Das alte Volk war gut darin, sich zu verstecken. Und selbst wenn sie es schaffen, erledigt sie eben der Wächter.“
„Wächter?“
„Irgendetwas wird schon auf dieser Insel sein. Dieses Dokument beschreibt die Insel beinahe wie etwas…Lebendiges. Aber, der Text ist unvollständig. Das alte Volk wird seine Vorkehrungen getroffen haben. Besser, sie laufen in die alten Fallen, als wir.“
„Und Ihr meint nicht, dass sie das überleben?“
„Keine Chance. Ein paar Piraten gegen die Magie und die Rätsel einer toten Welt, die sie nicht verstehen? Ohne Hilfe… ganz sicher nicht.“
„Wenn ihr eine Expedition losschickt, will ich dabei sein.“, erklärte Lucien.
Tyrus drehte sich misstrauisch zu ihm um.
„Weshalb?“
„Oh vielleicht weil ich sonst entscheiden könnte, dass der Kaiser vielleicht doch besser erst hiervon erfährt. Letztlich unterstehe ich Konstantin Belfare und nicht dem Orden. Und ich weiß was ihr jetzt denkt, vergesst es gleich. Der hmm… tragische Tod eines kaiserlichen Agenten in Lasanta würde sogar ganz sicher eine Untersuchung nach sich ziehen. Und die würde Eure Abreise sicher verzögern. Und vielleicht habe ich ja einen versiegelten Brief bei einem Boten hinterlegt, der die Stadt am Abend verlassen wird… wenn ich ihn nicht aufhalte. Vielleicht enthält dieser Brief wenn ich Gelegenheit finde dann auch die Erwähnung einer Unterredung, die ihr mit einem unbekannten Magier gehalten habt. Einen Mann der euch unter anderem aufforderte, den Erben des Kaisers… “
Tyrus unterbrach ihn.
„Ihr seid ein gerissener Bastard, wisst ihr das?“
„Es gibt Leute, die haben durchaus schlimmere Namen für mich. Wenn Ihr mich beleidigen wollt, oberster Zauberer, dann überlegt Euch etwas Besseres.“ Lucien grinste breit. „Denn was ich hier tue ist vor allen Dingen nur meine Aufgabe erfüllen.“ Er wusste, das Tyrus nichts lieber tun würde, als ihn los zu werden. Auf die eine oder andere Art. Aber für den Moment wusste der Magier auch, dass ihm keine Wahl blieb.
„Ich verstehe… also gut, Ihr bekommt euren Willen, kaiserlicher Agent Lucien. Seht Euch als… offiziellen Beobachter des Kaisers für diese Expedition.“ Er drückte dem Spion die Schriftrolle in die Hand. „Nehmt die mit. Vielleicht kann sie euch noch nützlich sein. Euch werden einige Zauberer begleiten, die die alte Sprache beherrschen. Ich erwarte, dass Ihr völlig mit ihnen zusammen arbeiten werdet, verstehen wir uns?“
„Und Ihr werdet uns nicht begleiten?“
„Es gibt andere Dinge, die meine Aufmerksamkeit erfordern. Offenbar werden einige der Gejarn-Clans im Herzland unruhig. Noch ist es keine echte Bedrohung, aber wenn wir keine Lösung finden, könnten sie in ein paar Jahren zu einer werden.“
„Dann wünsche ich Euch viel Glück bei dieser Aufgabe. Wenn ich nach Canton zurückkehre, würde ich es gerne Intakt vorfinden. Das wäre sonst so schrecklich viel Arbeit für meinesgleichen.“
„Für den Kaiser.“
Lucien nickte.
„Für den Kaiser.“
Er sah hinaus über den leeren Hafen in Richtung Horizont. Nach Westen. Das würde eine interessante Reise werden. Und vor allen Dingen eine lange. Vielleicht gab ihm das die Gelegenheit ein paar Dinge zu ordnen. Er tat das hier nicht, um irgendjemanden zu helfen….
Und ob Du das tust, meinten seine eigenen Gedanken sarkastisch.
„Ach halt doch die Schnauze.“
Tyrus drehte sich zu ihm um.
„Was ?“
„Ich meine nicht Euch….“
Kapitel 27
Durst
Lasanta lag nun bereits weit hinter ihnen und die Küste Cantons war nur noch als ein blauer verwaschener Streifen am Horizont zu erkennen. Sie waren tatsächlich entkommen, dachte Eden, während sie über das Wasser zurück sah. Aber nicht ohne einen Preis….
Zachary saß neben ihr an der Reling. Den Kopf hatte er in die Hände gestützt und Eden wusste, dass er die Augen fest geschlossen hielt. Selbst das normale Tageslicht blendete ihn in seinen Zustand sicher fürchterlich. Die Gejarn legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter.
„Hey…“ das sie absolut nichts für ihn tun konnte war das Schlimmste… nur darauf warten, dass es wieder besser wurde.
Der junge Zauberer blinzelte träge.
„Hey...“ seine Stimme war weniger als ein Flüstern und klang verzerrt. Als hätte jemand seine Stimmbänder durch ein Reibeisen ersetzt.
„Geht es wieder?“
„Langsam….“ , murmelte er. „Ich hab immer noch Kopfschmerzen, das ist als… als würde einen jemand flüssiges Blei überkippen und zwar ständig.“
„Ich weiß.“ Tatsächlich konnte sie nur schätzen, was der Junge grade durchmachte. Nachdem sie den Hafen von Lasanta verlassen hatten, war er einfach in sich zusammengebrochen. Schreiend vor Schmerzen. Der Preis der Magie… Lucien hatte sie ja gewarnt, dass es mit der Macht des Zauberers schlimmer werden würde. Aber das… Geister für eine Weile war sie sicher gewesen, das Zachary sterben würde. Sie hatte noch nie erlebt, dass jemand vor Schmerzen das Bewusstsein verlor und es überlebt hätte….
Und ihre Unfähigkeit irgendetwas dagegen zu tun, trieb sie schnell an den Rand ihres eigenen Zusammenbruchs. Erst vor wenigen Stunden war der Magier endlich wieder zu sich gekommen. Blass und mit grau schimmernden Strähnen in den Haaren, aber scheinbar wieder ruhiger. Trotzdem würde sie das nicht noch einmal zulassen. Nicht, bevor sie nicht eine Lösung gefunden hatte, die nicht den Orden mit einschloss. Nach dem, was im Hafen geschehen war, wäre es ohnehin unsinnig auch nur darauf zu hoffen, die Zauberer würden ihr noch helfen. Und jetzt wo Lucien sie verraten hatte, wusste der Orden mit Sicherheit auch von Zachary….
Eden stand auf und schöpfte Wasser aus einem Fass, das an Deck stand, in einen Zinnbecher. Dann kehrte sie zu dem Jungen zurück und hielt ihm das Gefäß hin.
„Versuch was zu trinken ja?“
Zachary nickte und nahm ihr den Becher mit zitternden Fingern aus den Händen.
„Danke…“, meinte er nur und leerte das Wasser in einem Zug.
Eden ließ sich neben ihn auf das Schiffsdeck sinken.
“Du hast dich beinahe umgebracht, oder?“
„Ich weiß es nicht aber… es hat sich so angefühlt.“
„Mach das bitte einfach nie wieder….“
Der Zauberer sah auf.
„Was hätte ich denn tun sollen? Nichts? Dann wären wir jetzt alle tot, Eden. Ich hab auf euch aufgepasst, so einfach war das.“
„Zac… ich meine auch nicht, dass das… falsch war.“
Der Zauberer nickte.
„Das war es auch nicht. Wir achten aufeinander. Oder?“
„Und ich kann Dich auch nicht daran hindern.“, meinte sie mit einem schwachen Lächeln. „Ich will nur, dass Du mir versprichst, vorsichtig zu sein. Nur weil wir aufeinander aufpassen, heißt das nicht, dass einer von uns sterben sollte.“ Und das sie überhaupt nicht wüsste, was sie ohne Zachary noch tun sollte, schoss es ihr durch den Kopf. Selbst diese ganze Reise diente letztlich, vor allem, ihnen beiden. Wenn Vance Erfolg hatte, konnte sie dem Jungen wenigstens eine sichere Zukunft garantieren. Mit dem Gold aus ihrem Anteil wäre ihre Flucht vorbei.
Alleine könnte sie sich auch so durchschlagen, aber mit Zachary durch die Lande zu ziehen, war auf Dauer keine Lösung.
Und nun waren sie endgültig unterwegs. Vor ihnen lagen, nach wie vor, mehrere Wochen auf See, aber solange der Orden sie nicht einholte, würde es wohl der leichteste Teil der Reise werden.
Ab jetzt gab es nur noch einen Kurs für sie. Und der war direkt nach Westen. Die Nebelküste, die Klippen des zweiten Kontinents, die nur wenige Reisende jemals gesehen hatten. Eden fragte sich, ob sie wirklich so weit nach Westen mussten, oder die Stadt vorher finden würden.
Sie stand auf und machte sich auf die Suche nach Vance. Der Kapitän hatte einen schweren Tisch aus seiner Kabine geräumt und auf Deck aufgestellt. Zusammen mit einigen anderen, stand er über einige Karten gebeugt. Zwischen den Papieren lagen verschiedene nautische Instrumente verteilt. Eden erspähte einen Kompass, einen Spiegelsextant und eine Quecksilbersäule mit Skala, deren Zweck sie nicht kannte.
„Wir müssen unseren Kurs etwas anpassen.“, meinte der Kapitän grade. „Segeln wir wie bisher, weiter geradeaus nach Westen, enden wir zu weit im Norden. Wenn das Alte Volk aber wirklich vom Maul des Drachens aus aufbrach, dann liegt der Ort den wir suchen, definitiv weiter südlich.“
„Seid Ihr Euch denn überhaupt sicher, dass Ihr das Suchgebiet richtig eingrenzt?“, wollte jemand wissen.
„Ziemlich, ja. Aber so oder so, wir können nicht die gesamte Nebelküste absuchen. Mal davon abgesehen, dass die Gegend nicht kartographiert ist, haben wir auch kaum genug Vorräte dafür. Sobald wir das Gebiet erreichen, haben wir zwei Wochen, vielleicht drei, wenn es euch nichts ausmacht etwas zu hungern. Dann müssen wir spätestens umkehren oder wir überleben die Rückfahrt nicht.“
„Ist, außer uns, denn schon mal jemand so weit draußen gewesen?“, wollte Eden wissen. Vance sah zum ersten Mal von seinen Karten auf.
„Nicht das ich wüsste.“, gab er zu. „Die wenigen, die es gewagt haben, sind nicht zurück gekommen. Allerdings hatten die auch andere Ziele. Sie wollten den Kontinent erreichen. Wir nicht. Wir werden uns der Nebelküste nur so weit wie nötig nähern. Vermutlich bekommen wir sie nicht mal zusehen.“
Damit war es wohl entschieden, dachte Eden.
Die Zeit auf dem Schiff wurde schnell lang. Außer der täglichen Routine, gab es nicht viel zu tun und nachdem die Windrufer einmal auf Kurs war, blieb nur noch, ab und an ihre Position zu überprüfen und kleinere Korrekturen vorzunehmen. Die Ufer Cantons, die sie auf dem ersten Abschnitt ihrer Reise noch ständige Begleiter gewesen waren, verschwanden nun endgültig hinter dem Horizont und ließen nur eine endlose Fläche aus wogendem Blau zurück. Wenigstens hielt sich das Wetter, dachte Eden. Ein Sturm hätte wenigstens etwas Abwechslung gebracht. Fast ertappte die Gejarn sich dabei, wie sie sich ein Unwetter, wie das, dass sie während ihrer Fahrt nach Lasanta durchquert hatten, herbeiwünschte. Es hatte etwas Faszinierendes gehabt, den Elementen einmal zu trotzen. Sie fragte sich, ob Vance sie schlicht für verrückt halten würde, wenn sie ihm davon erzählte, aber der Kapitän lachte nur freundlich.
„Das… hab ich mir schon fast gedacht.“, meinte er eines Tages. Sie waren mittlerweile einen ganzen Monat auf See und nach wie vor, gab es nicht einmal einen kleinen Hinweis darauf, dass sie sich wieder Land näherten.
„Was gedacht?“
„Das Meer hat seine ganz eigene Faszination. Dem können sich die wenigsten ganz entziehen. Und manche verbringen ihr ganzes Leben damit, die See herauszufordern. Ich bin keiner davon, Eden. Ich mag es hier draußen, aber ich habe nicht vor, in den Wellen zu sterben… Ihr hingegen….“
„Was? Ich habe durchaus noch Pläne… und die haben wenig mit Wasser zu tun.“ Es sei denn, sie würde Andre de Immerson eines Tages ertränken….
„Kommt schon gebt es zu, Ihr wollt gar kein Land mehr unter die Füße bekommen, wenn es nach Euch geht.“
„Es geht aber nicht nach mir.“, erwiderte sie. „Ich kann das Zachary nicht zumuten.“
Vance nickte.
„Denkt einfach darüber nach.“
Sie nickte und warf einen Blick zum Himmel Es zogen jedoch nur vereinzelte Wolken über den Himmel und der Wind brachte sie ihrem Ziel letztlich immer näher. Am Ende des zweiten Monats schließlich, warfen sie die ersten leeren Fässer und Kisten über Bord. Eden schätzte, dass sie gut ein Viertel ihrer Vorräte aufgebraucht hatten. Vance hatte wohl recht, mit seiner Befürchtung, dass sie einen engen Zeitrahmen für die Suche haben würden. Als sie eines Tages den Laderaum betrat, war der Stapel aus Vorratsbehältern, schon deutlich in sich zusammengesunken. Aber das war es nicht, was ihr Sorge bereitete. Die Holzplanken waren klatschnass und das Wasser stand in einer niedrigen Pfütze über den Boden verteilt. Auf den ersten Blick waren die Kisten vom Schlimmsten verschont geblieben. Vermutlich nur ein kleines Leck, das sie leicht unter Kontrolle bringen konnten, wenn sie es erst einmal fanden. Die Gejarn rief durch die Ladeluke nach Vance und begann die Wände abzusuchen. Irgendwo musste das Wasser ja reinlaufen dachte sie. Aber wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie beinahe sagen, die Schiffswand war so dicht, wie sie nur sein konnte.
Als Vance die Treppe hinab kam, beschlich sie ein Verdacht. Geister, bitte nicht… sie schöpfte mit einer Hand Wasser und probierte.
„Vance… wir haben ein großes Problem.“
„Das sehe ich. Ich rufe die Leute um das Leck zu suchen. Wir….“
Eden schüttelte den Kopf.
„Ich fürchte, das ist nicht nötig.“, erklärte sie. „Das ist… Süßwasser.“
„Was soll das heißen, das ist Süßw… Ahnen, die Wasserfässer.“ Der Kapitän stürzte an ihr vorbei zu einem der schweren Holzbehälter und schob den Deckel beiseite.
„Wenn wir es in diesem Leben zurück nach Canton schaffen, Eden“, begann er niedergeschlagen. „Werde ich einem gewissen Händler in Lasanta die Haut abziehen.“
Die Gejarn trat ebenfalls an das Fass heran und stellte fest, was Vance so erschreckt hatte. Und was sie bereits befürchtet hatte.
Gähnende Leere.
„Die Fässer waren undicht. Überprüft die anderen… wir müssen wissen, was wir noch haben. Und die leeren Fässer irgendwie abdichten.“
Eden nickte und bald kamen auch weitere Matrosen dazu, mit deren Hilfe sie rasch die übrigen Behälter überprüften. Andere begannen, das Wasser vom Boden zurück in die leeren Fässer zu schütten um wenigstens zu retten, was zu retten war. Am Ende kamen sie auf weniger als ein Dutzend verbliebene Wasserfässer.
„Vance?“ Sie drehte sich zu dem Kapitän um.
„Das reicht nicht für den Rückweg.“, erklärte er sachlich.
„Und vermutlich auch nicht mehr für den Hinweg. Aber die Nebelküste oder die Insel ist jetzt näher. Worauf immer, wir zuerst stoßen werden. Bis dahin… rationieren wir was wir noch haben.“
„Rationieren?“, fragte einer der Piraten. „Ihr habt es selbst gesagt, es wird niemals reichen.“
„Nun, es wird auch nicht besser davon, dass Ihr mich noch einmal darauf hinweist. Wir müssen es zumindest versuchen. Oder habt Ihr eine bessere Idee?“
Der Mann schwieg.
„Dann macht euch an die Arbeit. Die Fässer die noch übrig sind, überprüfen. Und dichtet mir die leeren ab. Wir werden sie brauchen, wenn wir es an Land schaffen.“
Damit begann für alle an Bord wieder einmal das Warten. Doch nun, arbeitete die Zeit gnadenlos gegen sie. Die ersten Tage waren für Eden noch hinnehmbar. Vance ließ nur eine einzige Flasche Wasser für jeden zu, die ihm für mehrere Tage reichen musste. Es war wenig, aber es reichte, die Leute bei Kräften zu halten. Etwas, das genauso wichtig war, wie jetzt zumindest irgendeine Küste zu erreichen.
Mit der Zeit wurde das unangenehme Gefühl, immer ein wenig Durst zu haben, zur Qual, die Eden kaum noch ausblenden konnte. Zachary machte das Ganze, letztlich am meisten zu schaffen. Der junge Zauberer hatte sich, nach wie vor, noch nicht richtig erholt und der Wasserentzug trug auch nicht grade dazu bei. Immer öfter schmuggelte Eden einen Teil ihrer Wasserration, zu der des Jungen dazu. Sie wusste, er würde das nie einfach hinnehmen, wenn sie ihm etwas abgab. Aber er hatte jeden Tropfen nötiger als sie, dachte Eden. Auch wenn das für die Gejarn bedeutete, das aus dem leichten Durst, Feuer wurde. Und das der Himmel nach wie vor kaum Wolken aufwies, trug nicht grade dazu bei, dass es ihnen besser ging. Die Temperaturen waren milder als in Lasanta, aber die Sonne war unerbittlich. Bis zum Ende der ersten Woche, war sie die einzige, der ein Sonnenbrand erspart blieb. Nichts sehnten die Leute mehr herbei, als den Abend, wenn das Licht langsam dunkler wurde und sie endlich in Frieden ließ.
Eden ihrerseits, nutzte das Halbdunkel um einen Schluck Wasser aus ihrer fast leeren Flasche in Zacharys umzufüllen. Vorsichtig um bloß nichts zu verschütten….
„Warum tust Du das?“
Eden hielt grade noch die Flaschen fest, die ihr vor Schreck, fast aus der Hand gefallen wären.
Zachary hockte ein paar Schritte entfernt an Deck und sah zu ihr herüber.
„Weil ich keine Wahl habe.“, meinte sie schuldbewusst. „Und ich werd auch nicht damit aufhören.“
Eden stand auf, verschloss die Flaschen wieder und setzte sich zu dem Jungen.
„Wir schaffen es nicht, oder?“
Sie zögerte mit einer Antwort. Aber… die Wahrheit war wohl das Beste.
„Nicht, wenn nicht ein Wunder geschieht. Und daran glaube ich, ehrlich gesagt, nicht.“
„Ich auch nicht… aber ich glaube der Wind frischt auf.“, bemerkte Zachary.
„Der Wind…“ Eden konnte es spüren. Der Junge hatte recht. Ihre Haare wehten, in der aufkommenden Briese und sie atmete einmal tief ein. Sie konnte es sogar schmecken, stellte sie fest. Salz... und noch etwas anderes. Feuchtigkeit. Bevor die Gejarn lange darüber nachdenken konnte, schlug direkt neben ihr, ein einzelner Wasserstropfen auf die Planken. Es begann zu regnen….
Ein zweiter Tropfen folgte, dann ein dritter… und plötzlich war die gesamte Luft mit Wasser erfüllt, das rasch ihre Kleidung durchnässte und in dichten Fäden von den Segeln lief….
Vance sprang aus seiner Kabine und sah sich einen Moment ungläubig um. Dann fing er an zu lachen und gleichzeitig Befehle zu brüllen. Ein Anblick, der Eden selber zum schmunzeln brachte.
„Bewegung, Bringt mir alle Fässer rauf, die wir haben, alles an Tassen, alles an Eimern, jeden Behälter den ihr finden könnt. Und von mir aus auch alles an Stoff, das wir haben. Das wird ein richtiger Sturm Leute und ich will, das ihr jede Sekunde davon zum Wassersammeln nutzt.“
Der Regen hatte die Lebensgeister der meisten wieder geweckt und Vance sah scheinbar zufrieden, wie sich alle sofort an die Arbeit machten. Über ihnen am Himmel zuckte der erste Blitz auf und tauchte kurz alles in grelles Licht.
„Unser nächster und letzter Halt ist die Stadt des alten Volkes….“
Kapitel 28
17 und 21
„Ich kann es spüren.“, meinte Zachary verträumt. „Als ob das gesamte Meer strahlen würde. Es muss hier sein.“
Vance sah skeptisch drein und Eden verstand sofort wieso. Um sie herum gab es nach wie vor nichts, als eine endlose Wasserfläche. Und ganz in der Ferne im Westen, die Silhouette einer Küste. Hohe Felsklippen, die sich den alten Berichten zufolge, bis in den Himmel erstreckten, wenn man näher kam. Bisher war es noch niemanden gelungen, einen Blick darüber zu werfen, geschweige denn überhaupt einen Ankerplatz vor der Nebelküste zu finden. Und die, denen es vielleicht gelungen war, waren mitsamt ihren Schiffen auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Und damit blieb das Land dahinter ein Mysterium.
Der Kapitän hatte Anweisung erteilt, sich so weit wie möglich davon fern zu halten und Eden teilte Vance Bedenken. Sie waren nicht hier um den zweiten Kontinent zu erreichen. Sie waren hier um eine Insel zu finden. Eine, die sich erstaunlich hartnäckig verbarg.
Es war früher Morgen und schwere Nebelbahnen trieben über das Wasser. Aber von Land war nichts zu sehen….
„Bist Du Dir sicher? Vielleicht kommt das, was Du wahrnimmst, von der Küste?“ Der junge Zauberer schüttelte den Kopf.
„Dort ist auch… etwas, Eden, aber es ist nicht dasselbe wie hier draußen. Wenn ich die Augen verbunden hätte, ich würde sagen, wir stehen direkt darauf.“
„Und Ihr könntet Euch nicht irren?“ , fragte Vance. „Wir sind grade erst in das Gebiet gelangt, das ich durchsuchen will.“
„Es kann natürlich einen anderen Grund dafür geben.“, gab Zachary zu. „Aber was ist es dann, was hier liegt?“
„Keine Ahnung.“, erwiderte der Kapitän nun seinerseits. „Aber wenn niemand es weiß, schlage ich vor, dass wir unsre Zeit nicht damit verschwenden. Wir haben nicht viel Zeit. Eigentlich sollten wir uns sofort auf den Weg runter nach Süden machen.“
Eden hörte nur noch mit einem halben Ohr zu. Um sie herum gab es nur die offene See… aber wenn Zachary etwas spürte, dann glaubte sie ihm das auch. Die Frage war nur, was konnte es sein, wenn nicht die Insel, die sie suchten? Und warum sahen sie dann nichts?
Das ergab keinen Sinn. Es sei denn, sie wären eben nicht am richtigen Ort. Die Passage….
„17 und 21, die ferne Küste, abseits des Mauls des Drachens bot der Fels die Zuflucht. So ließen wir den Morgendämmerung hinter uns, zu retten was zu retten ist.“
„Ich kenne den Text mittlerweile auswendig. , murmelte Vance. „Was meint Ihr, bringt uns das?“
„17 und 21.“, meinte Eden nur. Sie glaubte es verstanden zu haben. Die Insel solle hier sein. Sie war es aber nicht. Nicht im Augenblick… es war ein verrückter Gedanke, aber dem alten Volk wohl zuzutrauen.
„Was meint ihr damit?“ Der Kapitän sah sie an, als habe sie den Verstand verloren.
„Wir waren uns einig, dass es eine Bedeutung im Bezug auf das hat, was uns in der Stadt erwarte, oder?“
Zacharys Augen leuchteten. Er schien es auch begriffen zu haben, dachte Eden.
„Vance… die Inschrift war für das alte Volk gedacht, für Leute, die nach diesem Ort suchen würde. Was ist, wenn diese erste Zeile genau dafür gedacht war? Ein ganz klarer, simpler Hinweis, ohne jede Metapher oder ein Rätsel….“
Eden nickte.
„Den wievielten Tag des Monats haben wir heute?“
„Den Siebzehnten. Aber….“
„Das alte Volk muss die Insel versteckt haben oder… irgendetwas muss sein, aber wenn meine Vermutung richtig liegt, dann kann sie nur an zwei Tagen im Monat gefunden werden.“
Vance kratzte sich am Bart.
„Am Siebzehnten und am Einundzwanzigsten. Das macht durchaus Sinn. Würde zu den alten Magiern passen. Nur… sollte die Insel dann nicht trotzdem genau vor uns liegen?“
„Natürlich, wir verwenden ja auch unseren Kalender. Das alte Volk hatte seinen Eigenen.“, meinte Eden grinsend. „Habt Ihr die Tabellenbücher noch?“
Vance lachte.
„Mädchen… Ihr habt was im Kopf. Wenn das stimmt, erhöh ich Euren Anteil auf den fünfzehnten Teil.“ Der Kapitän lief los und hätte dabei beinahe einen Matrosen umgerannt.
„Morgen schwimmen wir alle in Gold.“, meinte er nach wie vor grinsend bevor er in seiner Kabine verschwand und mit einem in schwarzes Leder gebundenen Buch zurückkam. Rasch blätterte er die Seiten durch, bis er zwischen den Zahlen gefunden hatte, was er suchte.
„Mondkalender und Sternentabellen… ich werd nie verstehen, wieso das alte Volk sich ausgerechnet danach richten musste. Also gut, wie es aussieht ist der 17te dann… morgen.
Der Kapitän schlug das Buch zu.
Zachary lächelte zufrieden.
„Ich habe doch gesagt, hier ist etwas.“, meinte er.
Bevor Eden ihm noch zustimmen konnte, schreckte sie jedoch ein Ruf aus dem Krähennest auf.
„Fremdes Schiff in Sicht!“
Vance seufzte.
„Das wäre auch zu schön gewesen. Jede Wette, dass das das Kaiserreich ist, das uns einen Besuch abstatten will.“ Er zog ein Fernrohr aus seiner Manteltasche und richtete es auf den Horizont.
„Und?“, wollte Eden wissen.
„Der Kerl da oben muss Wunderaugen haben.“, meinte er schließlich. „Seht selbst.“ Er gab das Fernrohr an die Gejarn weiter. Diese folgte dem Beispiel des Kapitäns. Zuerst sah sie nur die Wellen, doch dann entdeckte sie schließlich einen einzigen Mast, der über das Wasser hinausragte. Mit einer einzigen Flagge daran.
„Das Kaiserreich, Ihr lagt richtig, und noch Schlimmer, es segelt unter Ordensflagge. Sie sind aber noch ziemlich weit weg….“
Vance nickte.
„Vor morgen holen die uns nicht mehr ein, aber wenn wir dann tatsächlich die Insel finden, wird das ein Wettrennen zwischen uns… und denen da.“
„Wenn sie uns nicht vorher angreifen.“, gab Eden zu bedenken. „Der Orden braucht nur einen einzigen Magier, um uns in die Knie zu zwingen.“
„Wir lassen heute Nacht alle Lichter gelöscht, dann entdecken sie uns nicht. Hoffen wir, dass wir die Stadt bei Morgengrauen finden, sonst sind wir ihnen wirklich auf offener See ausgeliefert. Dann müssen wir hoffen, dass der Wind günstig steht.“
Der Morgen kündigte sich mit einem schwachen Schimmer am Horizont an. Eden war, wie allen anderen schon lange auf den Beinen und wartete. Darauf, das etwas geschah… oder der Orden sie entdeckte. Das Schiff war als kleiner Lichtpunkt gegen den langsam heller werdenden Horizont zu erkennen. Noch eine halbe Stunde vielleicht und man musste die Windrufer einfach entdecken.
Die Sorgen der Gejarn wurden jedoch plötzlich unwichtig, als ein leichter Ruck durch das Schiff ging. Kreisförmige Wellen stiegen von einem Punkt irgendwo zwischen ihnen und dem Schiff des Kaiserreichs auf. Erst kaum wahrnehmbar, dann stark genug, das die Windrufer sich in regelmäßigem Abstand auf die Seite legte. Alle rannten sofort zum Heck und starrten aufs Wasser hinaus.
„Sieht so aus… als würdet Ihr Recht behalten.“, meinte Vance und brach damit die gespenstische Stille.
Eden war unfähig zu antworten. Unter der Wasseroberfläche bewegte sich etwas. Ein Schatten, so groß, das er einen Moment das Wasser unter dem Schiff verdunkelte.
Was sie sah erschreckte sie. Es könnten Algen sein, sagte sie sich. Algen… oder etwas, das sie etwas zu deutlich an Flügel erinnerte. Dann tauchte etwas aus dem Wasser auf. Ein einziger Felsen, nicht viel größer als eine Person. Doch es hörte dort nicht auf. Rasch wuchs der einzelne Gesteinsbrocken immer weiter in die Höhe, wurde zu einem Riff, dann einer Klippe und schließlich immer deutlicher zu einem Berg. Die Matrosen konnten, genau wie Eden nur in endlosem Staunen zusehen, als vor ihnen eine ganze Landschaft aus dem Wasser auftauchte. Umgeben von einer leicht schimmernden Kuppel. Magie, dachte Eden nur. Magie und… noch etwas anderes.
Wie der Rücken eines Wals tauchte die Insel vor ihnen aus dem Ozean auf und gewann immer rascher an Umfang. Grüne Wälder, offene Ebenen und schroffe Felsklippen stiegen scheinbar unbeeinflusst vom Salzwasser empor.
Eden jedoch hatte den Blick längst nicht mehr auf ihr Ziel gerichtet. Sie suchte das Wasser darunter ab. Kurz meinte sie, etwas unter der Oberfläche glühen zu sehen… Feuer. Aber es konnte kein Feuer unter Wasser geben. Nicht einmal die Magie des alten Volkes könnte so etwas bewerkstelligen. Aber entweder waren es Flammen… oder ein einziges, glühendes Auge. Sie schauderte. Ein großes Auge. Geister, als ob etwas auftauchte um Atem zu holen… sie blinzelte und das Glühen war verschwunden. Vielleicht hatten ihre Sinne ihr einen Streich gespielt oder es war schlicht Teil des Zaubers, der die Insel an die Oberfläche brachte. Mittlerweile versperrte ihnen das Land die Sicht auf das Schiff des Kaiserreichs. Vance sollte wohl Recht behalten. Es würde ein Rennen werden. Wer als erstes dort war, sich das meiste in die Taschen steckte und dann verschwand. Mittlerweile war das Wachstum der Insel wohl beendet. Mit den hohen, mit Bäumen bewachsenen Klippen und dem einen, zentralen Berg, der vorhin als erstes aufgetaucht war, erinnerte ihre Form ein wenig an einen Spitzhut.
Zumindest, war das der einzige Vergleich, der Eden einfallen wollte.
„Also dann, Vance. Wie es aussieht, schuldet Ihr mir jetzt den fünfzehnten Teil, von allem was wir finden.“
„Und ich habe vor, mich daran zu halten, Mädchen.“, lachte der Kapitän. „Los Leute, steht da nicht rum wie angewurzelt, wir müssen nach wie vor einen Platz zum Anlegen finden.“
Die Mannschaft begab sich sofort wieder auf Posten, während Vance die Klippen nach einer günstigen Stelle zum Anlegen absuchte. Schließlich fanden sie, was sie gesucht hatten. Eine schmale Bucht zwischen den hoch aufragenden Felswänden. Die Windrufer nahm wieder Fahrt auf und musste sich dabei gegen die vom Auftauchen der Insel erzeugte Strömung, stemmen. Schließlich jedoch, kam das Land immer näher. Eden besah sich die Küste einen Moment, doch durch die Klippen konnte man nichts erkennen. Nur am Strand, der ihr Ziel darstellte, war etwas. Eden hatte die schwarzen Steine erst für simples Geröll gehalten, aber aus der Nähe wurde klar, dass sie Formen bildeten. Überreste, dachte sie nur. Klare Spuren von Besiedelung, die aber so lange zurück liegen musste, dass nur die Grundmauern von den einstmaligen Bauwerken übrig geblieben waren.
Ruinen… aber vom Strand aus führte eine mit Moos bewachsene Mole aus weißem Stein, hinaus ins Meer. Anders, als die anderen Gebäude des alten Hafens, hatte der Pier den Zahn der Zeit erstaunlich gut überstanden. Der Marmor war zwar grün von Algen und Unkraut, aber kaum durch die Gezeiten angetastet. Sie waren am richtigen Ort, dachte Eden. Das mussten die ersten Überreste der letzten Zuflucht des alten Volkes sein….
Vance brachte das Schiff auf einen Kurs parallel zu den verfallenen Hafenanlagen und noch bevor die Windrufer richtig vor Anker lag, kletterten die ersten von Bord.
Edens Füße setzten am Strand auf und sie sah sich langsam um. Die Grundmauern der Gebäude vor ihnen waren halb im Sand versunken und kleinere Pflanzen hatten in den Fugen zwischen den Steinen halt gefunden. Weiter von der Küste weg, blockierte grüne Vegetation ihren Weg. Palmen und weiter im Landesinneren Laubbäume, die sich bis zum Berg in der Inselmitte zogen.
Sie mussten die ersten Lebewesen sein, die diesen Ort seit Jahrtausenden betraten. Vorausgesetzt, das das Kaiserreich nicht vor ihnen angelegt hatte. Eden, Vance, Zachary und die restliche Crew verteilten sich über den Strand. Ein paar Vögel stiegen aus den nahegelegenen Wäldern auf… ansonsten blieb es beinahe totenstill.
Vance hatte derweil wieder sein Fernglas herausgeholt und es auf die fernen Berggipfel gerichtet.
„Leute… wir sind definitiv richtig.“, meinte er breit grinsend. „An den Felshängen sind Gebäude. Könnte eine ganze Stadt sein.“
„Ihr meint Ruinen?“ , fragte Zachary.
„Nein, so wie es aussieht, ist die ganze Anlage noch völlig intakt.“, antwortete Vance. „Sieht aus, als hätte das alte Volk sich wirklich dort am Berghang niedergelassen. Und da gehen wir auch hin. Vorwärts Leute, jeder darf behalten, was er sich in die Taschen stopfen kann.“
Das ließ sich die Crew nicht zweimal sagen und die ersten marschierten sofort los. Vance lachte. Und Eden stimmte ein, ohne zu wissen warum. Sie waren am Ziel, was immer das bedeuten mochte.
Bevor sie jedoch auch nur den Waldrand erreichten, wurde der Boden unter ihren Füßen von einem schweren Schlag erschüttert. Die gesamte Insel zitterte plötzlich.
„Erdbeben.“, rief Vance über das Tosen hinweg. Einige Bäume knickten um wie Streichhölzer und der Sand der Küste rutschte teilweise ab.
Sah so aus, als wäre das Kaiserreich nicht die einzige Gefahr, die ihnen hier drohte.
Kapitel 29
Bruchlandung
Eden richtete sich wieder auf, als die Erde endlich zur Ruhe kam. Was immer das grade gewesen war, es hatte den Strand verwüstet. Sand war vom höher gelegenen Waldrand abgerutscht und hatte die Häuserreihen teilweise unter sich begraben.
Vance klopfte sich Sand aus der Kleidung.
„Ich hoffe wirklich, sowas kommt hier nicht öfter vor.“, meinte der Kapitän , während er die anderen dazu antrieb, sich wieder in Bewegung zu setzen. Einige der Matrosen standen ein paar Schritte entfernt um einen Baum herum, den das Erdbeben umgestürzt hatte. Die Wurzelballen hatten ein tiefes Loch im Boden hinterlassen.
„Käpt‘n… das solltet Ihr Euch ansehen.“, rief einer der Männer zu ihnen herüber. Als Eden mit Vance die Grube erreichte, erkannte sie, was die Leute so aufgeregt hatte. Zwischen den Wurzeln hatte sich Erde verfangen. Aber nicht nur Erde… aus dem Geflecht starrte sie ein Gesicht an.
Es war eine Statue, gefertigt aus demselben weißen Gestein, wie schon der Landungssteg am Strand. Von der Zeit scheinbar unberührt, waren die Züge, die das Kunstwerk darstellte, noch deutlich zu erkennen. Auf den ersten Blick, erinnerte die Statue an einen Menschen, aber wenn sie detailgetreu war, würde die abgebildete Figur die meisten Menschen wohl um deutlich mehr als einen Kopf überragen. Und auch die in den Marmor gemeißelten Züge wirkten feiner, beinahe zerbrechlich.
In die Augen der Statue waren zwei Edelsteine eingelassen, die grünlich im Licht schimmerten. Einer der Matrosen setzte rasch ein Messer an und hebelte die Juwelen aus ihren Fassungen.
„Wie war das Vance? Jeder behält, was er tragen kann?“, wollte er wissen.
Der Kapitän lachte.
„Da wo wir jetzt hingehen gibt es hoffentlich noch viel mehr davon.“
„Dann sollten wir hier nicht mehr herum stehen, oder?“, fragte Eden. „Das Kaiserreich wird sicher nicht auf uns warten.“
„Richtig. Also schön Leute, es scheint keinen Weg durch den Wald zu geben. Wir müssen also einen suchen. Ich will, dass wir vier Gruppen bilden. Eden, Ihr geht mit der ersten, Ich gehe mit der zweiten. Ihr beide… begleitet die dritte und vierte.“
„Was ist mit mir?“ , wollte Zachary wissen.
Vance überlegte.
„Welche Gruppe die Stadt auch immer zuerst erreicht, wird einen Zauberer brauchen. Und sei es nur um eventuell noch aktive Fallen aufzuspüren. Eden?“
„Er… darf mit Euch gehen. Aber ich denke Zachary kann das selber entscheiden.“
„Dann begleite ich Vance. Ich weiß das Du durchkommst, Eden.“
Der Kapitän verschränkte die Arme vor der Brust.
„Soll das heißen, ich muss mir von einem, was, Zehnjährigen erklären lassen, dass er mir nicht zutraut meinen Weg zu finden?“
„Das heißt, Ihr habt vielleicht einen Zauberer nötiger.“
„Aber auch nur, weil ich es zuerst durch diesen Wald schaffe.“, erklärte Vance ungehalten.
Die Vegetation stellte letztlich kein so großes Hindernis dar, wie Eden befürchtet hatte. Sicher, das üppige Grün hielt sie auf, aber sie kamen trotz allem voran. Der Strand geriet bereits nach wenigen Minuten völlig außer Sicht und die Gejarn fragte sich unwillkürlich, wie sie zurück finden sollten… vielleicht, wenn sie den Berg erreichten, der ihr Ziel darstellte. Die Insel war nicht besonders groß, wenn sie das richtig einschätzen konnte. Je weiter sie kamen, desto deutlicher wurde, dass der Wald nicht nur aus Unterholz bestand. Immer wieder stieß die fünfköpfige Gruppe um Eden, auf Mauerreste und Gebäude, die so überwuchert waren, das sie mehr wie ein Teil der Vegetation wirkten. Wasserläufe strömten über den Pfad, und über ihnen in den Wipfeln konnte sie eine Unzahl Vögel hören. Auch wenn sie nie auch nur einen zu Gesicht bekam. Die kreischenden Rufe, die die Tiere ausstießen waren überall zu hören. Wenn es weiter so gut voran ging, könnten sie die Stadt am Berghang, bis zur Abenddämmerung erreicht haben, dachte sie. Dort könnten sie dann ein Leuchtfeuer oder ein Signal für die anderen geben, damit diese die Stadt sicher fanden. Natürlich, nachdem sie sich ein paar Edelsteine oder Artefakte eingesteckt hatte, dachte Eden. Was für Vance Crew galt, galt auch für sie.
Fragte sich nur, wie dicht ihnen das Kaiserreich schon auf den Spuren war….
Die Gejarn schlug einige weitere Farne beiseite. Vor ihnen lichtete sich das Unterholz endlich ein Stück. Es war keine wirkliche, freie Fläche, aber wenigstens konnten sie wieder den Himmel über sich erkennen. Weitere Ruinen, in deutlich besserem Zustand, säumten den kleinen Hain. Gebäude, die aus glatt geschliffenen Steinplatten errichtet waren, die so nahtlos aufeinander saßen, dass sie wie aus einem Stück wirkten. Umgestürzte Säulen markierten den Verlauf eines uralten Straßenpflasters, das nur noch durch, hier und da hervorstechende Felsen, erkennbar war. Und an einem der Häuser stand eine weitere Statue. Diese war aus normalem Fels errichtet und hatte ihren Kopf schon vor Ewigkeiten verloren. Einen Arm vorgestreckt, schien sie tatsächlich jeden Besucher willkommen zu heißen. Und in die steinerne Handfläche war ein violett schimmernder Kristall eingelassen.
Eden ließ ihre Leute anhalten. Irgendwie… hatte sie kein gutes Gefühl.
„Wissen wir, ob das eine Falle ist?“, fragte sie, bevor sich jemand der Statue nähern konnte
„Wieso sollte es auf dem Stadtgebiet Fallen geben?“, wollte ein dunkelhaariger Mann wissen.
„Das ist das alte Volk.“, gab sie zu bedenken.
Der Pirat zuckte mit den Schultern.
„Schön, ich riskiere es aber. Haltet einfach etwas Abstand.“
Mit diesen Worten drängte er sich an Eden vorbei und trat auf die Felsfigur zu. Rasch zog der Mann ein Messer aus seinem Gürtel und setzte es in die Fuge zwischen Stein und Juwel an. Nichts passierte.
Eden atmete erleichtert auf. Also gut, vielleicht war sie doch nur übervorsichtig gewesen. Der Mann hebelte den Stein heraus und ließ ihn mit einem Grinsen in seiner Tasche verschwinden.
„Seht Ihr? Nicht das wir unvorsichtig sein sollten, aber das hier war doch wohl eine ganz normale Siedlung oder? Keine Festung oder etwas, das man schützen muss.“
„Aber eine Siedlung, die das alte Volk sicher verteidigen wollte.“, gab Eden zu bedenken. „Vor was auch immer, sie in Canton alle ausgelöscht hat. Aber schön, Ihr hattet recht.“
Der Mann nickte nur und drehte sich wieder zu ihnen um. Eden wollte schon den Befehl geben, wieder aufzubrechen, als ihr etwas auffiel. Es war ruhig geworden. Die Vögel waren alle verstummt.
„Augen offen halten.“, zischte sie und den anderen viel die ungewöhnliche Stille jetzt wohl auch auf. Klingen wurden gezogen und Pistolen auf die umgebende Vegetation gerichtet.
Langsam rückwärtslaufend, bildete die kleine Gruppe einen Kreis, um sich in alle Richtungen abzusichern.
„Sieht jemand was?“, wollte Eden wissen.
„Nur Grün und Schatten.“, erklärte eine Stimme neben ihr.
Aber irgendetwas bewegte sich da draußen. Und dann hörten sie die Schreie. Schüsse, die zwischen den Bäumen widerhallten und das Klirren von Stahl. Ohne Vorwarnung stieg ein Feuerball über dem Wald auf. Zauberer… kurz befürchtete sie, dass eine ihrer Gruppen angegriffen wurde, aber dazu waren die Flammen zu weit im Inneren der Insel. Offenbar war das Kaiserreich jetzt hier. Und in Schwierigkeiten.
„Jeder bleibt wo er ist.“, herrschte Eden die Leute an, die zurück weichen wollten. Sie mussten abwarten. Das wusste sie instinktiv. Wenn sie jetzt blind losrannten, wäre das ihr Ende. Was immer da draußen war, sie wollte ihm nicht im dichten Wald begegnen.
Lucien sah nur ungläubig zu, wie vor ihnen die Insel aus den Wellen auftauchte. Selbst die Magier des Ordens, hielten sich an der Reling fest und betrachteten einfach nur das Schauspiel. Der kaiserliche Agent traute dem halben Dutzend in türkisfarbene Roben gehüllter Gestalten nicht. Und unter normalen Umständen vermied er es, einen von ihnen auch nur zu lange den Rücken zuzukehren. Aber der Anblick vor ihm, ließ ihn alle Vorsicht vergessen. Zuerst war nur ein simpler Felsgipfel zu sehen, der aus dem Wasser auftauchte, dann jedoch folgten Wälder, Wiesen und vereinzelte Reste von Gebäuden, die zwischen der Vegetation aufragten. Über allem spannte sich eine kaum wahrnehmbare, schimmernde Kuppel, die jedoch zusehends zerfiel, je mehr von der Insel sich über den Meeresspiegel erhob. Das Schiff lag jetzt praktisch direkt vor der auftauchenden Landmasse und Lucien wurde plötzlich etwas klar.
„Wir werden auf Grund laufen.“, rief er. „Das Schiff sofort wend…“
Weiter kam er nicht mehr, denn in diesem Moment erfüllten sich seine Befürchtungen. Ein Ruck lief durch den gesamten Schiffsrumpf und bevor die Mannschaft ganz verstand, was vor sich ging, wurde das gesamte Holzkonstrukt aus dem Wasser gehoben. Bäume brachen unter dem Gewicht des Schiffs, während mehrere Gardisten über Bord gingen. Nur um auf dem nun trockenen Grund aufzuschlagen. Lucien selbst stolperte und griff rasch nach einem herabhängenden Tau, während der Segler weiter in Schieflage geriet. Um sie herum gab es keine See mehr, wie er erstaunt feststellte. Nur noch Land. Und die Insel wuchs nach wie vor ein Stück weiter. Einige der Soldaten, die von Bord gefallen waren, rappelten sich mühsam wieder auf, während Lucien rasch die Schiffswand hinab kletterte.
„Götter, was ist das für ein Ort?“, wollte einer der Zauberer wissen, der es ebenfalls auf den sicheren Boden geschafft hatte.
„Ich dachte, das wäre euer Job, mir das zu erklären.“, meinte der Agent nur.
„Das ist….“Der Magier zögerte. „Ich meine, das ist völlig unmöglich. Ein Stück Land dieser Größe vom Ozeanboden zu heben… die Magie die man dafür bräuchte… und dann auch noch alles gegen das Meerwasser abschirmen….“
„Sagt doch einfach, das Ihr es nicht wisst.“, unterbrach Lucien den Mann. Um sie herum gab es nichts als dichte Wälder und einen, in der Ferne aufragenden Bergkamm.
„Was machen wir jetzt?“, wollte ein Gardist wissen, der nervös zu dem gestrandeten Schiff hinauf sah. „Wir… sitzen auf dem Trockenen.“
„Die Insel muss auch irgendwann wieder verschwinden.“, meinte Lucien ruhig. „Dann sind wir zwar besser auch schon lange wieder auf dem Schiff, aber wir sollten dann mit dem steigenden Wasser auch wieder frei kommen. Wir sind hier, das zählt. Und Vance und seine Bande brauchen hoffentlich noch eine Weile.“
„Wir sollten versuchen, zum Berggipfel zu gelangen.“, schlug einer der Ordenszauberer vor. Ein junger Mann, dessen Haare aber bereits vollständig ergraut waren. Lucien hatte ihn schon während der Überfahrt, immer mal wieder gesehen. Seine Hände zitterten ständig, wie bei einem viel, viel älteren oder kranken Menschen und die tiefen Ringe, die sich unter seine Augen gegraben hatten, wiesen auch nicht grade auf eine gute Gesundheit hin. Der Preis der Magie.
„Zumindest sollten wir uns von dort aus einen Überblick verschaffen können.“, stimmte er zu. „Ich will, das mindestens zwanzig Mann hier bleiben und das Schiff bewachen. Bringt Ausrüstung und Vorräte runter, für den Fall, dass wir länger hier bleiben müssen und….“
Lucien wurde unterbrochen, als der Boden anfing zu erzittern. Das ohnehin schon in einer gefährlichen Lage hängende Schiff geriet endgültig ins Rutschen und stürzte über. Gardisten wie Matrosen sprangen beiseite, als das Holzkonstrukt auf seine eigenen Masten stürzte, die unter dem Gewicht sofort zersplitterten. Der komplette Rumpf rollte einmal um seine eigene Achse und riss dabei Bäume wie Männer mit sich. Als das Schiff wieder zum liegen kam, hatte es eine breite Schneise der Verwüstung in den umliegenden Wald geschlagen.
„So viel dazu.“, meinte der Agent niedergeschlagen. „Wo war ich… ach ja, ich brauche eine Handvoll Freiwilliger, die mit mir die nähere Umgebung erkunden. Wir suchen uns einen Weg zum Gipfel und sehen uns um. Der Rest der hier bleibt… vergesst was ich über Vorräte und Ausrüstung gesagt habe. Seht lieber zu, dass ihr das Schiff wieder Seetüchtig bekommt. Wir werden es brauchen.“
„Ihr habt hier nicht das sagen, kaiserlicher Agent.“, ermahnte ihn der Hexer, mit dem er eben schon gesprochen hatte.
„Nicht? Gut, habt Ihr denn eine bessere Idee?“ Er breitete die Arme zu einer übertriebenen Geste aus.
„Nein…“, gab der Magier zu.
„Dann wäre das ja geklärt. Auf geht es. Freiwillige zu mir, der Rest… an die Arbeit. Ich will bis zum Abendbrot wieder von hier weg können, falls möglich. Apropos Abendessen… darum kann sich auch schon mal jemand kümmern.“
„Ihr denkt in so einer Situation wirklich an Essen?“, wollte der Zauberer wissen.
„Aus meiner Sicht, die wichtigste Mahlzeit des Tages.“ Lucien winkte ein paar Gardisten herbei, die sich ihnen anschließen sollten, bevor sie in Richtung der Berggipfel aufbrachen.
Jetzt galt es, die Artefakte oder die Piraten zu finden. Oder beides. Und vermutlich Eden. Lucien war sich ziemlich sicher, dass die Gejarn nicht grade begeistert sein dürfte, ihn hier anzutreffen. Aber sie musste zumindest von den Wächtern erfahren. Das war er ihnen wohl noch schuldig. Wenn es welche gab und Tyrus ihm nicht nur hatte Angst machen wollen….
Ach, und Du bist dir ganz sicher, dass du nicht bloß verhindern willst, das sie in ihren eigenen Tod läuft? , fragte er sich selber.
Das war vielleicht… Teil des Ganzen, ja. Aber es war ganz sicher nicht der Hauptgrund aus dem er mitgekommen war. Auf keinen Fall….
Kapitel 30
Wyvern
Lucien überprüfte seine Ausrüstung mehrmals. Viel war ihm nicht geblieben, nachdem das Schiff, fürs Erste nicht mehr zugänglich war. Unter seinem grauen Mantel trug er eine leichte, nietenbesetzte Rüstung, die mehr dazu diente, die Dornen von Pflanzen abzuhalten, als stahlgeschmiedete Klingen.
Zusätzlich zu einem Jagdmesser, hatte er einen kleinen Köcher mit Bolzen und seine Armbrust. Bevor sie Lasanta verlassen hatten, hatte er seine Vorräte aufgestockt, nun aber blieben ihm eine Handvoll normaler Stahlprojektile und ein paar mit magischen Feuersteinen und Schwarzpulverbehältern besetzte Pfeile. Effektiver als ein normales Geschoss, aber auch zehnmal so laut.
Während sie sich einen Weg durch das Unterholz schlugen, sah er sich zwischen den Bäumen um. Es gab nicht viel zu sehen. Der Wald umschloss sie in allen Richtungen.
Und hätte ich nicht selbst gesehen, dass er ein Ende hat, ich würde auch denken, er wäre endlos. Der Gedanke war alles andere als beruhigend. Lucien wusste besser als jeder andere, was sich in den dichten Schatten alles verbergen könnte.
Der Zauberer, der sie begleitete, könnte zwar jede Art von magischer Bedrohung wahrnehmen, aber das war es auch schon.
Der kaiserliche Agent beschleunigte seine Schritte etwas und überholte dabei zwei Gardisten, die Ausrüstung auf ihren Schultern trugen. Vorräte, wenn sie es nicht mehr bis zur Dämmerung zurück schafften. Das Blätterdach über ihnen war so dicht, das Lucien nicht hätte sagen können, ob es bis dahin noch lang war, oder die Nacht bald hereinbrechen würde.
Plötzlich bewegte sich etwas zwischen den Bäumen. Lucien nahm es nur aus den Augenwinkeln heraus war und wirbelte herum. Brechende Zweige und raschelndes Unterholz… und dann brach etwas wie ein lebender Schatten aus dem Wald hervor. Die zwei Gardisten hinter Lucien wurden zu Boden gerissen und innerhalb weniger Sekunden außer Sicht geschleift. Mehr als einen überraschten Schrei gelang ihnen nicht mehr.
Der Agent spannte sofort die Armbrust und legte einen Bolzen auf die Schiene.
Die Männer wichen entsetzt zurück.
„Was bei den Ahnen war das?“ , wollte der Zauberer wissen.
„Ihr könnt es ja beim nächsten Mal fragen. Und jetzt still.“ , wies er den Mann an. Lucien lauschte. Er hatte das Ding eben nicht kommen gehört, weil es sie überrascht hatte. Aber bevor es angegriffen hatte, hatte es mehr als genug Lärm gemacht. Es war zu dunkel im Wald, als das er etwas sehen konnte. Lucien schloss die Augen. Irgendwo raschelten kleinere Tiere im Laub. In der Ferne zwitscherte ein Vogel… aber da war noch etwas anderes. Ein leises Schnauben, knackende Zweige, die die Kreatur übersah.
„Dort.“ Lucien deutete in die grobe Richtung aus der das Geräusch kam. „Alles einäschern.“
„Ihr müsst die Ohren eines Gejarn haben.“, meinte der Zauberer, bevor er die Hand vorstreckte. Feuer schoss vor ihnen in die Höhe und hüllte den Wald ein. Die Hitze brachte Lucien dazu, zurückzuweichen. Die Vegetation verging praktisch sofort und ließ nichts als schwarzem Staub und verkohltes Holz zurück.
Das konnte nichts überlebt haben, dachte er.
„Gut, machen wir uns wieder auf den Weg.“, erklärte Lucien. „Aber ab jetzt besonders vorsichtig.“
Der Magier nickte und wollte den Befehl grade weitergeben, als erneut etwas aus den Wäldern brach.
„Vorsicht.“ Lucien schubste den Mann grade noch rechtzeitig beiseite und erhaschte einen kurzen Blick auf Zähne und Krallen, die nach ihm schnappten… dann riss das Monster ihn mit sich, weg von den anderen. Etwas grub sich schmerzhaft in seine Seite. Blätter, Sträucher und Erde wirbelten an ihm vorbei, während er versuchte, nicht, von was auch immer ihn da gepackt hielt, gefressen zu werden. Es schien sich halb fliegend, halb laufend zu bewegen. Endlich bekam er seine Armbrust zu fassen und drückte den Abzug. Etwas heulte auf und der Griff, der ihn fest hielt, wurde etwas lockerer. Rasch riss der Agent das Messer von seinem Gürtel und stieß wieder zu. Offenbar war das der Moment, in dem das Ding entschied, dass er zu viel Mühe als Beute machte und ließ los.
Lucien landete auf dem Boden und überschlug sich mehrmals, bis er endlich schwer atmend im Laub liegenblieb.
Offenbar war diese ganze Expedition grade noch ein gutes Stück komplizierter geworden. Der kaiserliche Agent richtete sich unter Mühen wieder auf. In der Ferne konnte er Rufe und Schreie hören. Das mussten seine Leute sin, dachte er. Besser er fand schnell zu ihnen zurück. Wenn ihn das Monster nicht zuerst fand… andererseits… war das auch die Gelegenheit, die Piraten und Eden zu suchen und wenigstens zu warnen. Tyrus hatte recht gehabt. Die Insel war gefährlich.
Lucien zögerte.
Eden nahm die Bewegung nur aus den Augenwinkeln war. Ein Schatten zwischen Schatten, aber es war definitiv da gewesen. Irgendwo zwischen den Bäumen lauerte etwas. Ihre Hände schlossen sich fester um den Schwertgriff, während die kleine Gruppe aus Piraten noch dichter zusammenrückte.
Die Gejarn wartete nur darauf, dass sich zeigte, was immer sie auch beobachtete. Einen Moment meinte sie einen Blick auf pechschwarze Schuppen zu erhaschen, die jedoch sofort wieder im Grün verschwanden. Aber sie wusste jetzt wo es war. Eden nickte einem ihrer Leute zu, der eine Muskete in Händen hielt.
„Ein paar Schritte rechts von mir.“, meinte sie. „Zwischen einem großen Farn und dem Anfang der Straße.“
Der Mann sagte nichts, sondern hob lediglich das Gewehr und zielte. Die Blätter zwischen denen sich das Ding versteckt hatte, zitterten. Einige Zweige lösten sich und vielen zu Boden.
„Jetzt.“, rief Eden.
Der Schuss hallte durch den Wald und im gleichen Augenblick stürzte etwas aus den Wäldern hervor. Ein lebender Alptraum aus Schuppen und Klauen, der schwarze Schwingen hinter sich herzog. Geister… es stand auf zwei stämmigen Beinen, die mit schweren, in der Sonne glitzernden Krallen besetzt waren. Der gesamte Körper war mit schwarzen Schuppen besetzt, die es fast eins mit den Schatten der Wälder werden ließen. Und die Flügel hatte das Ding dicht an den Körper gefaltet, während es witternd die Luft einzog. Die Nüstern blähten sich. Das Maul starrte vor Reißzähnen und als es sich zur vollen Größe aufrichtete, überragte es die kleine Gruppe leicht um zwei Köpfe.
Eden wich wie die anderen zurück. Weitere Schüsse fielen, aber die Bleiprojektile prallten wie lästige Insekten am Panzer der Kreatur ab. Dann stürmte es auf sie los.
Eden warf sich grade noch rechtzeitig zur Seite um auszuweichen. Die Kiefer der Kreatur schnappten ins Leere, dort wo sie eben noch gestanden hatte, dann schlug sie mit dem Schwert zu. Die Klinge drang zwar in die Haut der Kreatur, richtete aber kaum Schaden an. Stattdessen schüttelte sich die Echse und warf Eden ab.
„Was bei allen Göttern ist das für ein Ding?“, wollte die Gejarn wissen, als sie sich wieder aufrichtete.
„Ein Wyvern, ein kleiner Drache.“ erklärte einer der Männer, ohne den Blick einen Moment von der Kreatur zu wenden. Die Augen, die sie musterten schienen selbst im Tageslicht zu glühen.
„Klein?“, fragte Eden. „Der ist aber gar nicht so klein….“
„Seid froh, die niederen Drachen können kein Feuer speien… glaube ich.“
In dem Moment, in dem sie sie ihr Schwert wieder aufhob, ging der Wyvern erneut auf sie los. Einer der Piraten rettete sich in eines der verfallenen Häuser. Der Drache ließ sich davon jedoch kaum beeindrucken und stürmte direkt durch die brüchigen Mauern hindurch, die den Mann unter sich begruben.
Eden wich dem Hieb eines Flügels aus, als die Kreatur die Schwingen ausbreitete. Die Gejarn nutzte die Gelegenheit und schlitzte die hoffentlich empfindlichere Flügelhaut auf. Die Echse kreischte laut genug, um sie alle einen Augenblick taub zu machen. Dann wirbelte sie zu Eden herum, die nur knapp vermeiden konnte, erneut fortgeschleudert zu werden. Ein Matrose konnte nicht mehr ausweichen und wurde von einem messerscharfen Dorn am Schweif der Kreatur aufgespießt.
Der Drache funkelte Eden nun mit Wut in seinen Augen an. Die klaffende Wunde im Flügel schien ihn kaum zu stören. Und alle anderen Versuche, den Wyvern zu verletzen, waren gescheitert.
„Alle weg hier.“, befahl die Gejarn und rannte selber los. Das Monster stürzte sofort hinter ihr her.
Eden warf einen Blick über die Schulter und sah nur noch, wie sich die anderen zerstreuten, bevor der Wyvern mit drei gewaltigen Schritten zu ihr aufschloss. Vielleicht konnte sie das Monster in den Ruinen abschütteln.
Eine der alten Säulen, die quer über die Straße gefallen waren, zerbarst unter dem Tritt des Drachens einfach zu Staub. Eden zog eine ihrer Pistolen und feuerte die Waffe blind ab. Der einzige Effekt war, dass das Monster einmal laut brüllte und wenigstens etwas langsamer wurde. Vor ihr führte der verfallene Weg auf einen steinernen Triumphbogen zu. Farne und Gras wucherten aus den Fugen des Prunkbaus, aber bisher hatte er die Zeit praktisch unbeschadet überstanden. Die Passage wäre zu klein für die Echse, schoss es ihr durch den Kopf. Vielleicht gab ihr das ein Versteck oder zumindest etwas Vorsprung….
Die Gejarn hastete unter dem Eingang durch, während der Wyvern ihr, nach wie vor, viel zu dicht auf den Fersen war. Ungebremst prallte die Kreatur gegen den Bogen. Steine und uralter Putz rieselten herab und der gesamte Bau geriet ins Schwanken. Eden spürte, wie sie ein Steinbrocken knapp verfehlte. Der Luftzug war so nahe, dass sie es nicht mehr wagte, sich umzusehen, oder auch nur einen Moment langsamer zu werden. Dann war sie endlich unter dem Tor durch und fand sich auf einer freien Fläche wieder. Die Bäume umgaben eine, mit hohem Gras bewachsene Lichtung, die aus irgendeinem Grund nicht vom Wald verschluckt worden war. Sie konnte Wasser unter ihren Füßen spüren, als sie endlich anhielt. Eine weite Sumpffläche, in der die Baumwurzeln einfach keinen Halt gefunden hatten. Verwitterte Felsblöcke, die hier und dort aus dem Boden ragten, begrenzten den Ort. Wie ein altes Amphitheater. Und vermutlich war es auch genau das, dachte Eden.
Ein lauter Schlag, veranlasste die Gejarn dazu, sich umzudrehen. Der Triumphbogen zerbröselte praktisch vor ihnen Augen. Staub wirbelte auf, als das uralte Bauwerk schließlich endgültig zusammenbrach… und den Drachen unter sich begrub.
Eden holte erschöpft Atem. Hoffentlich war das Ding auch wirklich tot. Irgendwas musste es ja erledigen können….
Sie sah sich nach den anderen aus ihrer Gruppe um, konnte diese aber nirgendwo mehr entdecken. Vermutlich hatten sich die Matrosen, in alle Richtungen zerstreut. Eden konnte nur hoffen, dass es nicht noch mehr Wyvern auf der Insel gab. So oder so… sie musste Zachary und Vance finden und sie warnen. Allein schon, weil jetzt sicher schien, dass der Orden auf der Insel war. Bevor sie jedoch dazu kam, hörte sie ein tiefes Grollen hinter sich. In die Überreste des Steinbogens, kam wieder Bewegung. Erst eine schwarze Schwinge, dann zwei….
Der Drache lebte noch und schüttelte die Trümmer scheinbar mühelos ab.
Eden wich, langsam rückwärtsgehend, zurück. Eine Hand am Schwertgriff beobachtete sie, wie das Monster sich wieder aufrappelte und mit gewaltigen Sprüngen über die Trümmer setzte.
Mit einem letzten Satz war es über das Hindernis hinweg und landete im knietiefen Wasser.
Einfach großartig… Eden überlegte, ob sie weglaufen oder sich stellen sollte.
Sie konnte das Ding nicht verwunden, die Panzerung war schlicht zu dick. Aber früher oder später würde es sie so oder so erwischen. Der Wyvern war selbst flugunfähig schneller als sie.
Trotzdem blieb die Kreatur stehen wo sie war.
„Komm schon, Mistvieh.“ Worauf wartete das Ding jetzt noch? Es musste wissen, dass sie keine Chance hatte und die verschlagene, tierische Intelligenz die in seinen gelben Augen glitzerte, sprach von Mordlust.
Dann stürmte es plötzlich wieder vor, direkt auf Eden zu. Die Gejarn warf sich zur Seite und führte das Schwert zeitgleich in einer aufrechten Bewegung. Der Stahl grub sich in den Bauch der Kreatur und innerhalb von Sekunden war sie mit Blut besudelt. Trotzdem machte die Wunde es kaum weniger gefährlich. Im Gegenteil. Es wurde höchstens noch wütender.
Eden stürzte ins niedrige Wasser und hatte sich erst halb wieder aufgerichtet, als sie der Schweif der Kreatur traf und erneut von den Füßen riss. Ihr Flug dauerte viel zu lange und als Eden schließlich wieder auf dem Boden aufprallte, schoss Schmerz durch ihren ganzen Körper. Sie wischte sich Wasser und Schmutz aus dem Gesicht und richtete sich schwerfällig wieder auf. Der Drache verschwendete keine Zeit, sondern stürmte erneut auf sie zu, ein Durcheinander aus Schuppen, Kiefern und Klauen.
Sie hatte nicht mehr die Kraft wegzulaufen. Eden tastete nach ihrer letzten verbliebenen Feuerwaffe. Eine letzte Chance blieb ihr, auch wenn sie das kaum überleben würde. Das ganze Ding war mit Schuppen überzogen, die es vor den meisten Wunden schützten. Aber wenn es der Gejarn gelang, dem Monster eine Kugel zwischen die geöffneten Kiefer zu verpassen… Das musste es einfach erledigen.
Hoffentlich war das Pulver nicht nass geworden… dieses Mal zitterten ihre Hände nicht, als sie zielte und abwartete.
Bevor der Drache sie jedoch erreichte, verschwand der Kopf der Kreatur plötzlich in einem Feuerball. Schuppen, Blut und Hautfetzen gingen in einem Regen um den plötzlich enthaupteten Wyvern nieder. Das Monster machte noch einen taumelnden Schritt vorwärts… dann stürzte es schwer zu Boden und grub sich halb in den schlammigen Untergrund.
Eden starrte ungläubig auf die Waffe in ihrer Hand. Sie hatte nicht gefeuert….
„Sieh mal einer an, wer sich da an der Großwildjagd versucht. Ich hoffe Ihr verzeiht, das ich Euren Spielkameraden da erledigt habe?“, fragte eine spöttische Stimme hinter ihr.
Die Gejarn wirbelte herum und sah schließlich, wer sich an sie herangeschlichen hatte. Sie erkannte, die wie immer in grau gekleidete Gestalt, sofort. Lucien grinste breit, die Armbrust locker über die Schulter gelegt und einen weiteren Explosivbolzen um den Finger wirbelnd.
Eden wusste plötzlich nicht mehr, ob ihr der Drache nicht lieber gewesen wäre.
Kapitel 31
Falle
Eden ließ den Mann nicht aus den Augen. Mit der Armbrust hätte er den Vorteil, sie auf Distanz erledigen zu können, aber die Waffe war nicht gespannt.
„Sagt mal auf wessen Seite steht ihr eigentlich?“, wollte sie schließlich wissen.
„Auf meiner.“, antwortete Lucien nur um gewohnt spöttisch hinzuzufügen: „Aber hey, wenn Ihr lieber gefressen worden wäret, können wir gerne einen neuen Drachen für Euch suchen.“ Er nickte in Richtung der kopflosen Leiche des Wyvern. „Der ist noch ein Stück größer, als die, die uns überfallen haben, glaube ich.“
„Sagt jetzt nicht, es gibt noch mehr davon….“
„Im Wald. Ich schätze, hier ist irgendwo ein Nest. Wyvern sind normalerweise ziemlich Territorial und einzelgängerisch. Allerdings attackieren sie normalerweise auch keine bewaffneten Gruppen.“ Der kaiserliche Agent versetzte dem Kadaver einen Tritt mit dem Fuß, wie um sich zu überzeugen ob die Echse wirklich tot war.
„Ich hatte mir Drachen allerdings auch größer vorgestellt.“, meinte Eden.
„Seid froh. Wyvern bleiben im Vergleich zu echten Drachen ziemlich klein. Und sie sind um einiges dämlicher. Die alten Drachen beherrschen angeblich sogar rudimentäre Magie.“
Eden seufzte. Das hatte auf ihrer Liste der Dinge, die sie nicht brauchte noch gefehlt. Den Orden im Nacken, auf einer Insel voller Drachen und sich jetzt auch noch Lucien gegenüber zu finden… aber was suchte er überhaupt hier? Lucien hatte mehr als bewiesen, dass man ihm nicht trauen konnte.
„Wenn Ihr nur hier seid um….“
Bevor sie den Satz beendet hatte, begann die Erde zum wiederholten Male zu beben. Die Ruinen um das Amphitheater zitterten, blieben aber überraschend unbeschädigt. Allerdings hatten sie immerhin tausende von Jahren an diesem Ort überstanden, dachte Eden. Der Boden kam nur langsam wieder zur Ruhe. Ein tiefes Grollen hallte über die Ruinen. Fast, wie bei einem aufziehenden Gewitter, aber der Himmel war klar ohne ein Zeichen eines Sturms.
Warum hatte das alte Volk ausgerechnet einen Ort mit Erdbeben als Zuflucht ausgewählt? Oder gab es die damals noch nicht? Wenn ja, war es fast, als ob sich die Insel durch ihre Anwesenheit gestört fühle.
„Ich bin hier.“,erklärte Lucien ungehalten. „Weil Ihr mir geholfen habt. Ohne Euch hätte Vance, keinen Augenblick über unser Schicksal nachgedacht. Seht es einfach so, dass ich ungern eine Rechnung offen lasse.“
Eden schüttelte den Kopf.
„Ich bin grade am überlegen, ob ich Euch küssen, oder das Herz herausreißen soll.“
„Wie wär‘s mit beiden?“ , lachte Lucien, wieder in seinem gewohnten Tonfall. „Wäre nicht die übelste Art abzutreten.“
Eden zögerte. Sicher, Lucien war niemand, dem sie den Rücken zukehren konnte. Aber er war auch ihr einziger vermeintlicher Verbündeter. Für den Augenblick.
„Kommt halt mit.“,meinte sie schließlich. „Ich muss Vance und die anderen finden. Wir wollten uns bis zu den Bergen durchschlagen. “
Eden winkte dem Mann einfach, ihr zu folgen. Fürs erste zumindest wäre es wohl das Beste, wenn sie wenigstens wüsste, wo Lucien sich grade aufhielt.
Der kaiserliche Agent hängte die Armbrust wieder in seinen Gürtel und machte sich daran, ihr zu folgen. Sie ließen das uralte Amphitheater schnell hinter sich und machten sich auf den Weg zur Inselmitte. Die Granitgipfel dort, waren von der Lichtung um die kleine Ruinenstadt, gut zu erkennen. Zwischen Schnee und Eis schimmerten die Gebäude hervor, die ihr Ziel darstellten. Ein verfallener Pfad wie der, der durch die Siedlung geführt hatte, schlängelte sich zwischen den Bäumen des Waldes hindurch und Eden beschloss, ihm zu folgen. Wenn es einen Weg gab, musste der irgendwohin führen. Und selbst wenn sie nicht direkt zu ihrem Ziel gelangten… die Bäume standen hier nicht so dicht. Das würde es einem weiteren Wyvern schwer machen, sich an sie heranzuschleichen.
Nachdem sie der Straße eine Weile gefolgt waren, begann die Vegetation sich endlich etwas zu lichten.
Offenbar hatten sie den schwersten Teil hinter sich. Statt Bäumen und Wurzeln ragten nun überall verfallene Gebäudereste und Ruinen aus dem Gras. Auf einigen noch stehenden Säulen, waren kunstvolle Schnitzereien eingelassen. Sie erinnerten Eden zwar an die Schriftzeichen, die sie auf der Abschrift gesehen hatte, die Lucien gestohlen hatte, aber die Gejarn konnte sich nicht sicher sein. Vielleicht war es doch nur Verzierung.
„Dieser Ort hieß einmal Draconigena.“ ,meinte Lucien. „Oder zumindest bezeichnete ihn das alte Volk so.“
Eden wurde langsamer, als sie zwischen den Ruinen hindurch wanderte.
„Woher wisst Ihr das?“
„Tyrus hat die Schriftrolle komplett übersetzt, soweit es ihm eben möglich war. Es gibt Dinge über diesen Ort, die wir sonst nicht erfahren hätten. Beispielsweise, das er von Wyvern bewacht wird….“
„Kein Wunder, dass das alte Volk ausgestorben ist. Die wurden vermutlich alle gefressen.“
„Es waren Zauberer. Ein Wyvern dürfte für sie kaum eine Bedrohung gewesen sein. Im Gegenteil. Ich vermute, was uns da draußen angegriffen hat ist eher, was von den Wachhunden des alten Volkes noch übrig ist.“, meinte Lucien. „Aber sagt mir… was habt Ihr eigentlich mit den Artefakten hier vor?“
„Verkaufen. Vermutlich sogar an den Orden. Von dem Geld kann ich endgültig von der Bildfläche verschwinden.“
„Ihr seid also immer noch vor der Flucht vor Eurem alten Herren.“
„Andre de Immerson um genau zu sein. Ja.“
„Und Zacchary?“
„Sein Sohn… er sollte eigentlich zum Orden…“ Eden hielt schlagartig an und wirbelte zu dem kaiserlichen Agenten herum. „Wehe Ihr sagt mir jetzt, das Ihr dem Orden verraten habt, was er ist.“
Ihre Hand legte sich auf den Schwertgriff.
„Das habe ich nicht.“
„Und woher weiß ich das?“
„Weil Ihr mir, verflucht noch mal, zumindest soweit vertrauen könnt. Wäre ich nicht auf Eurer Seite, hätte ich einfach zugesehen, wie Euch der Wyvern verspeist. Aber ich weiß auch, wem meine Loyalität gilt. Und das ist nun mal der Kaiser. Nicht der Orden. Von mir aus könnt Ihr die Schätze dieser Insel haben. So wie es aussieht, werdet Ihr die ohnehin an uns verkaufen, also ist das Ergebnis dasselbe. Nur die Zauberer werden dafür zahlen müssen und das, ist mir ehrlich gesagt ziemlich egal.“
„Warum würdet Ihr das tun?“
„Vielleicht mag ich Tyrus einfach nicht, oder traue dem Sangius-Orden nicht. So oder so… ich wäre Euch sogar dankbar, wenn Ihr den Magiern eins auswischt.“
Eden nickte. Sie glaubte Lucien kein Wort. Wenn jemand lügen konnte, dann offenbar der kaiserliche Agent. Und noch mehr… sie hatte ihm einmal soweit getraut. Sie hatte sich einmal von ihm austricksen lassen. Er konnte unmöglich glauben, dass sie nicht aus ihren Fehlern lernte.
Als sie ihren Weg fortsetzten, tauchte vor ihnen langsam ein seltsames Gebilde auf. Eden erinnerte es entfernt an einen öffentlichen Platz, wie man ihn auch in den modernen Städten Cantons fand.
Die Ruinen beschrieben einen Kreis um eine offene Fläche aus Pflastersteinen. Von dort aus gingen Straßen in alle vier Himmelsrichtungen weiter. Einen davon folgten sie selbst, die anderen führten wohl einst über die ganze Insel. Die Berge waren jetzt beinahe zum greifen nah, wie Eden mit einem Blick nach oben feststellte. Aber auch die Sonne stand bereits tief am Himmel. Viel Zeit blieb ihnen nicht mehr, wenn sie keine Nacht auf der Insel verbringen wollten.
Eden trat vorsichtig auf den Platz hinaus. In der Mitte stand ein praktisch unbeschädigter Kreis aus Säulen, die eine überwucherte Grünfläche umgaben. Einst konnte das wohl mal ein Park gewesen sein. In der Mitte des antiken Gartens erhob sich eine weitere Statue, wie Eden sie schon zuvor gesehen hatte. Diese hatte beide Hände vor der Brust zu einer Schale geformt, in der ein weiterer Edelstein eingelassen war. Grünlich schimmernd war das Juwel leicht so groß, wie Edens Handfläche.
„Das nenne ich mal die Reise wert.“, meinte Lucien, während sie sich der Statue näherten.
„Ich würde den Stein lassen, wo er ist.“, bemerkte Eden, als der Agent eine Hand nach dem Juwel ausstreckte.
„Wieso?“ , wollte er wissen.
„Keine Ahnung…“, gab Eden zu, während sie ebenfalls zwischen den Säulenkreis trat. „Wir sind schon auf zwei davon gestoßen und ich hab jedes Mal ein mieses Gefühl.“
„Wenn bei den letzten Malen schon nichts passiert ist, warum sollte sich das ausgerechnet jetzt ändern?“ Mit diesen Worten zog Lucien ein Messer und entfernte den Stein aus seiner Fassung. Eden erwartete beinahe, dass sie im selben Moment vom Blitz getroffen wurden. Aber nichts geschah.
„Seht Ihr? Nichts. Alles bestens.“ Lucien ließ den Kristall in seiner Tasche verschwinden und sprang von der Statue herab.
Die Gejarn atmete erleichtert auf. Irgendetwas sagte ihr, das sie grade mal wieder mehr Glück als Verstand gehabt hatten. Der kaiserliche Agent ging grinsend an ihr vorbei und trat unter die Säulen. Ein heller Lichtblitz blendete sie einen Moment. Bevor Eden wusste, was geschah, wurde der Mann plötzlich rückwärts geschleudert und schlug im Gras auf.
Lucien blinzelte verwirrt, als er sich wieder aufsetzte.
„Das…. tat tatsächlich kurz weh.“
Eden trat vorsichtig an den durch die Steine markierten Kreis heran und streckte eine Hand vor. Sie bekam einen statischen Schlag, der sie dazu veranlasste, sofort zurückzuspringen.
„Ich glaube wir haben ein Problem.“
„Ach wirklich?“, rief Eden. „Ich habe gesagt, Ihr sollt den Stein da lassen.“ Sie tastete rasch den gesamten Bereich ab, den die Säulen einschlossen. Überall das Gleiche. Sie traf auf ein unsichtbares Hindernis, das ihr über einen kleinen Lichtfunken einen Schlag versetzte.
„Warum ist dann bei den anderen Statuen, von denen Ihr gesprochen habt, nichts passiert?“
„Keine Ahnung, vielleicht waren sie nach all den Jahrhunderten schlicht defekt….“
„Defekt? Und warum funktioniert dann…“ Ein weiteres Erdbeben schnitt Lucien das Wort ab und brachte sie beide zum Stolpern. Eden stürzte ins Gras. Im nächsten Moment verlor auch der Agent das Gleichgewicht… und fiel direkt auf sie.
Eden seufzte.
„Also gut … Ich hasse diesen Ort langsam.“
„Ich weiß nicht, ich find‘s hier ganz gemütlich.“ ,bemerkte Lucien eine Spur zu fröhlich.
„Könntet Ihr bitte einfach endlich von mir runter gehen?“, fragte Eden genervt. „Bevor ich einen Arm frei bekomme und Euch das Grinsen aus dem Gesicht prügle…“
„Natürlich.“ Der kaiserliche Agent sprang praktisch sofort, wieder auf die Füße und zog sie ebenfalls wieder auf die Beine.
„Großartig….“ , bemerkte er. „Wir werden hier wohl eine Weile festsitzen….“
Eden schüttelte den Kopf.
„Nein. Wir können nicht warten, bis oder auch nur, dass uns hier irgendjemand findet… schon gar nicht der Orden.“
„Habt Ihr eine bessere Idee?“, wollte Lucien wissen. „Ich kenne mich rein zufällig nicht mit magischen Fallen aus….“
Eden lachte bitter.
„Ich dachte Ihr kommt sonst überall raus?“
„Wenn das hier ein normales Schloss hätte, schon… aber seht Ihr hier etwas, dass an ein Schloss erinnert?“
Eden lehnte sich gegen die Statue. Nein, da hatte er recht. Es gab keinen sichtbaren Ausweg, wie eine Tür. Oder doch ?
„Natürlich gibt es ein Schloss.“ ,meinte sie plötzlich.
„Was soll das heißen?“
„Das heißt, dass Ihr mir jetzt den Stein geben werdet. Und mit etwas Glück kommen wir hier wieder lebend raus.“
„Der Stein, aber… ich glaube ich verstehe.“ Lucien holte das Juwel aus der Tasche und hielt es einen Moment ins Licht. Dann gab er den Stein an die Gejarn weiter.
„Hoffentlich funktioniert das.“ ,murmelte sie, bevor sie den Kristall, vorsichtig wieder in die Fassung in den Händen der Statue sinken ließ.
„Hat es funktioniert?“, wollte Lucien wissen.
„Ich glaube es gibt nur einen Weg das herauszufinden.“ Eden trat vorsichtig an die Säulen heran und streckte die Hand aus. Dann machte sie einen Schritt vorwärts… und stolperte wieder auf den Platz hinaus.
Lucien folgte ihr.
„Das war… eine ziemlich gute Idee.“,meinte er grinsend.
„Sicher, aber beim nächsten Mal, haben wir vielleicht weniger Glück. Das war offenbar eine Falle für Diebe. Aber wir wissen jetzt, dass manche der Schutzzauber noch aktiv sind. Das heißt ab jetzt… aufpassen was Ihr anfasst und wo Ihr hintretet.“
„Erdbeben, Drachen, Zauber… es gibt sicher gastlichere Orte.“
Eden nickte nur.
„Kommt wir sollten sehen, dass…“ sie hielt im Satz inne. Da war etwas. Stiefel, die auf Pflaster trafen.
„Was ist jetzt los?“
„Hört doch selbst.“,wies die Gejarn ihn an.
Lucien schwieg und schien ebenfalls zu lauschen.
„Da kommt jemand.“
Kapitel 32
Das Rosenfeld
Sie konnten sich nirgendwo verstecken, wie Eden klar wurde. Die Ruinen waren zu weit weg, um sie sicher erreichen zu können und der Säulengarten bot praktisch keinen Schutz. Aber es wäre besser als nichts, dachte die Gejarn und wies Lucien an, sich ebenfalls hinter eine der schweren Granitsäulen zu ducken. Der kaiserliche Agent hatte die Armbrust aufs Handgelenk gestützt und spannte einen Bolzen auf die Sehne. Die Schritte waren jetzt nicht mehr zu überhören.
Beide hielten den Atem an, als mehrere Gestalten aus der Ruinenstadt auftauchten. Eden konnte spüren, wie ihr das Blut in den Ohren rauschte. Wenn es das Kaiserreich war, würde sie Lucien einfach bewusstlos schlagen. Sie konnte nicht darauf vertrauen, dass der Mann sie nicht verriet.
Offenbar erriet der Agent ihre Gedanken jedoch und schüttelte langsam den Kopf, bevor er in Richtung der Armbrust in seinen Händen nickte. Das war eindeutig. Er wäre in jedem Fall schneller als sie. Und musste nicht erst in Reichweite kommen. Eden atmete jedoch erleichtert auf, als sie erkannte, wer sich ihnen näherte.
„Vance. Zachary. Geister ich hatte schon geglaubt ich sehe euch nie wieder.“ Sie tauchte aus ihrem Versteck auf und der Kapitän blinzelte einen Moment, als glaubte er ein Phantom zu sehen.
„Eden, verflucht ich dachte auch, wir hätten Euch verloren. Der Rest Eurer Gruppe hat uns gefunden und…“ er verstummte einen Augenblick, als Lucien ebenfalls auftauchte.
„Was macht der den hier?“
„Guten Abend, Käpt’n.“ ,rief der Kaiserliche Spion nur vergnügt.
„Der Abend ist grade alles andere als gut geworden…“, murmelte Vance, während hinter ihm ein gutes Dutzend Matrosen auftauchten. Zusammen mit Zachary. „Das Imperium ist hier.“ ,erklärte Vance.
„Ach wirklich?“, fragte Lucien. „Was glaubt Ihr, wie ich hierher komme?“
Der Kapitän zog das Schwert.
„Eden können wir den Kerl da einfach erledigen und machen, das wir weiterkommen?“
Die Gejarn antwortete nicht sofort, sondern ließ die beiden Menschen einfach stehen, wo sie waren. Stattdessen ging sie zu Zachary.
„Alles in Ordnung ?“
„Wir… haben etwas gehört, aber sonst nichts. Aber Eden… diese Insel.“
„Was ist damit?“
„Ich weiß es noch nicht. Nur irgendetwas ist nicht in Ordnung mit diesem Ort.“
„Ich werte Euer Schweigen mal als Nein.“ Vance schob enttäuscht das Schwert zurück an seinen Platz am Gürtel. „Also was hat der hier zu suchen?“
„Nun eigentlich bin ich hier, um euch zu warnen.“,erklärte der kaiserliche Agent. „Vor den Wächtern… aber mit denen hat Eden ja schon Bekanntschaft gemacht.“
„Und das, soll ich Euch jetzt einfach so glauben?“
„Ich bin nicht derjenige, der dachte, es sei eine gute Idee, nie die ganze Schriftrolle übersetzen zu lassen.“
Vance schüttelte nur den Kopf.
„Soll er halt mitkommen. Aber… versucht irgendetwas Dummes und es ist Euer letzter Fehler.“
Lucien nahm die Hände über den Kopf.
„Keine Sorge. Wir sind auf der gleichen Seite.“
„Irgendwie beruhigt mich das überhaupt nicht.“ ,knurrte Vance. „Los, sehen wir zu, dass wir vor Einbruch der Nacht noch etwas Boden gut machen.“
Der Weg durch die Ruinenstadt war bedrückend. Der Ort war weitläufiger, als Eden vermutet hatte. Wie viele des alten Volkes mussten einst hier gelebt haben? Tausende? Oder gar mehr? Und wie musste diese Stadt zu ihrer Glanzzeit ausgesehen haben. Die fliegende Stadt, der Sitz des Kaiserpalastes war heute das letzte Stück der alten Welt, das noch erhalten war. Und auch wenn sie die Hauptstadt des Imperiums nur aus Geschichten kannte, so reichten diese doch aus, um Eden schaudern zu lassen. Die Vorstellung, dass es einst eine Unzahl solcher Orte gegeben haben könnte….
Die kleine Gruppe folgte einer der verfallenen Straßen, die in grader Linie auf die Berge zuführten.
Irgendwann ließen sie das Stadtgebiet schließlich hinter sich und der Weg begann zu verblassen. Eine grasbewachsene Ebene nahm das Land um den Berg ein und verbarg die Pflastersteine halb unter sich.
„Was glaubt ihr ist dort oben?“ , wollte Eden einmal wissen, als Vance anhielt um die Gipfel erneut mit dem Fernglas abzusuchen.
„Keine Ahnung. Weitere Gebäude, so viel ist klar. Aber größer als die die wir bis her passiert haben. Sieht so aus, als liefe eine Treppe um den gesamten Berg herauf. Seht selbst.“
Der Kapitän reichte das Glas an die Gejarn weiter, die es wieder auf die Felswände richtete. Vance hatte Recht. In den Stein geschlagene Stufen wandten sich in endlos erscheinenden Spiralen um den Sockel des Bergs und verschwanden an einer großen Felskante, auf der weitere Bauwerke in die Höhe ragten. Die Entfernung war zu groß, um Details auszumachen, aber was immer dort oben war… es war groß.
Als das Licht der Abendsonne die Granithänge, über ihnen in rot glühendes Licht tauchte, trafen sie schließlich auf etwas Bemerkenswertes. Die Berghänge waren nicht mehr weit entfernt und Eden konnte bereits den Beginn des Aufgangs in der Ferne erspähen. Säulen aus dunklem Stein markierten den Beginn der uralten Treppe. Zwischen ihnen und dieser jedoch erstreckte sich, soweit die Gejarn sehen konnte, ein gewaltiges Rosenfeld. In alle Richtungen standen die Pflanzen so dicht, das sie dem Gras praktisch keine Chance mehr ließen. Als wäre das nicht seltsam genug, schimmerten alle Blumen bläulich, in den letzten Sonnenstrahlen. Geister, das Feld musste einmal um den kompletten Berg herum gehen, dachte sie.
Lucien, Vance und Zachary kamen neben ihr zum stehen.
„Der Weg endet hier.“,bemerkte Vance, der den Pflanzen nur wenig Aufmerksamkeit schenkte. Sein Blick blieb an den fernen Bauwerken auf dem Berggipfel haften. Eden konnte ihn verstehen. Mehr als das. Er hatte Jahre in diese Expedition investiert und jetzt waren sie so nahe daran zu finden, was sie suchten. Was immer das dann auch sein mochte.
„Das ist… irgendwie schön.“, meinte Lucien, während er über das Blumenmeer hinweg sah. Der Agent hob einen Fuße und wollte weitergehen, wurde aber von Zachary zurück gehalten.
„Was immer Ihr tut… tretet auf keinen Fall, auf eine der Rosen. Berührt nicht einmal die Blätter, versteht Ihr mich?“ Zachary klang derart todernst, dass Eden überhaupt nicht wagte ihn zu hinterfragen. Den anderen ging es nicht anders. Immerhin war der junge Magier genau deshalb hier. Um sie vor eventuellen Fallen zu warnen.
„Ich weiß, dass ich diese Frage bereuen werde, aber… was passiert, wenn ich auf eine drauftrete?“ , wollte Lucien wissen.
„Ihr sterbt.“ ,antwortete der Zauberer ohne zu zögern.
„Beruhigend.“
„Also, wir gehen einer nach dem anderen?“, fragte Eden.
„Und mit großem Abstand.“,fügte Vance hinzu, bevor er seine Leute herbeiwinkte.
Der Kapitän ging selber als erstes hinüber. Einen Fuß vor dem anderen setzend, um zwischen den Rosen ja nichts zu berühren, setzte er sich in Bewegung. Eden folgte mit Zachary, dem sie einschärfte, sich bei ihr zu halten. Wenn der Junge stolperte, könnte sie ihn vielleicht noch auffangen. Lucien folgte mit dem Rest von Vances Mannschaft, die es durch den Wald geschafft hatte. Gut ein Dutzend Männer waren irgendwo unter dem Blätterdach zurück geblieben.
Oder vielleicht hatten sie sich auch auf die Windrufer zurückgezogen, beruhigte Eden sich selbst.
Sie konnte sich später darüber Gedanken machen. Nicht während sie noch mitten im Feld stand. Erleichtert stellte sie fest, dass die Rosen weiter auseinanderstanden, je mehr Boden sie gut machten. Wie hatte das alte Volk das nur bewerkstelligt? Oder hatten sie den Berggipfel auch vor sich selber abschirmen wollen? Wenn ja, dann waren die Rosen hier eine Art von Burggraben. Und einen Burggraben zog man um eine Festung. Das hieß, das da am Berghang, war vielleicht tatsächlich ihre wichtigste Zuflucht auf dieser Insel gewesen.
Vance hatte sie bereits ein gutes Stück hinter sich gelassen. Der Kapitän der Windrufer ging zielsicher und fand die freien Stellen zwischen den Pflanzen scheinbar im Schlaf.
Eden erlaubte sich, etwas schneller zu laufen, jetzt wo die blauen Rosen ziemlich weit auseinanderstanden, dass sie sicher zwischen sie treten konnte.
Die Gejarn setzte einen weiteren Fuß zwischen die Blumen und dreht sich zu den anderen um. Zachary hielt gut mit. Und Lucien und die anderen ebenfalls. Es war zu schaffen.
Dann jedoch nahm sie eine Bewegung auf der Ebene war. Zuerst waren es nur verschwommene Schatten, die aus dem Grasland auftauchten, doch dann konnte sie deutlich die Uniformen erkennen. Kaiserliche Gardisten.
„Wir bekommen Besuch.“
Die anderen hatten es offenbar auch bemerkt und beschleunigten ihre Schritte. Aber noch hatten sie das Meer aus Blumen, grade einmal zur Hälfte, durchquert. So schnell sie auch waren, die Soldaten des Ordens würden sie vorher einholen.
„Hier draußen sitzen wir auf dem Präsentierteller.“,rief Lucien. „Wenn wir nicht sofort hier wegkommen…“ er brachte den Satz nicht zu Ende, denn in diesem Moment hallten bereits die ersten Schüsse über das Feld.
„Da sind sie, schaltet sie aus.“ Eden warf einen Blick zurück und erkannte eine in türkisfarbene Gewänder gekleidete Gestalt, die die Soldaten zur Eile antrieb. Ein Magier… das hatte grade noch gefehlt. Eden packte Zachary und wies ihn an, vor ihr zu gehen. Auf die Art wäre der Junge vor einer verirrten Kugel geschützt.
Sie rannte jetzt, nur noch darauf achtend, bloß keine der Rosen zu berühren und nicht mehr darauf, wo die anderen waren. Die Gardisten konnten nicht mehr weit vom Beginn des Felds entfernt sein, dachte Eden, als ihr erneut ein Projektil dicht am Kopf vorbeiflog. Zum Glück waren die Flinten des Kaiserreichs auf die Entfernung nicht sehr zielgenau.
Endlich kam das Ende des Felds in Sicht. Die Pflanzen standen hier so weit auseinander, dass sie keine Angst mehr haben musste, aus Versehen auf eine zu treten. Vance wartete bereits dort und winkte sie weiter.
„Kommt schon Leute, schlag da keine Wurzeln. Die Gardisten sehen nicht so aus, als wollten sie nur plaudern.“
Zachary hatte den Kapitän so gut wie erreicht und Eden gestattete es sich, etwas langsamer zu werden und sich über das Feld umzusehen. Sie zählte gut zwei Dutzend Gardisten, die in Formation über die Grasebene vorrückten. Eines musste man den Soldaten des Kaiserreichs lassen. Disziplin hatten sie. Lucien und der Rest der Crew hatten es ebenfalls aus dem dichtesten Teil des Rosenmeeres geschafft und schlossen jetzt rasch zu ihnen auf.
Auf der anderen Seite der Barriere aus, im Wind wogenden Pflanzen, hatten die kaiserlichen Truppen jetzt den Rand des Feldes erreicht. Ohne, das einer der Gardisten langsamer wurde. Eden hielt inne. Die würden doch wohl nicht einfach blind in die Rosen hinein marschieren?
„Alle stehen bleiben.“ Der Zauberer, der sie begleitete winkte mit dem Armen, um die Gardisten auf sich aufmerksam zu machen. Die Soldaten blieben sofort stehen und sahen sich verwirrt nach dem Ordensmagier um.
„Keiner einen Schritt weiter, das ist…“ Der Zauberer erstarrte, als einer der Männer einen letzten stolpernden Schritt nach vorne machte. Eine der Rosen zerbrach unter seinen Füßen und fiel in sich zusammen.
„Alle zurück, sofort.“ Die Warnung des Hexers kam zu spät und das wusste er wohl selber. Trotzdem wichen die übrigen Gardisten ein Stück weit von dem Mann zurück, der die Blume zerstört hatte.
Blütenstaub stieg unter seinen Stiefeln auf und glitzerte einen Moment blau im Sonnenlicht. Der Soldat packte sich plötzlich an die Kehle, als würde er keine Luft mehr bekommen. Dunkle Ränder bildeten sich unter seinen Augen und seine Haut bekam einen aschfahlen Ton. Er stolperte zurück und gab einen erstickten Laut von sich, der wohl ein Hilfeschrei sein sollte. Irgendetwas bewegte sich unter der Haut des Soldaten, dann brach er tot in sich zusammen, als sich ein Strauß blauer Rosen einen Weg durch seinen Körper schuf und ihn praktisch in Stücke riss.
Die Gardisten wichen entsetzt vor ihrem gefallenen Kameraden zurück, der nun lediglich als Nahrung für die Pflanzen diente. Blut lief aus seinen Wunden und die Rosen schienen es geradezu aufzusaugen. Das Blau der Blütenblätter wurde langsam dunkler, bis es einen satten Rotton annahm.
Geister, die Blumen tranken tatsächlich Blut…
Eden sah zu dem Zauberer herüber, der lediglich ratlos das Feld betrachtete und zu Rätseln schien, wie sie herüber gekommen waren. Hoffentlich würde ihnen das eine Weile zu denken geben, dachte Eden.
„Weiter, die werden da nicht ewig herum stehen.“,erinnerte Vance sie und deutete in Richtung der Treppe. Der Aufgang zum Berggipfel war nicht mehr fern….
„Was für ein grausames Ende.“,meinte Lucien kopfschüttelnd. „Wer erschafft so etwas?“
„Jemand, der einen guten Grund hat, etwas zu verstecken, hoffe ich.“,erklärte der Kapitän.
Kapitel 33
Die Treppe
Im Dunkeln konnten sie den Aufstieg über die Treppe nicht wagen. Das musste sogar Vance einsehen, der sich nur schwer in seiner Begeisterung bremsen ließ. Schließlich jedoch, war er einsichtig und hieß sie, ein Lager am Fuß des Aufgangs zu errichten. Feuer wurden entzündet und einige primitive Zelte aufgeschlagen. Das Licht der Flammen, leuchtete als einzige echte Lichtquelle durch die Dunkelheit, die sich über die Insel legte. Lediglich über ihnen zeigten sich einige vereinzelte Sterne am Himmel. Eden stellte fest, dass sie keine einzige der Konstellationen erkannte. Das war nicht nur fremdes Land… es war auch noch ein fremder Himmel. Aber wann war sie das letzte Mal nicht irgendwo… fremd gewesen? Seit ihrer Kindheit nicht mehr.
Von den Gardisten, die sie bis zum Rosenfeld verfolgt hatten, war nichts mehr zu sehen, nachdem die Soldaten erfahren hatten, was geschah, wenn man eine der magischen Wächterblumen beschädigte, waren sie wohl nach wie vor zu verunsichert, um das Feld zu überqueren. Und im Dunkeln würden sie es wohl kaum wagen, dachte Eden. Zumindest bis Morgen früh wären sie sicher, aber dann ginge das Rennen von neuen los.
Wer immer die Festung auf den Berghängen zuerst erreichte, hätte einen Vorteil. Sie würden ihren Vorsprung morgen ausbauen müssen, wenn sie ohne einen Kampf entkommen wollten. Eden sah die steinernen Stufen hinauf.
Der Weg hinauf war mit großen Steinsäulen markiert, die sie schon aus der Ferne gesehen hatten. De Steinstufen waren von Regen und Wind glatt geschliffen worden und sahen nicht so aus, als hätte sie in den letzten Jahrhunderten jemand benutzt. Sie konnten nur hoffen, dass die Stufen unbeschädigt waren.
Eden saß an einem der Feuer, die die Matrosen entzündet hatten und legte noch ein paar kleinere Äste auf die Flammen. Holz war auf dieser Seite der Barriere aus Rosen nur schwer zu finden und sie hatten die meisten kleinen Sträucher, die auf der Ebene wuchsen bereits gefällt.
Die Gejarn sah einen Moment in die Flammen. Irgendwo hallte Lachen durch die Nacht. Offenbar Vance, der sich zu seiner Mannschaft gesellt hatte. Zachary schlief bereits in einem der Zelte, die näher im Zentrum des Lagers aufgebaut waren. Er war hier so sicher, wie auf dieser Insel nur möglich, dachte sie. Es war nicht das erste Mal, das sie darüber nachdachte, was sie tun sollte, wenn das alles vorbei war. Und sie wirklich Erfolg hatten. Einen genauen Plan hatte sie nicht. Aber eines war ihr immer wieder klar geworden. Sie konnte Zachary nicht ewig mit sich durch die Gegend schleppen. So wenig das dem jungen Zauberer auszumachen schien, der Kleine brauchte ein geregeltes Leben. Kein Vagabundendasein. Vielleicht konnte sie eine Schule in einer der Städte finden, die den Zauberer aufnahm. Natürlich gegen ein großzügiges Schmiergeld, um zu verschweigen, wer oder was er war. Aber das alles, setzte natürlich voraus, das sie erst einmal eine Möglichkeit fand, um zu verhindern, dass Zacharys Magie ihn einfach irgendwann umbrachte. Das würde sie noch weniger zulassen, als das der Orden ihn bekam….
Und was würde sie dann tun? , fragte Eden sich. Sie hätte dann endgültig keine Aufgabe mehr. Ein seltsamer Gedanke. Und sie war sich nicht sicher, ob er ihr gefiel. Es war ein zutiefst leeres Gefühl. Keine Schiffe mehr, kein Zachary mehr und auch ansonsten… ein normales Leben.
„Geister, das wäre ja langweilig.“ Ihr war nicht klar, dass sie die Worte laut aussprach. Wie hatte Vance gesagt… es gab Leute, die konnten ihr Leben lang nicht vom Meer Abschied nehmen.
„Langweilig?“, fragte eine Stimme. Die dazugehörigen Schritte näherten sich langsam aus dem Dunkel, aber sie hatte den Mann schon erkannt.
„Vance lässt Euch frei hier herum laufen?“
„Nein, aber er weiß auch, dass er mich nicht einsperren kann.“ Lucien zwinkerte und hielt eine Hand hoch. Ein loses Seilende war darum gewickelt. „Hat mich ganze zehn Minuten gekostet.“
Eden schlug sich mit der Hand vor den Kopf.
„Sicher, dass ich es nicht bereuen werde, Euch weiter mitzuschleppen?“
„Das habe ich nicht gesagt.“
„Ihr habt uns in Lasanta hintergangen.“ Sie war aufgestanden. „Ihr habt uns bestohlen und mich hinter Licht geführt.“
Der kaiserliche Agent kratzte sich am Kopf.
„Das… stimmt wohl. Aber ich habe nie mein Versprechen gebrochen. Es war Tyrus, der Ordensoberste, der einfach die Stadtwache alarmiert hat. Wenn es nach mir gegangen wäre… wärt Ihr völlig unbeschadet aus dem Hafen raus gekommen. Ich bin nicht Euer Feind. Aber ich würde, was immer hier ist, lieber in verantwortungsvollen Händen sehen. Leider ist das der Orden, nicht unbedingt. Nicht, wenn der Kaiser kein Wort mitzureden hat…“ Eden seufzte. Der Mann war das personifizierte Chaos.
„Ich verstehe Euch nicht. Ihr scheint ja wirklich das richtige tun zu wollen, aber… Geister, Ihr hintergeht einfach jeden, wenn es Euch passt, Lucien. Und euch ist egal, wie Ihr das anstellt. Was war das in Lasanta, beispielsweise?“
„Ihr braucht nicht ewig darauf herumhacken. Ja, das war dumm. Alles klar, ich gebe sogar zu, dass ich dem Orden nicht hätte zutrauen dürfen, sich an eine einfache Abmachung zu halten.“
„Das meine ich nicht. Vances Kabine?“
„Oh… der Kuss?“
Eden nickte.
„Das hat verflucht nochmal wehgetan, habt Ihr darüber mal nachgedacht?“
Lucien sah auf.
„Der war schon ernst gemeint.“,meinte er und lächelte schwach. „Ich meine sicher, wir hatten nicht den besten Start, aber…“
„Ihr seid völlig verrückt.“
„Könnte stimmen.“ Lucien lehnte sich vor und drückte seine Lippen auf ihre. Eden schubste den Mann sofort weg, halb darauf gefasst, einen weiteren Pfeil in den Rücken zu bekommen.
„Ich traue Euch genau so weit, wie ich Euch sehen kann.“,erklärte sie aufgebracht. In ihrem Kopf spielte einen Moment alles verrückt.
„Nun Ihr könnt mich sehen, oder?“ Lucien zuckte ratlos mit den Schultern. Die Gejarn antwortete nicht, sondern setzte sich wieder ans Feuer.
„Ihr könnt hier bleiben.“,erwiderte sie, als der kaiserliche Agent sich zum gehen wandte. „Aber ich behalte Euch im Auge.“
Lucien nickte nur und ließ sich ein Stück von ihr entfernt am Feuer nieder. Eine Weile schwiegen beide, jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend. Das würde eine lange Nacht. Sie würde sicher kein Auge zumachen, solange der kaiserliche Agent in der Nähe war.
„Das ist ziemlich dämlich.“,meinte Lucien nach einer Weile.
Eden nickte nur. Sie mochte Lucien vielleicht. Aber sie konnte ihm auch nicht trauen….
Am nächsten Morgen brachen sie bereits auf, bevor die Sonne ganz hinter dem Horizont auftauchte. Der Weg die glatten Stufen hinauf wurde für sie alle schnell zur Gedulds- und Kraftprobe. Anfangs bereitete es kaum Mühe, der Treppe zu folgen. Doch je höher sie kamen, desto tückischer wurde der Pfad. Wasser, das von den Felsen über ihnen herunterlief, machte die Stufen rutschig. Und je höher sie kamen, desto kälter wurde es auch. Die Temperaturen fielen schnell tiefer, als das irgendjemandem lieb war und aus dem Wasser auf den Stufen, wurde zunehmend Eis. Damit wurde jeder Schritt zum reinen Balanceakt. Wenn die antike Treppe einmal ein Geländer oder ähnliches besessen hatte, so war davon nichts Erkennbares geblieben. Und so gab es auch keinerlei Absicherung, sollte jemand ausrutschen. Auf ihrer rechten Seite erhoben sich die Felswände zum Himmel und auf der linken ging es haltlos in die Tiefe. Eden konnte mittlerweile die ganze Insel überblicken. Die blauen Tupfer der Rosengärten, wirkten auf die Entfernung tatsächlich ein wenig wie Wasser. Sie fand ihre Vermutung bestätigt. Die Blumenfelder verliefen einmal in einem perfekten Kreis um den Berg herum. Es war eine Befestigungsanlage. Aber eine, zu der es nichts Vergleichbares, in der ganzen bekannten Welt gab. Welches Heer würde vermuten, dass die seltsamen blauen Rosen, für seine Soldaten den sicheren Tod bedeutete, sollten sie hineinlaufen? Es war… heimtückisch und auf eine faszinierende Art elegant. Hinter den Rosenbeeten wiederum, zeichneten sich der Wald und die darin verborgen liegenden Ruinenstädte ab. Eden konnte die Lichtungen sehen, die die alten Bauwerke hinterließen. Es gab sie praktisch überall. Die ganze Insel muss einmal dicht besiedelt gewesen sein, dachte sie. Aber jetzt waren nur noch die Hüllen geblieben. Ein trauriger Anblick.
„Trotz all seiner Macht, war das alte Volk einer Gefahr schutzlos ausgeliefert.“,meinte Vance seltsam melancholisch für seine sonstige Art. „Ihrem eigenen Hochmut. Sie müssen sich für Unbezwingbar gehalten haben….“
„Unbezwingbar, Unsterblich und Allmächtig.“, fügte Lucien hinzu. „Und sie waren wirklich nahe an allen drei dran. Trotzdem hat etwas, sie alle restlos vernichtet.“
„Solange sie ihr Gold und ihre Artefakte zurück gelassen haben….“, erklärte Vance wieder ganz im alten Tonfall.
„Ich glaube, es geht hier um mehr, als nur ein paar magisch aufgeladene Edelsteine.“, warf Zachary ein. Der junge Magier hielt bisher mit ihnen mit, atmete aber bereits schwer.
„Um was dann?“, wollte Eden wissen.
„Wissen. Der Orden ist vor allem hinter jeder Art von Aufzeichnungen her, die es hier geben könnte. Wir wissen fast nichts über die Magie des allen Volkes. Darüber haben sie keine in Stein gemeißelten Anweisungen hinterlassen. Und sämtliches Pergament, ist nach den Äonen längst verrottet. Aber dort oben… wenn dieser Ort wirklich noch intakt ist, sind es die Schriften vielleicht auch.“
Vance lachte. Das Geräusch schallte bedrohlich von den Felsen wieder und brachte die Luft zum klirren.
„Den Papierkram kann der Orden, meinetwegen sogar geschenkt haben. Daran habe ich kein Interesse.“
„Irgendwie wusste ich, dass Ihr das sagt.“, bemerkte die Gejarn. „Aber sagtet Ihr nicht, Ihr wollt genau das vermeiden?“
Lucien nickte.
„Der einzige Grund, aus dem der Kaiser noch die Kontrolle über dem Orden hat ist, dass dieser zu schwach ist, sich der gesammelten Macht des Reiches zu stellen. Es herrscht ein einvernehmlicher Frieden, aber wenn der Orden jetzt sehr viel mehr Macht bekäme, könnte sich das ändern.“
„Ihr wollt die Schriften also für den Kaiser, aber nicht für den Orden.“
„Und da ich sie nicht zum Kaiser bringen kann, seid ihr meine zweitbeste Option.“
Vance schüttelte den Kopf.
„Großartig. Hört ihr das Eden? Wir sind zweite Wahl.“
Mittlerweile hatte es angefangen zu schneien. Eiszapfen hingen von den Felswänden herab und erstarrte Wasserläufe machten den Pfad noch gefährlicher.
Ich hatte eigentlich gehofft, so was nie wieder zu erleben, dachte Eden, als sie an eine Stelle kamen, wo die vereisten Wände, die Treppe auf einen schmalen Sims reduziert hatten. Der einzige Weg hinüber wäre, die steile Bergwand hinauf zu klettern… oder sich an dem Block aus Eis vorbeizuzwängen.
Vance besah sich das Dilemma einen Moment.
„Ich glaube es ist zu schaffen.“,meinte er. „Wie bei den Rosen, einfach einer nach dem anderen und mit viel Abstand…“
Mit diesen Worten setzte sich der Kapitän selbst wieder an ihre Spitze und trat auf den schmalen Felsvorsprung hinaus. Sich mit den Händen an der mit Eis überzogenen Wand entlang hangelnd, stieg er die Stufen hinauf. Eden folgte als nächste und sah besorgt zu Zachary. Der Junge machte sich jedoch völlig selbstsicher auf den Weg und holte sogar zu ihr auf. Er würde es schaffen, sagte sie sich. Und natürlich würde er das. Zachary war und blieb ein Magier. Er hatte einfach ein Gespür für so etwas.
Eden kletterte weiter und schloss bis zu Vance auf. Sie hatten das Ende des Vorsprungs fast erreicht, als der Kapitän plötzlich ins Stolpern geriet. Eden packte ihn am Kragen und riss ihn zurück auf die Füße. Nur das sie dabei selber fast aus dem Gleichgewicht geriet. Einen Moment schwankten beide, bis Eden ihre Balance wiederfand.
„Danke…“, meinte Vance mit kreideweißem Gesicht. „Das war knapp… zu knapp für meinen Geschmack.“
„Sehen wir nur zu, das wir hier runter kommen.“, erklärte sie ruhig. „Nur das zählt.“
Der Kapitän nickte und setzte sich unelegant wieder in Bewegung. Endlich verschwand er um das Ende des Eisblocks und Eden folgte ihm wenige Augenblicke später. Vance war stehen geblieben, wie sie feststellte. Und sobald die Gejarn den Blick hob, wusste sie auch wieso.
Sie waren am Ziel. Und was da vor ihnen lag….
War mehr, als sie erwartet hatte.
Lucien folgte mit Zachary hinter ihnen.
„Hey, was steht ihr denn wie angewurzelt…“ Der Agent verstummte, als er ebenfalls erkannte, wo sie sich befanden.
„Also das ist Beeindruckend.“
Kapitel 34
Die Schatzkammer
Wüsste Eden es nicht besser, sie wäre davon ausgegangen, dass dieser Ort erst vor wenigen Stunden verlassen worden war. Schnee hatte sich auf den Dächern der zum Himmel ragenden Bauwerke gemacht. Geschliffener Grauer und schwarzer Stein, der wie direkt aus dem Berg geschlagen schien. Aber mit einer Präzision, die sie keinem Werkzeug zugetraut hätte. Die Oberfläche des Steins war glatt wie ein Spiegel. Zwei hoch aufragende, rechteckige Türme markierten den Eingang zur Stadt. Verbunden über ein flaches Dach formten sie ein gewaltiges Tor. Die Treppe, der sie hinauf gefolgt waren, endete direkt davor.
Zerrissene Banner, wohl von der Kälte konserviert, wehten von den Bollwerken herab. Die Farbe war längst völlig verblichen und Eden könnte nur raten, was sie einmal dargestellt hatten.
Statt der Stufen, führte ein gepflasterter Weg, weiter durch das Portal. Verschlungene Ornamente zierten die Gebäude, die sich an den Rändern der Straße erhoben. Schnee hatte sich auf den Dächern gesammelt und bildete einen starken Kontrast zum schwarzen Stein der Häuser. Leere Fenster starrten ihnen hinterher, wo immer sie auch hingingen. Einst musste dieser Ort, wie die Siedlungen in der Ebene, vor Leben übergelaufen sein. Bis auf das Heulen des Windes war es nun jedoch gespenstisch still in der toten Stadt.
Weitere Statuen zierten die Eingänge der Gebäude, manche mit Edelsteinen besetzt, andere lediglich aus weißem Marmor gefertigt.
Eden warnte Vance und die anderen, keinen der Steine zu berühren, bevor Zachary sie nicht überprüft hatte. Eine weitere Falle konnten sie nicht gebrauchen. Der junge Magier jedoch war recht zuversichtlich, dass die Juwelen hier oben keine Zauber mehr auslösen würden. Und die Gejarn verstand auch warum. Das hier war, was niemand hätte je erreichen sollen. Das Herz der letzten Zuflucht des alten Volkes….
Wie Vance gesagt hatte, Hochmut war etwas, vor dem auch das alte Volk nicht gefeit gewesen war. Sie hatten zu sehr auf ihre äußeren Verteidigungswerke vertraut. Befestigungsanlagen, die nun seit Äonen in Trümmern lagen. Und Zauber, denen bis auf einige Ausnahmen, lange jede Kraft abhanden gekommen war. Was sie hier sahen, war nach wie vor nur eine Hülle der einstigen Pracht, die diesen Ort beherrscht hatte. Die große Straße, der sie folgten fächerte sich zwischen den Häusern in Dutzende kleinere Gassen auf, aber Vance wollte sich nicht damit aufhalten. Der Hauptweg musste irgendwo hin führen und es würde eine Ewigkeit dauern, die komplette Stadt abzusuchen. Nach einer Weile stieg der Weg an einer Mauer entlangführend, an. Vereinzelte Stufen führten in Serpentinen herauf durch immer weitläufiger Bauwerke, Säulengänge und lange abgestorbene Gärten. Wie man hier oben überhaupt etwas hatte anpflanzen können, entzog sich Edens Verständnis. Magie schien die einzige Antwort, aber das man eine solche Macht für so etwas Alltägliches wie Gartenarbeit verwenden könnte… Ein derart leichtfertiger Umgang mit Zauberei war erschreckend.
Die Hauptstraße wurde noch ein Stück steiler, als die Stadt hinter ihnen zurück blieb. Die Gebäude lagen allesamt auf einem großen Felsvorsprung an der Bergflanke, wie Eden beim zurückblicken erkannte. Eine bogenförmige Mauer umlief den kompletten Komplex. Weitere Türme aus spiegelglatt poliertem Fels, schimmerten im schwachen Licht der Sonne. Schneewolken waren aufgezogen und blockierten den Großteil des Lichts.
Vor ihnen erhob sich nun ein weiteres Gebäude. Der ansteigende Weg endete auf einem großen, mit Steinplatten ausgekleideten Platz, direkt vor der Felswand, die hinauf zum Berggipfel führen würde. Zerfallene und intakte Säulen umliefen die Anlage, in einem breiten Bogen. Und in der Mitte des Platzes, stand eine weitere Statue. Diese war nicht aus Marmor wie die anderen, über die sie gestolpert waren, sondern aus dem gleichen dunklen Stein wie die Stadt und der Berg.
Offenbar stellte es diesmal auch keinen Gelehrten dar, wie die übrigen, sondern einen Krieger in voller Rüstung. Die Hände auf den Griff eines mit steinernen Ornamenten verzierten Schwerts gestützt, starrte die Gestalt scheinbar ins Nichts. Über die Stadt und das Meer hinweg nach Osten.
Eden und die anderen ließen das Standbild hinter sich. Was am anderen Ende des Platzes aufragte, sagte ihnen endgültig, dass sie am Ziel waren. Zwei zweiflüglige Tore waren direkt in den Berg eingelassen worden. Beide Durchgänge waren aus massivem Metall, das goldfarben in den vereinzelten Sonnenstrahlen glitzerte. Bronze… oder vergoldeter Stahl. Aber es konnte unmöglich sein, wonach es aussah. Nicht einmal das alte Volk, würde eine Tür aus reinem Gold errichten, oder? Die Windrufer hätte, ohne Schwierigkeiten, durch eines der Portale gepasst, dachte Eden fasziniert.
Blau glühende Kristalle waren in einem scheinbar wahllosen Muster, in die mit Symbolen überzogene Oberfläche der Tore eingelassen. Ein magisches Schloss, dachte sie kurz. Oder zumindest etwas in der Art, denn von hier draußen gab es scheinbar keine Möglichkeit, den Durchgang zu öffnen. Nur in der schmalen Felsnische zwischen den beiden Pforten war eine Aussparung im Stein eingelassen, die stark an eine Hand erinnerte.
„Deutlicher hätten sie es kaum machen können.“, meinte Vance, nachdem er sich das Hindernis ebenfalls angesehen hatte.
„Meldet ihr euch freiwillig?“ , wollte Lucien wissen.
„Ich persönlich werd meine Hand nicht mal in die Nähe von dem Ding legen.“
„Das wird auch nicht nötig sein.“, antwortete der Kapitän. „Ich wage zu bezweifeln, dass es einfach nur reicht, wenn einer von uns den Stein berührt. Wenn das ein Schutzmechanismus ist… ist er auf das alte Volk ausgelegt.“
„Und die sind alle tot.“ , schloss der kaiserliche Agent. „Bis auf….“
„Bis auf die Magier.“, schloss Eden. Und ihr gefiel diese Antwort gar nicht.
„Genau das. Die Zauberer Cantons tragen, als einzige einen kleinen Teil des Blutes, des alten Volkes in sich.“ Vance sah in Richtung Zachary.
„Nein, das könnt Ihr gleich vergessen.“, erklärte die Gejarn sofort.
„Es ist nur ein Felsen….“
„Wir haben keine Ahnung, was das auslöst. Oder wie. Es ist nach wie vor Magie, und wenn es nur ein Stein ist, das hält es nicht davon ab, gefährlich zu sein. Zwischen dem alten Volk und den Magiern liegen was? Ein paar hundert Generationen? Wer sagt denn, dass das Ding da, Zachary erkennt und nicht… umbringt?“
Vance seufzte.
„Hört zu, mir gefällt das noch weniger. Aber jetzt einfach zurückgehen heißt, dass wir uns garantiert mit dem Kaiserreich herum ärgern müssen. Wir…“ Vance kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden, denn in diesem Moment bebte die Erde erneut. Doch diesmal war nicht die Insel daran schuld. Sondern die seit Ewigkeiten verschlossenen, goldenen Tore. Mit einem knarrenden Geräusch, schwangen sie beinahe im Zeitlupentempo auf. Die glühenden Kristalle auf ihrer Oberfläche leuchteten einen Moment noch stärker auf, als wäre der Zauber, der sie öffnete nach all den Jahren schlicht eingerostet.
Zachary grinste breit, eine Hand auf den Felsen mit der Aussparung gelegt.
„Ihr hättet mich einfach fragen können, ob ich es tun will.“, meinte er und klang beinahe wütend auf sie.
„Ahnen, tu so was einfach nie wieder, Kleiner, mein Herz wollte sich grade verabschieden.“, rief Vance.
Eden trat zu dem Jungen, der nach wie vor an den nun offenen Toren wartete.
„Du… hast ja recht.“ Dass sie das vermutlich nie zugelassen hätte, würde sie ihm nicht sagen. „Aber warn uns das nächste Mal einfach.“
Zachary nickte, während Vance in einen der offenen Eingänge spähte. Es war stockdunkel auf der anderen Seite. Die paar Meter weit, die sie sehen konnten, gaben den Blick frei auf einen einzigen Tunnel aus glatt geschliffenem Stein. Es war beinahe so, als hätte jemand präzise ein rechteckiges Stück aus dem Berg geschnitten. Man konnte die verschiedenen Gesteinsschichten und Quarzadern glitzern sehen. Und der Boden spiegelte, wie die Türme im Tal, alles wieder. Eben genau wie ein Spiegel. Entweder waren Generationen daran gewesen, die Wände und Böden zu polieren oder sie hatten es erneut mit dem Ergebnis von Magie zu tun.
Rasch zog der Kapitän eine Fackel aus seinem Rucksack und entzündete sie. Unschlüssig blieb er einen Moment stehen.
„Sagt bloß, Ihr wollt jetzt einen Rückzieher machen?“, fragte Eden.
Vance schüttelte den Kopf.
„Nein. Aber das ist, wofür ich über ein Jahrzehnt lang geplant habe, Eden. Und was immer wir jetzt auch hier finden… es war die Reise jetzt schon wert.“
„Das sind ja völlig neue Töne von Euch.“
Er lachte.
„Glaubt nicht, ich wüsste nicht, was Ehrfurcht ist. Aber ich empfinde sie äußerst selten. Kommt. Entweder hier ist etwas, oder wir schnappen uns die restlichen Edelsteine aus der Stadt.“
Der Weg durch die Gänge war überraschend lang. Die Flammen der Fackel wurden von den Wänden reflektiert und ließen die Minerale in den Felsen glitzern. Und obwohl über ihren Köpfen eine unglaubliche Last auf dem Weg lasten musste, kam kein bedrückendes Gefühl auf. Nur die Dunkelheit machte den anderen zu schaffen. Eden konnte sich besser orientieren, aber trotzdem blieb ungewiss, was vor ihnen lag. Der Gang beschrieb einen leichten Bogen und führte kaum merklich abwärts. Eden glaubte schon, der Weg würde nie enden, als der Boden unter ihren Füßen schließlich nur noch geradeaus ging. Der Lichtkreis der Fackel reichte nicht mehr aus, um den gesamten Raum um sie herum, zu erleuchten. Nur die Treppenstufen, die ein letztes Stück nach unten führten. Irgendwo außerhalb ihres Sichtbereichs glitzerte etwas. Vance mache einen letzten Schritt nach vorne und im gleichen Moment, wurden sie alle geblendet. Dutzende Kristalle auf mannshohen Steinsäulen leuchteten auf und offenbarten, was vor ihnen lag. Hinter ihnen führte eine breite Treppe hinauf zum Gang, aus dem sie grade gekommen waren. Und vor ihnen lag eine gewaltige Halle. Säulen, so groß wie Häuser trugen die Decke des Raumes, der irgendwo im Dunkeln verschwand. Das bläuliche Licht der Steine spiegelte sich auf dem Boden wieder… und nicht nur auf dem Boden, wie Eden klar wurde, als sie sich staunend umsah. Auf den ersten Blick erinnerte der Raum an einen Thronsaal. Die Säulen verliefen in grader Linie auf einen Thron am anderen Ende der Halle zu. Ein ausgebleichtes, rotes Polster bedeckte den goldenen Sitz. Darauf wiederum saß ein Skelett und blickte mit leeren Augen ins Nichts. Eine schwere Krone saß auf dem knöchernen Haupt und war halb über den Schädel gerutscht, nachdem von ihrem Besitzer nicht mehr geblieben war. Eine Unzahl Edelsteine funkelten in dem Schmuckstück. Und doch, war es nur der Anfang und lange nicht der prächtigste Gegenstand im Saal. Zwischen und hinter den Säulen und selbst auf dem Weg zum Thron stapelten sich Artefakte und Schätze, die das Licht der magischen Kristalle einfingen. In einer Nische stapelten sich Münzen, so groß wie ihre beiden Handflächen, bis auf Kopfhöhe. Dahinter leuchtete eine Unzahl bunter Juwelen.
In einer anderen Ecke waren Schriftrollen in Lederhüllen zusammengestellt worden. Dazu fanden sich Steintafeln und Eden unbekannte, klare Steine, in deren Oberfläche schwarze Buchstaben geritzt waren. Worte für die Ewigkeit, solange der entsprechende Stein nicht zerstört wurde. Das musste sein, was der Orden suchte, dachte sie.
Vergoldete Gebrauchsgegenstände nahmen eine weitere Wand ein. Die Objekte waren in brüchiges, rotes Leinen geschlagen, um sie zu schützen. Becher, Kelche, Schwerter, Dolche , Köcher mit Pfauenfedern versehenen, Pfeilen und Essbesteck. Alles war derart mit Edelsteinen überkrustet, das es kaum zu mehr als Zierrat dienen konnte. Andere waren eleganter. Schmuck und Waffen, in die nur wenige Steine eingelassen waren. Blau glühend und definitiv magischer Natur. So unscheinbar sie wirkten, das waren die eigentlichen Schätze unter all den Reichtümern. Magie des alten Volkes, in jeder Form, war beinahe unbezahlbar. Und hier stapelte sie sich bis unter die Decke.
Eden zog einen der leuchtenden Kristalle aus dem Stapel. Obwohl es kühl, wenn auch nicht mehr eiskalt, in der Halle war, war der Stein überraschend warm. Sie legte das Juwel zurück und sah sich zusammen mit den anderen weiter um.
Vance war der erste, der seine Sprache wiederfand.
„Das alte Volk muss alles, was es aus Canton retten konnte, hierher gebracht haben.“
Die Gejarn nickte nur stumm. Sie waren am Ziel. Mehr als das… mit einem einzigen Stück aus dieser Sammlung, hätte sie für alle Ewigkeit ausgesorgt. Und ihr stand deutlich mehr zu, wenn Vance sein Wort hielt. Der Kapitän strahlte, als hätte ihm jemand einen Wunsch erfüllt. Und genauer gesehen stimmte das wohl auch. Blieb nur noch die Frage, wie sie das alles hier heraus schaffen sollten.
Kapitel 35
Gefangen
Vance versetzte dem Skelett auf dem Thron einen Stoß. Die Knochen rutschten polternd beiseite und verteilten sich über den Boden. Ein Geräusch, dass sie alle zusammenzucken ließ. Als Eden sich zu dem Kapitän umdrehte, hatte er bereits die Krone auf dem Kopf und lies sich auf den nun freien Thron nieder.
„Ich bin der glücklichste Mensch der Welt, Eden.“, meinte er und lachte laut. Die Gejarn stimmte einfach mit ein.
„Wir würden Tage brauchen um das hier alles rauszubringen.“, gab sie schließlich zu bedenken. „Zeit, die wir nicht haben. Wir machen uns die Taschen und Rucksäcke voll und verschwinden dann hier, bevor der Orden auftaucht. Aufgeteilt wird alles auf der Windrufer.“ Überall im Saal hatten Vance Piraten bereits damit begonnen, verschiedene Teile des Schatzes nach den wertvollsten oder schönsten Stücken zu durchsuchen.
Der ganze Saal schimmerte sanft im Licht, das von Gold und Juwelen reflektiert wurde.
Nach wie vor war es ein Anblick, der einen schlicht sprachlos machte.
„Klingt nach einem Plan.“
„Sicher, aber die Jungs werden die Hälfte erst mal verstecken, da kenn ich sie gut genug. Egal… das hier ist mehr als genug für Tausend von uns.“ Eden wanderte zwischen den aufgestapelten Schätzen hindurch. Sie wollte sich nicht mit Kunstgegenständen abmühen, auch wenn diese sicher mehr wert waren. Stattdessen ließ sie nur einige Goldmünzen in ihren Taschen verschwinden. Die Prägung sagte ihr nicht viel. Die offiziellen Münzen des Kaiserreichs zeigten alle das Doppelbanner des Reichs, im Gegensatz dazu waren diese hier praktisch blank. Nur ein einziges verschlungenes Schriftzeichen war auf Rück- und Vorderseite geprägt. Die Münzen waren so schwer, dass sie vermutlich selbst die vom Kaiser ausgegebenen, reinen Goldmünzen verblassen ließen. Und davon war schon jede einen ganzen Bauernhof wert.
Zachary sah sich, nach wie vor, mit leuchtenden Augen um und hob nur hier und da mal einen Gegenstand auf, um ihn näher zu betrachten. Eden grinste unwillkürlich. Es war tatsächlich so gut wie geschafft.
Während sie noch nach einigen weiteren Münzen griff, lag auf einmal der Geruch von Rauch in der Luft. Was war jetzt los? Die Gejarn wirbelte herum und sah grade noch, wie ein Teil der aufgestapelten Schriftrollen in Flammen aufging. Lucien zog sofort einen weiteren Feuerkristall aus der Tasche und trat zum nächsten.
„Was bei allen Geistern, tut Ihr da?“
„Weswegen ich hier bin.“, erklärte der kaiserliche Agent schlicht und warf den zweiten brennenden Stein in die Papiere. Die Schriften brannten, nach all den Jahrhunderten in ihrer Gruft, wie Zunder und fast ohne Rauch. Lucien schenkte ihnen keine Beachtung, sondern trat sofort an die nächste Wand mit Aufzeichnungen heran.
„Ihr könnt doch hier drinnen kein Feuer legen.“, rief Vance.
„Ich kann die ganzen Papiere, aber auch schlecht erst nach draußen schaffen. Beeilt Euch eben ein bisschen, wenn es euch zu warm wird. Gold brennt nicht. Und der Raum ist groß genug.“ Als er den vierten und letzten Stapel mit Aufzeichnungen erreichte, war der erste bereits zu Asche zerfallen. Bevor er jedoch dazu kam, das Feuer zu entzünden, wurde er durch Schritte unterbrochen. Jeder im Thronsaal hielt in der Bewegung inne.
„Das ist nicht gut….“
Eden lauschte wieder. Da waren tatsächlich Schritte. Schwere Militärstiefel auf blankem Fels, die sich rasch in ihre Richtung bewegten. Verdammt… es gab nur den einen Ausgang.
„Sieh mal einer an, Gäste.“ Vance stand von seinem Platz auf dem Thron auf.
„Na los Leute, etwas Bewegung. Sieht aus, als könnten wir den Orden doch noch willkommen heißen.“ Noch während er sprach, hechteten die ersten Gardisten die Stufen hinab in die Schatzkammer und wurden von einer Kugelsalve aus den Pistolen der Matrosen begrüßt. Einer der Uniformierten wurde getroffen. Blutige Flecken blühten auf seiner Kleidung auf, bevor er zusammenbrach.
Die übrigen Männer warfen sich, hinter den Säulen beim Eingang in Deckung und erwiderten das Feuer. Weitere folgten ihren Kameraden in schnellem Schritt. Eden verlor rasch die Übersicht, wie viele Gardisten es genau waren. Zu viele, meinte eine leise Stimme in ihrem Kopf. Und dann blieb ihr auch schon keine Zeit mehr, sich darüber Gedanken zu machen.
Schüsse hallten durch den steinernen Saal. Das Echo der Gewehre und Pistolen wurde von den Wänden zurückgeworfen und erzeugte eine Geräuschkulisse, als tobe eine ausgewachsene Schlacht, zwischen zwei Armeen. Es gab kaum Deckung, von den Goldstapeln einmal abgesehen und so waren die Piraten um Vance schnell gezwungen, zurückzuweichen. Eden duckte sich selber hinter eine der tragenden Steinsäulen.
Eine Kugel schlug direkt neben ihr, mehrere Splitter aus dem Fels. Das Schrapnell hinterließen einige blutige Striemen auf ihrem Gesicht, aber sie schenkte dem kaum Beachtung. Rasch lehnte die Gejarn sich aus der Deckung und zielte auf den Schützen. Dieser bemerkte zu spät, dass er nicht mehr rechtzeitig weg kam. Eden drückte ab und das Projektil traf den Soldaten direkt in die Brust.
Neben ihr sprang einer von Vance Piraten vor und stürzte sich auf einen Gardisten, der sich zu weit in die Halle vorgewagt hatte. Mit einem raschen Säbelhieb, erledigte er den Mann und war schon drauf und dran, sich dem nächsten Gegner zuzuwenden, als ihn plötzlich ein Lichtblitz traf. Der Energiebolzen brannte sich einmal durch den Oberkörper des Mannes und trat am Rücken wieder aus. Zusammen mit weiteren Gardisten trat ein, in türkisfarbene Roben gekleideter Mann, auf die Stufen hinaus. Zauberer… Eden lies die Pistole fallen und zog eine zweite. Wenn sie den Mann erledigte, bevor er weiteren Schaden anrichtete, hatten sie eine Chance. Im gleichen Moment, wo sie auf den Ordensmagier anlegte, drehte dieser den Kopf in ihre Richtung. Die Gejarn schoss und hoffte das Beste. Im gleichen Moment machte der Mann eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. Eden hörte nur noch, wie die Kugel als Querschläger irgendwo gegen die Wand schlug. Zusätzlich loderte nun Feuer in den Handflächen des Zauberers auf. Die zwei Flammen schlugen hoch in Richtung Decke, bevor sie sich vereinigte und auf ihr Versteck zu jagten.
Verflucht… die Gejarn ließ die Waffe fallen und warf sich beiseite, während das magische Feuer die Säule einhüllte. Kugeln flogen ihr um die Ohren, als sie weiter in den Raum zurückwich. Weg von dem Magier und den immer noch nachrückenden Gardisten.
Geister, wie viele von denen gab es denn? Ein Soldat stürzte sich mit gezogenem Schwert auf sie. Eden wich zurück und parierte den Schlag. Die Zeiten, als sie sich vor einem Kampf gefürchtet hätte, waren vorbei. Stattdessen setzte sie sofort nach, bevor der Mann noch reagieren konnte und versenkte die Klinge unter seiner Achsel. Eine Drehung und er brach zusammen wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte. An seiner Stelle, rückten jedoch sofort weitere Gardisten nach.
Das war sinnlos, dachte die Gejarn einen Moment. Viel Platz zum zurückweichen blieb ihnen nicht mehr. Vance tauchte neben ihr auf und suchte jetzt ebenfalls den Nahkampf mit den Gardisten. Sie hatten ihr Pulver verschossen und jetzt würde der Kampf auf die klassische Art ausgetragen. Nur den kaiserlichen Soldaten mangelte es nicht an Munition, wie Eden schmerzhaft feststellen musste. Sie sah den Schützen nie. Doch während sie noch versuchte, irgendwie den Gardisten wieder etwas Boden abzugewinnen, fraß sich plötzlich ein brennender Schmerz durch ihre Seite. Sie zuckte zusammen und wurde rasch von den anderen, zurück hinter ihre Reihen gezogen. Eine Hand auf die Wunde über ihrer Hüfte gelegt, wich sie bis hinter den Thron zurück. Der würde wenigstens etwas Deckung vor weiteren Geschossen liefern. Zachary ließ sich an ihrer Seite nieder, sobald sie sich in die sicheren Schatten fallen ließ. Sie musste dem Jungen zumindest anerkennen, das er kaum Angst zeigte. Trotz der kleinen Schlacht, die um sie herum tobte. Als Eden die Hand von der Wunde nahm, war sie rot gefärbt.
„Na wenigstens ein glatter Durchschuss.“, murmelte sie. „Besser als mit einer Bleikugel im Körper herumzulaufen.“
„Du gehst besser grade nirgendwo hin.“, erwiderte Zachary.
Eden lachte.
„Guter Ratschlag. Ich komm schon klar aber, sieh zu, ob Du den anderen helfen kannst. Und… pass auf Dich auf.“
Der Junge nickte.
„Du auch.“
Eden lehnte sich gegen die Rückseite des Throns. Die Wunde war nicht tief, aber schmerzhaft. Und der Schlachtlärm im Hintergrund trug auch nicht grade dazu bei, dass es ihr besser ging. Sie hatten auf Dauer keine Chance, sich zu halten, wie ihr zunehmend bewusst wurde. Nicht mit den ganzen Gardisten und zusätzlich noch mindestens einem Magier des Ordens. Sie zog sich an der Lehne des vergoldeten Sitzes hinauf und sah über die Halle hinweg.
Vance Stimme schnitt durch das Orchester von Stahl und Flinten.
„Alle zurück.“ Der Kapitän winkte seinen Leuten mit dem Schwert, zurückzuweichen, während die Gardisten weiter nachsetzten.
Ein gutes Dutzend kaiserliche Soldaten waren tot, auf den Stufen die in die Halle führten, zurück geblieben. Weitere uniformierte Körper lagen auf dem Boden der Schatzkammer verstreut. Aber nicht ohne Preis. Auch auf ihrer Seite gab es Verluste. Mindestens zehn Matrosen, waren hinter Goldhaufen oder Säulen zusammengesunken. Die Überlebenden, wurden von den Gardisten immer mehr in die Zange genommen.
Eden konnte sehen, wie Vance einen Moment die Augen schloss. Dem Kapitän musste klar sein, wie aussichtslos ihre Situation war. Auf offenem Feld hätten sie sich zurückziehen oder wenigstens neu formieren können. Doch hier unter Tage und mit dem Rücken zur Wand….
Sie konnte es in seinem Blick sehen, als er die Augen wieder aufschlug. Diese Runde ging an den Orden und das Kaiserreich. Vance breitete die Arme aus und ließ die Waffen fallen.
„Wir ergeben uns.“, rief Vance über den Schlachtlärm in der Halle hinweg. Bevor seine Worte noch ganz verklungen waren, zuckte er plötzlich zusammen. Mehrere Kugeln trafen ihn ins Bein und einige streiften seinen Oberkörper. Der Kapitän der Windrufer schwankte, bevor ihn der verletzte Fuß nicht mehr tragen wollte und er sank in sich zusammen.
Langsam verhallte das Gewehrfeuer. Einer nach dem anderen warfen die Piraten die Schwerter weg.
Eden duckte sich wieder hinter ihr zweifelhaftes Versteck. Es war vorbei… sie wollte aufstehen, stellte aber fest, dass ihre eigenen Füße, sie kaum tragen würden. Blutverlust und allgemeine Erschöpfung, forderten langsam ihren Preis. So zog sie sich einfach wieder an den Rand des Throns und spähte nach draußen.
Die Gardisten strömten weiter in die Halle und umstellten die Überlebenden von Vance Piraten. Der in Türkis gekleidete Zauberer, trat scheinbar unbeeindruckt, zwischen den Soldaten hindurch. Sein Blick streifte die aufgestapelten Goldschätze nur und blieb schließlich bei den verkohlten Überresten der Schriftrollen hängen.
„Wer von euch war das?“, wollte er wissen und trat auf Vance zu, der sich auf die Schulter eines Matrosen stützen musste. Die Schussverletzungen im Bein machten dem Kapitän offenbar schwer zu schaffen.
„Da könnt Ihr gerne Euren…“ Vance kam nicht dazu, den Satz zu beenden, als Lucien hinter einer der Säulen hervortrat. Jetzt wo sie ihn sah, wurde Eden klar, dass sie ihn während der ganzen Kampfhandlungen nirgends gesehen hatte. Hatte er etwa einfach abgewartet, wie das Ganze ausging?
„Das ist doch unwichtig.“, meinte der kaiserliche Agent. „Es war meine Schuld. Ich wollte sie daran hindern, aber… das ist mir nicht gelungen. Doch dann seid Ihr ja aufgetaucht.“ Er trat auf den verbliebenen Stapel mit Aufzeichnungen zu. „Und ein paar Stücke haben wir ja gerettet nicht?“
„Sicher…“ Der Zauberer trat auf einen der Soldaten zu und riss ihm das Gewehr aus der Hand. Bevor jemand reagiere konnte, hatte er auf den Mann angelegt, der Vance stützte und drückte ab. Der Mann wurde von den Füßen gerissen und Vance stürzte zu Boden. „Das ist für die Aufzeichnungen. Seid froh… sobald wir euch nach Canton zurück bringen, werdet ihr alle ohnehin am Galgen enden. Packt die Schriftrollen ein und… schafft mir dieses Pack aus den Augen.“
Einer der Gardisten salutierte kurz.
„Ja, Herr.“
Eden konnte nur zusehen, wie die Soldaten die Aufzeichnungen zusammen packten und Vance samt Crew aus dem Raum trieben. Zachary sah einen Moment zu ihr zurück. Ihre Blicke trafen sich und die Gejarn konnte die Magie hinter den Augen des jungen Zauberers sehen.
Mach nichts Dummes, dachte sie und hoffte gegen alle Umstände, dass er verstand.
Zachary nickte lediglich, ein schwaches Lächeln auf den Lippen.
„Ich komme Euch holen. Euch alle.“ , murmelte Eden. Sie wusste nicht wie. Sie wusste nicht einmal, ob sie selber überlebte. Aber sie würde es versuchen.
Kapitel 36
Befreiungsaktion
Eden musste warten, bis auch der letzte Gardist schließlich aus der Höhle verschwand. Die Zeit bis dahin wurde schnell lang und das einzige, was sie noch am einschlafen hinderte, war ihre Angst, nicht wieder aufzuwachen. Die Schusswunde blutete nicht mehr so stark wie zuvor, sie wusste jedoch nicht, ob das gut oder schlecht war.
Das einzige, was die kaiserlichen Soldaten daran hinderte, sie hinter dem verlassenen Thron zu entdecken war, dass sie sich nicht großartig in der Kammer umsahen. Und das Lucien nicht verraten hatte, das sie noch fehlte. Der kaiserliche Agent hatte die Gefangenen mit den ersten Dutzend Gardisten begleitet.
Der Zauberer, der die Gardisten befehligte, war seinerseits wiederum viel zu sehr damit beschäftigt, dazu anzutreiben, die verbliebenen Schriftrollen zusammenzutragen. Mehr als eines der uralten Dokumente zerfiel schlicht zu Staub, sobald es jemand anrührte, oder zerbröselte einfach. Trotzdem blieben nach wie vor eine Menge Bündel mit Pergamenten übrig, die vorsichtig verstaut und aus dem Raum gebracht wurden. Als endlich keine Aufzeichnungen mehr übrig waren, warf der Mann vom Sangius-Orden einen letzten Blick in den Raum und befahl dann allen, sich nach draußen zurückzuziehen. Eden atmete auf, nachdem die Schritte auf den glatten Steinböden verstummt waren. Das einzige Geräusch, das zurück blieb, war das leise Summen der leuchtenden Kristalle und ihr eigener Herzschlag, der ihr plötzlich viel zu laut vorkam. Sie musste die anderen befreien. Und vor allen Dingen, Zachary. Das war doch genau, was nie hätte geschehen dürfen. Auch wenn die Ordensmagier noch nicht wussten, wen sie da in ihrer Gewalt hatten, sie würden es irgendwann herausfinden….
Die Gejarn stand schwankend auf. Blutverlust und ihre, vom langen abwarten eingeschlafenen Beine, machten es einen Moment schwer, das Gleichgewicht zu halten. Dann jedoch setzte sie sich doch langsam in Bewegung und ließ die Schatzkammer hinter sich zurück. Nur die paar Münzen, die sie bereits eingesammelt hatte, klimperten noch in ihrer Tasche. Es galt jetzt, etwas sehr viel wichtigeres als Gold zu schützen. Aber vielleicht würden die Schätze trotzdem noch einen Nutzen erfüllen, dachte sie. Eden kam unmöglich alleine gegen die Gardisten an, das war ihr klar. Sie brauchte einen Plan….
Als die Gejarn ans Tageslicht zurückkehrte, hatten sich die Schneewolken verzogen. Nur das Eis auf den Häuserdächern glitzerte noch im Sonnenlicht. Diese stand bereits tief am Horizont und spiegelte sich auf der Meeresoberfläche. Eden schleppte sich weiter, weg vom Eingang in die Katakomben. Die Stiefel von Dutzenden Soldaten hatten breite Spuren im verhärteten Schnee hinterlassen. Sie folgte der Fährte durch die uralte Stadt, die nach wie vor so still und verlassen dalag, wie bei ihrer Ankunft hier. Ihr Weg endete schließlich, als sie die Treppe den Berg hinab erreichte. Der Orden verschwendete wirklich keine Zeit, dachte Eden.
Unten, irgendwo auf einem fernen Felsvorsprung konnte sie eine Reihe uniformierter Gestalten ausmachten, die einem türkisfarbenen Punkt folgten.
Eden zog den Mantel enger um sich, aber gegen die, trotz der Sonne schneidende, Kälte half das wenig. Sie hatte gehofft, die Gardisten würden versuchen, den nächsten Morgen hier oben abzuwarten. Das hätte es einfacher gemacht. So allerdings, würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als ihnen zu folgen. Und wenn die Gardisten nicht irgendwann Rast machten, würde sie sie niemals einholen. Nicht in ihrem Zustand. Eden schüttelte den Gedanken ab. Es nützt nichts über das, was wäre wenn, nachzudenken. Der Orden wäre sicher nicht so dumm, bei Nacht auf einer Insel herum zumarschieren, auf der nach wie vor eine Horde Wyvern hauste.
Der Weg den Berg hinab, wurde schnell zu einer einzigen Qual. Die Verletzung an ihrer Seite riss schon nach den ersten Stufen wieder auf und bald hinterließ Eden eine dünne Blutspur im Schnee und auf den schwarzen Steinen. Eden hielt einen Moment inne und riss einen Streifen ihrer Kleidung los um ihn über die Schusswunde zu legen. Dann kratzte sie etwas Schnee zusammen. Die Gejarn zögerte dann presste sie das Eis auf den Stoff und die Wunde und hoffte das Beste. Die Zähne zusammen gebissen wartete sie, bis Blut und Wasser über dem Stoff gefroren. Es war kein Verband. Und verflucht, sie würde sich garantiert Erfrierungen holen. Aber es würde zumindest verhindern, dass sie verblutete, bevor sie auch nur die halbe Treppe hinter sich hatte.
Wenigstens, war der Felsen weg, der zuvor noch die Treppe blockiert hatte. Der Eisblock lag zerschmettert irgendwo tief unter ihr, am Fuß des Berges. Offenbar hatte der Magier das Hindernis für sie beseitigt. Oder sie hatten ein weiteres Erdbeben verpasst. Als die Gejarn sich schließlich dem Ende ihres Abstiegs näherte, konnte sie schon das blaue Band der Rosen sehen. Geister, das würde auch noch einmal eine Herausforderung, sich durch den Irrgarten der Pflanzen zu kämpfen. Ein falscher Schritt und sie wäre tot. Im Halbdunkel der hereinbrechenden Nacht, konnte sie trotz ihrer besseren Augen weniger erkennen, als bei Tag. Trotzdem ging es besser. Der Wunsch, endlich wieder zu den Gardisten aufzuschließen trieb sie vorwärts. Das Feld musste sie einfach aufgehalten haben. Und jetzt war ihre Chance, wieder Zeit gut zu machen. Sie würden vor Anbruch der Morgendämmerung sicher nicht versuchen, den dichten Wald zu durchqueren um zur Küste zu gelangen. Als Eden die andere Seite des mörderischen Gartens erreichte, rannte sie sofort los. Den Schmerz verbannte sie in den hintersten Winkel ihres Verstandes. Wie schon im Schnee, so hatte der Zug der Soldaten auch im Gras der Ebene, deutliche Spuren hinterlassen. Ein Kind hätte ihnen folgen können, dachte die Gejarn. Und für sie war das erst recht kein Hindernis.
Eden grinste grimmig. Sie würde es den Gardisten noch mitteilen, wenn sie sie erst einmal erreichte. Der Wald tauchte wie eine dunkle Wand in der Ferne auf. Lediglich das Licht mehrerer Fackeln enthüllte hier und dort einen Schimmer von Grün, oder einen Blick auf eine halb in sich zusammengefallene Ruine. Eden blieb auf dem Gipfel eines kleinen Hügels stehen und ließ sich ins Gras sinken. Nur für den Fall, dass der Orden nicht nur den Wald überwachen würde.
Wie sie gehofft hatte, wagten es die Gardisten nicht, sich in der Finsternis durch das Dickicht zu schlagen. Stattdessen hatten sich die Männer auf einem Stück Wiese, in unmittelbarer Nähe zum Rand des Dschungels, niedergelassen. Jetzt hieß es, keine Fehler machen. Wenn sie entdeckt wurde, war es vorbei. Es waren zu viele Gardisten, als das sie sie hätte ausschalten können.
Sie stand auf und ging in einem Bogen um das Lager, in Richtung der Bäume davon. Eden musste wissen, wo sie ihre Gefangenen festhielten. Erst dann könnte sie sich an einen Befreiungsversuch wagen. Möglichst ohne, dass jemand etwas davon mitbekam.
Sie brauchte mehrere Stunden, bis sie sich schließlich einen Überblick verschafft hatte. Insgesamt musste es wohl gut eine Hundertschaft der kaiserlichen Garde sein, die sich in dem Lager aufhielt. Aber wenigstens schienen sie nur noch einen Magier auf ihrer Seite zu haben. Zumindest erblickte sie immer nur die gleiche, in die typischen Ordensroben gekleidete Gestalt. Das würde es zumindest schon einmal einfacher machen. Mit einem Gardisten wurde sie fertig, vielleicht auch mit zwei. Aber sollte sie der Magier entdecken wäre es vorbei.
Eden hielt sich in dem Schatten am Rand des Waldes und wurde mehrmals von kleineren Patrouillen gezwungen, bis weit unter die Zweige der Bäume zurückzuweichen. Als sie schließlich die Gefangenen fand, musste sie sich zwingen, zu bleiben wo sie war. Der erste den sie sah war Zachary… offenbar hatte man Vances Crew auf einer Ebene ganz am Rand des Lagers zusammengetrieben und gefesselt. Zwischen den ersten Zelten der Garde und dem Waldrand gelegen konnte Eden nicht anders, als darüber nachzudenken, was beim Angriff eines Wyvern mit ihnen passieren würde. Und vermutlich war das sogar Ziel des Ganzen. Die Gefangenen würden den Gardisten als Warnung dienen, sollte einer der Kreaturen sich auf sie stürzen.
Eden ließ den Blick über die Gefangenen wandern. Es gab nicht viele Wachen. Nur drei Männer standen nahe an einem Feuer beisammen und warfen immer wieder einen Blick in Richtung der festgesetzten Crew. Die Gejarn zögerte, das Schwert schon in der Hand. Drei waren zwei zu viel. Selbst wenn sie einen sofort ausschaltete, könnten die anderen beiden Alarm schlagen. Sie trat weiter zwischen das Unterholz zurück und zog eine Goldmünze aus ihrer Tasche. Die Garde war diszipliniert, teilweise bis zur Selbstaufopferung, das wusste sie. Aber wenn nur einer der drei darauf hereinfiel, würde es schon reichen. Sie zielte und warf. Die Münze landete ein Stück von ihrem Versteck entfernt, im Licht des Feuers. Eden sah, wie einer der drei Wachleute sich in ihre Richtung umdrehte. Aber um einfach loszulaufen, waren sie zu diszipliniert, wie sie bereits befürchtet hatte.
„Ist da jemand?“, rief der Mann, das Gewehr im Anschlag.
„Sei bloß Vorsichtig, John.“, meinte einer seiner Kameraden, während er einen Schritt aus dem Lichtkreis der Flammen machte.
„Keine Sorge. Bleibt ihr da.“, wies er die anderen an, bevor er sich weiter vorwagte, hin zu dem schimmernden Gegenstand im Gras. Mit einer Hand hob er das Goldstück auf und betrachtete es einen Moment verwirrt. „Was zum….“
Rasch zog Eden eine zweite Münze und ließ sie direkt vor ihrem Versteck fallen. Sie war im Gras nur an dem schwachen Lichtschimmer zu erkennen, der sich darauf spiegelte, aber das reichte aus.
„Hier liegen Münzen.“, rief der Wachmann seinen Kameraden zu. „Ich sehe mir das näher an.“
Die anderen erwiderten nichts, rückten aber näher zusammen. Eden wartete, bis der Mann einen letzten Schritt auf ihr Versteck zumachte. Dann jedoch erstarrte er, keine Armlänge mehr von ihr entfernt. Etwas musste sie verraten haben, denn ihre Blicke trafen sich kurz. Die Augen des Mannes weiteten sich, als ihm klar wurde, dass er in die Falle gegangen war. Trotz aller Vorsicht.
„Ihr solltet wirklich lernen, Eure Spuren zu verwischen.“ Die Gejarn stieß zu, ohne sich je ganz zu zeigen. Die Klinge traf den Mann in die Kehle, bevor er sich ganz aufgerichtet hatte und trat am Nacken wieder aus. Er war sofort tot. Eden fing den Körper auf, als er nach vorne stürzte und zog ihn rasch mit sich in das Unterholz. Dann lief sie los zu einem weiteren Busch, der ihr Deckung geben würde. Weiter entfernt vom ersten. Still beobachtete sie, wie die zwei verbliebenen Soldaten nervös von einem Fuß auf den anderen traten, als eine Reaktion ihres toten Gefährten ausblieb.
Langsam, die Gewehre angelegt, wagten sich auch die beiden weiter weg vom Feuer. In die Richtung, in die ihr Kamerad verschwunden war. Eden tauchte aus ihrem neuen Versteck auf und folgte ihnen, ohne einen Laut. Als die zwei die Blutspur am Boden entdeckten, blieben sie stehen und zielten in Richtung Wald.
„Wyvern?“ , fragte der eine.
„Keine Ahnung, aber wir sollten sofort Alarm…“ weiter kam der zweite Gardist nicht mehr. Eden hatte die beiden Männer erreicht und stieß sofort zu. Ihr zweites Opfer für den Tag ging mit durchbohrter Lunge zu Boden, während der dritte blitzschnell herumwirbelte und die Muskete blind in ihre Richtung abfeuerte. Das Mündungsfeuer blendete sie einen Moment, aber das Projektil verfehlte sie weit. Trotzdem musste sie sich jetzt beeilen. Wenn der Schuss die Gardisten im Lager nicht alarmiert hatte, dann würde sie nichts misstrauisch machen. Eden schlug das Bajonett mit der freien Hand beiseite und schnitt dem nun völlig offen stehenden Schützen die Kehle durch.
Sie wartete erst gar nicht darauf, bis der letzte Wachmann im Gras zusammen gesunken war. Jetzt ging es um Minuten, wenn nicht weniger. Die Gejarn setzte über das kurze Stück Grasland zwischen ihr und den Gefangenen. Sie passierte das Wachfeuer, das die drei Soldaten zurück gelassen haben… und erstarrte, als sich kaltes Metall in ihren Rücken bohrte. Eden blieb stehen wo sie war. Irgendjemand stand hinter ihr. Ein vierter Gardist, den sie übersehen hatte ? Geister, warum hatte sie nicht besser aufgepasst? Und warum war der vierte Mann seinen Gefährten nicht zur Hilfe geeilt?
„Ich würde ja Fragen, wieso ihr hier herum lauft, aber ich kenne die Antwort schon.“, meinte die Gestalt hinter ihr, dann erkannte sie die Stimme. Das war weitaus Schlimmer als ein Gardist. Mit dem wäre sie fertig geworden.
Lucien…. wenn sie wenigstens sicher sein könnte, auf welcher Seite er stand. Sie konnte kein Risiko eingehen. Eden atmete tief ein. Es kam auf Sekunden an. Dann wirbelte sie herum, das Schwert angewinkelt um ihren Gegner die Waffe aus der Hand zu schlagen.
Kapitel 37
Der Fall
Die Armbrust wurde dem kaiserlichen Agenten aus der Hand gerissen und er stolperte zurück. Eden jedoch sorgte sofort dafür, dass er nicht mehr weit kam. Das Stück scharfgeschliffener Stahl, das sich an seine Kehle legte, brachte ihn dazu, innezuhalten.
„Seid Ihr völlig verrückt geworden, Euch hierher zu wagen?“ ,wollte Lucien wissen.
„Nun, ich wollte grade meine Freunde befreien, wenn es keine Umstände macht.“, erwiderte Eden. Und diesmal war es an ihr spöttisch zu klingen. Ein rascher Blick über die Schulter in Richtung des Lagers zeigte ihr, dass dort nach wie vor, Ruhe herrschte. Aber lange würde das nicht mehr so bleiben.
Lucien folgte ihrem Blick.
„Das hatte ich auch grade vor.“
„Und das soll ich Euch jetzt glauben?“
„Wir können natürlich auch gerne hier herum stehen, bis die Garde auftaucht.“
„Ich habe eine bessere Idee, ich bring Euch einfach um.“
„Hättet Ihr schon, wenn Ihr das wolltet.“
Eden ließ die Waffe sinken. Sie hatte keine Zeit, sich lange mit dem kaiserlichen Agenten herumzuärgern. Schlimmer, mit jedem Augenblick, der verging, wurde es wahrscheinlicher, dass man sie entdeckte.
„Wenn Ihr mir helfen wollt tut es. Ansonsten… wagt es nicht mir in die Quere zu kommen.“ Sie beeile sich, zu den ersten Gefangenen zu kommen, die Rücken an Rücken im Gras saßen. Einer der ersten, der aufsah, war Vance.
„Eden, den Göttern sei Dank, ich dachte es hätte Euch auf dem Berggipfel erwischt.“
„Fast.“, erwiderte sie, bevor sie die Fesseln des Kapitäns durchschnitt und ihm ein Messer in die Hand drückte. „Helft mir den Rest zu befreien.“
Noch während sie sprach, hastete sie zum nächsten Mann.
Vance lachte erstickt.
„Mädchen, ich fürchte die Tage, wo ich eine große Hilfe war, sind fürs erste vorbei.“
Die Gejarn drehte den Kopf.
„Wie meint Ihr das?“ , flüsterte sie.
Vance klopfte sich auf den Oberschenkel.
„Das Bein. Sieht nicht schön aus, glaubt mir. Den Weg die Treppe runter mussten sie mich schon stützen.“ Hinkend schleppte sich der Kapitän in Richtung Zachary und befreite den Magier mit ein paar gezielten Schnitten.
Eden hielt inne, um den Jungen kurz in die Arme zu schließen. Sie wusste, ihr blieb kaum Zeit, aber… Geister, allein die kurze Vorstellung, Zachary verloren zu haben ließ sie zittern.
„Alles in Ordnung ?“
„Ich wusste Du kommst zurück.“, meinte er nur. Die Gejarn ließ ihn los.
„Wir müssen uns beeilen und die anderen losmachen. Und dann nichts wie zurück zur Windrufer.“
„Ich hoffe Ihr habt da auch noch Platz für mich.“, bemerkte Lucien, der in schneller Folge ein halbes Dutzend Matrosen befreit hatte.
„Ich hab allerhöchstens eine Bleikugel für Euch, seht zu, das Ihr mit dem Orden hier wegkommt.“, erklärte Vance, während Eden die restlichen Piraten losmachte.
„Was das angeht… wir haben zwar ein Schiff und das ist auch wieder Seetüchtig, aber das sitzt auf dem Trockenen.“, erklärte Lucien.
Eden seufzte.
„Schön, kommt halt mit, aber wir…“ bevor sie den Satz nur beenden konnte, hallten aufgeregte Rufe vom Lager der Gardisten her. Verdammt, ihr war klar gewesen, das es nur eine Frage der Zeit gewesen war. Ein schmaler Lichtstreifen zeichnete sich am Horizont ab. Noch war es dunkel genug um einfach im Wald zu verschwinden.
„Also gut, alle, sofort zurück zum Schiff. Wir machen, das wir hier weg kommen.“
Lucien schüttelte den Kopf.
„Ich kann noch nicht weg.“
„Was ist jetzt wieder?“, wollte Vance genervt wissen.
„Der Orden hat nach wie vor, ein paar Aufzeichnungen retten können. Ich weiß, wo sie sind und wenn Ihr flieht…“ er zog einen Explosivbolzen aus dem Köcher an seiner Hüfte. „Nutze ich das Chaos, um sie zu zerstören.“
Also hatte Lucien nur wieder einmal, seinen eigenen Plan, dachte Eden. Sie war fast so weit gewesen, ihm zu glauben, dass er die Gefangenen ohne Hintergedanken befreien wollte.
Vance runzelte die Stirn.
„Wir werden nicht auf Euch warten, Spion. Falls Ihr darauf setzt, heißt das.“ Der Lichtstreif über dem Wald, wurde jetzt zunehmend heller und ließ bereits die ersten Schatten verblassen. Nicht mehr lange und die Gardisten würden sie sehen können. Ihnen lief die Zeit davon.
„Ich gehe mit ihm.“, erklärte Eden, bevor Lucien selbst etwas erwidern konnte. „Erstens, traue ich ihm nicht, dass er uns nicht verrät. Und zweitens hat er Recht. Ich weiß nicht, ob mir der Gedanke gefällt, dem Orden noch mehr Macht zu lassen.“
Der Kapitän sah alles andere als erfreut drein.
„Wir warten auf Euch am Strand. Solange wie möglich. Aber wenn uns der Orden findet, bevor Ihr uns wieder erreicht, müssen wir weg.“
Eden nickte.
„Ich verstehe. Passt mir nur auf Zachary auf.“
„Seht Ihr zu, dass Ihr es zurück zum Schiff schafft, dann muss ich nicht auf den Kleinen achten. Viel Glück.“ Mit diesen Worten gab Vance das Zeichen zum Aufbruch und Eden machte sich mit Lucien auf den Weg, in das zunehmend unruhiger werdende Lager. Die ersten Gardisten, an denen sie vorbeiliefen beachteten sie noch kaum. Im Dunkeln erkannten die meisten, wohl nach wie vor nur Lucien und ließen den kaiserlichen Agenten in Ruhe. Aber der Schutz der Nacht begann nun immer schneller dahinzuschwinden. Aus der Schwärze, war graues Zwielicht geworden und ihnen blieben vielleicht ein paar Minuten, bevor man sie entdecken musste. Lucien rannte zwischen den provisorischen Zelten hindurch auf eine Reihe von Planen-Dächern zu, die auf mehren Pfählen aufgespannt waren Darunter zeichneten sich die Umrisse mehrere Karren ab. Dicht zusammen, standen mehrere Dutzend Lederhülsen darauf, die wohl die Schriftrollen aus der Schatzkammer enthalten mussten. Eigentlich hatte sie mehr erwartet, aber vielleicht waren dem Orden auf dem Weg nach unten, noch weitere zerbröselt. Das Pergament und das Papier waren nach den Äonen, unglaublich empfindlich geworden. Oder der Orden hatte bereits einige Schriften beiseite gebracht. So oder so… das meiste war hier, direkt vor ihnen. Hoffentlich hatten Zachary, Vance und die anderen es geschafft, zu entkommen.
Lucien beachtete die Wagen nicht lange, sondern riss einen der Explosivbolzen aus dem Köcher und spannte ihn auf die Armbrust.
„Tretet besser einen Schritt zurück.“, erklärte er, bevor er auf die Zeltdächer anlegte und das Projektil von der Sehne springen ließ. In dem Moment wo das Geschoss auf einen der Karren prallte, entzündete sich die enthaltene Sprengladung. Flammen schlugen sofort bis zum Himmel auf und erfassten die Hüllen und das sie umgebende Dach gleichermaßen. Die Detonation war laut genug, das Eden die Ohren dröhnten. Entweder hatte Lucien die Pfeile heimlich verstärkt, oder es war ein anderer Bolzen als der, mit dem er den Wyvern erledigt hatte.
Der kaiserliche Agent stolperte ein paar Schritte zurück, als das Feuer sich ausbreitete und auch den letzten Winkel des Dachs und die letzten Schriftrollen erfasste. Nichts konnte diese Hitze überstehen.
Allerdings hatten die Flammen auch einen Nachteil. Um Eden und Lucien herum war es schlagartig Taghell und hatte die Aufmerksamkeit der meisten Gardisten eben noch beim Waldrand und den flüchtigen Piraten gelegen, so änderte sich das spätestens jetzt.
„Wir müssen hier weg, jetzt.“, rief Eden.
„Klingt nach einer Idee. Mir nach.“ Lucien setzte über ein Stück brennende Zeltplane auf einem Pfad, der sie weiter ins Innere des Lagers führen würde. Weit sollten sie jedoch nicht kommen. Bevor sie auch nur drei Zelte hinter sich gebracht hatten, schnitt ihnen eine plötzlich auflodernde Feuerwand den Weg ab.
„Ihr verfluchter Bastard.“ Aus dem Rauch und dem in Auflösung begriffenen Lager, trat der Magier des Ordens. Die türkisfarbene Robe, die er trug wehte im Wind, der die Feuer noch mehr anfachte. „Habt Ihr eine Ahnung, was Ihr grade alles zerstört habt, Lucien?“
„Eigentum des Kaiserreichs. Sagt mir… Ihr hattet doch vor, es dem Kaiser zu übergeben… oder?“ Lucien zog langsam einen weiteren Bolzen aus dem Köcher und bedeutete Eden mit einer Hand, sich zu verziehen.
„Lord Tyrus ist der Berater des Kaisers. Was glaubt Ihr wie Ihr das hier entschuldigen wollt?“
„Ehrlich gesagt… gar nicht.“ Lucien legte den Sprengstoffbolzen auf die Armbrust. Eden zögerte und sah zwischen dem Magier und Lucien hin und her.
„Jetzt verschwindet schon endlich.“, murmelte er, bevor er sich wieder dem Magier zuwandte.
Endlich löste sich die Erstarrung der Gejarn. Sie rannte los. Hinter ihr standen sich der Magier und der kaiserliche Agent, noch einen Augenblick gegenüber. Was schließlich den Ausschlag gab, wusste keiner von ihnen, aber Lucien riss im selben Moment die Armbrust hoch, in dem Flammen in den Händen des Ordenszauberers aufloderten.
Magie und Sprengstoff trafen sich, ohne dass einer der Kontrahenten es gewollt hätte. Eden spürte nur die plötzliche Hitze in ihrem Rücken, als eine gewaltige Feuerwolke gen Himmel stieg. Zelte und Lager verbrannten, in einem Herzschlag, weitläufig zu Asche und selbst der Erdboden wurde auf breiter Front abgetragen. Der entstandene Krater war nicht breit, aber tief genug, das sie den Grund nicht mehr erkennen konnte. Und irgendetwas schien darin zu glitzern. Grau, beinahe organisch….
Die Gejarn wagte es nur kurz, sich umzusehen, bevor sie einfach weiterrannte. Es war unmöglich, dass Lucien oder der Magier das überlebt haben konnten. Das hatte er also gemeint, als er sagte, er würde sich gar nicht zur Verantwortung ziehen lassen. Er musste gewusst haben, was er tat. Das Wort des Ordens hätte seines bei einer Anhörung überwogen. Seine Bedenken, das der Orden die Aufzeichnungen nur für sich selbst nutzen wollte, wären nicht ausreichend gewesen. Geister, der Mann musste wirklich völlig verrückt gewesen sein, aber... aber warum fühlte sie sich dann auf einmal schuldig? Lucien hatte sein Schicksal selbst gewählt.
Eden wusste letztlich nicht, ob es Zufall war, oder ob die kombinierte Kraft von Schwarzpulver und Magie es ausgelöst hatte. Aber als sie den Rand der schützenden Wälder erreichte, begann die Erde erneut zu beben. Doch dieses Mal war irgendetwas anders. Der Grund beruhigte sich nicht wieder nach ein paar Herzschlägen, sondern geriet, so unglaublich das schien, ins Rutschen. Bäume wurden entwurzelt, als das umgebende Erdreich einfach wegbröckelte. Eden sprang über einige Wurzeln hinweg. Ein Blick zurück zeigte ihr, dass auch das Lager der Gardisten ins Wanken geriet. Ein tiefer Riss, hatte das Land vor den Zelten gespalten und verbreiterte sich ständig weiter. Eden rannte weiter und musste sich ducken, als etwas Schwarzes über ihrem Kopf hinweg flog. Ein Wyvern, der sie jedoch kaum beachtete, sondern scheinbar selber auf der Flucht war. Das Land selbst, wenn nicht die ganze Insel schien zerbrechen zu wollen. Die Gejarn rannte weiter, bis der weiße Schimmer von Sand in Sicht kam. Die Küste….
Eden hastete zwischen den letzten Bäumen hindurch und musste abermals langsamer werden. Der Strand kippte, genau wie der Rest des Landes beständig zur Seite. Sand floss wie Wasser die Felsen hinab und versank im Meer.
„Eden, beeilt Euch gefälligst.“
Vance wartete, an der Reling sitzend, an Bord der Windrufer und winkte ihr zu, sich zu beeilen. Dabei warf er immer wieder besorgte Blicke auf die Insel hinaus, Eden wollte gar nicht wissen, was er sah. Dieser ganze Ort schien sich vom Erdboden verabschieden zu wollen . Die Ruinen des alten Hafens zerbröckelten zusehends und auch der Marmor-Pier, an dem die Windrufer lag, wurde zunehmend instabil. Die Gejarn überbrückte die letzten Schritte Entfernung, zwischen sich und dem Schiff, und zog sich schließlich mit einer Hand an Bord. Noch bevor sie einen sicheren Stand an Bord gefunden hatte, gab der Kapitän das Zeichen zum Ablegen. Die Segel wurden innerhalb weniger Herzschläge gehisst und trieben das Schiff rasch weg von der Insel.
Eden ließ sich einfach auf die Planken fallen und blieb einen Moment schwer atmend liegen.
„Erinnert mich daran, dass ich mich bei Gelegenheit, fürs Warten bedanke.“ , meinte sie schließlich und setzte sich doch auf. Sie hatten es tatsächlich alle geschafft, wie sie mit einem Blick in die Runde feststellte, sie, Zachary, Vance und der Großteil der Mannschaft. Nur, dass sie praktisch mit leeren Händen abzogen, mit leeren Händen und um einige Gesichter in ihren Reihen ärmer… das machte den Leuten zu schaffen. Und ihr.
„Er hat mich gerettet.“, meinte sie, während sie auf die auseinanderbrechende Insel zurück sah.
„Lucien?“, fragte Zachary.
Eden nickte.
„Ob er es beabsichtigt hat oder nicht.“ Sie zog den Kleinen an sich. Was immer das Erdbeben auch ausgelöst hatte, der Ort vor ihr versank langsam im Meer. Die Spitze des Berges und der Felsvorsprung mit der Stadt stürzten ab und erschütterten das Land unter sich. Sand und Erde flossen von den Steinen herab, die den Kern der Insel bildeten, bis auch diese ins Rutschen gerieten. Die Ruinen, die so viele kleinere Erschütterungen standgehalten hatten, brachen endgültig in sich zusammen. Und auch die uralten Statuen, die scheinbar von der Zeit unberührt geblieben waren, brachen schwankend in sich zusammen. Das Geräusch, von splitterndem Holz und brechendem Stein, erfüllte die Luft. Und der Berg im Zentrum der Insel selbst geriet in Bewegung.
„Was haben wir getan?“ , fragte Vance, als er auf die Zerstörung hinaus blickte.
„Ich glaube nicht, das wir dafür verantwortlich sind.“, meinte Zachary. „Seht mal.“
Ein ganzer Teil der Bergflanke geriet ins Wanken und offenbarte schließlich eine graue Fläche darunter, die kein Stein war. Hätte Eden es nicht besser gewusst, sie hätte gedacht, auf eine riesige Fläche aus Horn oder Elfenbein zu starren. Ein letzter Ruck lief durch das, was nun noch von der Insel übrig war, und die Überreste der Felswand gerieten endgültig ins Schwanken, bevor sie in den Ozean stürzten. Eden, hielt sich zusammen mit den anderen, an der Reling fest, als die dadurch ausgelöste Flutwelle die Windrufer anhob. Sie hatte gewusst, dass sie bei ihrer Ankunft hier etwas gesehen hatten. Augen im Wasser. Und jetzt sah sie sie wieder. Ein glühendes Pupillenpaar, das aus den Fluten auftauchte....
Der nicht mehr vorhandene Berg hatte etwas freigelegt, das wie ein Dorn aussah. Freilich einer, der alleine schon so groß wie das gesamte Schiff war.
„Götter…“ Vance blinzelte mehrmals, als sich neben dem einen Zacken noch weitere erhoben. Ein Rücken, der mit grauen Panzerplatten bedeckt war… und dann tauchten die Flügel der Kreatur aus dem Wasser auf. Ledrige Schwingen, von denen das Wasser in Sturzbächen herablief, als sie endlich die Oberfläche durchbrachen. Die Flügel blockten das Sonnenlicht fast völlig aus und hüllten das Meer auf weiter Fläche in völlige Dunkelheit. Und dabei war die Kreatur noch nicht einmal halb an der Oberfläche.
„Vance, was bei allen Geistern ist das?“ , rief Eden über das Tosen der Fluten hinweg.
„Ein Drache….“
„Das ist ein Drache? Vance, das Ding ist gigantisch….“
„Er muss uralt sein. Ich meine… die ganze Insel lag praktisch auf seinem Rücken....“
„Und wir haben ihn mit unserem Kleinkrieg wohl aufgeweckt.“
Fast am Horizont erhob sich jetzt der Kopf der Kreatur aus dem Wasser. Die glühenden Augen, die Eden schon zuvor aufgefallen waren wirkten träge und beachteten sie kaum. Wie auch, dachte Eden. Für den Drachen waren sie kaum größer, als eine Ameise für sie. Was vermutlich gut war. Hoffentlich war das Monster nicht noch hungrig. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es eine Waffe gab, mit der man diese Kreatur auch nur verletzen könnte. Mit mehreren gewaltigen Flügelschlägen, erhob sich der graue Gigant in die Luft. Der durch die Schwingen erzeugte Luftstrom, peitschte das Meer auf und trieb die Windrufer mit einer Geschwindigkeit voran, die beinahe die Segel zum zerreißen brachte.
Trotz seiner gigantischen Ausmaße, war das Monster erstaunlich schnell und flog beständig in Richtung Nebelküste davon. Eden konnte den Schatten sehen, den es auf dem Wasser hinterließ. Eine gewaltige Fläche, auf die einfach kein Sonnenlicht mehr fiel. Dann war der Drache in der Ferne verschwunden.
Vance sah der Kreatur nach, bis sie nur noch als dunkler Punkt am Horizont zu erkennen war.
„Eden… erinnert mich daran, mich nie wieder auf Schatzsuche zu begeben. Zumindest nicht, wenn es dabei um eine Bande toter Magier geht, die Städte auf dem Rücken eines Drachen errichten.“
Epilog
Die Sonne ging langsam über der westlichen Sonnensee unter. Das Wasser hatte sich wieder beruhigt und lag wie eine gewaltige Glasplatte vor ihnen, die den Himmel widerspiegelte. Eden stand mit Zachary an der Reling der Windrufer und blickte über das Wasser hinaus. Irgendwo in der Ferne trieb ein zweites Schiff, aber wenn es Überlebende der Ordensexpedition gab, so wagten sie es nicht, näher zu kommen. Und Vance hatte sie angehalten, das Schiff in Ruhe zu lassen.
Als sie schwere Schritte hinter sich auf dem Deck holte, drehte sie sich um. Als hätten ihre Gedanken ihn herbeigerufen, stand der Kapitän der Windrufer an einen der Schiffsmasten gelehnt da. Das traurige Grinsen in seinem Gesicht brachte Eden dazu, den Blick zu senken. Einer seiner Füße stand noch auf dem Boden. Das andere Bein jedoch endete knapp unterhalb des Knies.
„Wie geht es Euch?“ , wollte sie wissen.
Der Kapitän zuckte mit den Schultern.
„Für mich ist es vorbei, Eden. Das war wohl meine letzte Reise. Ich werde mich zurückziehen, aber… eine Kleinigkeit, habe ich ja gerettet.“ Vance hielt einen Runden Gegenstand ins Licht, der in einem rötlichen Sonnenstrahl glitzerte. Die Edelsteine darauf fingen die Sonne ein und schienen von innen heraus zu leuchten.
Zachary sah ebenfalls auf.
„Die Krone, aber….“
Vance grinste breit.
„Die Gardisten, sind zumindest nicht sehr gründlich, wenn es darum geht jemanden zu durchsuchen. Es wird reichen, um mir einen netten Lebensabend zu sichern. Zusammen mit etwas… Grundbesitz, den ich noch habe.“
„Ihr besitzt Land?“
„Ein paar Inseln, aber wenn Ihr anfangt rum zu erzählen, wie Ihr einen uralten Drachen unter einer solchen geweckt habt, werden die sicher schnell an Wert verlieren.“ Er lachte herzhaft. „Trotzdem, mein Seefahrerleben ist vorbei. Ihr allerdings….“
Die Gejarn neigte den Kopf zur Seite.
„Wie bitte?“
„Ich sehe es doch, die See hat Euch jetzt, Eden. Und ehrlich gesagt wüsste ich nicht, wem ich die Windrufer lieber überlassen würde.“
„Was?“ Sie war einen Moment zu verblüfft um viel zu sagen. „Ihr würdet….“
Vance nickte.
„Sie gehört Euch, wenn Ihr sie denn wollt.“
„Ich… muss darüber nachdenken.“, erklärte Eden rasch. Aber was gab es groß nachzudenken?, fragte sie sich selber. Eigentlich stand die Antwort schon fest. Sofern Zachary damit einverstanden war. Und sie musste sich nur kurz zu dem Jungen umdrehen um die Antwort zu kennen.
„Ihr braucht nur eine neue Crew. Die meisten der Jungs, werden mit mir von Bord gehen, fürchte ich.“
„Keine Sorge. Ich glaube ich weiß, wo ich die her bekomme.“ Eden lächelte versonnen. „Es gibt da ein paar Gejarn in Lasanta, dir mir ein Versprechen gegeben haben.“
„Dann nichts wie dorthin.“, erklärte der Kapitän. „Na los Leute, wir haben lang genug herumgesessen. Hisst mir die Segel wieder, ich will noch vor Wintereinbruch wieder in bekannten Gewässern sein. Auf nach Lasanta.“
Eden sah Vance einen Moment nach, bevor sie sich zu Zachary umdrehte. Geister….
Dass sie mit einem eigenen Schiff endete, damit hätte sie nicht gerechnet. Und sie würde es auch nutzen. Nach wie vor, sie musste eine Lösung für Zachary finden. Bevor die Magie ihn irgendwann zerfraß.
Nicht weit von der Windrufer entfernt, tauchten ein paar Planken und vereinzelte Baumstämme auf, die noch von der versunkenen Insel stammten. Die Objekte tanzten einen Augenblick über den Wellen, bevor sich eine Hand an einem der Balken festhielt. Lucien zog sich, Wasser spuckend nach oben. Nun, das war wirklich alles andere als optimal gelaufen, dachte er. Die Insel war weg.
Aber damit auch alle Aufzeichnungen. Der Orden hatte unmöglich etwas retten können, nicht nachdem er auch noch ihren Vertreter auf der Insel getötet hatte. Er hatte den Drachen nur kurz gesehen, aber das hatte ihm gereicht um den Kopf für eine Weile unten zu halten. Der kaiserliche Agent sah sich einen Moment über die Wellen um. Keine hundert Schritte entfernt ragte der Bug eines Schiffs aus dem Wasser. Die Windrufer….
Lucien ließ das Treibgut los und schwamm in Richtung der Holzkonstruktion. Als er den Rumpf schließlich erreichte, griff er nach einem lose im Wasser hängenden Seil und zog sich bis zu einer offenen Lucke herauf. Jetzt galt es eine Weile unentdeckt zu bleiben, dachte er. Besser Eden und alle anderen glaubten weiter, er sei tot. Nun… zumindest kam er so zurück nach Canton.
Drei Monate später schließlich, betrat Tyrus Lightsson, der Oberste Zauberer des Sangius-Ordens, sein Büro in Lasanta. In seiner Hand befand sich ein einzelner Bogen brüchiges Pergament.
„War es das hier, was ihr wolltet?“, fragte er die bereits wartende Gestalt. Der Mann, der auf ihn wartete, wirkte mehr wie ein lebendiger Schatten. Mit der schwarzen Robe, die seinen kompletten Körper bedeckte war auch für den Zauberer nicht zu erraten, wen er vor sich hatte. Nur das er ihm bis aufs erste vertrauen musste. Wie er vorausgesagt hatte, die Dinge gerieten allmählich außer Kontrolle. Der Kaiser durfte in den kommenden Jahren keine falschen Entscheidungen treffen, sonst stand das Schicksal des ganzen Kaiserreichs vielleicht auf der Kippe. Aber in jedem Fall das der Clans der Gejarn.
Die schwarz gekleidete Gestalt nahm ihm das Schriftstück aus der Hand. Tyrus hatte es bereits mehrmals studiert, wurde aber nicht schlau daraus. Es war nur eine Zeichnung. Um genau zu sein, die eines riesigen, mit Kristallen besetzten Tores. Offenbar stellte es einen Schließmechanismus des alten Volkes dar. Teilweise gab es einzelne Erläuterungen, aber das war obskurste Magie. Zauberei, an die nicht einmal er sich wagen würde. Eigentlich war dieses ganze Pergament wertlos. Niemand, könnte auch nur die nötige magische Energie aufbringen, die der Mechanismus verschlingen würde. Und davon hätte er die Tür nach wie vor noch nicht geöffnet. Nur aktiviert.
Tyrus konnte es nicht mit Sicherheit sagen, aber der Fremde schien zu lächeln, als er das Pergament entgegennahm.
„Das wird mir… uns sehr weiterhelfen.“
„Was wollt ihr überhaupt damit? Es ist nutzlos.“, erklärte der oberste Magier überzeugt. Und wenn er sich dessen nicht sicher wäre, würde er es nicht aus der Hand geben.
„Es ist auch nicht wichtig. Seht es als ein… persönliches Interesse meinerseits. Aber jetzt kann unsere eigentliche Arbeit beginnen….“
Publication Date: 08-03-2014
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