Autorin
Barbara Schlüter ist seit 33 Jahren selbständige Kommunikationstrainerin, Coach und Managementberaterin. Als wissenschaftliche Assistentin (damals Barbara Kroemer) am Historischen Seminar der Universität Hannover bot sie als Erste Veranstaltungen zum Thema ›Frauen in der Geschichte‹ an. Mit ihrem Sachbuch ›Rhetorik für Frauen‹ (1987) hat sie Pionierarbeit auf diesem Gebiet geleistet.
Sie lebt nach einigen Jahren im Rheinland seit 2001 wieder in ihrer Heimatstadt Hannover und auf La Palma.
Ihre historische Romanreihe um 1890 ›Vergiftete Liebe‹, ›Verheimlichte Liebe‹, ›Gerächter Zorn‹ mit Detektivin Elsa besteht aus jeweils in sich abgeschlossenen Folgen. Außerdem ist Elsa aktiv in der Hannover Erzählung (1889) Wenn der Kaiser kommt, ist Feiertag in ›Ausgerechnet zum Feiertag – historische Mord(s)geschichten‹.
www.dr.b-schlueter.de
Barbara Schlüter
Vergiftete Liebe
Gesellschaftsroman um 1890
Die Handlung und alle Personen des Textes sind frei erfunden.
Alle möglichen Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Vorgängen oder Ereignissen bzw. mit lebenden oder gestorbenen Personen sind rein zufällig.
www.elveaverlag.de
Kontakt: elvea@outlook.de
1. Auflage: Schardt-Verlag 2012
Neuauflage: © ELVEA 2020
Alle Rechte vorbehalten.
Das Werk darf, auch teilweise,
nur mit Genehmigung des Verlages
weitergegeben werden.
Autor: Barbara Schlüter
Bildquelle/Titelbild: Andreas-Andrew Bornemann
Königliches Schauspielhaus, heutiges Opernhaus
www.postkarten-archiv.de
Covergestaltung/Grafik: ELVEA
Layout: Uwe Köhl
Projektleitung
www.bookunit.de
An einem sonnigen Nachmittag, den viele genüsslich im Freien verbrachten, saß Elsa Martin so gebannt lesend in ihrem kleinen Salon, dass sie die Welt um sich herum vergessen hatte. Plötzlich hörte sie die typischen, kurztaktigen Schritte ihrer Tante auf ihr Zimmer zukommen. Blitzschnell schloss sie den Fall Leavenworth, eine spannende Geschichte über einen Mord in einem abgeschlossenen Raum, und versteckte die Lektüre in einer Schublade ihres Louis-Phillip-Sekretärs. Stattdessen zog sie einen der roten Bände aus Engelhorns allgemeiner Romanbibliothek zu sich heran, den sie zuvor wütend zugeklappt hatte, da es in einer Novelle vor frommer, demütiger, willenloser Frauenliebe nur so triefte.
Sie wollte ihre geliebte Tante Sophie mit der Lektüre nicht unnötig beunruhigen. Ihre Vorliebe für Romane über rätselhafte Verbrechen schätzte diese ebenso wenig wie Elsas Interesse an naturwissenschaftlichen und medizinischen Fragen … Tante Sophie machte sich um ihre Zukunft Gedanken, schließlich befand Elsa sich mit achtzehn Jahren längst im heiratsfähigen Alter!
Sophie von Elßtorff betrat nach kurzem Anklopfen das Zimmer. Wie bereits in Elsas frühesten Kindheitserinnerungen duftete sie dezent nach Verthiver.
»Meine liebe Elsa«, rief sie, »ich brauche deine Hilfe! Stell dir vor, die Köchin rutschte mit der vollen Kuchenplatte aus. Ausgerechnet die von dem guten königlich Kopenhagener Geschirr ist perdue – und die Stachelbeersahnebaisertorte natürlich auch! Bitte geh mit Trine sofort zum Bäcker Fahrenhorst, hole Gebäck und vor allem Tortenstücke. Welch Glück, dass wir diesen guten Konditor gleich hier in der Königstraße haben. Und danach geselle dich bitte zu uns und unterstütze mich – es kommen die Damen von der Schulenburg und von Hohberg. Du weißt, wie anspruchsvoll die beiden sind.«
Bei Einladungen nahm es Sophie mit der Gestaltung der Tischdekoration überaus genau, sie legte im wahrsten Sinne des Wortes Wert auf das Dekorum. Elsa, die sich bei ihrem Eintritt sofort erhoben hatte, umarmte Sophie und sagte: »Tante-Maman, entschuldige, es ist egoistisch, dass ich hier sitze und lese. Natürlich komme ich.«
Diese Anrede beruhte auf einem Relikt aus Kindertagen. Elsa war noch sehr jung, als die Familie die Waise, die Maximilian von Elßtorff eigens auf der fernen kanarischen Insel La Palma abgeholt hatte, aufnahm. Nach kurzer Zeit empfand sie das Ehepaar als Eltern. Mit Heinrich, dem ein Jahr älteren Sohn des Hauses, wuchs sie wie mit einem Bruder auf. Sophie und Maximilian behandelten sie wie eine Tochter. Das kleine Mädchen verstand nicht, warum Heinrich Maman sagte, während sie selbst Tante sagen sollte. Daraus entstand Tante-Maman, was auch bestens in Sophies mütterliche Gefühlswelt passte. Heute setzte Elsa diese Anrede nur noch ein, um deren zartes Nervenkostüm liebevoll zu beruhigen. Die Einladungen, die zu den gesellschaftlich üblichen Nachmittagsbeschäftigungen der gehobenen Kreise gehörten, schätzten beide wenig. Umso mehr freute sie sich, wenn sie von einigen dieser langweiligen Kaffeekränzchen Dispens erhielt.
»Keine Sorge, liebe Tante, ich gehe sofort mit Trine los. Lass den Damen inzwischen von dem Baumkuchen aus der Konditorei Kreipe servieren, außerdem den neuen Eilenriede-Cake, den Hermann Bahlsen Onkel Maximilian neulich mitgab. Da haben sie etwas zum Kosten und können sich lang und breit darüber auslassen.«
»Aber Kind«, sagte Sophie in leicht tadelndem Ton, wobei sie sich ein Lächeln verkneifen musste.
»Du siehst in dem neuen grünen Kleid übrigens superb aus, Tante – niemand käme auf die Idee, dass du kürzlich deinen vierzigsten Geburtstag gefeiert hast.«
»Aber Kind«, wiederholte Sophie, dieses Mal jedoch offensichtlich erfreut.
Elsa fegte undamenhaft fix die Treppen aus dem ersten Stock hinunter.
»Gnädiges Fräulein, so flink bin ich nicht!«, hörte sie die nach Luft japsende, füllige Trine hinter sich rufen, deren altmodisches Mieder krachte.
Kurze Zeit später öffnete Elsa stürmisch, gefolgt von dem völlig atemlosen Dienstmädchen, die Tür zu Meister Fahrenhorsts Reich. Genüsslich sogen beide den Duft von frischem Brot und Backwerk ein. Die Ehefrau des Bäckermeisters kam freundlich auf sie zu. »Gnädiges Fräulein, was darf es heute sein?«
»Uns ist ein Malheur passiert, Frau Fahrenhorst, die Köchin ließ die Tortenplatte herunterfallen, wir brauchen Torten und Kuchen – und es pressiert!«
»Ich werde alles fabelhaft dekorieren, ich weiß doch, welchen Wert Ihre Tante auf solche Dinge legt. Gibt es bei den Kuchensorten besondere Wünsche?«
»Ach ja, ich sehe gerade die wunderbare Heidelbeertorte.«
»Das nenne ich eine gute Wahl! Diese Torte schmeckt einfach köstlich! Das Rezept stammt original aus dem Gasthaus Weißes Rössl am Wolfgangsee.«
»Ach, wirklich, Frau Fahrenhorst, das werde ich den Damen erzählen. Außerdem bitte von der Mandeltorte, der Linzer Torte und der Zitronentorte. Die übrige Auswahl überlasse ich Ihnen.«
»Sie können sich wieder zu Ihrer Gesellschaft begeben, Fräulein Martin«, sagte die Bäckersfrau. »Trine und unser Lehrling kommen so schnell wie möglich. Meine Empfehlung an die gnädige Frau!«
Elsa eilte zurück. Sie sah auf ihre kleine goldene Uhr, die sie an einer Kette um den Hals trug – genau elf Minuten waren vergangen. Bereits im Flur hörte sie die näselnd herablassende Stimme von Edelgarde, Gräfin von Potocki, einer verwitweten Cousine von Sophie. Auch das noch! Diese Frau war mit ihrer Besserwisserei eine echte Plage!
Als sie den gelben Salon betrat, befand sich die Unterhaltung in lebhaftem Gange. Die Damen saßen auf gelbbezogenen Fauteuils, bequemen Armlehnstühlen und einem langen, gelbweißgestreiften Biedermeiersofa. Ein Sekretär und eine Kommode gleichen Stils verstärkten den anheimelnden Charakter des Raumes. Von hier erreichte man durch zwei hohe, verglaste Flügeltüren den repräsentativen vorderen Balkon. An dessen äußeren Ecken befanden sich stabile Halterungen, die bei feierlichen Anlässen die Fahnen aufnahmen. So manche Parade und einige Besuche des Kaisers hatte man gemeinsam mit Freunden von hier aus verfolgt.
Die durchgehende Farbwahl bei der Gestaltung des Salons – mit den Farben Gelb und Weiß zugleich auch die Hausfarben der ehemaligen hannoverschen Königsfamilie – wirkte dezent und elegant.
Der Hausherr, der Architekt Maximilian von Elßtorff, hegte traditionelle Sympathien für die Welfen, deren Reich 1866 an die Preußen fiel. Schließlich hatte er als junger Mann in der Schlacht von Langensalza gekämpft. Die Verehrung und Anhänglichkeit an das Königshaus erhielt sich bei ihm und bei vielen Hannoveranern. Die Welt jedoch veränderte sich. Vor allem, nachdem 1871 das Deutsche Kaiserreich gegründet worden war und Deutschland endlich eine Nation bildete. Neue wirtschaftliche Möglichkeiten entwickelten sich, die auch Maximilians Geschäften zugutekamen.
Wie Elsa vorausgesehen hatte, sprachen die Damen über den Eilenriede-Cake.
»Das ist einfach, aber ausgesprochen lecker«, fand die Frau Kommerzienrätin.
»Knusprig und praktisch. Auch wunderbar dabeizuhaben für eine Fahrt in der Eisenbahn«, tönte Tante Edelgarde dazwischen. Innerlich zusammenzuckend bemerkte Elsa, dass die Tante, nach der Menge von feinen Krümeln auf ihrer der Schwerkraft erlegenen Oberweite zu urteilen, bereits gründlich probiert hatte. Das schwarze Witwengewand wirkte mit einem roten Shawl und einem rotgemusterten Pompadour völlig absurd. Wahrscheinlich findet sie sich hochelegant, vermutete Elsa. Nach der Begrüßung sagte sie: »Ich finde den Cake auch wohlschmeckend. Onkel Maximilian meint, Bahlsen könnte sich zu einem richtigen Gründer mit Weitsicht und Ideen entwickeln. Jetzt hat er mit zehn Beschäftigten angefangen – wer weiß, wie viele es in ein paar Jahren sein werden!«
Einige Damen sahen Elsa etwas ungläubig an. Die Gräfin von Hohberg rümpfte gar die Nase. Prompt reagierte Tante Edelgarde: »Mein liebes Kind, eine Bäckerei wird kaum zum großen Unternehmen. Ein Kaufmann, der Gebäck herstellen will. Nun ja, es herrschen andere Zeiten, diese Kaufmänner werden eben immer wichtiger und reicher. Wie gut, dass mein seliger Gatte, der Graf von Potocki, solches nicht mehr erleben muss!«
Nur zwei Damen nickten zustimmend. Elsa hingegen schätzte Hermann Bahlsen nicht zuletzt deshalb, weil er ihr den 1888 erschienenen ersten Roman von Arthur Conan Doyle aus London mitgebracht und geschenkt hatte. ›Die Studie in Scharlachrot‹ mit dem Detektiv Sherlock Holmes und seinem Assistenten Dr. Watson hatte sie vor Spannung fiebernd in jeder freien Minute verschlungen.
»Herr Bahlsen will seinen Keks zu Ehren unseres großen Gelehrten übrigens Leibniz-Cake nennen, er meint, Eilenriede-Cake sei nur für den hiesigen Markt interessant.«
In diesem Moment trugen endlich Trine und die Köchin die Kuchenplatten herein. Elsa half den beiden und schnüffelte unauffällig, als sie neben Miene stand. Ein schwacher Geruch nach Schnaps und Pfefferminzpastillen bestätigte ihren Verdacht, dass diese nach dem Mittagessen womöglich ein Schnäpschen zu viel getrunken haben könnte. Glücklicherweise wandte die allgemeine Aufmerksamkeit sich den köstlich aussehenden Kuchenplatten und nicht der rotgesichtigen Köchin zu.
Just in diesem Augenblick meldete das Mädchen die Ankunft von Isidora, der Tochter des Malers Friedrich Kaulbach. Von ihm stammte das wunderbare Porträt der Hausherrin, das ebenfalls im gelben Salon hing. Sowohl Sophie als auch Elsa lächelten erfreut, da beide Isidora sehr schätzten. Diese entschuldigte sich für ihre Verspätung. Vor allem die Gastgeberin ansehend, sagte sie: »Ihr kennt ja Papa, wenn er malt. Ich saß ihm Modell, und er vergaß völlig die Zeit. Mama befreite mich schließlich. Sie lässt herzlichst grüßen.«
Sophie nickte ihr freundlich zu. »Sei wie immer willkommen.« Sie drehte sich wieder zu ihren Gästen: »Ich verabsäumte, Ihnen zu sagen, dass mein Sohn Heinrich noch nicht weiß, ob er später kurz hereinschauen kann. Er musste sein Medizinstudium in Berlin wegen einer schweren Unpässlichkeit des Magens unterbrechen.«
Die Damen murmelten bedauernde Worte und widmeten sich Torten und Gebäck. Das Gespräch wandte sich Isidora zu. Die Freundschaft mit der jetzt achtundzwanzigjährigen Tochter des Malers war bei den Sitzungen im Kaulbachschen Atelier entstanden. Gern war Sophie zu der inmitten eines Gartens gelegenen Villa am Waterlooplatz gefahren. Fremde bewunderten den Bau im, wie sie meinten, italienischen Stil. Dabei hatte, wie Sophie mittlerweile patriotisch betonte, der hannoversche Architekt Heinrich Tramm den Rundbogen mit Stabwerk populär gemacht.
Die Villa schenkte einst der blinde König Georg V. seinem frisch ernannten Hofmaler Friedrich Kaulbach, der damit dem Schloss schräg gegenüber wohnte.
»Wie geht es deinen Eltern, Isidora?«, fragte Sophie, die wusste, wie oft sich der gefragte Maler des Adels in den vergangenen Jahrzehnten monatelang auf Reisen befunden hatte.
»Mama und Papa fühlen sich zu Hause glücklich«, antwortete Isidora. »Und Vater genießt es besonders, hier zu sein. Immerhin ist er achtundsechzig Jahre alt.«
Da unterbrach sie Tante Edelgarde. »Sagen Sie, Fräulein Kaulbach, sind Ihre Eltern denn von unserer lieben Königin Marie im österreichischen Exil empfangen worden?«
»Ja, Papa weilte öfter dort, Maman auch einige Male.«
»Wie aufregend! Was erzählte Ihre Mutter darüber?«
»Nun, Maman fand es amüsant, dass am Hof von Gmunden alle Plattdeutsch reden, weil sich der Herrscher nur mit Personal aus dem Hannöverschen umgibt. Zutiefst bewegte es sie aber, die ehemalige Landesmutter in ihrem Salon zu erleben. Da sieht es aus wie in einem Museum, das die vielen Schätze kaum zu fassen vermag.«
»Sie meinen, der Raum ist von oben bis unten vollgestopft?«, hakte Tante Edelgarde mit ihrem üblichen Taktgefühl nach. Sie erntete von mehreren Anwesenden böse Blicke, was sie nicht einmal bemerkte.
»Königin Marie will eben mit und in ihren Erinnerungen leben«, ließ Isidora die boshafte Anmerkung abperlen. Einige der Damen nickten ergriffen.
Sophie wechselte geschickt das Thema. »Wie geht es dem Herrn Papa?«
»Er arbeitet gern in seinem großen Atelier und genießt es, seine Familie und seine Freunde um sich zu haben. Auch wenn es mit dem Weggang Bronsarts, unseres verehrten Intendanten des Königlichen Schauspielhauses nach Weimar leider viel ruhiger geworden ist.«
Für Elsa hatte sich durch die Freundschaft zwischen den Ehepaaren Kaulbach und Bronsart die Welt des Theaters intensiv erschlossen. Kaulbachs und deren engste Freunde waren stets gerngesehene Gäste in der Bronsartschen Loge gewesen.
Inzwischen wurden Likörchen angeboten. In die zarten, langstieligen Gläser passte nur ein Schlückchen.
Frau von Schulenburg strich über ihren Spitzenkragen und hob ihr Gläschen. »Prost, meine Damen!«
»Na zdrowie, wie mein seliger Gatte, der Graf, zu sagen pflegte«, entgegnete Edelgarde und hob ihr Glas mit elegant abgespreiztem, kleinem Finger. Sie winkte Trine zu sich, weil sie die Flasche inspizieren wollte. Um das Etikett lesen zu können, zückte sie ihre Lorgnette. Das dekorative Stück mit Schildpatt und Gold war in Form einer Geige gefertigt. Mit geübtem Griff ließ sie das Gestell aufspringen, und zwei rechteckige Brillengläser mit Steg kamen zum Vorschein.
»Ah, Orangenlikör von Mampe aus Berlin«, stellte sie fest, nachdem sie das Etikett eingehend beäugt hatte. »Sehr bekömmlich, nicht wahr, meine Damen?«
Diese murmelten Zustimmung, und Edelgarde nutzte die Gelegenheit, sich nachschenken zu lassen. Nach fünf Stück Torte, etwas Gebäck und vier Likörchen fühlte sie sich so gestärkt, dass sie wieder lebhafteren Anteil am Gespräch nahm.
»Was werden denn unsere beiden Mademoiselles für den nächsten Wohltätigkeitsbasar der Frau Kommerzienrat für die Henriettenstiftung beitragen? Hast du schon eifrig Socken gestrickt, Elsa? Die feinen Handarbeiten gehören ja nicht so zu deinen Stärken!«
Erneut beeilte sich Sophie, den beiden jungen Damen beizustehen. »Elsa übernimmt den Verkauf der Zuckerwaren und Isidora die Wollsachen.«
»Ja, Elsalein, die Zuckerbäckereien, das passt ja wunderbar. Da wirst du regen Zuspruch finden. Dieser Stand wird immer besonders umlagert. Auch die Herren Offiziere kaufen gern etwas Süßes. Die letzte Ballsaison verfloss ja leider erneut erfolglos.«
Isidora und Elsa blickten sich kurz aus den Augenwinkeln an und rangen um Fassung. Das leidige Thema Ehe war mal wieder angebracht worden. Bevor irgendjemand reagieren konnte, setzte Edelgarde schon erbarmungslos nach: »Macht euch recht hübsch, Kinder, und seid freundlich zu den Herren. Es werden viele Kavaliere kommen. Ihr wäret nicht die Ersten, die sich auf einem Basar einen Ehemann geangelt haben.«
Während Elsa noch nach Worten für eine geharnischte Entgegnung suchte, wechselte Frau von Strathen, die Edelgarde einen indignierten Seitenblick zuwarf, bewusst das Thema.
»Es ist in vielerlei Hinsicht im Königlichen Hoftheater ruhiger geworden. Jetzt, meine Damen, merken wir besonders, was wir verloren haben. Vor über zwei Jahren ging Bronsart nach zwanzigjährigem Wirken fort. In keiner Provinzstadt, die Hannover ja seit 1866 ist, konnte man vollendetere Aufführungen erleben als auf der Bühne des stolzen Theaters unserer einstigen Residenz.«
Diese Ausführungen entlockten einigen Damen tiefe Seufzer, welche sowohl dem Verlust des Intendanten als auch dem Ende des Königreiches Hannover gelten mochten. Nicht zufällig sprach man oft noch vom Hoftheater, obwohl es mit der preußischen Annexion zum Königlichen Schauspielhaus geworden war.
»Ich gebe Ihnen völlig recht, Frau von Strathen«, entgegnete die Gräfin von der Schulenburg, »es geht bergab.«
»Liebe Gäste«, warf Sophie, die eine Debatte heraufziehen sah, rasch ein, »schauen wir auf die Gegenwart. Was bringt uns der Spielplan Interessantes? Und in welchen Rollen wird deine Freundin Roberta Stein glänzen, Elsa?«
»Cousine Sophie«, tönte Tante Edelgarde erneut dazwischen, »du weißt, dass ich mich nie einmische, aber diese Freundschaft finde ich wenig passend und unseren Kreisen nicht angemessen. Wer geht schon zur Bühne?«
»Fräulein Stein schätze ich als eine herausragende Schauspielerin und ausgesprochen sensible und feingeistige Person, Edelgarde!« Damit machte Sophie für ihre Verhältnisse recht deutlich ihrer Verärgerung Luft.
Elsa, die innerlich anfing zu kochen, beherrschte sich dennoch, ignorierte die taktlose Unterbrechung und berichtete: »Ein Höhepunkt wird die Premiere von Lessings ›Minna von Barnhelm‹ sein. Die Minna spielt selbstverständlich Roberta, die …«
Erneut wurde sie unterbrochen: »Und Oscar Leitner, unser hochverehrter Schauspieler, ach, ich sehe ihn ja so gern, was für ein Mann …« Edelgarde Gräfin von Potockis Miene verzog sich so vor Entzücken, dass ihr Doppelkinn noch eine Extrafalte warf. »Bestimmt wird er den Tellheim spielen.«
Frau von Strathen zupfte mit Daumen und Zeigefinger geziert an ihrem Taftrock. »Nun, dass er Chancen bei den Damen hat, soll Herr Leitner auch weidlich ausnutzen. Das spricht sich ja trotz seiner Diskretion herum.«
Die Gräfin von der Schulenburg nickte so vehement, dass die Federn auf ihrem feschen Hütchen in heftige Bewegung gerieten. »Als er hier als jugendlicher Liebhaber anfing, ging er noch nicht so dezent vor. Da setzte er so manchem Ehemann die Hörner auf.«
»Genau so war es«, sekundierte ihr die Gräfin Hohberg mit wissendem Blick, und ihre Augen begannen zu funkeln. »Einige Herren dürfte er so bis ins Mark getroffen haben, dass sie sich nur allzu gern an ihm rächen würden.«
»Aber, aber, doch nicht vor den jungen Damen«, wandte Frau von Strathen ein, wobei ihre klatschlüsterne Miene nicht zu ihrer Zurechtweisung passte. So fuhr sie auch gleich selbst fort: »Ja, Oscar Leitner brach schon so manches Frauenherz. Und dabei wird er ja auch oft mit Fräulein Stein gesehen, die beiden gehen häufig soupieren. Ob es sich hier wirklich nur um eine Freundschaft unter Kollegen handelt?«
»Nun, in letzter Zeit wurde Fräulein Stein aber öfter mit einem anderen Herrn beim Dinner in Kastens Hotel gesichtet. Angeblich ein Sänger aus Köln«, wusste die Kommerzienrätin beizusteuern.
Elsa mochte diese Tratscherei nicht. Dass man über Roberta und den Sänger August Remmèrs sprach, würde dieser nicht gefallen. Sie wollte gerade einige deutliche Worte zur Ehrenrettung ihrer Freundin sagen, als Sophie erneut geschickt das Thema wechselte. »Wer wird denn die Kammerzofe spielen? Es soll ja eine neue Schauspielerin geben.«
Den ihr zugespielten Ball ergriff Elsa sofort: »Sie heißt Sarah Amber, stammt aus Amerika und spricht fließend Deutsch – mehr weiß ich bis jetzt auch nicht.«
In diesem Augenblick trat der Sohn des Hauses ein, um kurz seine Aufwartung zu machen.
Isidora, die wusste, wie ungern Heinrich die Honneurs machte, meldete sich zu Wort: »Wir freuen uns jedenfalls schon sehr auf die Premiere. Fräulein Stein schenkte Elsa bereits als Dank für ihre Hilfe beim Rollenstudium Eintrittskarten. Es wird gewiss eine wunderbare Aufführung, wenn sie auch am Freitag, dem 13. stattfindet.«
»An einem Freitag, dem 13. – das könnte aber ein schlechtes Omen sein«, bemerkte prompt Edelgarde, die ein Faible für Schwierigkeiten und Katastrophen aller Art pflegte.
Elsa verfolgte die weitere Unterhaltung nur noch oberflächlich. Obwohl sie nicht zu Aberglauben neigte, beschlich sie plötzlich ein ungutes Gefühl – wenn bloß bei der Premiere alles gutging! Erleichtert bemerkte sie, dass die Gäste aufbrachen. Während die Damen in den vorgefahrenen Kutschen heimwärts strebten, wollte sich Sophie, die abgespannt wirkte, in ihre Räume zurückziehen.
»Liebe Isidora«, verabschiedete sie sich, »bitte grüß herzlich die Frau Mama und den Herrn Papa von mir.«
Besorgt blickte Elsa ihr nach. Der Gesundheitszustand von Sophie verschlechterte sich zusehends. Wie heftig hatte diese vor einigen Tagen an einem schwülen Frühsommertag gelitten. Hochgeschlossene Kleider mit gebauschten Ärmeln und engen Wespentaillen, die das Hinterteil betonten, wirkten ja im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend. Und dazu noch die fest anliegenden, vorne spitz zulaufenden Knopfstiefeletten, die bei der Wärme besonders erbarmungslos drückten. Da nutzten auch die hübschen, mit Rüschen besetzten Sonnenschirme nichts. Nach der geringen Anstrengung, die Stufen zum Königlichen Schauspielhaus zu ersteigen, schnappte Sophie so heftig nach Luft, dass Elsa befürchtete, sie würde in Ohnmacht fallen.
Hoffentlich kann unser Hausarzt die Tante endlich dazu bringen, zur Kur zu fahren. Nicht zuletzt könnte ich einige meiner Unternehmungen ohne ihr beständig wachsames, mütterliches Auge, einfacher durchführen. Bei dem Gedanken huschte ein spitzbübisches Lächeln über Elsas Züge.
In ihrem Schlafgemach erwartete Sophie bereits Kammerzofe Lena, um ihr aus dem grünen Nachmittagskleid zu helfen. Nachdem die Zofe geschickt Knopf für Knopf auf dem Rückenteil des Kleides geöffnet hatte, bat Sophie das Mädchen: »Bitte lockere mir auch das Korsett. Obwohl ich wenig zu mir nahm, fühle ich mich nach Kaffee und Kuchen so beengt.«
»Fünfundvierzig Zentimeter Taillenumfang, gnädige Frau, das bedeutet fürwahr, dass leiden muss, wer dem Schönheitsideal entsprechen will.« Lena lockerte so gut es ging die Schnürung des Stahlkorsetts, half ihrer Herrin in einen leichten Hausmantel und schloss die Übergardinen.
»Haben Sie noch Wünsche?«
»Nein danke, Lena, ich brauche dich jetzt nicht mehr.«
Sophie legte sich aufs Bett und erinnerte sich dankbar daran, wie ihre Kammerzofe ihr damals aus München nach Hannover gefolgt war. Ihr Vater hatte diskret versucht, Maximilian die vielfältigen Wege, die er ihm in München ebnen konnte, vor Augen zu halten. Der aber liebte seine Heimatstadt. Genau dort und nirgendwo anders wollte er bauen und sein Glück als selbständiger Baumeister und Architekt machen. Maximilian hatte ihr viel von seiner Stadt erzählt.
»Hannover, liebe Sophie, ist ja keine Residenzstadt mehr. Es wird sich nach und nach zu einer Beamten- und Militärstadt entwickeln. Etwas Glanz und Farbe verleihen dem Ganzen die Reitschüler, die Königsulanen, die Infanterie- und Artillerieregimenter mit Reiterfesten, Kasinobällen und Gesellschaften. Auch unser königliches Hoftheater wird dich mit hervorragenden Vorstellungen erfreuen.«
Binnen kurzem hatte sie sich mit tatkräftiger Unterstützung der tüchtigen Haushälterin Marga Lheiß mit der ungezwungenen hannoverschen Gastfreundschaft angefreundet. Zufallsgäste hieß man zu jeder Mahlzeit a la Fortune du Pot willkommen.
Recht bald hatte sie festgestellt, welch hervorragende Produkte es in ihrer neuen Heimat gab. In ihrem Elternhaus in München gehörte es zum guten Ton, sich vom Hofkonditor Demel in Wien jeden Monat Baumkuchen schicken zu lassen. Den bestellte sie jetzt beim Konditor Kreipe, der sich mit Demel durchaus messen konnte.
Die von Elßtorffsche Tafel wurde bald als etwas Besonderes gerühmt. Es gab nicht nur Gerichte aus dem Süddeutschen wie einen köstlichen Schweinebraten mit Kruste, dazu Biersauce und Knödel, sondern auch die raffinierten französischen Rezepte aus der Pensionatszeit in der Schweiz mit ihrer Freundin Ernestine.
Sophie seufzte, als sie an das ungewisse Schicksal ihrer engen Vertrauten dachte, die auf einer fernen kanarischen Insel als verschollen galt.
Alles begann mit einem Brief an Sophie, der den langen Weg von La Palma tatsächlich nach Hannover fand und Ende 1873 ankam. Das bedeutete schon ein kleines Wunder. Denn Sophie erhielt bis dahin von ihrer liebsten und besten Pensionatsfreundin Ernestine, die ihr einst das Leben gerettet hatte, nur einen einzigen Brief. Darin vermeldete diese nur kurz ihre Ankunft auf La Palma bei ihrer Patentante Hanna und kündigte ausführlichere Schreiben an.
Aber weitere Post kam nie, was den Verdacht aufkommen ließ, es seien Sendungen verlorengegangen. Man suchte die Insel erst einmal auf dem großen Weltglobus. Eine Gruppe von sieben, auf der Höhe der Sahara in den Atlantik hinein gestreuten Eilanden, entdeckten sie nach längerem Suchen. Und die westlichste der Kanarischen Inseln hieß La Palma. Aus den Mitteilungen der Patentante ergaben sich gewichtige Konsequenzen. Unvorstellbar, wie anders alles gekommen wäre, wenn gerade dieses Schreiben nie angekommen wäre.
Hanna war offenbar ernsthaft erkrankt. Der Brief bestand aus einem Hilfe- und Notruf, der eine Reise auf die ferne Insel unumgänglich machte! Die Zeilen mit der schwierigen, teilweise fahrigen und schwer zu entziffernden Handschrift hatte Sophie so oft gelesen, dass sie den Inhalt noch heute auswendig kannte:
›Verehrte Gräfin von Elßtorff,
wie Sie wahrscheinlich wissen, bin ich, die unterzeichnete Hanna Martin-Sander, die Patentante von Ihrer besten Freundin Ernestine aus der Pensionatszeit. Ernestine verschwand auf rätselhafte Weise vor vier Monaten und gilt als verschollen. Ich bin sehr schwer erkrankt, und es scheint ungewiss, ob ich am Leben bleibe. Mein Mann, der Agrar-Ökonom Raffael Martin-Perez, starb vor drei Jahren, so besitze ich hier keine zuverlässigen Vertrauenspersonen. Meine große Sorge gilt dem kleinen Mädchen. Es gibt niemanden an Ort und Stelle, der sich kümmert, falls mir etwas passiert. Ernestine sagte immer, im Notfall könnten wir felsenfest auf Sie bauen. Holen Sie Kleinchen nach Deutschland, es braucht für sie einen passenden Rahmen. Mehr kann ich nicht schreiben, das musste ich Ernestine auf die Bibel schwören.
Gott schütze Sie!
Abrazzos fuerte
Ihre ewig dankbare
Hanna Martin-Sander‹
Der Möglichkeit, dass eventuell ein Unglück oder gar ein Verbrechen geschehen war, jagte Sophie stets kalte Schauer den Rücken hinunter. Noch nach zwanzig Jahren vermisste sie ihre beste Freundin, der sie letztendlich ihre geliebte Ziehtochter zu verdanken hatte. Und mit diesen Gedanken fiel sie in einen unruhigen Schlummer.
Die beiden jungen Frauen begaben sich zu Elsas Räumen. Wie immer setzte sich Isidora an den ovalen Mahagonitisch und genoss die schöne Atmosphäre. Welch eine Wohltat bildete diese Einrichtung im Stil Louis-Phillipe, verglichen mit den sonst üblichen schweren und überladenen verzierten Möbeln der Gründerzeit.
»Diese Tante Edelgarde ist ja noch enervierender, als du sie beschrieben hast, Elsa.« Isidora machte ihrem Herzen Luft. »Allein dieser herablassende, dünkelhaft näselnde Tonfall molestiert ja schon genug. Dabei besitzt sie nicht besonders viel Verstand, von Taktgefühl gar nicht zu reden. Wie sie uns als alte Jungfern hingestellt hat, das war richtig gemein!«
»Tante Edelgarde ist in der Familie bekannt und berüchtigt dafür, dass sie mit ebenso unerbetenen wie unpassenden Ratschlägen allen auf die Nerven geht. Außerdem intrigiert sie, spritzt gern Gift und stiftet Unfrieden. Nur Tante Sophie durchschaut sie immer noch nicht. Sie bedauert die verwitwete Cousine, zumal diese sich ja nach eigenem Bekunden so selbstlos für Arme und Kranke einsetzt.«
»Tatsächlich – wie ein wohltätiger Engel kam sie mir nicht vor. Hoffentlich setzt sie sich nicht persönlich ein! Wie kann man nur so giftig werden?«, entgegnete Isidora nachdenklich.
»Ich kenne sie nur so. In einer Unterhaltung zwischen Tante Sophie und Onkel Maximilian habe ich aufgeschnappt, dass der selige Graf möglicherweise kein Graf, aber sicherlich ein Viveur war …«
»Ein Viveur, ein Lebemann?«
»Ja, er pflegte nebenbei viele Verhältnisse und lebte über seine Verhältnisse. Nicht umsonst wahrt Tante Edelgarde zwar den Schein, isst und trinkt sich jedoch gern überall durch. Ihren eigenen Haushalt führt sie sprichwörtlich geizig, bei ihr gibt es mindestens zum zweiten Mal aufgegossenen Blümchenkaffee.«
Die bissigen und boshaften Anmerkungen der Tante machten beiden jedoch mehr zu schaffen, als ihnen lieb war. Denn genau darum ging es ja – wie sollte es weitergehen?
»Das Beispiel meiner Mutter, die uns eine wunderbare Kindheit gab, bietet kein Vorbild dafür, neue Wege zu suchen. Sie war, wie es ja gleichfalls von Karoline von Humboldt heißt, die alles belebende, beglückende Sonne der Familie«, seufzte Isidora.
»Das trifft auch auf Tante Sophie zu«, pflichtete Elsa ihr bei. »Onkel Maximilian hält sich ja viel auf seine Liberalität und Aufgeschlossenheit für neue Entwicklungen zugute. Aber wenn er ihr etwas erläutert, spricht er in einem Tonfall, als ob er einen minderbemittelten Backfisch vor sich hätte.«
»Eine große Fessel am Fuß könnte mich nicht mehr behindern als die wenigen Möglichkeiten, die es für alleinstehende bürgerliche Frauen gibt, ihr Leben ohne Ehemann zu gestalten. Lehrerin, Erzieherin, Gesellschafterin, Gouvernante, womöglich noch Diakonisse, das bildet wahrlich keine zufriedenstellende Auswahl. Und doch geht es uns so viel besser als den zahlreichen jungen Mädchen, die spätestens mit vierzehn Jahren in einer Fabrik schuften oder sich zu einem Dienst verdingen müssen.«
»Da gebe ich dir völlig recht«, entgegnete Elsa, »unser Käfig ist ziemlich komfortabel. Und mir fehlt anscheinend auch genügend Mut. Über Dinge, die mir ungerecht erscheinen, ärgere ich mich. Jedoch bin ich keine, die die Fahne der Revolution ergreift und vorangeht, um den Frauen Abitur und Studium zu erkämpfen. Und ich frage mich, ob ich den Anforderungen eines Medizinstudiums wirklich gerecht würde.«
»Du könntest es bestimmt, Elsa, aber das dürfte bei uns sowieso noch dauern. Der Allgemeine Deutsche Frauenverein will nächstes Jahr eine Massenpetition an den Reichstag geben, um die Zulassung von Frauen zum ärztlichen Studium zu erreichen. Ich befürchte jedoch, es ändert sich nichts, und die Herren werden zur Tagesordnung übergehen.«
»Woher weißt du das schon wieder?«
»Nun, beschäftige dich doch auch mal mit den Forderungen von Helene Lange und Hedwig Kettler.«
Nach einer nachdenklichen Pause – Elsa wusste genau, dass sie sich in den Augen der Freundin zu wenig mit den Anliegen der Frauenbewegung befasste – entgegnete sie: »Ja, wir müssen wohl noch lange warten, bis sich etwas ändert. Das Lehrerinnenexamen besitze ich, aber es zieht mich überhaupt nicht in die Schule. Ich möchte so gerne studieren und einen richtigen Beruf ergreifen wie die Männer. Außerdem bin ich als arme Waise ja nur bedingt eine höhere Tochter. In der Pensionatszeit blieb ich zwischen all den eingebildeten adeligen und großbürgerlichen Mademoiselles eine Außenseiterin. Wenn ich wenigstens Möbel entwerfen und bei der Wohnungseinrichtung beraten könnte.«
»Ja, Elsa, stell dir vor, du und Tante Sophie könntet ein Geschäft aufmachen. Ihr würdet tout Hannover mit Rat beistehen und wunderbare Räume komponieren. Welch ein Jammer, dass dies für Damen von Stand alles völlig unmöglich erscheint.«
Elsa zuckte resigniert mit den Achseln. »Leider sind das nur schöne Träume. Aber am allerwenigsten mag ich nur auf einen geeigneten Ehemann warten. Einen Haushalt möglichst perfekt zu führen, ihm den passenden Rahmen zu schaffen, kurz: ein schmückendes Beiwerk im Hintergrund zu sein, so möchte ich nicht leben. Was mir viel bedeutet, nämlich auch eine geistige Gemeinschaft mit einem Mann, das finden die männlichen Heiratskandidaten doch eher abschreckend. Denk nur an den flotten Ferdi!«
Isidora nickte bestätigend, da sie die Geschichte von Elsas erstem Backfischschwarm kannte. Als die Ältere hatte sie von Anfang an die Beziehung für aussichtslos gehalten. Ferdinand von Salzen, ein großer, sehr gutaussehender, schlanker Kerl mit blauen Augen und gewelltem blonden Haar, verkörperte in idealer Weise den Typus des adeligen Offiziers. Allerdings besaß er weder Geist noch Tiefgang. Er verstand es, charmant zu plaudern und Komplimente zu machen und redete in der etwas abgehackten, knappen Sprechweise, die in der preußischen Armee als besonders männlich galt.
Auch seine Vorstellungen über die Rolle und das Vermögen seiner künftigen Ehefrau waren äußerst konventionell. Die bürgerliche Vollwaise Elsa, die kleine Legate von Heinrichs Großmutter und Tante Sophie erhalten würde, kam für ihn eigentlich nicht in Frage. Dennoch hatte er ihr eine Weile den Hof gemacht, da sie eben ganz anders war als alle ihm bekannten jungen Damen von Adel. Nach und nach allerdings bemerkte Elsa, dass die Gespräche mit Ferdi sie langweilten. Seine Konversation, so musste sie sich eingestehen, erwies sich nach einiger Zeit im wahrsten Sinne des Wortes als erschöpfend.
Als sie dann noch erfuhr, dass er der Tochter eines außerordentlich reichen Lindener Samtfabrikanten den Hof machte, war sie schließlich froh gewesen, Hannover zu verlassen. Für ein Jahr ging sie in das renommierte Pensionat Bauer in der Schweiz. »Aus den Augen, aus dem Sinn«, hatte Marga Lheiß damals treffend kommentiert. Sie hatte wie so oft recht behalten.
»Liebe Freundin, Ferdinand von Salzen bot außer seiner glänzenden Erscheinung wirklich nichts, was dich hätte glücklich machen können.«
Das stimmt, aber immerhin konnte er hervorragend küssen, dachte Elsa, die bei dieser Erinnerung noch heute wohlig erschauerte. Über diese durchaus angenehmen Gefühle hatte sie nicht einmal mit ihrer Freundin sprechen mögen. Ihr Körper reagierte damals zustimmend auf weitergehende Vertraulichkeiten, was sie zugleich mit Verwunderung und Angst erfüllt hatte. Mit einem letzten Rest von Vernunft unterband sie weitere Zärtlichkeiten, schließlich war sie ohnehin viel zu weit gegangen. Damals fiel ihr eine längst vergessen geglaubte Szene mit der englischen Gouvernante schlagartig wieder ein. Diese hatte ihr im Alter von ungefähr zehn Jahren sehr ernst erklärt, dass der Bereich zwischen ihren Beinen tabu sei. »Da unten wird sich nur kurz gewaschen, weitere Berührungen, vor allem abends im Bett, sind streng verboten. Dies ist nicht nur Sünde, sondern kann sogar zur Verblödung führen. Ungehorsamen Mädchen werden die Hände dick bandagiert und ans Bett gebunden!«
Die kaum verhüllte Drohung hatte sie sehr wohl wahrgenommen – sie wusste außerdem sofort, wovon die Rede war. Denn wenn sie sich ab und zu neugierig und spielerisch da unten berührt hatte, löste dies äußerst aufregende und angenehme Gefühle aus, die dann ihren ganzen Körper durchströmten. Obwohl sie die Gefahr der Verblödung nicht recht glauben mochte, hielt sie sich auch in späteren Jahren bei der Erkundung ihres sich verändernden Körpers sehr zurück. Wieso wurde um diese Themen nur herumgeredet, fragte sie sich, wieso hießen Unterhosen die Unaussprechlichen, wieso hatten höhere Töchter in jeder Hinsicht rein und unschuldig zu sein, waren diese denn anders als andere Frauen? Lagen ihre Reaktionen etwa an ihrer Herkunft?
Sie seufzte unwillkürlich, besann sich auf die Freundin und stimmte zu: »Ja, das mit Ferdie sehe ich schon lange ein.«
Die Freundinnen sahen sich verständnisinnig an. Bei beiden entsprach das Temperament nicht dem äußeren Typus. Mit ihrer dunklen, vom Vater geerbten Lockenpracht glich Isidora eher einer temperamentvollen, südländischen Schönheit, der man eine stürmische, impulsive Natur zutraute. Sie war jedoch eher ruhig und nachdenklich, sprach meist überlegt und langsam.
Elsa hingegen entsprach von der Wesensart her nicht den Erwartungen an den zurückhaltenden, norddeutschen blonden und blauäugigen Typus: Ihre Augen blitzten förmlich vor Temperament. Wenn sie sich für ein Thema begeisterte, unterstrichen ihre Hände lebhaft das Gesagte. Ihre geraden, dunklen Augenbrauen, die ihrem Gesicht einen ganz besonderen Reiz gaben, hoben sich dann weit nach oben.
Als Backfisch hatte sie ein Billet von einem unbekannten Verehrer erhalten:
›Darüber schwungvoll ausgebreitet sind,
Die dunklen Brau’n, geschwungen stolz und hoch,
Ein ausgebreitet Adlerflügelpaar
Ob einer Lilienflur.‹
Über diese von dem österreichischen Dichter Robert Hamerling verfassten Zeilen hatte Elsa Tränen gelacht. Mochte der Poet auch einer der meistgelesenen deutschsprachigen Autoren sein, ihr erschien er einfach zu pathetisch!
»Komm, lass uns über andere Dinge reden, die uns interessieren.« Isidora blätterte inzwischen in dem Roman mit Sherlock Holmes. »Also, wie gefiel dir der Detektiv Holmes mit seinem Assistenten Dr. Watson?«
»Es ist einfach genial, wie Holmes aus seinen Beobachtungen Rückschlüsse zieht. Er versetzt sich in andere hinein. Dr. Watson findet immer alles voller Bewunderung exzellent, und Holmes kontert sodann elementar. Er ist wirklich ein scharfsinniger Künstler der Deduktion.«
Isidora schaute verblüfft. »Was genau meinst du damit?«
»Nun, er leitet vom Allgemeinen zum Besonderen ab.« Elsa lächelte ihre Freundin listig an. »Sei beruhigt, das stammt aus Meyers Konversationslexikon.«
»Verstehe! Ein bisschen erinnert mich das an den Inspektor Cuff in dem Roman ›Der Monddiamant‹ von Wilkie Collins«, entgegnete Isidora nachdenklich.
»Das ging mir genauso«, rief Elsa aus. »Allerdings kann man den ältlichen, dünnen, stets schwarzgekleideten Inspektor rein äußerlich nicht mit Sherlock vergleichen.«
»Ach, Sherlock nennst du ihn schon«, zog Isidora sie auf, »duzt ihr euch bereits? Vergiss bitte nicht, dass es sich bei deinem Helden um eine Erfindung von Conan Doyle handelt!«
»Er würde uns als realer Mann bestimmt gefallen. Bei Inspektor Cuff hingegen wird die äußere Erscheinung ja wenig anziehend geschildert – wenn man ihn eher für einen Leichenbestatter oder Pfarrer hält als für einen Detektiv. Aber wir lernten von ihm doch einiges über die Arbeit eines Detektivs!«
Isidora setzte sich aufrechter hin und zitierte mit tiefer Stimme: »Zwei Weisheiten des berühmten Inspektors Cuff. Erstens: Was Spuren betrifft, ist Sand einer der besten Helfer des Detektivs. Zweitens: Bei meinen langjährigen Erfahrungen auf den schmutzigsten Wegen dieser schmutzigen kleinen Welt ist mir noch nie so etwas wie eine Nebensächlichkeit begegnet.«
»Wunderbar, Isidora«, zollte Elsa der schauspielerisch begabten Freundin Beifall. »Aber nun gib Acht: Besonders, wenn ich sehe, wie Holmes als Ermittler vorgeht, denke ich, dass vor allem wir Frauen außerordentlich gute Detektive sein könnten. Die Aufgaben wirken geradezu wie für uns gemacht.«
»Das erkläre mir bitte genauer!«
»Es liegt auf der Hand, liebe Freundin. Wir werden von klein auf darin bestärkt und angehalten, gut zuzuhören, den Mann durch Fragen zu ermuntern, über sich und seine Taten zu sprechen. Sich in andere hineinzuversetzen, um eine fürsorgliche Gattin und Mutter zu sein, gehört zu den Aufgaben der Frau. Sie soll sich unauffällig verhalten und sich nicht in den Mittelpunkt stellen. Auf diese Weise machen wir jede Menge Beobachtungen und ernten viele Erkenntnisse.«
Während dieser Beschreibung glitt langsam ein verstehendes Lächeln über Isidoras Gesicht. »Elsa, du bist ebenso scharfsinnig wie spitzzüngig, aber ich stimme dir zu. Nicht nur die Arbeitsweise von Holmes spricht dafür, dass Frauen die detektivische Arbeit besonders liegt, denk doch an den ganz eigenen Ermittlungsstil von Inspektor Cuff, wenn er Informationen erfragt. Zunächst redet er über Gott und die Welt, versucht Gemeinsamkeiten herzustellen und Vertrauen zu schaffen. Erst dann fragt er, was er wirklich wissen will.«
»Ja, Isidora, das stimmt. Diese Art und Weise, die Dinge zu vernebeln, wenden Frauen ebenfalls häufig an. Sowohl wenn sie etwas erfahren, als auch wenn sie etwas durchsetzen wollen. Das sind Listen, die die Weibsbilder mangels Macht entwickelten. Durch indirekte Fragen gelingt es uns jedenfalls oft, Verborgenes ans Licht zu bringen.«
Die beiden Freundinnen lächelten sich komplizenhaft an. »Isidora, mir kam die allerbeste Idee, wie du aus dem Käfig ausbrechen kannst. Du möchtest gern Schriftstellerin werden. Schreib doch eine Detektivgeschichte, so etwas gibt es in Deutschland noch kaum!«
Für die Silberhochzeit ihrer Eltern hatte die Freundin ein Festspiel in Form eines gereimten Märchens geschrieben. Sozusagen aus berufenem Munde – sowohl von der berühmten Schauspielerin Marie Seebach als auch von dem bekannten Schriftsteller Ernst von Wildenbruch wurde ihr die schriftstellerische Laufbahn vorgeschlagen. Beide bestätigten ihr Talent und Originalität.
Mit achtundzwanzig Jahren galt Isidora in den Augen der bürgerlichen Gesellschaft als spätes Mädchen, dem das Schicksal der alten Jungfer drohte. Jedenfalls dachte sie bei aller Kunstschwärmerei unstandesgemäß darüber nach, wie sie Geld verdienen könnte.
Elsa wusste, dass Isidora über eine reiche, lebendige Phantasie verfügte, die Schriftstellerei liebte, aber auch mit Schwierigkeiten kämpfte, um ihre Ideen zu Papier zu bringen. »Sprich doch mit eurem Freund, dem Schriftleiter vom Hannoverschen Courier darüber, was er von einer Detektivgeschichte hält. Möglicherweise könnte die als Fortsetzungsroman erscheinen – dann wirst du auch gleich in Hannover berühmt!«
Isidora sprang spontan auf und umarmte Elsa. »Was bist du doch für eine gute Seele! Welche Gedanken du dir um mich und andere machst! Ich glaube, dies ist eine hervorragende Idee, aber ob ich das wirklich schaffe?«
»Ja, bestimmt kannst du das, und möglicherweise könnte deine Detektivgeschichte ja auch in der Gartenlaube erscheinen. Bedenke, wie viele Frauen da ihre schriftstellerische Karriere begründet haben. Die Marlitt kam so zu Ruhm und Ansehen.«
»Langsam voran, liebe Freundin. Dort gedruckt zu werden, das wäre ein Traum. Schließlich erreicht diese Zeitschrift ihre große Leserschaft in allen gesellschaftlichen Schichten des Reiches.«
»Warten wir es ab, Isidora«, erwiderte Elsa. »Also, lass uns nicht jammern! Bleiben wir bei unserer Detektivarbeit. Um meine eigene Beobachtungsfähigkeit zu schärfen, werde ich ab sofort ein Tagebuch führen über alles, was mir auffällt oder ungereimt erscheint …«
»Eine gute Idee, Elsa. Die vielen kleinen Dinge des Alltags hindern einen oft, die Menschen mit detektivischem Scharfblick zu betrachten. Außerdem handelt es sich um eine hervorragende Übung für das Gedächtnis.«
»Schaden kann es nicht. Nimm dir den Sherlock Holmes mit, Isidora, ich leihe ihn dir gern.«
Und damit trennten sich die beiden Freundinnen für diesen Tag.
Den sonnigen Mainachmittag verbrachte Roberta in ihrer Wohnung am Georgsplatz. Sie beendete gerade die Maniküre und griff zum Abschluss nach einem Tiegel mit der wunderbaren Handcreme des rührigen Pharmazeuten der nahen Marien-Apotheke, Karl Adolf Hormann. Von ihm bezog sie alles, was sie an Medikamenten und zur Pflege ihrer Schönheit brauchte. In unmittelbarer Nachbarschaft sowohl des Friederiken- als auch des Henriettenstiftes gelegen, erfreute sich Hormann reger Nachfrage. Zufrieden betrachtete sie ihre schönen Hände und klingelte nach dem Mädchen.
»Fräulein Stein, Sie wünschen?«, knickste Trude.
»Du kannst alles wegpacken. Und bring mir bitte um halb sechs meinen Tee.«
Wie immer, wenn sie Vorstellung im nahen Königlichen Schauspielhaus hatte, ruhte Roberta noch eine Stunde im bequemen Hausmantel auf dem Chaiselongue. Sie benötigte nur einen Fußweg von fünf Minuten zum imposanten Bau des Meisters Laves, dem ehemaligen Königlichen Hoftheater. Ein weiterer Vorteil der großzügigen Wohnung, die zudem einen schönen Blick auf den Platz bot.
Nachdem das Mädchen leise die Tür geschlossen hatte, griff Roberta nach dem ungewöhnlichen Rubinring, den sie während der Maniküre auf einem Tischchen neben sich abgelegt hatte. Sie setzte ihn auf den linken Ringfinger und strahlte vor Glück bei der Betrachtung, wobei sie die Hand hin und her drehte. Bei dem Rubin handelte es sich offenbar um einen alten Stein, der eine Durchbohrung aufwies. Mit einer spiralförmigen Weißgoldfassung versehen, schien er später noch mit einem fünfsternigen Rahmen mit Brillantsplittern ergänzt worden zu sein. August hatte ihr diesen Ring geschenkt und dazu gesagt, es handele sich um ein altes Familienstück, welches immer von Generation zu Generation weitergereicht werde.
Roberta stieß einen tiefen, glücklichen Seufzer aus: Jetzt hatte sie mit immerhin vierunddreißig Jahren doch noch die große Liebe ihres Lebens gefunden!
Nicht dass es ihr an Verehrern gefehlt hatte, einige davon waren allerdings verheiratet. Diese kamen für sie von vornherein nicht in Frage. Manche Schauspielerinnen ließen sich durchaus von wohlhabenden Ehemännern aushalten. Auf ihren Ruf achtete Roberta, denn, so schien es ihr, es wurde nirgendwo so viel geklatscht und getratscht wie an Schauspielhäusern, wobei sich ihre männlichen Kollegen besonders auszeichneten. So erschienen mehrere der Theatergrößen ab und an in Kastens Hotel. An der Table d’hôte besetzten einige der Honoratioren der Stadt, wie zum Beispiel der Senator Tramm und Pastor Waitz, eine bestimmte Ecke. Auch der Leiter des 1889 eröffneten Kestner Museums, der Archäologe Carl Schuchardt, gehörte jetzt zu diesem Kreis. Die Theaterleute fanden hier für ihre Geschichten geneigte Ohren – und man konnte gewiss sein, dass sich die sprachlich geschliffenen und gut vorgetragenen Schwänke in Windeseile in der Stadt herumsprachen. Besonders Julius Berend, der seit 1846 im Königlichen Hoftheater vor allem im komischen Fach brillierte, war für seinen scharfzüngigen Humor bekannt. Donnerstags war er ein für alle Mal bei Kastens eingeladen, weil es da sein Lieblingsessen, Sauerkohl und Erbsenbrei gab, mit einem Glas gutem Herrenhäuser Bier dazu. Sein frischer Witz machte ihn beliebt. So taufte er eine zierliche Schauspielerin, von der man wusste, dass sie einem Zeitungsbesitzer sehr nahestand, ›die kleine Abendbeilage‹.
Das wollte Roberta auf gar keinen Fall, dass so despektierlich über sie gelästert wurde. Wenn überhaupt, wollte sie ehrbar heiraten. Ein überaus wohlhabender Rentier hatte erst kürzlich eine geschätzte Kollegin aus dem Opernfach vor den Traualtar geführt, allerdings unter der Bedingung, der Bühne zu entsagen. Das kam für Roberta nicht in Frage. Deshalb lehnte sie den Heiratsantrag des steinreichen Chemiefabrikanten Theobald von Lensing ab. Dieser setzte mit großer Selbstverständlichkeit voraus, dass sie die Schauspielerei aufgäbe, um sich ausschließlich ihm zu widmen. Er konnte es kaum glauben, als sie ihm nach kurzer Bedenkzeit einen Korb gab.
»Du wirst das bitter bereuen, schließlich gehst du auf die vierzig zu!«, lauteten seine wütenden Abschiedsworte, bevor er türenknallend aus ihrer Wohnung stürmte. So viel zu Theobald.
Roberta zweifelte lange, ob eine Heirat überhaupt für sie in Frage kam. Aus der Ehe ihrer Eltern wusste sie, wie großes Leid und tiefgreifende Schwierigkeiten selbst in einer aus Liebe geschlossenen Ehe entstehen konnten. Ihre Mutter Hildegard stammte aus einer gutbürgerlichen Berliner Familie. Ihr Vater, Bertram Bernstein, durch Erfindungen für den Eisenbahnbau ein vermögender Mann geworden, war eigentlich nicht standesgemäß. Er warb aber ausdauernd und schließlich erfolgreich um seine Angebetete. Berta, so ihr wirklicher Vorname, blieb das einzige Kind. Ihre Mama ging oft ins Theater. Schon in jungen Jahren nahm sie ihre Tochter mit in die Vorstellungen und brachte ihr die Welt der Dichter und Denker nahe. Mit ihren Freundinnen führte sie bei kleinen Feiern lebende Bilder aus der Mythologie und kurze Spielszenen auf. Der Vater zeigte hierfür wenig Verständnis. Die ewige Leserei sei für das seelische Gleichgewicht eines Mädchens schädlich, die Lektüre bei weitem zu anspruchsvoll. Wenn überhaupt, solle sie erbauliche und leichte Mädchenbücher lesen. Ihre Mutter verstand es dennoch, die Tochter mit niveauvollen Werken zu versorgen. Sie spürte, dass Berta viele Talente besaß, die weit über das hinausgingen, was man gemeinhin einem Mädchen zugestand. Dies bildete nicht das einzige Zerwürfnis zwischen dem Ehepaar.
Der Vater wandte sich immer stärker von seiner Ehefrau ab, die auch kaum noch übersehen konnte, dass er mehrere Affären unterhielt. Das wurde zwar stillschweigend den Männern zugestanden und galt als gesellschaftlich akzeptiert, kränkte die Mutter aber dennoch sehr. 1868 kehrte Bertram Bernstein von einer Geschäftsreise nicht zurück. Bange Monate begannen. Niemand wusste, ob und was mit ihm passiert war. Er blieb einfach verschwunden. Unterstützt von ihrem Bruder, sichtete Hildegard schließlich die Vermögensverhältnisse und entdeckte hohe Verluste. Monate der Ungewissheit vergingen. Dann erfuhr die Mutter durch einen anonymen Brief, ihr Mann sei in Begleitung einer Frau und eines kleinen Jungen nach Amerika ausgewandert. Dies war schmerzhaft und demütigend. Weitgehend auf sich allein gestellt, mussten sie so manche Häme ertragen. Geldmangel zwang sie zu äußerster Sparsamkeit, was sich kaum verbergen ließ und zu weiterer Isolation führte. Es folgten freudlose Jahre, zumal ihre Mama immer schwermütiger wurde. Solche Erinnerungen stimmten Roberta noch heute traurig.
Was sie aus all dem gerettet hatte, war Theater zu spielen. Das stand für sie fest. Bei Aufführungen in der Schule fiel früh ihr großes schauspielerisches Talent auf. Eine Lehrerin machte ihr Mut, bei der Berliner Hofschauspielerin Johanna Blumauer vorzusprechen. Diese begnadete Künstlerin zog Berta stark in ihren Bann. Ausbildung und Rollenstudium verhalfen zu einer Phase des Lernens, die sie die häuslichen Zustände einigermaßen unbeschadet überstehen ließ. Die Mutter, ohne weiteren Lebensmut, starb, als Berta siebzehn Jahre alt war. Es folgte eine Zeit, in der sie sich noch mehr in die Welt der großen Theaterstücke zurückzog.
Ihre künstlerische Arbeit, die ihr wechselnde Gefühlszustände abverlangte, half ihr, die sorgenvolle Gegenwart zeitweise zu vergessen. Sie nahm den Künstlernamen Roberta Stein an und begann in Berlin ihre ersten kleinen Rollen zu spielen. Der Onkel übernahm die Vormundschaft und verwaltete so erfolgreich ihr bescheidenes Vermögen, dass sich ihre finanziellen Verhältnisse nach und nach stark verbesserten.
1877 verhalf ihr ein viel gelobtes Gastspiel in Hannover zu einem Engagement am Königlichen Schauspielhaus.
Welch ein Glück, dass ihr Onkel über eine Freimauererloge Maximilian von Elßtorff kannte, der eine Wohnung besorgte. Roberta mochte ihr Leben in Hannover. Vor allem aber liebte sie ihren Beruf. Die Vorbereitungen auf eine neue Bühnengestalt, bei denen sie sich oft auch mit dem Autor und seiner Zeit beschäftigte, ließen den Alltag in den Hintergrund treten. Sie kniete sich intensiv in ihre jeweilige Rolle hinein. Und sie genoss es, auf der Bühne zu stehen und mit Haut und Haar die Figur zu sein, die sie gerade darstellte. Auch gewährte ihr das Leben einer Schauspielerin einige Freiheiten, die anderen Frauen aus bürgerlichen Kreisen meist verwehrt waren. Sie führte ihren eigenen Hausstand, verdiente eigenes Geld und fühlte sich stolz und froh mit ihrer Unabhängigkeit. Noch vor kurzem hatte sie begierig in den Zeitungen Berichte über die Amerikatournee der österreichischen Schauspielerin Adele Sandrock verfolgt. Sie träumte manchmal vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Allein die Überfahrt mit dem Luxusdampfer Normannia von Hamburg nach New York musste ein besonderes Erlebnis sein!
In Amerika nicht nur zu spielen, sondern auch dessen riesige Weiten kennenzulernen – das wäre ein Traum!
Aber nun, mit August an ihrer Seite, schoben sich andere Sehnsüchte in den Vordergrund. Überhaupt erschien ihr mit ihm alles in einem neuen Licht. Zwar war der Sänger kein Adonis. Von seiner äußeren Erscheinung her konnte er sich gar nicht mit ihrem treuen Freund und Kollegen Oscar messen. Die ihn anschmachtenden Hannoveranerinnen nannten ihn den ›neunfingerigen Liebesgott‹, da er im Krieg den rechten Ringfinger eingebüßt hatte. Als jugendlicher Liebhaber begann er am Königlichen Hoftheater. Im Laufe der Jahre entwickelte sich zwischen Roberta und Oscar eine platonische Freundschaft, die allgemein bekannt und akzeptiert war.
Mit Oscar lernte Roberta oft Rollen. Von ihm, der sich auch für alles Amerikanische begeisterte, bekam sie den Spitznamen Bobby. Die beiden gingen des Öfteren soupieren, was sie immer sehr genoss, denn mit Oscar gab es anregende und vielseitige Gespräche. Sein Horizont reichte über die Welt des Theaters weit hinaus, was Roberta auch auf seine Lehrerausbildung zurückführte. Nach wie vor umschwärmten ihn die Damen, was er offenbar zu genießen schien. In den letzten Wochen allerdings reagierte er gereizt, wenn sie ihn wegen seiner Amouren aufzog. Seine Affären befriedigten ihn anscheinend nicht mehr so wie früher. Es sei an der Zeit für sie beide, den Hafen der Ehe anzusteuern, hatte er kürzlich scheinbar nebenbei fallen lassen. Roberta hielt dies für eine kurzfristige Grille, die einen Mann in den besten Jahren wohl befallen mochte.
Ihr Blick fiel nochmals auf den äußerst üppigen Rosenstrauß, der ihr gegenüber auf dem runden Mahagonitisch stand. Er war ein Kavalier vom Scheitel bis zur Sohle, ihr August, und obendrein noch ein außerordentlich guter Liebhaber. Zwar hatte sie nur wenige Erfahrungen auf diesem Gebiet gemacht – schließlich gab es nur sehr unsichere Möglichkeiten, eine Schwangerschaft zu verhindern. Und die bedeutete auch für eine Schauspielerin gesellschaftliche Schmach und Probleme –, aber so wie mit ihm war es nie gewesen …! Oft ließ sie die Sehnsucht die Tage bis zum Wiedersehen zählen. Obwohl sie allein war, errötete sie.
Plötzlich sah sie auf die Uhr – schon so spät! Roberta atmete tief durch, trank einen letzten Schluck Tee. Aus
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Text: Elvea
Images: Elvewa
Cover: Elvea
Editing: Renée Repotente, Yasmin Ehlers
Layout: Elvea
Publication Date: 01-13-2020
ISBN: 978-3-7487-2592-3
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