Cover

Introduction und Inhalt

Elvi Mad

Diana Doch Liebe?

My Love is like a Raven

Erzählung

 

Sie sank, weil sie zu stolz und kräftig blühte.

Prothoe, treueste Freundin Penthesileas, begründet ihren Tod

Der ganze Weg war nur Zärtlichkeiten und Neckereien vorbehalten.
Erst zu Hause beim Kaffee wollte ich erfahren, wie es gelaufen sei.
Miles antwortete nicht direkt. Dann druckste er heraus:
„Ich konnte nicht, Diana, ich konnte es nicht.“ Mir fiel das Kinn
runter. „Nein, Miles, nein, nein, nein. So läuft das nicht. So kann
das nicht laufen. Das haut so nicht hin. Du machst mich böse
auf dich. Ich habe dir alle Hilfe angeboten, nur einfach sagen:
„Ich kann nicht.“ das funktioniert nicht. Verstehst du? Wenn du
nicht kannst, dann will ich nicht. Das ist nicht das, was du gesagt
hast. Deine Worte können noch so schön sein, wenn du aber
anders handelst, dann sind sie nichts wert und gelogen. Miles,
das ist mir ganz, ganz ernst. Wenn du mich nicht erkennen lässt,
was sich da ändert und du nochmal von Reading zurückkommst
und sagtst: „Ich konnte nicht.“, ist augenblicklich alles absolut
Finito, verstehst du. Dann bist du nicht mehr der, den ich
in dir jetzt sehe. Mit dem anderen will ich aber überhaupt nichts
zu tun ha­ben. Ich hoffe, ich habe mich so deutlich ausgedrückt,
dass auch der ungebil­detste Guardian Reporter das unzweideutig
verstehen konnte.“ hielt ich meine Philippika.

 

Diana Doch Liebe? - Inhalt

Diana Doch Liebe? 4

Monika 4

Vielmännerei 4

Sentimentale Selbstbefriedigung 6

Gefühl ohne Wort 7

Love and Sex 8

Göttin – Königin - Arbeitsbiene 10

Lonesome 11

Shimo 11

Hoc est Audi 12

Shimos Liebste 12

Klagelieder 13

Schon bist du im Nebel 14

Claudia 15

Monika disturbed 15

Was musst du gedopt sein 16

Die Kosmopolitin 17

Porridge 18

Ravenmaster 19

Penthesilea 19

Hast du keine Angst? 20

Mir gefällt es hier nicht mehr 21

Regenbogen aus dem Blick gerissen 22

Ganz dicht an mir 23

Noch nie untreu 23

Missing Link 24

Wo steckst du? 24

Neues Paradies 25

Du bist nicht ehrlich 25

Wedding night 26

Stumm 26

Ja, ich liebe Paco 27

Etwas zu bereden 28

So läuft das nicht 28

Mich trösten 30

Shimo, hör auf! 30

Le Mans 31

Heiratsantrag 32

Diana, die Braut 33

Presseempfang 33

Charulekha 34

Charulekhas Augen 35

 

Diana Doch Liebe?

Diana, selbstbewusst und nüchtern, alles hat die kühle Wissenschaftlerin im Griff. Verstehen kann sie es nicht, warum sie nach der Premiere von Penthesilea nicht nach Hause gehen kann, sondern bei Miles bleiben muss.

Monika


Das war Monika, sicher das musste sie sein. „Moni!“ schrie ich ihr so laut ich konnte nach. Alle Menschen in der Fußgängerzone schienen heute Moni zu hei­ßen. Jeder drehte sich nach mir um und schaute mich an, aber Monika auch. Die Fußgängerzone war noch frisch belebt. Zwischen zehn und elf verschwan­den langsam die kleinen Wagen der Zulieferer, die Reste des Wischwassers vor den Geschäften waren getrocknet, die Menschen wurden mehr und ihre Dichte nahm zu. Aus Tiefgaragen, S- und U-Bahnen sog dieses kleine Pflaster mit den vielen Geschäften sie magnetisch an. In den Fußgängerzonen kommt der Mor­gen später, aber zwischen elf und zwölf ist die ganze Masse versammelt. Un­zählige laufende Menschen, von denen keiner weiß, wo der andere hin will. Je­der hat etwas vor, aber sie werden es auch wohl einfach mögen in dieser ge­schäftig wirkenden überfüllten Ameisenstraße. Du bist nicht allein, lässt dich dein Empfinden wissen, nur wo willst du anonymer und isolierter sein, als in dieser manchmal fast erdrückenden Menge. Wer nicht Moni hieß, drehte sich wieder weg, nur die eine kam auf mich zu und erkannte mich. „Hey, du alte Hexe, was machst du hier?“ begrüß­te ich sie nach der Umarmung. Monika war eine Klassenkameradin von mir ge­wesen. Seit der Schulzeit hatten wir uns nicht mehr gesehen. Meine Freundin war sie nicht direkt. Aber so etwas wie eine dicke Freundin hatte ich auch in der Schule gar nicht. Meine absolute Freundin war meine ältere Schwester. Zu­dem empfand ich mich auch ein wenig über den Dingen stehend, zumindest den Dingen, die meine Mitschülerinnen vorrangig bewegten. Ich kam mit allen ganz gut klar, soziale Probleme mit meinen Mitschülerinnen, die gab es nicht. Ich denke schon, dass man mir einen gewissen Durchblick attestierte, mich wegen meiner demonstrierten Coolnes und wegen meiner frechen Schnauze, achtete. Nur das war eben alles Schule, und die ließ ich in mein Privatleben nicht rein, auch Moni nicht. Sie stand mir wohl am nächsten, ich mochte sie auch. Meiner Ansicht nach hatte sie den besten Durchblick und lachen konnten wir auch gut zusammen. Sie hat mich öfter ein­geladen auch zu ihren Geburtstagen. Ich machte keine Geburts­tagsfeiern mit Mitschülerinnen. Wenn Moni nicht meine Klassenkameradin ge­wesen wäre, hät­te ich vielleicht mehr mit ihr zu tun gehabt.


Vielmännerei


Auch die Strahlen der Junisonne wirkten noch frisch, als wir außer einem älte­ren Ehepaar allein draußen im Café saßen. „Ha, jetzt ist wieder Schule.“ mein­te ich scherzhaft, denn die Zeit dazwischen gab es ja für uns nicht. Natürlich waren wir zwölf Jahre älter geworden, aber welche Rolle spielt das Gesicht, wenn du den Menschen kennst. „Alles geregelt Monika? Mann, verheiratet, Kin­der?“ fragte ich provokant. Moni schaute mich an, machte eine Schnute und grinste. „Ja, Mann, verliebt und irgendwann wird es wohl alles darauf hinaus­laufen.“ antwortete sie tranig, „Aber ich liebe auch noch einen anderen Mann, da wird es das alles nicht geben. Das ist beruhigend und fühlt sich gut und frei an.“ „Wie du hast zwei Männer, und die beiden wissen von einander? Und das funktioniert?“ erkundigte ich mich erstaunt. „M,m,“ schüttelte sie den Kopf, sinnierte kurz und fuhr fort „ich mag Robby doch, ja ich liebe ihn richtig, immer noch, aber dass ich Jan auch liebe, würde er bestimmt nicht ertragen können. Warum eigentlich? Es hätte doch keine Nachteile für ihn. Jetzt ist es doch auch schon so, und ich lie­be ihn doch nicht weniger. Mich verwirrt das alles prinzipiell kein bisschen. Mir gefällt es sogar sehr, die unterschiedliche Liebe von zwei verschiedenen Männern zu erhalten.“ „Viel­männerei ist das, Monika.“ kommentierte ich lachend, „Das gibt es nirgendwo, nicht war? In keiner Religion oder Moralvorstellung. Außer bei irgendwelchen Köni­ginnen, die sich vielleicht mal ein paar Gespielen hielten, gibt es doch kein Volk, in dem das verbreitet ist. Warum eigentlich nicht?“ „Weil häufig schon ein Mann allein zu viel sein kann.“ reagierte Moni lachend. „In Zeiten des Matriar­chats war das bestimmt anders.“ erklärte ich. „Ach wo, da haben sich die Frau­en einfach immer genommen, was sie gerade gebrauchen konnten. So wie die Männer sich das heute umgekehrt wünschen.“ berichtigte Moni meine Vorstel­lungen. „Ja, machst du solche Erfahrungen? Sind die alle genetisch so pro­grammiert und lernen nur ihre Gelüste in Schach zu halten, oder meinst'e nicht, dass es eher an der Sozialisation liegt? Also bei meinem Paco zum Bei­spiel könnte ich mir das gar nicht vorstellen.“ kommentierte ich, und wir hatten wieder etwas zu lachen. „Dein Paco, ist dein Mann, aus Spanien?“ wollte Moni wissen. „Monika, ich habe einen Freund, der kommt aus dem Emsland und heißt Frank. Kann man das ertragen? Paco macht ihn da nach außen wenigstens schon ein bisschen kompatibler.“ erläuterte ich. „Bist unzufrieden, oder?“ fragte sie nach. „Nein, nein, überhaupt nicht. Ich mag ihn schon sehr und als Mann ist er ganz in Ordnung. Was willst du mehr?“ antwortete ich ihr. Wir saßen bei Cappuccino und Espresso und viel anders als in der Schule war es nicht. Nur Frau Grothe und Herr Brandner waren jetzt nicht mehr die Objekte unserer Scherze, das waren wir selbst. Nicht wir selbst, sondern unsere Wege erwachse Mitglieder dieser Society zu werden. Ambivalent verlief es. Wir waren es ja in der Schule schon und fühlten uns nicht entsprechend respektiert und mit über dreißig ging kein Weg mehr daran vorbei. Unser Schlingerkurs zwischen unbewusster und erforderlicher Affirmation und gewünschter und praktizierter Subversion bot Anlässe zum Lachen über uns selbst.


„Und wie sieht's bei dir mit Family und Kindern aus?“ wollte Monika noch wis­sen. „Moni, du sprichst von Welten, die mich nicht tangieren. Ich habe das ja bei meiner Schwester erlebt. Praktisch von der Genese an. Die beiden haben es immer wunderbar verstanden, als ob der Horror Kleinfamilie für sie außen vor geblieben wäre. Alles läuft glatt. Aber, Monika, das macht mir Angst. Das will ich nicht. Das ist kein Leben. So geht Leben nicht.“ reagierte ich. „Und wie geht Leben nach deiner Vorstellung?“ erkundigte sich Monika. „Wild und ge­fährlich.“ antwortete ich lachend, „Nein, Monika, ich weiß es doch auch nicht, wie Leben zu gehen hat. Ich denke eher es hat überhaupt nicht, sondern ist wie ein Abenteuer, eine Forschungsreise, an der du teilnimmst, immer etwas neues entdeckst, das du nicht kanntest und das den Fortgang deiner Reise be­einflusst. Du musst nur die Augen aufhalten, damit du gut siehst, was da ge­schieht mit dir und deinem Leben.“ Dass man häufig etwas ganz anderes se­hen soll, als wirklich geschieht, wollte ich ihr am Beispiel Schule erläutern: „Schau mal, wenn dir jemand beschreibt, was Schule ist, dann leiert er dir eine Menge von Formalien herunter. Nur tat­sächlich passiert da ja viel, viel mehr und hauptsächlich etwas ganz anderes. Hunderte von Schülern leben dort, jeden Tag stundenlang. Latein und die an­deren Fächer lernen ist für den jungen Menschen relativ nebensächlich. Wenn er's nicht braucht, wird er später das meiste davon wieder vergessen. Was er aber nicht vergessen wird, stand in keinem Lehrplan. Das sind seine Einstellun­gen, seine Emotionen, sein soziales und kommunikatives Verhalten, die seine Persönlichkeit in dieser Zeit gebildet haben. Das Leben in der Schule hat ihn geformt. In sei­nem Leben steckt ein ganz großer Teil Schule und Schulerfahrung. Und das hat er einfach so blind geschluckt, die Entwicklung seiner eigenen Persönlichkeit.“ versuchte ich mich verständlich zu machen. „Mein Chaos wäre bestimmt näher am Le­ben als das funktionierende Familylife deiner Schwester.“ meinte Monika. „Wie­so Chaos, was du empfindest hat doch einfach seine Berechtigung und ist in Ordnung. Bewerte doch nicht deine Gefühle.“ ich dazu. „Ja, hast ja Recht. Ich habe das alles zu sehr internalisiert, stör mich schon fast gar nicht mehr daran. Das verdammt dich auf Dauer zum Trottel. Ich finde es ja schön mit Kindern zu leben. Ich habe überhaupt nichts gegen Kinder, nur wieso selbstverständlich ich? Immer selbstverständlich ich. Weil ich die Frau bin. Hat mich da je­mals einer nach gefragt, ob ich das überhaupt sein will? Ja, gefällt mir auch an sich schon besser so. Aber was für eine denn? Das selbstverständliche Programm, das man ihr in ihrem Spielraum zubilligt, hat sie abzuspulen. Und sie macht es, weil sie zu doof ist und nichts anderes kennt. Sie kann sich gar nichts anderes vorstellen und wünschen. Weißt du, Diana, manchmal wün­sche ich mir, alles nochmal von vorne beginnen zu können. Nochmal zur Schule zu gehen und alles ganz anders zu machen.“ reagierte Monika. „Wunderschön, meine Liebe. Ich bin sicher, du wirst auch heute nichts falsch machen. Wenn du dir deine Widerspenstigkeit nicht austreiben lässt, wirst du nie als Trottel deine zugewiesenen Muster abspulen. Du tust es ja jetzt auch nicht. Wo lebst du ei­gentlich? Bist du wieder hier?“ fragte ich. „In Darmstadt, ich bin nur einige Tage zu Besuch. Mein Vater hat Geburtstag.“ antwortete Monika. „Wenn dein Vater wieder Geburtstag hat, werden wir uns dann wieder treffen? Ich würde mich freuen.“ sagte ich. „Ich werde dich anrufen. Mit der Fußgängerzone ist es doch sehr unbequem. Da musst du so laut schreien. Ich komme auch, wenn meine Mutter Geburtstag hat und sonst auch schon mal, soll ich dich dann auch anrufen?“ erkundigte sie sich noch launig. Wir tauschten Telefonnummern und Mail-Adressen aus.


Sentimentale Selbstbefriedigung


Dieser Sommermorgen brachte nicht nur die freundlich stimmenden Strahlen der Sonne, er hatte mir auch Leichtigkeit gebracht. Leicht war mir's für den Tag, unser Treffen beschwingte mich, aber es verwirrte mich auch ein wenig. Monika hatte zwei Männer, in die sie verliebt war und ich keinen. Nur ich war ja selber Schuld. Ich wollte ja gar nicht. Ich war auch nicht verwirrt, weil ich nei­disch auf Monika mit ihren Zweien war. Ich ver­suchte es mir nur vorzustellen, in zwei Männer gleichzeitig verliebt zu sein. Aber verliebt waren sie ja alle. Das einzig Ge­meinsame daran, was alle Verliebten verband, war die Verliebtheit in das Wort. Ich mochte es nicht. Es begann mit den vier Ecken des Poesieal­bums, in denen sie drinstecken musste, die Liebe, lief über die Sehnsucht nach Musik- oder Filmstars, den Weihnachtsmarkt mit seinen Rauschgoldengeln di­rekt in die ekstatische Ver­zücktheit bezüglich eines Geschlechtspartners. Eine Veranstaltung zur senti­mentalen Selbstbefriedigung vermittels extensiver Sehnsucht nach einem an­deren Menschen stellte sie für mich dar. Für Wahrsager, Hellseher und andere im Okkulten Tätige vielleicht ein wünschenswerter oder notwendiger Zustand, als Grundlage einer persönli­chen Beziehung zu einem anderen Menschen aber denkbar ungeeignet. Meiner Einschätzung nach bedient sie ein Bedürfnis nach gefühlsbetonter Oberfläche bei dir selber, eine Entrücktheit zu der dich das schwärmerische Gerede über die Liebe leicht verleitet. Ich mag Paco sehr gern. Wir kommen prima miteinan­der aus. Haben viel Spaß zusammen, nicht nur im Bett. Was soll dem fehlen? Müsste ich auch vor Sehnsucht nach ihm beduselt sein? Schwachsinn. Zu mei­ner Schwester habe ich die längste und intensivste Beziehung. Sie ist mir äu­ßerst wichtig, aber verliebt? So ein Quatsch. Liebe ist eine kulturgeschichtliche Applikation, deren Stellenwert seit Beginn der bürgerlichen Kleinfamilie ständig gewachsen ist, und in den heutigen Hochzeiten sentimentalen Überschwangs ihren Zenit erreicht. Über das tatsächliche Verhältnis der zwischenmenschlichen Beziehung sagt das Wort nichts aus. „Wie schön, dass wir uns lieben.“ Sprache muss es sich gefallen lassen, auch so platt, hohl und banal missbraucht zu werden.


Gefühl ohne Wort


Obwohl, bei meinem Vater wäre es sehr dünn, zu sagen, wir verstehen uns gut und mögen uns. Da ist noch irgendetwas anderes, ein Gefühl, für das ich keine Worte habe. Meine Eltern waren immer beide wichtig. Mich an ihnen ab­zuarbeiten, das funktionierte nicht und Lust dazu, ich konnte sie nicht spüren. Sie waren wohl die beiden einzigen Erwachsenen, bei denen ich keinen Anlass sah, meine Widerspenstigkeit unter Beweis zu stellen. Wenn ich etwas zu bere­den hatte, meinte ich es besser mit meinem Vater zu können. Als ich damals eine Woche nicht zur Schule gegangen war und eigentlich abhauen wollte, war klar, dass ich mit ihm darüber sprach. Dass er nicht sagen wür­de, da hast du etwas falsch gemacht und aus diesem und noch andren Gründen soll­test du dich so verhalten, stand völlig fest. Das hatte er noch nie getan. Er fragte im­mer viel, als ob er mich besser kennenlernen wollte, interessiert daran, nach­zuempfinden, wie es sich für mich verhielt. Bei dem Gespräch zum Schwänzen wurd' mir deutlich, dass meine Flucht eher Zeichen dafür war, wie sehr ich mich von Schule hatte okkupieren lassen. „Du bist die Königin der Welt. Du suchst dir aus, was du für dich gebrauchen kannst, und wenn's die Schule ist, wirst du sie für dich nutzen.“ Lange hatten wir noch gesprochen, nicht über Schule nur, auch über alles, was im Leben wichtig war. Da war'n wir fit, ein höchst beliebtes Thema zwischen uns. Doch es veränderte mich stark. Ein neu­es Rückgrad hatte ich bekommen, das ich in Zukunft festigte und expandierte. Bestimmend blieb es für mein ganzes Leben. Noch heute herrscht der Feudalis­mus. Mein Untertan, die Welt, lässt seine Königin nicht immer dominieren. Auch in der Schule hat sich vieles schnell verändert, sehr radikal durch das Ge­spräch mit meinem Vater. Ich war nicht ihr Vasall, das konnte ich nicht länger sein. Ich litt nicht mehr, ich stellte Forderungen. Ich konnt' mich nicht mehr als Geknechtete empfinden, ich hatte Knechte, deren Pflicht es war mich klug zu machen. Dass konnt' ich kommunikativ gut bringen. Vorwürfe und Beschwer­den vertrat ich eloquent. Hier sah ich es zum ersten mal, dass Sprache meine Freundin war. Von Rose Ausländer lernt ich es später kennen. Sie sagte im Ge­dicht „Die Sprache“, zu ihr wie's mich im Innersten betraf. Einige Zeilen davon lauten:


„Halt mich in deinem Dienst
lebenslang
in dir will ich atmen
Ich folge dir
bis in den Schlaf
buchstabiere deine Träume
Wir verstehn uns aufs Wort
wir lieben einander.“


„In dir will ich atmen“ ist es besser zu formulieren? Süchtig saugte ich Literatur auf, als fixierte Sprache. Sie formte meine Welt. Ich ließ mich nicht nur tief be­wegen, sah wie viel zusätzlich gesprochen sie bedeutet. Es sind ja nicht An­sichten und Meinungen, nicht nur Erzählungen, Berichte, von denen du den In­halt verbalisierst. Sie ist ja ein Kompositum aus den vielen Möglichkeiten, die dir zu Äußerungen zur Verfügung stehen. Du sagst genauso viel über dich selbst, als in den Texten deiner Worte nachzulesen. Deine Persönlichkeit spricht mit, wenn Körper, Augen, Lippen sich bewegen. Dem Gegenüber schenkst du Anerkennung über Sprache. Das Zentrum deiner Kommunikation ist deine Sprache. Und daraus formt sich, wer du bist im Austausch mit den Menschen und den andren Dingen deiner Welt. Für meinen Vater war ich völlig offen. Es freute mich, wenn er erkennen wollte. Er hatte bei mir sprachlich jede Freiheit. Mit ihm zu reden, war und ist stets ein Genuss. Ja, aufs Wort verstehen wir uns beide. Und das ist mehr, als du mit Freundschaft schlicht benennst.


Love and Sex


Meine Vorstellung war klar. Ein Mann, wenn der mein Freund sein wollte, muss­te so wie mein Vater sein. Die Jungs, die ich so kannte, hielt ich für Kinder, nicht würdig meiner, nicht im Entferntesten. Für's Sexuelle hat ich damals schon Bedarf. Doch einen Freund und 'Miteinander- Gehen' und Freundschaft und was alles noch dranhing, es schockte mich. Das wollte ich auf keinen Fall. Doch als ich Schule schwänzte, lag's ja auch an einem Jungen. Ich wollte ei­gentlich nur einen Tag im Park verbringen. Ich hatte Stress gehabt, für heute sah's nicht anders aus. Sollt ich erklären, dass mich Wut getrieben, ich aus Verärgerung die Pflichten nicht erfüllt? Entwürdigend wär' das gewesen. Gelo­gen hätt' ich, das entwürdigte noch mehr. Er grinste und dann quatschte er mich an, als Ben vorbeikam und mich sitzen sah. Verbale kurze Rangelei, und uns war klar, dass wir verbündet waren. Nur flüchten konnt' man dieses Scheißsystem. Wir mussten weg, das war uns beiden sehr bald klar. Aber wo­hin? Ich musste nach Paris, er nach Italien. Wir einigten uns nicht und disku­tierten weiter. Längst hätten wir uns in Perugia schon gesonnt, hätt' ich nicht auf Paris bestanden. Wir diskutierten immer noch, als alles aufflog, und der Traum zerplatzte. Wir beide mochten uns wohl sehr gut leiden in diesen kurzen Tagen. Nicht nur Verbundenheit der Schuleschwänzer war es, da war mehr. Ich hätte doch mit ihm zusammenleben wollen, wär' er mir in's Quartier Latin ge­folgt. Das war doch selbstverständlich klar für alle beide. Als ich ihn anschlie­ßend dann treffen wollte, war er verschwunden. Keiner wusste wo er war. Ich hätt' es sagen könnten. Nur das kam nicht über meine Lippen.


So etwas sah ich jetzt nicht. Es kam nicht in meinen Sinn. Er kam nicht vor der Wunsch nach mehr Gemeinsamkeit. Bedürfnisse, mit einem Jungen, einem Mann Interessen und Erfahrungen zu teilen, es gab sie nicht. Langweiliges Ge­tändel, meint' ich, sei es, wenn ich es bei andern sah. Ein Ritual, das qualvoll zäh vollzogen werden wollte. Ein Mann war Sex, sonst konnte ich in ihm nichts sehen. Ich dachte ernsthaft, an die Freundschaft, die nur ficken wollte. Es musste sie doch geben solche Jungs. Man hörte und man wusste doch, dass sie es immer wollten, sich ständig wichsend nackte Frau'n ansah'n. Ob Wandlun­gen der Pubertät, sich zu stark in mir ausagieren wollten? Zu viel Hormone, die mich Sexuelles präferieren ließen? So sah ich es nur kurz, es war eher der so­ziale Change, den dieses neue Leben mit sich brachte. Sehr unruhig kam ich mir häufig vor. Als ob ich dringend etwas wollte, doch gar nicht wusste was es wirklich war. Ich war ja stark und dominant, so wollte ich mich sehen, doch ich war eingeengt und abgestellt. Ich war doch jetzt erwachsen, entscheiden durft' ich aber nur Banales. Man wollte es nicht wissen, dass ich jetzt kein Kind mehr war. Unausgefüllt kam ich mir vor, verantwortlich für nichts, nur meine Pflich­ten hatt' ich zu erfüllen. Leer und bedeutungslos sollte sie sein, die junge Frau, die 'Ich' als meinen Namen trug. Das macht nervös, es macht dich unruhig und rastlos suchend, gemischt ist es aus Wut, Enttäuschung und 'nicht wissen, was zu tun'. Letztendlich bleibt da immer nur, dich selbst zu suchen. Die Finger, die den Körper streicheln und die Clit. Nur das kann jetzt Entspan­nung bringen. Orgasmus und mit einem andren Menschen glücklich sei, das fand auf ganz verschiedenen Planeten statt. Da war ich meiner Ansicht ziemlich sicher. Auch diese nicht gerechtfertigte Verbindung, war Teil der Liebe, wie sie jeder sah. Die Frau'n in Pornofilmen konnt' ich gut versteh'n. Was war denn schon dabei, sich ständig fickend fremden Männern anzubieten. Nur meine Möse vor die Lin­se einer Kamera zu halten, das wollt ich nicht und hielt es für entwürdigend. Für Wichsvorlagen fremder Männer war mein Körper nicht zu haben. Es sollt auch mein Privates bleiben, Bezug nach außen hatt' ich anderswo genug. Be­schäftigt hat es mich damals schon sehr, zumal es ja auch immer Steigerungen wollte. Anwandlungen, mich exhibitionistischen zu gebaren, die gab es nicht. Auch meine Kleidung war nicht brav und bieder, jedoch sexistisch war sie kei­nesfalls. Das war auch wichtig zum Verständnis meiner Rolle. Objekt für Män­nerfantasien wollt' ich niemals sein.


Im Laufe der Zeit bin ich ruhiger geworden, absolut ruhig. Allein diesen einen­genden, entwürdigenden sozialen Clinch Schule los zu werden, macht frei und gelassener. Ich wollte ja diejenige sein, die bestimmte, was mit mir in Schule geschah, aber eine Affirmation muss sich auch wohl gegen deinen Willen nicht verhindern lassen. 'Kein richtiges Leben im falschen', das konnte ich nur unter­streichen. Das richtige Leben sah dann so aus, dass sich die junge Frau die Freiheit nahm, sich unendlich in Arbeit zu vertiefen. Jetzt hatt' ich's selbst ent­schieden, und ich wollte's so. Unausgeglichen und nervös waren Vokabeln, die ich nicht mehr kannte. Mit Zuneigung hat es auch wieder unbedingt zu tun. Einfach rattig sein und ficken wollen, das ließ mich lachen, so etwas gab es längst nicht mehr. Ich hab's ja im Prinzip schon gern, natürlich, aber wie sich was entwickelt, das hängt von Paco und uns beiden ab. Und das ist angenehm und trägt nicht wenig bei zu unsrem Glück. Warum wir uns mögen, weiß ich gar nicht. Es hat sich einfach so ergeben. Dadurch dass wir öfter in Seminaren und bei Arbeiten mit­einander zu tun hatten, redeten wir häufig miteinander. Es ergab sich eine Nähe, die uns beiden nicht unange­nehm war. Das haben wir in­tensiviert, mehr eigentlich nicht. Verstanden haben werden wir uns gegensei­tig. Gut verstanden und das ist sehr viel. Ob wir uns gegenseitig instinktiv ge­funden haben? Ausschließen will ich's nicht. Rational hätte ich so etwas keines­wegs gebraucht, aber was wäre das denn für ein Leben ohne Paco? Empfindun­gen und Bedürfnisse aus Regionen meiner Welt die ihre Königen nicht respek­tierten schienen eigenmächtig Regie zu führen. Den an meinem Vater orientier­ten Vorstellungen über einen potentiellen Freund entsprach Paco in keiner wei­se. Ich fühlte mich ihm zwar manchmal ein wenig überlegen, aber dass ihn das nicht störte, machte ihn sicher zusätzlich sympathisch. Er kam mir vor wie ein Mann, bei dem sich jede halbwegs vernünftige Frau glücklich schätzen könnte. Also tat ich es auch.


Göttin – Königin - Arbeitsbiene


Ich, Diana, wer war das denn, diese jungfräuliche Göttin der Jagd, des Waldes und des Mondes? Nicht Jagd, Wald, Mond dominierten mein Interessen, son­dern vornehmlich der Dschungel in dem sich unser soziales Leben auf der Erde abspielte, und welche Rolle ich darin einnahm. Nicht die Göttin, mit der Kraft andere in Hirsche zu verwandeln, die Rolle gaben viele auch ohne mein Zutun längst, aber die Königin meiner selbst wollte ich schon sein. Sprache, der Um­gang mit ihr, und ihre vielfältige Bedeutung hatte mich schon während der Schulzeit in ihren Bann gezogen. Dass ich Germanistik studierte war nur folge­richtig. Als ich begann, die Möglichkeiten der Schule umfänglich für mich zu nutzen, hatte das auch eine Menge zusätzliche Arbeit zur Folge. Im Studium erging es mir nicht anders. Alles Mögliche konnte bedeutsam und interessant sein. Mein starkes Interesse für die Dramaturgie legte eigentlich ein zusätzli­ches Studium der Theaterwissenschaften nahe. Das tat ich zwar nicht, besuch­te aber viele Vorlesungen und Seminare. Meine beste Freundin dort, war jetzt Re­gieassistentin am Theater und hatte mir auch einen Vertrag mit einigen Stun­den vermittelt. Neben meiner Dissertation und den Veranstaltungen, die ich durchzuführen hatte, war ich bis über beide Ohren beschäftigt. So verliefen meine Tage.


Das sollte ich sein, diese eifrige Arbeitsbiene? Deren Kalender mit Terminen gefüllt und für die die Zeit am Schreibtisch immer viel zu knapp war. Mit einem süffisan­ten Lächeln schaute ich sie an. Ja, ja, in Widerspruch zu mir stehen konnte sie ja nicht, und zu dem meisten hatte ich ihr ja auch geraten. Ich woll­te ja schließlich nur ihr Bestes, wollte, dass sich ihr alle Chancen eröffneten. Aber war es auch das, was ich selber wollte, immer gewollt hatte? Würde Bien­chen langsam abdriften und sich eines Tages davon entfernen? Alles vergessen haben und nicht merken und verstehen, wie und warum ich nicht mehr glück­lich war? Ich persönlich legte gar keinen Wert darauf, fleißig zu sein und gute Noten zu bekommen. Das waren doch signifikante Zeichen höchster Affirmati­on. Sie auch im Grunde nicht. Sie sagte immer nur, es sei die Bedingung für ir­gendetwas. Na schön, aber sie machte sich dadurch doch auch abhängig, ließ sich immer mehr in alles Mögliche einbinden. Das wäre ich doch nicht mehr. In mir war der Traum, nach Paris abzuhauen, nie ge­storben. Selbst wenn er nur noch eine Metapher darstellte. Auch wenn sie nicht mehr mit mir in die große Freiheit flüchten wollte, Bienes Selbstbehauptung und Coolnes gefielen mir schon sehr. Und auch ihre Vorstellungen zu Amore und sentimentalen Anwandlungen lagen voll mit mir auf einer Linie. Ich hatte doch die bedingungslose Freiheit gesucht. Ich wollte alles flüchten und ein freier Vogel sein. Nur ich sollte bestimmen, wo ich hinflog und mich niederließ. Daddy hat mir gezeigt, dass ich hier ein Zuhause hatte. Dass man mich hier verstand, und man mich liebte. Als freier Vogel war ich ganz allein. Ich wollte beides, sehnte mich nach beidem. Es war mehr als ein schwärmerischer Traum. Und heute? Beides sind jetzt nur noch Fantasien, die absolute Freiheit und das wärmende Zuhause. Bienchen würde es vergessen, langsam vergessen und verdrängen, weil sie ja immer so beschäftigt ist und Ge­danken daran nur lästig und ineffektiv wären. Aber träumen, wovon will sie denn träu­men?


Lonesome


Was ich nachts träumte, offenbarte sich mir nie, wenn ich nicht aus einem Traum geweckt wurde. Aber wenn ich am Schreibtisch saß und meinen Blick durch's Fenster auf die im leichten Wind klimpernden kleine Blättchen des ge­genüberliegenden Baumes gleiten ließ, überkamen mich schon öfter traumhaf­te Anwandlungen. Blütenträume waren das nicht. Ich konnte es mir nicht an­ders vorstellen, aber sinnierende Tragträumereien hatten immer einen melan­cholischen Grundton. Sie waren der einzige Raum, zu dem das, was mich nicht erfreute offen Zugang hatte, in dem ich meine Klagen, meine Schmerzen äu­ßern oder sie einfach nur beweinen durfte. Nie weinte ich. Offen gezeigte Ver­letzbarkeit und Traurigkeit waren mir verboten. Ich durfte sie nicht einmal empfin­den. Was machst du denn, wenn die Augen deines Doktorvaters perma­nent: „Komm mit mir ins Bett!“ sagen, während er mit dir spricht. Entwürdi­gender Macho, Wut, dass du dich nicht wehren kannst. Du lässt es aber vor dir selber gar nicht zu. Patriachatstrivialitäten über die du dich doch nicht echauf­fierst, erklärst du dir, aber er hat dich verletzt. Als Königin bist du so einsam, du fühlst dich schrecklich einsam. Nicht weil du dich von allem ausgegrenzt siehst, sondern weil du selbst mit dei­nem Herzen alles verlassen hast. Weil du auf die Spitze des Berges klettern wolltest, um über allem zu stehen, den bes­ten Überblick zu haben, aber jetzt meinst du oft, nur noch die Wolken von oben zu sehen. Ich hatte doch emotional gar nicht alles verlassen. Mein Vater, meine Schwester, mein Freund, trotzdem empfand ich mich manchmal gren­zenlos einsam. Ver­stehen konnte ich es nicht.


Shimo


Ich war doch nicht allein. In mir lebte doch Shimo und ich war sicher, dass es umgekehrt genauso sein musste. Shimo und ich waren zwar getrennte Wesen, aber ohne den anderen war der eine nicht denkbar. Shimo hieß eigentlich Si­mon. Zuerst hatte ich ihn Shimon genannt, dann nur noch Shimo. Meine Schwester und mein Schwager nannten ihren Sohn dann auch so. Meine Be­geisterung für den Kleinen, fast vom ersten Moment an, tat meiner Schwester gut. Meine Faszination damals war grenzenlos. Nicht weil ich etwa als Mädchen Babys so niedlich gefunden hätte, ich konnte miterleben, wie aus dem, was den Bauch meiner Schwester so dick gemacht hatte, immer mehr Mensch wur­de und das war er im Grunde schon vom ersten Moment an. Er suchte Kontakt. Sicher erkannte er das Gesicht meiner Schwester eher als meines, aber dass er lächelte, wenn er mein Gesicht sah, ohne dass ich ihn vorher angesprochen oder angelächelt hätte, erstaunte und faszinierte mich. Es machte mich glück­lich. Das tun wir beide automatisch bis heute, uns gegenseitig glücklich ma­chen. Den anderen zu sehen und mit ihm einige Worte zu wechseln, reicht dazu schon. Die Beziehung zwischen Shimo und mir als Freundschaft zu be­zeichnen, wäre Sprachmissbrauch. Shimo hatte bei mir alle Freiheiten, so, wie ich es auch für meinen Vater sehen würde.


Hoc est Audi


Sein unbedingtes Vertrauen war nicht zuletzt dadurch entstanden und gefestigt worden, dass ich die einzige war, mit der er über Autos reden konnte, bezie­hungsweise die ihm dabei zuhörte. Shimo war nämlich ein bisschen gaga. Wahrscheinlich war schon sein erstes Wort 'Mama', aber 'Audi' folgte dem be­stimmt direkt. An Automarken hatte er den Gebrauch seiner Sprechwerkzeuge ausgebildet. Zuerst lachte man über dies Kuriosum, aber als Shimo sich auch weiter in allem nur für Autos interessierte, versuchten Claudia, meine Schwes­ter, und ihr Mann es strickt zu unterbinden. Doch für den kleinen Mann war es ja keine Theateraufführung gewesen, die sich jetzt durch ein Finale beenden ließ. Ich habe mich oft mit meiner Schwester auseinander gesetzt, weil ihr Vor­gehen mir inakzeptabel und ineffektiv erschien. Ich machte ihr keinen Vorwurf, aber versuchte ihr zu erklären, wieso sie in gewisser weise selber die Grundla­gen dafür gelegt hätte: „Wenn du ihn als Baby anschaust, weißt du, dass er ein Junge ist. Etwas Neutrales gibt es nicht. Was siehst du denn, wenn du ihn an­schaust? Du siehst einen Jungen. Und was ist denn ein Junge für dich? Wie sieht denn dein Bild von einem Jungen aus. Anders als von einem Mädchen be­stimmt. Wenn du schaust, ist dein Blick nicht nur leer offen empfänglich, für das was sich dir darstellt. Deine Augen erwarten immer etwas. In alles was sich dir zeigt, sehen sie auch etwas hinein. Und oft, oder sogar meistens siehst du nur das, was deine Erwartungen erhoffen. Den kleinen Jungen, so wie du ihn dir vorstellst, wirst du in deinem Sohn sehen, und das tun, von dem du meinst, dass es einem kleinen Jungen gut gefällt. Zartheit und Sanftheit wer­den voraussichtlich nicht deine dominierenden Verhaltensweisen sein. Er wird sich nach dir richten, etwas anderes gibt es ja nicht. Und bevor er ein Wort sa­gen kann, wird er schon zeigen, das ihm etwas ganz anderes Spaß macht als einem sogenannten typischen Mädchen. Auch wenn es nicht das ist, was du gerne möchtest, aber die Basis dafür hast du ihm trotzdem schon vermittelt. Damit umgehen solltest du jetzt, denn einfach verbieten lässt es sich, glaube ich, gar nicht.“


Shimos Liebste


Wir respektierten unsere unterschiedlichen Auffassungen wie es zwischen uns beiden selbstverständlich war, und so wurde ich Shimos Liebste, die Einzige, bei der er etwas von Autos erzählen durfte und die ihm zuhörte. Auch wenn mich nichts weniger interessierte, als Gespräche über Autos, und mir nichts so verhasst war, wie die deutsche Ingenieursmentalität, die zerstörte, was sie meinte zu entwerfen, weil jegliches Gespür für Leben und Natur in ihrem Rah­men wesensfremde Elemente waren, und die ja gerade durch den Automobil­bau gestärkt und gefördert wurde, Shimo hörte ich trotzdem zu. Shimo muss­te ich bei allem zuhören, was erzählte. Die Lust bestand darin, zu erfahren, dass er mich etwas von sich wissen lassen wollte. Er teilte mir etwas für sich Be­deutsames mit, wie hätte das für mich unbedeutend sein können. Ähnlichkei­ten zu dem Ver­hältnis zwischen mir und meinem Vater gab es bestimmt, nur bei Shimo kam auch noch etwas hinzu. Zu allem fragte er mich und alles be­sprach er immer mit mir. Wie sein Alter Ego kam ich mir manchmal vor und musste ihn öfter darauf verweisen, dass dies eine Entscheidung von ihm für sich sei, die nur ganz alleine er selbst treffen könne. Ich möchte seine Persön­lichkeit mal in ei­ner Graphik mit unterschiedlichen Farben sehen. Bestimmt würde ich den größten Bereich ausfüllen. Von mir war ganz viel in seinem Le­ben und bei mir würde auch sehr viel von ihm sein. Ja, seit seiner Geburt hat­ten wir immer ein­ander gelebt. Seine Faszination für Autos hat sich aber nie gelegt. Gedanken darüber, was es wohl ausgelöst haben könnte, machte ich mir schon lange nicht mehr. Das Rollen und der Glanz und das sie selber sich bewegen, bestaunt ja jedes Kind und liebt es mit kleinen Autochen zu spielen, nur Timo musste sich mit einem Jahr noch etwas anderes vermitteln, das emo­tional Tiefen berührte. Wer wollte jemals sagen, was das war. Wahrschein­lich hatte die Autobegeisterung wie bei jungen Musikern ein eigenes Gehirnareal ausgebildet. Aber sie wird heute nur noch als sein intensives Hobby bedient. Obwohl er In­formatik studiert, ist er nicht in die Ingenieurswelten abgetaucht. Auch im Cy­berspace lässt sich wunderbar über Literatur, Lyrik und die sonsti­gen schönen Küns­te kommunizieren. Dem Ingenieur ist nichts zu schwör, au­ßer ein Gedicht zu lesen. Shimo liebt es aber und tut es häufig. Mehr als das, was Shimo und mich ver­band, konnte Liebe nicht sein.


Klagelieder


Wie konnte ich mich trotz Shimo einsam fühlen? Aber diese Melancholia war da. Einfach da. Nicht tagsüber wenn ich arbeitete und kommunizierte, auch nicht einfach so abends oder beim Einschlafen, nur in meinen Tagträumen, wenn ich in die Leere blicke und alles los zu lassen schien. Eigentlich wollte ich das nicht, aber mir kam es vor, als ob ich es auch ein wenig möchte. Einfach traurig sein, traurig sein erle­ben, als ob es mir ein Bedürfnis wäre. Der Inge­nieur las nicht nur keine Ge­dichte er sang auch keine Klagelieder. Vielleicht war es aber für die Psyche ge­nauso wichtig, wie sich über Angenehmes freuen, sein Leid klagend zum Aus­druck bringen zu können. Ich meinte zwar kein Leid zu haben, fühlte mich stark und keines­wegs depressiv, aber eine unerfüllte Sehn­sucht zu beklagen, von der ich gar nicht wusste, worin sie denn bestehen soll­te, das tat auch trotzdem gut. Die Lieder vie­ler Völker taten das, nur auf deut­schen Autobahnen kam es nicht vor. Dass die­se Misskultur, der Menschenfeind­lichkeit zu Grunde liegen musste, hier so das Leben dominieren konnte, ärger­te mich oft so maß­los, dass ich wirklich überlegte, auszuwandern. Aber nicht nur Shimo förderte diese Kultur durch seinen Formel 1 bis 999 Fetischismus, ich hatte ja in anderen Zusammenhängen selbst auch wohl einiges davon in­ternalisiert.


Doch auch das Bild der Königin gefiel mir gar nicht mehr. Wenn es eine Meta­pher für meinen Vorsatz war, mich nicht affirmativ vereinnahmen zu lassen, kritisch, subversiv und widerspenstig mit meinem Leben und den Auseinander­setzungen mit dieser Welt umzugehen, dann war es ja in Ordnung. Nur ich hat­te meistens viel mehr hinein interpretiert. Als ob ich mich und mein Leben aus einer höheren Warte sähe, objektiv sehen könne, und daran meine Entschei­dungen ausrichten. In der Schule hatte es mir geholfen, nur jetzt passte alles manchmal überhaupt nicht mehr. Außerhalb und darüber stehen ist ein Trug­schluss, der nicht funktionieren kann. Du bist immer selber mitten drin, be­stehst aus ihr, bist Teil von dem, was dich umgibt. Das ist schon so, seitdem du nach der Brust von deiner Mutter suchtest. Alles was seither geschehen ist, hat die Skulptur geformt, die du jetzt bist. Dein Rationales und Bewusstes, das ist heute, Erkenntnisse, die sich dir offenbaren und Folgerungen die du schließt, nur da ist auch noch vieles andere, was dir Gestalt gab, aber du nicht siehst. Du kannst nur das Bewusste sehen, Melancholie und Sehnsucht wohnen an­derswo.


Schon bist du im Nebel


Ein realer Anlass für die Klageweiber bot sich schon bald. Das Undenkbare war geschehen, Gerd mein Schwager, hatte eine Freundin und wollte Claudia ver­lassen. Was er auch in die Tat umsetzte. Das war tatsächlich unfassbar. Alles nur Fassade, das glückliche Leben der beiden? Nein, nein so war es nicht, dafür hatte ich zu tiefe Einblicke. „Ich denke die Leute finden Verliebtsein ungeheuer schön.“ versuchte Shimo das Verhalten seines Vaters zu analysieren, „aber das dauert ja nicht lange, und dann kannst du es nicht einfach mit Mutti nochmal neu machen. Das geht immer nur einmal, aber die Lust darauf behältst du im­mer und träumst immer stärker davon, je länger es her ist. Und sobald sich eine Möglichkeit bietet, lässt du's einfach geschehen. Und schon bist du im Ne­bel und siehst nichts mehr.“


Claudia war völlig zusammengebrochen. Sie wohnte jetzt erst mal bei uns, da­mit ich sie immer bei Bedarf in den Arm nehmen und wir gemeinsam weinen konnten. Es war oft anrührend gewesen, die beiden nach zwanzig gemeinsa­men Jahren immer noch so liebevoll, zuvorkommend und zärtlich zu sehen. Das musste auch mehr als intensive Freundschaft gewesen sein. Nur Claudia hatte ihre Identität aufgegeben. Es gab sie nicht mehr allein, sie war im Ge­meinsamen aufgegangen. Sie hatten das andere im Gegenüber nicht mehr ge­sehen, nicht mehr das andere akzeptiert und geliebt, sondern alles aus der Ge­meinsamkeit definiert. Jetzt konnte sie nur weinen und klagen und empfand sich persönlich zerstört. Sie wollte Gerd immer Briefe schreiben, er müsse das doch verstehen. Er war noch immer Teil von ihr in ihrem Denken. Ich riet ihr davon ab. Mich würde es interessieren, was sie sähe. Gerd wolle so etwas wahrscheinlich im Moment gar nicht verstehen. Sie solle es für mich aufschrei­ben. Eigentlich hatte ich gar keine Zeit, aber dass meine Schwester in meinen Armen weinen wollte, war mir jetzt wichtiger als ein Seminartermin. Wenn wir beide uns nicht gehabt hätten, wäre sie bestimmt in der Psychiatrie gelandet. Alle im Haus wollten ihr gut sein, das war wichtig, aber anscheinend war nur ich ihr die direkte Hilfe. Paco musste öfter ins Gästezimmer, weil Claudia bei mir schlief. Wenn vorher schon die Beziehung zu meiner Schwester einen we­sentlichen Teil meines Lebens darstellte, dann hatte sie jetzt etwas Zusätzli­ches bekommen, das sie qualitativ veränderte. Meine Freundin war sie nicht mehr, das wäre ein viel zu dürftiges Wort.


Claudia


Shimo sprach öfter mit seinem Vater. Mir erzählte er davon, Claudia nicht. Er hatte seinem Vater nichts vorgeworfen oder aus- und einzureden versucht. Er hatte ihn nur auf sein eigenes Bild von sich aufmerksam gemacht, auf seine ei­gene Geschichte, die man nicht im Nachhinein umdeuten und umwerten kön­ne, und dass seine Gefühle so etwas auf Dauer nicht mit sich machen ließen. Er müsse es schon akzeptieren, wie es gewesen sei und er es empfunden habe. Er könne sich selbst ein Bild malen, wie es ihm im Moment gefalle, aber wenn es nicht mit ihm und seiner Geschichte übereinstimme, mache es ihn höchstens krank. Sich selbst belügen über sich und die Erfahrung seines Le­bens, das bringe auf die Dauer nichts. So und ähnlich hatte er ihm den Wert seiner Beziehung zu Claudia zu vermitteln versucht. Kein Wort über Claudias Kränkung und ihr Leid hatte er verloren.


Nach zwei Monaten kam ein langer handschriftlicher Brief von Gerd. „Er will zu­rückkommen. Er will zurück zu mir. Stell dir das vor.“ trällerte Claudia lachend auf dem Weg zu mir. Sie lachte aber nicht, weil sie sich freute und schon be­gann ihre Arme auszu­breiten, sie empfand es kurios. Was dachte dieser Typ sich eigentlich? Niemals hatte sie in ihrem Leben jemand so gekränkt wie Gerd, und den sollte sie jetzt mit offenen Armen empfangen und zum Liebsten erklären? Nein das war er einfach nicht mehr, dafür hatte sie zu viel über das geweint, was er ihr angetan hatte. Zu ihm wieder Vertrauen haben, wie sollte das möglich sein. Das war ein anderer gewesen, den sie geliebt hatte. Der hät­te so etwas eigentlich nicht tun können, doch tatsächlich war er es ja gewesen, der es getan hatte. Jetzt wein­te Claudia nicht mehr, dafür diskutierten wir Abende und Nächte lang über Be­ziehungen, Liebe und die mögliche Rückkehr von Gerd. Claudia schrieb Gerd einen ausführlichen Brief. Dass sein Rückkehr­wunsch nicht bedingungslos be­grüßt wurde, und Claudia statt die Arme auszu­breiten, den Sachverhalt klärte und wissen wollte, was sie denn von ihm zu er­warten habe, konsternierte ihn. Sie schrieben sich mehrmals, bis sie ein Tref­fen vereinbarten. Sie trafen sich öfter. Dass es ein zurück zum ex ante nicht geben könne, sahen beide so. Über das 'Wie denn dann' diskutierten sie, machten es oft und gern und verliebten sich dabei. Das war meine Schwester. Einfältig oder naiv war sie keineswegs, über feministische Fragen redeten wir gern miteinander, nur sie hatte von der Frauenrolle so viel internalisiert, dass es mich manchmal leicht schauerte. Sie war eindeutig Mamis Daughter und das würde sie immer bleiben. Mir gefiel es ja. Sie verfügte über viel Weichheit die mir fehlte. Suchte nicht Sentimentales sondern Harmonie. Bestimmt wäre sie eine tolle Künstlerin geworden, wenn nicht schon im ersten Semester ihre Schwangerschaft begonnen hätte und sie deshalb auf Lehramt wechselte.


Monika disturbed


Monika hatte sich gemeldet, sie wollte vorbei kommen und alles mal mit mir besprechen. Unser Zusammentref­fen begann immer noch mit dem schulischen, leicht provokanten Agrinsen, das aber auch die Gemeinsamkeit für den nächs­ten Streich in sich trug. Man wollte gemeinsam frech sein und Spaß daran ha­ben. Das wäre heute auch noch schön. Wahrscheinlich war es zum Teil der Per­sönlichkeit geworden, der einen auch mit fünfundsechzig noch erfreuen würde. Sie sei völlig disturbed, erklärte Monika. Als ich wissen wollte, was ich mir dar­unter vorzustellen hätte, erklärte sie mir, dass Robby von ihrem Verhältnis mit Jan erfahren habe, und da sie nicht sofort bereit gewesen sei, alles zu been­den, habe er sie verlassen. Sie habe sich noch einzureden versucht, das damit ja auch der ganze Horror Klein­familie vom Tisch sei, aber empfunden habe sie wohl etwas anderes. Anstatt sich von Jan trösten zu lassen, habe sie es gar nicht mehr gemocht, ja sogar eine Form von Hass auf ihn entwickelt, als ob er der Schuldige für ihre Wut darüber sei, dass Robby sie verlassen hatte. Jetzt habe sie niemanden mehr, aber am meisten konfus mache es sie, dass sie es anscheinend nicht ertragen könne, sich immer Gedanken darüber mache, ganz lieb und brav Robby bitten wolle und derartigen Schwachsinn mehr. „Diana, ich bin schlicht im Innersten eine dumme Ziege, und da lässt sich durch noch so viel Wissen nichts dran än­dern.“ klagte Monica. Ich nahm sie in den Arm. „Dass du keine dumme Ziege bist, meine Liebe, brauche ich dir ja wohl nicht extra zu sagen. Du nimmst dich selber nur nicht wichtig und ernst genug. Das mit der Befreiung von dem möglichen Fami­lyhorror ist ja ein schönes rationales Argument, aber du hast doch jemanden verloren. Jemanden, den du begehrt und geliebt hast, es gibt ihn nicht mehr in deinem Leben. Du bist doch verletzt und traurig. Da kannst du doch nicht sa­gen: „Ich will das nicht.“ Dein Leben ist ein anderes, als wie du Robby hattest. Das kann man nicht einfach so ertra­gen. Verlust tut weh. Egal was du mit dei­ner Ratio beschließt. Die Trauer weicht nicht, sie kommt immer wieder. In Schüben kommt sie, wenn du's gar nicht willst. Genauso wie das Glück mit Robby, wird sein Ver­lust Teil deines Le­bens werden. Es wird dich ändern. Du wirst eine andere sein.“ reagierte ich darauf. „Soll ich jetzt um Robby weinen? Das kann ich nicht.“ erklärte Monika. „Nein, um dich selbst, du hast die Trauer und den Schmerz, und den kannst du rauslassen, wenn's geht.“ antwortete ich. „Aber dumm bin ich schon. Na ja, vielleicht nicht selbstsicher genug. Ich trau mir selber immer nicht so richtig, als ob meine Gedanken auch ganz dumm sein könnten, und es andere gäbe, die den besseren Durchblick hätten. Aber ich glaube, das ist nicht nur bei mir, das ist bei vielen Frauen so oder ähnlich.“ meinte Monika. Ich musste sie um­armen. „Moni, bleib doch einfach hier. Ich hätte Lust, mit dir alles Mögliche an­zustellen und gemeinsam zu heulen.“ erklärte ich. Monika lachte laut auf: „Wie soll ich das denn machen? Ich muss doch arbeiten.“ Lust darauf schien sie aber schon zu haben. Zum Psychotherapeuten sollte sie gehen und sich für zwei Wochen krank schreiben lassen. Anschließend wollte sie ihren Urlaub dann hier verbringen.


Was musst du gedopt sein


Wunderbare Wochen begannen. Moni war absolut quirlig. Sie fühlte sich offen­sichtlich sauwohl. Brachte immer etwas Neues und uns ständig zum Lachen. Natürlich sind alle Frauen Blumen, nur Monika schien jeden morgen als eine neue Blüte mit frischer Kraft und andren Farben zu sprießen. Moni war das Le­ben, wie konnte sie sich nur in Darmstadt durch die Tage quälen. Shimo fand sie klasse. Er sei absolut gut drauf, meinte sie und wollte von mir näheres über ihn wissen. „Moni, lass das, der könnte fast dein Sohn sein.“ reagierte ich auf ihr Interesse. „Ach wo, so mein ich das doch gar nicht. Ich finde ihn einfach nur interessant.“ reagierte sie, „Autofan, so etwas habe ich noch nie erlebt.“ und lachte. Shimo mochte Moni aber auch wohl gut leiden, und wollte von mir auch mehr zu ihr wissen. „Shimo, sie ist eine alte feministische Hexe und wird dich in den Abgrund reißen.“ erklärte ich lapidar. „Jetzt sag noch, dass sie allen Männern den Schwanz abbeißt. Diana, darum geht’s mir doch gar nicht. Ich finde sie einfach nur nett, interessant und lustig. Ja schon klasse, aber ich will mich nicht in sie verlieben, damit hat das nichts zu tun.“ reagierte Shimo, was ihn aber nicht davon abhielt, sie abends mit in die Kneipe zu nehmen oder ihr sonst alles Mögliche zu zeigen. Einmal kam sie erst morgens wieder. Verkatert und abgekämpft erklärte sie: „Diana, ich weiß es nicht. Es war so, als ob ich's selber gar nicht war. Es war was anderes, das sagte mir: „Du musst!“. Ich konnte gar nicht anders. Hätt' es ja auch nicht gewollt. Komisch ist das, nicht war? Vielleicht fängt süchtig werden ähnlich an.“ schloss sie lächelnd und stöckelte sinnierend auf ihr Zimmer zu. Natürlich wollte sie Falco wiedersehen. Er war Informatik-Assi und schrieb an seiner Habilitation. Nachmittags rief Falco schon an. Von Shimo hatte er ihre Telefonnummer erhalten. Als er kam, um sie abzuholen, boxte Moni ihm in den Bauch. Lachend krümmte er sich kurz, aber dann musste erst mal ausgiebig geküsst werden. „Wir fahren dann mal.“ meinte Monika, „Sonst weiß ich nix.“ Monika wusste eigentlich nie etwas Genaues, nur dass sie beide schrecklich ineinander verknallt waren, Falco gleich am zweiten Tag beschlossen hatte, sich von seiner langjährigen Freundin zu trennen und meinte nach Abschluss der Habilitation in Darmstadt immer etwas finden zu können. Monika liebte nämlich ihren Job. Sie hatte eigentlich Archäologie studiert, war über ein Praktikum in Messel nach Darmstadt gekommen, hatte sich dort verliebt und war jetzt Denkmalpflegerin. Das wollte sie behalten. „Ach, Diana, was kann das Leben schön sein.“ sagte sie immer nur. „Ach, Moni, was musst du gedopt sein.“ konnte ich nur reagieren. Lustig war es auch während ihres Falco-Rausches. Dicke Freundinnen waren wir jetzt schon. Mail-Kontakt hatten wir ständig und wenn sie Falco besuchen kam, trafen sie sich entweder bei uns, und wenn er sie am Bahnhof abgeholt hatte, kamen sie immer wenigstens kurz bei uns vorbei.


Die Kosmopolitin


Wir hätten ja auch mal gemeinsam in Urlaub fahren können. Aber ich mochte so etwas im Grunde gar nicht. Irgendwohin zu fremden Orten fahren und dort Wochen nutzlos verbringen. Entspannend sollte das sein? Crazy machte mich so etwas. Natürlich gab es Landschaften, die den Augen schmeichelten, natür­lich konnte der Ozean berauschende Empfindungen vermitteln. Im Winter, aber doch nicht bei überfüllten Touristenstränden. Ich brauchte auch meine Kommu­nikation in allen Breiten, über Bedeutsames, Organisatorisches, Lustiges reden zu können. Das war doch keine Last, von der ich mich erholen musste. Das war mein Leben, das ich leibte und gewohnt war. Mich dort rausreißen und mich für vier Wochen irgendwo abstellen las­sen, war mir ein Graus, war Folter. Ich war auch nicht viel rumgekommen, obwohl ich mich gern kosmopolitisch gab. Aber die Welt war nicht mein Zuhause, bestimmt war ich ziemlich hausbacken. Auch wenn ich während der Schulzeit ein Jahr in den USA gewesen war. Das war na­türlich mit tollen neuen Erfahrungen verbunden. Vor allem hatte ich aber fast eine zweite Muttersprache dazu bekommen. Es war mein ei­genes Interesse, mich nicht nur fließend verständigen zu können, und die Worte in der amerikanischen Literatur zu verste­hen, ich wollte die andere Welt sehen, erfahren und begreifen können, wie Schriftsteller ihre Sprache brauchten, um sie zu kommunizieren. Ich wollte sie in allen Nuancen erfassen können. In Frisco bin ich eigentlich aus Neugier zum ersten mal so richtig fleißig geworden und fand Gefallen daran. Es gab ja keine Belobigungen oder Anerkennungen dafür, es war nur die Begeisterung über Entdecktes und die Bestätigung für mich selbst. Alles, was ich auf deutsch kannte, musste ich im amerikanischen Original nachlesen, und meistens ergab sich ein ganz anderes Bild. Auch wenn die Übersetzer sich noch so viel Mühe gaben, A Streetcar Named Desire ist und bleibt einfach etwas anderes, als was du mit Endstation Sehnsucht verbindest. Vielleicht konnte ich auch vieles anders sehen, nur weil ich ja jetzt hier lebte. Aber ein Interesse, weiter in der Welt herumzukommen, und mir irgendwas mal anzuschauen, hat es in mir nicht geweckt. Wenn mich eine ägyptische Familie eigeladen hätte, zwei Wochen mit ihnen zu verbringen, darauf hätte ich mich gefreut, aber die Pyramiden? Dafür reichte das Fernsehen doch. In Avignon war ich einmal mit meiner Freundin. Sehr gemischt waren meine Gefühle. Die Aufführungen waren schon faszinierent. Hätte mann die Stadt nur für die Theaterbesucher zugänglich gemacht, wunderbar, doch hauptsächlich befindest du dich im Menschengedränge auf einer Kirmes. Das ertrag ich nicht. Natürlich war ich auch schon mal kurz in London, Paris, Rom, Barcelona etc., aber mehr als dass ich sagen konnte. „Ich war da.“ gab's da eigentlich nicht. Und im Hinblick auf Theater spielte sich bei uns ja unendlich viel ab. Sie kamen doch alle zu uns. Es gab eine riesige Menge an Bühnen und überall Festivals mit internationaler Besetzung. Aber auch was die kleine autonome Bühne aus Kleists zerbrochenem Krug machen konnte, war ja oft nicht zu übergehen. Die Welt der Kosmopolitin spielte sich bei mir zu Hause und auf den Brettern dieser Stadt ab.


Porridge


Kleists Penthesilea wurde heute Abend uraufgeführt. Dass es auf dem Spielplan stand, war letztendlich auf meine Initiative zurückzuführen. Sie spielte nicht nur eine zentrale Rolle in meiner Dissertation über Kleist, sondern war auch meine Leib- und Magentragödie, die mich selbst immer wieder von Neuem auf­wühlte. Das Ergebnis von viel Kraft und langen Diskussionen wurde heute end­lich auf der Bühne dargeboten. Einer Katharsis gleich fühlte ich mich frei er­leichtert und wie neu geboren. „Oh, Entschuldigung, nach ihnen, selbstver­ständlich.“ meinte der junge Mann am Buffet beim kleinen Empfang nach der Premiere. Er sprach mit starkem Akzent, amerikanisch war das nicht, dafür nä­selte er zu viel. Es war sowieso kurios. Er hatte schon dort gestanden, als ich kam. Von Vordrängeln konnte keine Rede sein. „Oh, danke, das ist sehr höflich, von hier können sie nicht sein. Verraten sie mir denn auch, woher sie kom­men.“ rea­gierte ich lächelnd mit gleichem Akzent. Natürlich hatte er die Ironie verstan­den und meinte: „Schon, aber wenn ich ihnen das verrate, müssen sie mich auch vorlassen.“ „Sie können gerne vor mir nehmen, aber dass sie aus Eng­land kommen, höre ich auch schon so.“ reagierte ich. „Aus Groß-Britanni­en.“ korrigierte er mich. „Oh, oh, ja natürlich. Wie konnte mir das passieren, aber nach Porridge werden sie hier vergeblich suchen.“ kommentierte ich und der junge Mann platzte los vor Lachen. Bekam sich gar nicht wieder ein. Wollte et­was sagen und konnte gar nicht. Alle schauten schon rüber.


Ravenmaster


Ich wollte nicht viel essen und wieder zum Platz gehen. „Nein, nein,“ meinte der junge Mann, „gehen sie doch nicht, reden sie mit mir. Ich würde mich sehr gerne mit ihnen unterhalten.“ Wir setzten uns an ein freies Tischende und ich erklärte, dass ich England gar nicht möchte. „Wenn man sieht, welche Leute die sich als Premierminister oder -ministerin wählen, müssen das ja ganz schreck­liche Menschen sein.“ erklärte ich einfach dumm provokant. Ich war gut drauf und wäre gern ein wenig ausgelassen albern. „Na ja,“ erklärte mein Ge­genüber, „es gibt eben nicht in jedem Land so Rosen und Lilien wie Helmut Kohl und Angela Merkel.“ „Mag ja sein, das mein Englandbild aus lauter Vorur­teilen besteht. Aber die liebe ich. Und ich will sie auch behalten. Von England weiß ich nichts, außer dass es oben einen Kanal gibt und nördlich davon die Caledonier wohnen. Die Hauptstadt heißt London, liegt mehr im Süden, da gib­t’s eine Königin und die hat einen Raven-Master. Das reicht.“ erklärte ich. „Ich wüsste gerne wie sie heißen. Das Porridge war anscheinend kein Einzelfall. Aber mit dem Raven-Master verfügen sie doch schon über sehr differenzierte Kenntnisse.“ versuchte er krampfhaft ernst zu bleiben. Miles hieß er. „Raben sind sehr besondere und kluge Vögel. Nicht nur am englischen Hof auch in un­serer Kultur haben sie einen besonderen Platz:


„Let me quaff this kind nepenthe and forget this lost Lenore!"
Quoth the raven "Nevermore."“

zitierte ich. Miles schaute mich an. Wissen sie, ich arbeite hier für den Guardi­an und für den Observer auch manchmal. Bestimmt hat die Zentrale etwas von einem Braintrust, aber bei ihren Korrespondenten wird meines Wissens der Bil­dungsstand nicht überprüft. Ich weiß nicht nur nicht, worum es sich bei ihrem Zitat handelt, ich verstehe es auch nicht einmal richtig, obwohl es in meiner ei­genen Sprache ist. „Miles, Miles, das hinterlässt einen schlechten Eindruck. Von Edgar Allan Poe werden sie doch schon mal etwas gehört haben.“ Miles grinste immer. „Ja, aber erklären sie mir mehr.“ Dann konnte ich ihm alles erzählen von dem Raben Nevermore, von der toten Lenore, und der Droge Nepenthe, was ohne Sorgen,ohne Kummer bedeutet. „Aber auch die Sprache, so spricht doch heute niemand mehr. Verstehen sie das, oder haben sie nur dieses Ge­dicht mal gelernt?“ wollte Miles wissen. Ich erklärte es ihm und er meinte tro­cken: „Ich bewundere sie.“ „Tun sie das, es scheint ihnen ein Bedürfnis zu sein.“ reagierte ich darauf.


Penthesilea


Dann wollte er wissen, was ich beruflich mache. Als er erfuhr, dass ich maß­geblich an der Penthesilea beteiligt gewesen war, sah er mich mit großen Au­gen an. „Sind sie Penthesilea?“ fragte er direkt unkommentiert. „Sehen sie so etwas bei mir?“ wollte ich wissen. „Das weiß ich nicht, ich kenne sie ja gar nicht.“ antwortete Miles, „Aber für eine sehr starke Frau halte ich sie schon.“ „Und woran machen sie das fest?“ wollte ich wissen. Miles schaute mir in die Augen. „Das ist sehr schwer zu sagen. Wenn man zusammentrifft, hat man fast sofort ein Bild voneinander, aber woran es im Einzelnen liegt, kann man meist gar nicht benennen. Das machen die Emotionen untereinander aus.“ antwortete er. „Und wie sieht das Bild aus, das sie von mir haben? Beschreiben sie es, es in­teressiert mich.“ forderte ich ihn auf. „Nein, nein, das werde ich nicht tun.“ er­klärte Miles lachend und schüttelte dabei den Kopf. „Sie trauen sich nicht, weil Männer bei Frauen immer ans Sexuelle denken oder sehen sie Negatives, was sie mir nicht sagen wollen?“ hakte ich nach. „Nein beides nicht und beim Letz­teren eher umgekehrt.“ meinte Miles dazu. „Miles, sie haben mir noch gar nicht verraten, was wir übermorgen im Guardian zu unserer Penthesilea Aufführung lesen werden.“ machte ich ihn aufmerksam. Miles bog sich wieder vor Lachen. „Diana, sie sind wunderbar und verrückt. Ich hatte gedacht, aus unserem Ge­spräch würde sich das ergeben, aber sie erzählen mir etwas von Raben und dass sie England nicht mögen. Was soll ich denn da schreiben?“ erklärte er mit unterdrücktem Lachen. „Schreiben sie, dass die Regieassistentin sich voll mit Penthesilea identifizierte und erwartet, dass auch ihre Freundin einst von ihr sagen wird: „Sie sank, weil sie zu stolz und kräftig blühte.“. Zu den Raben könnte ich ihnen bei Bedarf auch noch etwas Schlichtes sagen.“ riet ich ihm. Jetzt lachte Miles nicht mehr, schaute mich aber mit großen Augen durchdringend an. „Ist das nur Scherz oder gibt es da auch ein Fünkchen Wahrheit dran?“ „Miles, das bin doch nicht ich. Nicht ich allein. Penthesilea hat Stärke bewiesen, wollte und konnte lieben, folgte ihren lebhaften Gefühlen, das ließ das Gesetz nicht zu. Heute gibt es zwar keine Gesetze, wen wir wie zu lieben haben, aber dein gesamtes Ego besteht aus einer Ansammlung von Gesetzmäßigkeiten und Regulierungen, die du alle brav internalisiert hast. Da hast du einen kleinen Spielraum. Aber mach mal etwas ganz anderes, dann fliegst du raus. Das ist dein sozialer Tod. Das hat Kleist damals schon gesehen, dass dein Fühlen, dein Unbewusstes im sozialen produziert wird. Niemand hat das gesehen und verstanden. Wenn du Goethes Reaktion auf den Text ließt, wirst du beschließen, von so einem Idioten nichts mehr zu lesen.“ antwortete ich darauf und Miles meinte: „Diana, ich möchte gern ganz viel mit dir reden.“ Ich schaute ihn länger an, grinste und erkläre: „Du würdest mir dann ganz viel von England erzählen? Dass auch der Mensch aus England mir begreiflich werden könnte?“ Wir waren ganz unbemerkt dazu übergegangen, uns zu duzen.


Hast du keine Angst?


Im Raum wurde abgeräumt und wir mussten in die Lounge oder an die Hotel­bar. Warum fuhr ich nicht nach Hause? Spät genug war es doch und Wesentli­ches gab es doch nicht zu bereden. Nur zwei Män­ner saßen noch in den Pols­tern der Lounge. Jetzt einfach gehen und „Tschüß Miles“ sagen? Nein, das woll­te ich doch überhaupt nicht. Aber was war denn mit Miles? Weiß gar nicht. Er war einfach so, dass ich bei ihm sein wollte. Er er­klärte mir, wieso er bei der Premiere war und warum er was für den Guardian zu schreiben hätte. Ich sah und hörte ihn gern reden, aber den Inhalt seiner Worte ver­folgte ich kaum. Plötzlich viel mir auf, dass er merken müsste, wie ich träumte. „Entschuldi­gung, ich hab gerade an meine Schwester gedacht.“ erklärte ich. Miles grinste. „Wieso, was hast du?“ fragte ich und musste dabei lachen. „Nichts, nichts, du kannst an alles und an jeden denken, wie es dir gerade Lust und Laune macht. Das ist völlig allein deine Privatsache.“ reagierte er. „Danke, so hätt' ich das auch gern gesehen.“ sagte ich mit einem Zwinkern und Miles bog sich wieder vor Lachen. An­schließend hielt er sich lange die Hände vor's Gesicht. Mit erns­tem Gesichts­ausdruck sagte er dann: „Du bist eine ganz bezaubernde Frau, Diana, du bist wunder­voll.“ „So, findest du?“ reagierte ich lächelnd, „Hast du gut überlegt, nicht wahr? Und keine Angst? Achilles sah das bei Penthesilea doch wohl auch so.“ „Schon, ich vermute ja auch, das du sehr stark lieben kannst,“ antwortete er, „aber Anzeichen zu einem Hang für exaltierte Raserei, würde ich ehr nicht er­kennen wollen.“ „Das siehst du schlicht Miles, du solltest tiefer denken.Eros und Tanatos, Liebe und Tod, eine Ambivalenz ist stets gege­ben. Aber ich kann dich beruhi­gen. Ich denke nicht, dass sich mein Leben und meine Liebe nur zwischen diesen Extremen bewegen. Meine Liebe ist ehr 'like a raven'.“antwortete ich ihm. „Was hat das zu bedeuten? Wie soll ich das verste­hen? Nevermore?“ meinte er erschreckt. „Nein, nein so nicht. Mit Poe hat das nichts zu tun. Es ist nur ein kleines Lied. Ich kann dir davon ein bisschen sin­gen, aber dazu brauche ich erst noch etwas von diesem dunkelroten Nepen­thes. Dann sang ich ihm an der Bar ein paar Zeilen von Rebecca Pidgeons 'My love is like a raven' vor:


My love is like a raven
Black against a sky of grey
With cold in your bones
And the winter coming on
And the smell of snow on the way.


„Nein, nein, Diana das glaube ich dir nicht.“ meinte Miles, „so kann ich dich nicht sehen. Heute nicht sehen, und du erweckst auch nicht den Eindruck, dass du gestern oder morgen jemand anders wärst. Das ist vielleicht ein schöner Blues, doch deine Liebe ist das nicht.“ „Miles, sag mir endlich, was du von mir sieht. Vielleicht fixiert dein Bild ja eine Fassade, die du zu sehen wünscht, aber mit mir nicht viel gemeinsam hat.“ „Nein, Diana, du quälst mich. Das kann ich nicht. Aber dass du stolz und kräftig blühst, sehe ich schon so.“ antwortete Mi­les, strich meinen Pony zur Seite und wollte mir offensichtlich einen Kuss auf die Stirn geben. Hätte das nicht unverschämt sein müssen, das dieser fremde Mann mich einfach anfasste und küssen wollte. Ja schon, nur daran hab' ich nicht gedacht. Ich tippte mit dem Finger auf die Lippen als Ort für seinen Kuss. Wir schauten uns an und grinsten, ein wenig, als ob uns gerade ein Streich ge­lungen sei. Wir umarmten uns, als wenn man das jetzt selbstver­ständlich müs­se und Miles flüsterte mir ins Ohr: „Diana, ich begehre dich.“. Sonderbar, wer sagte denn so etwas? Das hatte mir noch nie ein Mann ge­sagt. „Ich begehre dich.“ gut anhören tut es sich schon. „Ich begehre dich.“ wie schön. Ja, es fühlt sich doch gut an, warum sagte man so etwas nicht. Tau­send Redewendungen gibt es, die das um schrieben, aber ich war mir sicher, das schlichte, direkte „Ich begehre dich.“ würde jede Frau am liebsten hören. Ich sagte nichts, strahlte Miles ein wenig an und strich ihm mit meinen Fingern über die Wange.


Mir gefällt es hier nicht mehr


Dass ich Miles diese Nacht nicht verlassen würde, wusste mein Bauch längst und für Miles schien es wohl nicht anders zu sein, aber unsere Worte wollten es offensichtlich nicht benennen. Trennen würden wir uns nicht können, das brauchte man nicht zu erwähnen, nur sollten wir wartend bis zum Morgen an der Bartheke hängen, ob nicht vielleicht doch irgendwann mal jemand sagte: „Ich will jetzt mit dir ins Bett.“? Skurril war es schon. Ich sagte es auch nicht. „Miles, mir gefällt es hier nicht mehr.“ erklärte ich. Lächelnd meinte Miles dazu: „Wir können zu mir fahren oder hier im Hotel bleiben. Was du möchtest.“ „Ho­tel“ war für mich klar. Diese Nacht sollte Miles und mir gehören. Sie konnte ir­gendwo stattfinden. Im Wald, auf der Wiese meinetwegen auch im Himmel, aber keineswegs in irgendeiner stickigen Privatwohnung. Hier gab es nur luxu­riöse großräumige Zimmer. Entsprechend waren die Preise, aber was bedeutete das schon.


Regenbogen aus dem Blick gerissen


Ganz vorsichtig und ständig lächelnd, küssend zogen wir uns gegen­seitig aus. Ein sonderbares Feeling. Beim ersten Mal damals war ich ziemlich kaltschnäu­zig und grob gewesen, meinte, müsste meine Dominanz beweisen, jetzt be­herrschte ein Kitzel mein Gefühl, in dem ich gleichzeitig freudig ge­spannt, auf­geregt, nervös und unsicher war. Da lagen sie nackt nebeneinander im Bett, der Porridgefan und die Ravenmasterin. Warum? Es war schon klar, nur außer beim Entkleiden, hatten ihre Körper sich noch nie berührt. Wir lachten und wir spürten beide, dass wir nicht ratlos waren, aber kurios war's schon. Wir küss­ten und erforschten uns und waren zärtlich, die Symphonie der sanften Lust. Lang dauerte die Reise, war elegisch weit, bis sich die Höhen der Gebirge zeig­ten. „Ich bin noch da.“ machte ich mit Schweiß verklebten Haaren und erröte­tem Gesicht auf mich aufmerksam, als Miles schlapp neben mir auf dem Rücken im Bett lag. Er drehte sich, stützte sich auf seinen Arm und beugte sich über mich. „Diana“ sagt er nur und küsst mein Gesicht an allen Stellen. „Diana, du bist die Göttin. Du machst die Gesetze. Ich will keine Rosenfeste. Ich will sie jeden Tag, die Rosen, immerzu.“ „Penthesilea will kein neues Gesetz, sie will nur ihrer Liebe folgen, auch wenn sie dabei die Gesetze bricht.“ erklärte ich dazu. „Wirst du Gesetze für die Liebe brechen?“ fragte Miles. „Miles, mir war der 'Regenbogen aus dem Blick gerissen', so hat Rose Ausländer es einmal im Gedicht benannte. Ich habe mich an etwas andrem festgehalten. Jetzt bin ich mir nicht sicher, ob sich die Farben wieder zeigen. Ich wünsch es mir, doch klar erkennen kann ich's jetzt noch nicht.“ antwortete ich. „Lass mich den Regenbo­gen kolorieren, nur Farben, die dich glücklich machen, werde ich verwenden. Sie werden leuchten, und du wirst dich an dem Glanz erfreu'n.“ Jetzt redeten wir wieder in vollen Sätzen, und weniger zärtlich waren wir doch nicht. Vorher hatten wir nur in Ein- bis maximal Zweiwortsätzen hauchend kommuniziert. In­tuitiv. Vielleicht ein höherer Level verbaler erotischer Interaktion. Aber wir hat­ten uns auch öfter vielsagend angeschaut. Unsere bevorzugten erotic langua­ges waren für mich englisch und für Miles deutsch, aber sein Blick, der musste englisch sein, was der mir sagte, konnte er auf deutsch doch gar nicht formu­lieren.

Nachdem wir miteinander geschlafen hatten, gehörte Miles mir. Nein, Quatsch, das war es nicht. Er war auch vorher schon ganz nah bei mir. Nur die Barriere, die noch im Körperlichen lag, die war jetzt auch gefallen. Er wohnte völlig bei mir und das war selbstverständlich. Natürlich war alles völlig neu, aber ich empfand auch, dass es so sein müsse. Als ob es Gesetz und immer so gewesen wäre und zu bleiben hätte. Meine Welt. Unter ständigen gegenseitigen Liebko­sungen tauschen wir in Metaphern unsere Wünsche und Liebesbezeugungen aus, schmeichelten und neckten uns und schliefen zwischendurch auch noch mal miteinander. Miles war erschöpft und eingeschlafen. Schlafen das konnte und wollte ich nicht. „Miles, das geht nicht. Bei so viel Geld, kannst du doch nicht einfach pennen.“ machte ich ihn barsch wach. Ich war doch hier, um et­was von ihm zu haben und nicht, um ihm beim Schlafen zuzusehen. „Diana, weißt du, Miles, das bedeutet Krieger, Soldat, Kämpfer. Schrecklich, nicht war? Aber du solltest Kriegers Nachtlied kennen:


„Ach, ich bin des Kämpfens müde!
Was soll all der Schmerz und Lust?
Süßer Friede,
Komm, ach komm in meine Brust!“


zitierte Miles abgefälscht und ich ergänzte: „Warte nur, balde - Ruhest du auch.“ „Wenn er mir den Regenbogen malen will, wird der Kämpfer dabei aber nicht einfach einschlafen dürfen.“ monierte ich. Aneinander gekuschelt tausch­ten wir noch einige Neckereien aus, schliefen dann aber doch beide ein.


Ganz dicht an mir


Ein nüchternes Erwachen, oder was man so bezeichnet, gab es nicht. Alles war o. k. so, wie es gewesen war. Aber was daraus folgen könnte, das wussten nicht einmal die Sterne. Der Abend und die Nacht mit Miles waren ein anderes Leben. Mein Leben war das und da hatte ich Miles getroffen. Er war genau da, ganz dicht an mir. Einfach so, obwohl ich ihn gar nicht kannte, nur kleine Äu­ßerlichkeiten von ihm wusste. Aber deine Ratio ist sowieso völlig untauglich, so etwas zu merken. Was wusste ich denn? Was hatte mich denn an ihm festge­halten? Was hatte mich denn dazu getrieben, mit ihm ins Bett zu wollen? Nichts wusste ich. Mir blieb nur, Mutmaßungen über das Geschehene anzustel­len. Ich hatte mich nur unendlich wohl gefühlt, mit meiner ganzen Persönlich­keit in diesem Wohlgefühl aufgeho­ben. Warum gerade mit Miles? Wer wollte das wissen? Er schien einfach genau zu mir zu passen, als ob er schon immer mein engster Freund gewesen wäre. So selbstverständlich, obwohl wir uns gar nicht kannten.


Noch nie untreu


Als ich nach Hause kam, saß Paco gerade am Frühstückstisch. Nicht nur der Zeitpunkt meiner Rückkehr auch mein Aussehen konnten die Stürme der Nacht nicht leugnen. Wir schauten uns an. Niemand sagte etwas. Nach länge­rem Schweigen erklärte ich: „Frank, ich bin dir noch nie untreu gewesen.“ Wie­der längeres Schweigen. „Und warum dann heute?“ fragte Paco. „Ich weiß es nicht, Frank. Ich konnte nicht anders. Mehr weiß ich nicht. Überhaupt nicht. Mit dir hat es nichts zu tun. Zu dir hat sich nichts verändert.“ erklärte ich dazu. „Und wirst du jetzt öfter nicht anders können?“ fragte er weiter. „Frank, du quälst mich. Ich weiß nur, dass es geschehen ist und sonst nichts.“ antwortete ich. Es tat mir weh, mit Paco darüber zu reden. Er würde sich vorstellen, wie seine ge­liebte Diana mit einem anderen Mann im Bett liegt, ihn liebkost und mit ihm fickt. Sein Herz würde weinen. Ich wusste es. Ich wollte ihm ja gar nicht weh tun. Nur mein Leben konnte sich doch nicht daran orientieren, ob Paco es lieber anders gehabt hätte.


Missing Link


Tatsächlich wusste ich ja wirklich überhaupt nicht was werden würde. Ich konnte nur sagen, dass der gestrige Abend und die Nacht für mich und meine Emotionen etwas Exzeptionelles hatten. Genau das würde ich mir wieder wün­schen. Nicht die Premieren und anschließenden Empfänge, sondern das bei diesem Mann sein, mit diesem Mann zusammen sein. Jeden Abend von ihm den Vorrang bei den Bratkartoffeln eigeräumt zu bekommen, ernst zu bleiben, wenn man etwas Saudummes sagte, mit ihm zu Lachen, ihn zum Lachen zu bringen und von ihm zum Lachen gebracht zu werden. Ihn berühren zu kön­nen, wenn wir uns über etwas unterhielten. Dass alles so genau passte und wundervoll selbstverständlich funktionierte, wie das Missing Link in meiner Psyche, von dessen Fehlen ich gar nicht gewusst hatte. Einfach nur bei ihm sein, mich in seiner Nähe wissen. Natürlich war Miles ein anderer Mensch, aber es waren doch meine Augen, die ihn sahen und meine Ohren, die ihn hörten, sie sagten mir doch, wer das war und was ich sah. Die kannten nur, was schon längst in mir war. Wen sah ich denn in Miles hinein. In meinem Leben konnte es den nicht gegeben haben. Ich hatt' auch keine Träume von Menschen, bei denen ich mir so etwas gewünscht, doch nicht erreichen konnte. Das kam bei mir nicht vor. Wie sollte ich mein Glück mit Miles denn vorher träumen? Dass es das gab, lag außerhalb von dem, was ich erblicken konnte. Jetzt ist es mir ein Traum, doch wie es sich entwickeln lässt und ist völlig offen.


Wo steckst du?


Ich musste eigentlich etwas vorbereiten, aber ich war ja völlig derangiert. Ein wenig Schlaf brauchte ich unbedingt. Nur an Schlaf war gar nicht zu denken. Alles wiederholte sich, formte sich zu neuen Bildern, als ob der Abend mit Miles ein großes Begehren erfüllt hätte. Aber wann hatte ich so etwas begehrt, wann hatte ich mich denn danach gesehnt? Vielleicht kennst du deine Sehnsüchte gar nicht, oder du sehnst dich nach etwas Unbestimmtem, das du erst er­kennst, wenn es Realität wird. Als meine Sehnsucht kannte ich nur die leichte Melancholie, die mich Blues, Fado, Jazzgesang und Ähnliches lieben ließ. Aber Miles hatte mit Blues nichts zu tun. Es hatte keinen Zweck, ich konnte nicht schlafen, konnte nicht lesen, konnte nicht arbeiten. Was konnte mich denn so okkupieren, dass sich die Gedanken daran nicht mal zur Seite legen ließen. Wo sollte ich denn so immense Bedarfe gehabt haben, die in dieser Nacht erfüllt worden wären? Sie hätten sich mir doch zeigen müssen. Nichts verstand ich. Natürlich hielt ich trotzdem das Seminar. Eine Studentin grinste mich verste­hend schelmisch an. Dann würden es die anderen auch wohl trotz Rouge und Bemalung erkennen. Es lief aber. Miles hielt sich aus dem Seminar heraus. Ich brauchte also heute noch nicht zum Therapeuten. Gerade war ich zu Hause, stellte mein Handy wieder an, es klingelt sofort, Miles. „Wo steckst du?“ kein Hallo Diana, wie geht es dir, ich liebe dich oder dergleichen, einfach 'wo steckst du?' ich könnte mich totlachen über diesen Rüpel. „Nah, wo brave Frauen im­mer stecken, wenn der Mann ruft. Zu Hause, wo sonst.“ antwortete ich. „Willst du denn nicht kommen, Diana? Wollen wir uns denn nicht sehen?“ fragte Miles fast ungehalten. „Ja, doch, Junger Mann. Soll ich zu dir kommen, oder geht das nicht?“ erkundigte ich mich. Also fuhr ich zu Miles. Eine schreckliche Neu­bauwohnung in Mitte, wahrscheinlich sauteuer und der Guardian bezahlt.


Neues Paradies


Beim Begrüßungskuss fing Miles schon an mich auszuziehen. „Hey, hey, hey, hey, hey,“ drängte ich ihn zurück, „der Herr scheint heute aber sehr stürmisch zu sein.“ „Oh, oh, Entschuldigung. Diana du machst mich a little bit confused. Nein, es ist mehr als a little bit, viel mehr, total benebelt fühle ich mich. Ja, ich frage mich, ob ich das geträumt habe, oder ob es das wirklich gibt.“ reagierte Miles. „Mach uns mal erst einen traumhaften Kaffee, das wird uns wieder auf den Teppich bringen.“ forderte ich ihn auf. „Weißt du, Miles, ich fand es wohl ähnlich traumhaft wie du. Nur ich lebe mit meinem Freund zusammen, meinem Freund, den ich sehr mag, der so etwas aber überhaupt nicht gut findet. Ein­mal wird er mir verzeihen, vielleicht sogar zweimal, aber dann wird er mich verlassen. Das will ich nicht, Miles, das täte mir sehr weh und machte mich sehr traurig.“ erklärte ich. Miles starrte mich an. „Diana!“ stöhnte er auf, „Dia­na, ich habe von uns geträumt, den ganzen Tag. Ich habe eine neue Welt, ein neues Leben gesehen. Ja, ja, es war wie ein Paradies mit uns beiden. Ich bin vielleicht ein wenig durchgedreht, aber es war doch für dich auch mehr als nur ein schönes Ereignis?“ Längere Stille „Miles, du hast mich gestern gefragt, ob ich auch Gesetze brechen würde. Mit meinem Freund das wäre etwas, das dem gleich kommt. Jedoch ich würd' es auf mich nehmen und die Trauer tragen, wenn du mir ga­rantieren würdest, dass die Türen deines Paradieses nur uns beiden offen ste­hen, dann spürte ich schon Lust, mit dir zu gehen.“ erklärte ich ihm.


Du bist nicht ehrlich


Miles fixierte mich und äußerte dann rasch: „Ja, natürlich, selbstverständlich.“ „M,m,“ schüttelte ich den Kopf, „Miles, du bist nicht ehrlich. Dass es dir hier mit mir gefallen würde, kann ich mir schon vorstellen, und dass ich deine einzi­ge Frau hier wäre auch. Dann kommst du wieder nach Hause und da wartet deine Frau mit den Kindern auf dich. Und dass bedeutet dir alles nichts mehr, weil's ja mit uns beiden so schön war? Soll ich das glauben?“ fragte ich ihn. Mi­les machte ein gequältes Gesicht und erklärte dann: „Ich habe keine Kinder, weil ich so selten zu Hause bin. Verheiratet bin ich auch nicht, aber ich lebe mit meiner Freundin schon viele Jahre so ähnlich zusammen, nur dass ich eben sehr selten dort bin. Ich liebe sie, ja das ist schon so. Dass ich sie mit dir be­trogen habe, ist mir gar nicht eingefallen. Im Nachhinein will es mir so erschei­nen, als ob das mit uns beiden etwas ganz anderes war. Die Liebe findet statt an Teichen, romantisch nett ist sie und macht das Leben schön. Wir aber ha­ben uns im Ocean getroffen, das gibt es nur, wenn wir zusammen sind. Doch meiner Freundin Pat zu sagen: „Ich liebe dich nicht mehr. Ich liebe jetzt eine andere Frau.“ Das kann ich nicht. Und außerdem stimmt es ja auch nicht. An meiner Liebe für sie hat sich doch durch uns nichts geändert.“ „Ich glaube, dich schon zu verstehen, Miles. Deine Freundin in Reading das bist ja du selbst. Dein Leben ist es jetzt und wird es sein. Sie wird deine Freundin bleiben, nur du wirst in zwei Jahren in Lissabon oder Neu Delhi sitzen und deiner Freundin dort von deiner guten Bekannten in Berlin erzählen. M,m, Miles, so wird da nichts draus. Das nicht mit mir. Ich möchte dich, ja. Ich will dich, aber ganz, dein Herz und nicht deine zukünftigen Erinnerungen an Berlin inszenieren. Entweder ich habe es oder habe es nicht. Du musst es wissen, wem es gehört oder gehören soll. Ich will mit dir leben Miles, neben meinem und deinem wird es ein drittes, unser gemeinsames Leben geben. Miles, für etwas anderes stehe ich nicht zur Verfü­gung. Das wird es nicht geben mit uns beiden. Ein paar schöne Abende und Nächte, das ist es mir nicht wert, das will ich nicht.“ legte ich meine Position dar.


Wedding night


Die Stimmung, in der ich zu Miles gefahren war, es nicht abwarten zu können, ihm um den Hals zu fallen, existierte nicht mehr. Miles hatte seine Ellenbogen auf den kleinen Küchentisch gestützt, seine Hände übereinander gelegt, und die Zeigefingerlinie berührte sein Kinn kurz unterhalb der Unterlippe. Er starrte mich an, starrte aus dem Fenster, wieder zu mir und wieder aus dem Fenster. „Ich habe mich nicht getäuscht und täusche mich nicht, auch wenn es nur eine Nacht war. Ich will dich nicht verlieren. Dass du es auch so willst, ist wunder­voll. Es ist ein Traum. Nur ich hab Angst. Angst davor, dass ich mit dem, was sich ergibt nicht fertig werden könnte.“ äußerte sich Miles schließlich. „Miles, du bist nicht allein. Ich werd' dir helfen, wo du möchtest.“ unterstützte ich ihn. Wir blickten uns an. Immer sucht dein Blick etwas, erwartet etwas, hofft etwas zu sehen. Aber unsere Blicke trafen sich jetzt leer, dumm und selbstverständ­lich.Wir lachten und ich erklärte: „Miles du weißt gar nicht, was wir beide gera­de gemacht haben. Du weißt es nicht, aber vielleicht macht es dich doch sprachlos, auch in deinem Blick?“ Miles lächelte gespannt in Erwartung der Auf­lösung, „wir haben gerade gesagt, dass wir einander nicht verlieren wollen, un­sere Leben gemeinsam führen wollen. Sonst werden Mann und Frau immer ge­fragt, ob sie dazu bereit sind. Wir haben's einfach für uns selbst entschie­den. Meinst du nicht, dass man sich trotzdem küssen und ein wenig Champa­gner trinken müsste?“ Im Hotel von gestern gingen wir essen, fuhren aber anschlie­ßend, ohne die Bar zu kontaktieren, sofort zu Miles. „Diana, du bist stark. Du wirst mir helfen.“ sagte Miles als wir gerade im Bett lagen. „Miles, vielleicht werde ich selber Hilfe brauchen. Aber lass uns jetzt doch nicht darüber reden. Ist doch unsere wedding night, oder hast du's ganz vergessen?“


Stumm


Ich hatte Paco noch vorm Abendessen angerufen, gesagt, dass ich nicht nach Hause käme, und Verständnis für seine Lage geäußert. Als ich zurückkam, sprach er nicht mehr mit mir. Bei meiner Schwester weinte er sich aus und be­klagte sich bitter über mich. Ich hätte die Möglichkeit, Vertrauen zu entwickeln in ihm zerstört. Eine größere Enttäuschung habe er noch nie in seinem Leben erfahren. Verlogen sei ich, wenn er daran denke, was ich zu ihr, zu Claudia, ge­sagt habe, als sie betrogen worden war. Er sprach überhaupt nicht mehr mit mir. Ich sah ihn auch kaum noch. Er verkroch sich in sein Zimmer und schlief auch dort. Er musste mir doch mal zu hören. Das ihm alles entsetzlich weh tat, verstand ich ja, aber ich tat es doch nicht weil ich ihm gegenüber hätte rück­sichtslos sein wollen. „Frank, ich will jetzt mit dir reden. Du musst mir einmal zuhören, bitte.“ forderte ich ihn auf, als ich in sein Zimmer gegangen und mich auf den Stuhl an seinem Schreibtisch gesetzt hatte. „Bitte, Diana, geh!“ sagte er nur. „Frank, ich glaube, ich kann dich sehr gut verstehen, auch wie ent­täuscht du von mir bist, nur dass du nicht redest, das ist Kinderei, das ist kin­disches Verhalten, so geht ein erwachsener Mensch nicht mit seinen Problemen um. Wenn ich etwas von dir nicht gekannt habe, dann ist es auf jeden Fall die­ses Bedürfnis gewesen, sich selbst desavouieren zu wollen, das du jetzt ja wohl unbedingt demonstrieren musst.“ wütend knallte ich die Tür seines Zim­mers hinter mir zu.


Ja, ich liebe Paco


Fast jede freie Minute verbrachte ich mit Miles, hatte auch einen Schlüssel zu seiner Liebestöterwohnung und viele Blumen besorgt, die es schon mal ein we­nig angenehmer machen sollten. Das Grün des Dschungels erfreut und besänf­tigt die Augen beim Lieben und Leben. Die weißen Wände der rechteckigen Kästen hätten Tarzan und Jane verkümmern lassen, sie aber niemals zum Lie­ben animiert. Ich lebte fast ausschließlich hier und Paco kam dabei nie in mei­ne Gedanken. Aber an der Uni, auf der Straße und natürlich besonders zu Hau­se quälte er mich. Ich hatte mir traurige Momente vorgestellt, in denen ich mich an ihn und unser gemeinsam Schönes erinnern musste. Jetzt war er noch da, aber redete kein Wort mit mir, ich konnte ihn sehen, aber er verweigerte die Kommunikation. Mein lieber Mensch steht mir gegenüber, beklagt sich nicht, dass ich ihm weh tue, dass ich ihn verletze, ich bin ihm keines Wortes würdig. Wusste er, wie schwer das für mich zu ertragen war? Wollte er sich da­durch rächen. War er noch hier, um mich zu quälen. Es ist sehr schwer, einen Menschen zu verlieren, den man gern hat und begehrt, aber sein Wort zu ver­lieren, wollte mich verrückt machen. Ich hielt es zu Hause nicht mehr aus, konnte es nicht ertragen, zu wissen dass er dort in seinem Zimmer saß, nur um schweigend zu demonstrieren, wie er mich verachtete. „Verschwinde end­lich, ich will dich nicht mehr sehen!“ hätte ich schreien können, aber ich liebte ihn doch, da hatte sich doch nichts geändert. Ich liebte ihn? Das hatte ich noch nie gedacht. Einfach ein netter Mensch neben mir war Paco aber doch nicht. Ich hatte eine Phobie vor dem Gebrauch dieses Wortes. Mein Mund brauchte es nicht, dieses Wort, das hohl und schal war, weil alle es für alles platt miss­brauchten. Wie hieß das Wort, das Zwischenmenschliches benannte, das an­ders war, als du sonst bist? Das dich erfreut und glücklich macht, nur weil es geben kann. Das Wohlempfinden spürt, wenn es den anderen beglückt. Das gibt es nicht. Du wirst es Liebe nennen müssen, oder ein Wort erfinden, das niemand versteht. Vom Missbrauch ließ ich es mir nicht verbieten. Ja, ja ja, ja ich liebte Paco, auch wenn mein Leben Miles war. Aber was sollte ich denn tun? Paco, der da vorne hinter der Tür und in meinem Herzen saß vielleicht einen Brief schreiben. Dass ich ihn verlieren würde, hatte ich in Kauf genommen, aber dass er mich so quälen konnte, hatte ich nicht erwartet. Ich begann damit alles aufzuschreiben, immer wenn ich irgendwo saß, nur bei Miles ging es nicht.


Etwas zu bereden


„Diana, haben wir nicht doch mal etwas zu bereden?“ sagte Paco plötzlich. Ich war nicht nur über seinen plötzlichen Gesinnungswandel und seine kuriose For­mulierung erstaunt, ich musste meine Arme zurückhalten, in denen es zuckte, weil sie seinen Hals um­schlingen wollten. Was ihn auf einmal dazu verleitet hatte? Ich wollte es gar nicht wissen. Wir redeten bis in die Nacht. Noch nie war Paco mir so wundervoll erschienen. Sonst war er einfach da, und es war gut. Ich hatte ihn noch nie so tief erlebt. Jetzt hätt ich mich in ihn verliebt, wenn ich's nicht schon gewesen wäre. Ich spürte, wie ich entsetzliche Lust auf ihn hatte, aber ich wollte stark bleiben. Ja, ich sehnte mich nach dem, was wir ge­habt hatten. Das war ja dieser Mann. Ich wollt' es nicht verlieren. Es war vorbei. Nie würd' es das mehr geben. In meinen Augen stand die Feuchtigkeit. „Ich verurteile dich nicht, Diana. Wer bin ich, dass ich mir so etwas anma­ßen könnte. Ich glaube, dass ich dich sogar verstehe, aber weh tut es deshalb kein bisschen weniger. Ich weiß nicht, was ich lieber möchte, dich möglichst schnell vergessen oder weiter von dir hören.“ sagte Paco. „Vergessen, das geht glaube ich nicht, das ist nur Selbstbetrug. Vergessen werde ich dich nicht. Ich werde die Diana sein, die Frank verloren hat, den sie vorher so lange hatte. Das wird so sein und wird auch stets so bleiben. Ob wir noch von einander hören, ist eine andere Frage, die daran nichts ändert. Wir umarmten uns lange und innig. „Frank, ich würde im Moment ganz gerne bei dir bleiben. Du siehst, da ist nichts tot. Ich liebe dich. Nur muss ich mir das selbst verbieten, das kann ich nicht und will es nicht.“ erklärte ich. In der folgenden Woche zog Paco aus.


So läuft das nicht


Wer Miles in mir war, wusste ich immer noch kein bisschen mehr. Die meisten Affinitäten sah ich noch zu Ben, dem Jungen im Park damals, mit dem ich flüchten wollte. Da war ja auch alles ziemlich schnell selbstverständlich. Nur war das niemals Basis eines Traumes, einer Wunschvorstellung. Ne nette Epi­sode war es, die ich gern erinnerte, mehr nicht. Vielleicht war Miles ja ein Pro­dukt von meiner Mutter, ein Held, eine Gestalt, die sie erschaffen hatte, in ei­ner ihrer endlos immer wieder neu erfundenen Geschichten. Nur Miles war gar kein Held. Ich sah den Helden nicht und auch nix anderes. Nur einfach da sein, das war gut. Das andere würd sich schon irgendwie entwickeln.


Meine Mutter meinte, wenn meine Gefühle so intensiv seien, müsse Miles wohl etwas sehr tief liegendes berühren und dabei handele es sich meistens um Er­fahrungen aus ganz früher Kindheit. In meinem Bezug zu Daddy könne sie kei­ne Affinitäten sehen, aber im Kinderladen hätte ich einen Freund gehabt, der mir ganz wichtig gewesen sei. Wir beiden hätten permanent zusammengehan­gen und wenn er nicht da gewesen sei, hätte ich auch wieder nach Hause ge­wollt. Ja, das wusste ich auch. Zwischen zwei und vier Jahren war das. Dann wurde der Kinderladen aufgelöst. Ich hatte aber gar keine konkreten Erinne­rungen, wusste nur, dass wir beide immer zusammen operiert hatten, und dass er eine braune Hose trug, das wusst' ich ganz genau. Er war wohl blond, denn dunkle Haare hatte er keinesfalls. Als ich anschließend in einen öffentlichen Kindergarten in der Nähe kam, fing alles an. Frech, ungezogen sei ich, Aufsäs­sigkeit und Wutausbrüche konstatierte man. Stets wurde meine Mutter konsul­tiert, zum Therapeuten sollte sie mit mir. Nach einem Monat nahm sie mich wieder raus und zu sich auf den Schoß. „Ich bin stolz auf dich kleine Hexe und bewundere dich. Das hätte ich in meinem Leben auch so gern gekonnt. Von mir wirst du's nicht haben, dass muss Daddy sein der alte Kämpfer. Weißt du, wenn es abends schon ganz spät ist, und er denkt, ich schliefe schon, dann holt er manchmal seine Ritterrüstung raus und dann … . Dann wusste ich, dass es jetzt Zeit war, meine Wange auf die Haut von Mamis Dekolletées zu legen und ihrer Geschichte zu lauschen.

War Miles der kleine Junge mit der braunen Hose? Ganz unwahrscheinlich war das nicht. Er war ja der erste Gleichaltrige zu dem ich kontinuierlichen Kontakt gehabt hatte. Äußerst wichtig war er mir wohl gewesen. Ja, ja direkte Ähnlich­keit mit heute gab's ja auch. Nur da sein musste er, dann würden wir schon al­les managen. Bestimmt hing es damit zusammen, nur wie war ausgerechnet Miles in diese Rolle gekommen und vor ihm kein anderer? Was hatte er in mir bewirkt, dass er dies Bild reaktivieren konnte, das ich selber nicht mehr kann­te. Ich versuchte mir Miles in braunen Hosen vorzustellen. Ob er mir dann noch sympathischer wäre.


Am Wochenende fuhr Miles nach Reading. Ich litt mit ihm, obwohl ich mir über­haupt kein Bild davon machen konnte, was sich für ihn abspielen würde. Er hatte mir zwar einiges von seiner Frau, respektive Freundin erzählt, aber mei­ne Bilder waren komplette Imagination. Ich holte ihn in Tegel ab, und wir wa­ren überglücklich uns nach dieser unendlich langen Trennung jetzt wieder zu haben. Der ganze Weg war nur Zärtlichkeiten und Neckereien vorbehalten. Erst zu Hause beim Kaffee wollte ich erfahren, wie es gelaufen sei. Miles antwortete nicht direkt. Dann druckste er heraus: „Ich konnte nicht, Diana, ich konnte es nicht.“ Mir fiel das Kinn runter. „Nein, Miles, nein, nein, nein. So läuft das nicht. So kann das nicht laufen. Das haut so nicht hin. Du machst mich böse auf dich. Ich habe dir alle Hilfe angeboten, nur einfach sagen: „Ich kann nicht.“ das funktioniert nicht. Verstehst du? Wenn du nicht kannst, dann will ich nicht. Das ist nicht das, was du gesagt hast. Deine Worte können noch so schön sein, wenn du aber anders handelst, dann sind sie nichts wert und gelogen. Miles, das ist mir ganz, ganz ernst. Wenn du mich nicht erkennen lässt, was sich da ändert und du nochmal von Reading zurückkommst und sagtst: „Ich konnte nicht.“, ist augenblicklich alles absolut Finito, verstehst du. Dann bist du nicht mehr der, den ich in dir jetzt sehe. Mit dem anderen will ich aber überhaupt nichts zu tun ha­ben. Ich hoffe, ich habe mich so deutlich ausgedrückt, dass auch der ungebil­detste Guardian Reporter das unzweideutig verstehen konnte.“ hielt ich meine Philippika. Mi­les hatte sein Gesicht auf die rechte Hand gestützt und rieb mit der linken über Schläfe und Wange der anderen Gesichtshälfte, betreten nachdenklich starrte er dabei in die Gegend. „Diana, ich habe die gan­ze Zeit in Reading an uns ge­dacht und nichts so sehnlich erwartet wie meine Rückkehr, dich wieder zu se­hen, deinen schelmischen Blick zu bekommen. Ja ich brauche das, ich will das, nichts anderes.“ Miles Augen begannen sich be­feuchten, „Ich will mit dir leben, nur mit dir, natürlich. Da hat sich nichts ver­ändert, das ist genauso, wie ich es gesagt habe und da wird sich nichts verän­dern. Es wird so bleiben. Mit Reading ist es etwas anderes. Ich habe schon ge­wusst, dass ich nicht der Mutigste bin, aber ich muss wohl entsetzlich feige sein. Die Vorstellung es Pat zu sagen und der Ge­danke an die Bedeutung für sie, lassen mich offensichtlich alles andere verges­sen. Ich muss eine Strategie entwickeln. Einfach nach Hause zu fahren, Pat ge­genüber zu stehen und es ihr zu sagen, ist eine Illusion, eine Wunschvorstel­lung, die nicht funktioniert. Dafür bin ich nicht stark genug oder brutal genug.


Mich trösten


Miles informierte alle Freunde, Bekannten und Verwandte. Er wolle es ihr schon selber sagen, aber bat sie, sich um Pat zu kümmern und ihr zu helfen. Dann schrieb er einen ganz langen Brief, in dem er zu allem Stellung nahm und ihr alles erklärte. Er wollte ihn abschicken, wenn er mit ihr telefoniert hätte. Das tat er, stundenlang. Anschließend war er völlig fertig. „Ich bin ein Schwein, Diana, Pam hat nur geweint und immer nur weinend gesprochen. Dabei war sie so lustig als ich anrief. Ich kann so etwas nicht. Wir sollten noch mal neu an­fangen und alles ganz an­ders machen, hat sie vorgeschlagen. Sie hat sich selbst Vorwürfe gemacht, er­klärt, dass sie Schuld an allem sei. Oh je, ich er­trag es nicht. Nie hätte ich in meinem Leben einem Menschen so etwas antun wollen und dann ausgerechnet Pat.“ klagte er. „Und ich bin Schuld daran. Das denkst du das jetzt?“ erkundigte ich mich? Miles schaute mich groß an. Be­stimmt hatte er das gedacht. „Miles, das Leben, das du für dich führen möch­test, das dir wichtiger ist, lässt dir keine Al­ternative. Ich habe dir nie gesagt, du sollst mit Pat Schluss machen, wenn du dich entschieden hättest, dass ihr dein Herz und dein Leben gehörte, es wäre ja o. k. gewesen. Ich hätte damit gelebt. Gedrängt habe ich dich niemals. Es ist deine ureigene Entscheidung ge­wesen. Du hast Pat verloren, darunter wirst du leiden, aber ich habe sie dir nicht genommen. Wenn du es so sehen willst, wird es böse für uns beide und deiner Trauer wird es gar nichts nützen. Deine Trauer musst du selber leben, weinen, wenn dir danach ist. Sei traurig, wenn du traurig bist. Ob Pat lebt oder verunglückt wäre, für deinen Schmerz spielt es keine Rolle. Du hast nicht mehr, was du mal hattest, und was dir lieb, teuer und begehrenswert war. Du hast es verloren, hast Pat verloren und damit wirst du leben müssen, du allein. Ich kann dich nur trösten in deiner Trauer und deinem Schmerz über den Ver­lust.“ erklärte ich. Miles konnte wieder lächeln. „Bitte“ sagte er. „Bitte, was?“ fragte ich. „Mich trösten.“ er darauf. Aber er bekam zunächst mal meinen schelmischen Blick und einige mimische Verrenkungen, bevor detaillierte Ent­scheidungen über gemeinsame körperliche Aktivitäten fielen.


Shimo, hör auf!


„Shimo, nein, was soll ich denn da? Ich bin eine alte Frau. Das ist doch etwas für junge Leute!“ deklamierte ich laut. „Shimo lachte auch, drückte mich und warf mich auf die Couch. Wir rangelten ein wenig. Er lag schräg über mir schaute in mein lachendes Gesicht. Ich merkte an meinem Bein, wie er sich er­regte. „Shimo, hör auf! Sofort!“ sagte ich. Nebeneinander auf der Couch er­klärte ich: „Weiß du, es macht ja Spaß zu balgen, und besonders wenn ein Mann und eine Frau das machen. Und weil sie so eng mit ihren Körpern Kon­takt haben, kommen sie dabei häufig auf Ideen, auf die wir beide aber auf kei­nen Fall kommen wollen, oder siehst du das anders.“ „Nein, nein, ist doch klar, Entschuldigung.“ erklärte er hastig, „Ich hab bestimmt 'nen Ödipus. Bei Mutti habe ich da noch nie dran gedacht.“ „Aber bei mir.“ ergänzte ich. Shimo druckste: „Ja, Diana, es gibt niemanden auf der Welt, der mir so viel bedeutet wie du, und dass du eine Frau bist, kann ich dem Mann in mir nicht zu sehen verbieten. Und dass ich von dir träume, ist auch einfach da. Das lässt sich auch nicht verbieten.“ „Nein, nein! Ich will das nicht! Das soll nicht sein!“ ich hätte es schreien können und sagte: „Natürlich nicht, Träume, Wünsche und Emotio­nen kann man nicht verbieten. Ich sehe ja auch, dass du ein Mann bist, ein schöner junger Mann, und äußerst viel bedeutest du mir ja wohl auch, aber du löst gar keine erotischen Fantasien bei mir aus. Überhaupt nicht. Habe ich noch nie dran gedacht. Anscheinend ist das nicht zwangsläufig so, wie du es bei dir deutest. Da wird etwas anderes sein Shimo.“ „Ja, das war ja auch nicht immer so. Für eine tolle Frau habe ich dich schon immer gehalten. Meine Freundin habe ich mir so vorgestellt, vielmehr gewünscht. Na ja, träum weiter, konnte ich mir da nur sagen. Und das habe ich auch getan. Zuerst war es noch eine imaginäre Freundin, die dir aber mit der Zeit immer ähnlicher wurde. Ich habe ja auch gar keine Bandbreite, fast alles Männer und die wenigen Frauen, die ich kenne, na ja. Laura ist ja an sich ein ganz netter Mensch, aber ich kann mir gar keine wünschenswerte Perspektive vorstellen. Monika, die mochte ich sehr, da hätte ich etwas sehen können, aber für die war ich nur ein netter Junge.“ erklärte er. „Ich bin also nur dein Traumersatz, weil du in Wirklichkeit selbst nix Besseres hast. Shimo, du missbrauchst mich, ohne mich vorher gefragt zu ha­ben. In Zukunft werde ich also immer, wenn wir uns treffen, denken, ob er jetzt wohl wirklich mit dir reden will oder dich eigentlich lieber missbrauchen würde.“ meinte ich dazu und Shimo platzte los vor Lachen. „Ja, Shimo, nur witzig ist das nicht. Das ist schon ein anderes Gefühl, wenn wir uns unterhal­ten, und mir gegenwärtig ist, dass du gern mit mir zärtlich sein würdest. Das stört, stört mich, verwirrt. Aber es liegt ja anscheinend daran, das du keine ge­scheite Freundin hast. Nur mich dabei als Vorbild und Muster zu sehen, behin­dert dich nicht nur, sondern wird auch gar nicht deinen tatsächlichen Bedürfnis­sen entsprechen. Die müssen aus dir selber kommen und nicht einer Folie ent­sprechen. Bei mir war das genauso mit meinem Vater. Ich habe nie so einen Mann getroffen. Ich bin allerdings nicht auf die Schnapsidee gekommen, mit meinem Vater ins Bett zu wollen. Das ist bei dir übrigens nichts anderes. Di­cker Inzest ist das, ich habe die gleichen Gene wie Claudia. Also bitte, Inzest­tabu, und daraus resultiert, dass du dir ne andere Frau suchst.“ Shimo lachte sich wieder schief. „Diana, ich kann da doch nichts dran machen. Ich hab' dich einfach unheimlich gern. Aber keine Angst, ich werde nie mit dir ins Bett wol­len. Das ist absolut sicher.“ erklärte er. Ich überlegte, ob man ihm nicht mehr und andere Kontakte ermöglichen könnte. Am Theater und bei den Germanis­ten gab's doch auch viele kluge Frauen.


Le Mans


„Aber zu Le Mans. Erstens bist du nicht alt und zweitens sind da keineswegs nur junge Leute. Diana, ich erzähle dir immer davon, aber du weißt gar nicht, wovon ich eigentlich spreche. Du musst es einfach mal einmal erleben. Jetzt ordnest du alles was ich erzähle in deine Vorstellungen ein, die werden dann bestimmt ganz andere sein. Wenn du dahin möchtest, wird Miles dich bestimmt nicht allein lassen. Ich wollte euch beiden eine Freude machen. Von alleine wä­ret ihr bestimmt nicht drauf gekommen.“ erläuterte Shimo zu den Karten für Le Mans. Was sollte es schon bedeuten? Was vergab ich mir denn? Ich würde ihm eine Freude machen, wenn ich dahin führe. Das war mir am meisten wert. „Ich werde es mit Miles besprechen. Danke schön, es ist sehr lieb von dir und ich will auch dahin.“ erklärte ich. Ich will zu einem Autorennen, 24 Stunden, Tag und Nacht, um Himmels Willen. Das ist ja so ungeheuerlich, dass mir diese Idiotie schon wieder beginnt, Spaß zu machen. Mit Miles haben wir auch schrecklich darüber gelacht, aber er wusste, dass da wohl alles in deut­scher Hand sein sollte, und Audi immer alles gewinnen würde. Vielleicht könne man dazu ja etwas schreiben. „Every second brings a new excitement.“ stand in ei­nem Prospekt. Wir mutmaßten, was wohl in der nächsten Sekunde bei uns so ex­citing werden könne. Würde das nicht auch zur Maxime für eine lebendige Beziehung taugen. Ich erzählte Miles auch von meinem neuen Liebhaber, und Miles konnte es gar nicht verstehen. Die Welt in Berlin sei doch voll kluger Frauen, er sei bestimmt trotz seiner kosmoplitischen Bolidenraserei ziemlich hausbacken und müsse sich mal ein wenig kümmern.


Heiratsantrag


Für die nächste Sekunde mit excitement sorgte Miles. Im Mai, schon vor Le Mans, meinte er, dass man als Korrespondent in der Regel nur immer für einige Jahre an einem Ort bleibe. Er sei jetzt schon fünf Jahre in Berlin, und da er flie­ßend Französich und auch ganz ordentlich Spanisch spreche, sei er sicher ein Kandidat für einen erforderlichen Ortswechsel, zumal Berlin wohl auch recht be­gehrt sei. „Wie, und dann kommst du einmal im Monat aus Madrid nach Hause?“ fragte ich entgeistert. „Ja, das wusste ich ja auch, und fand es auch nicht schlecht. Nur jetzt fänd' ich das überhaupt nicht mehr gut. Es sei denn, du würdest auch mitkommen. Nur das wäre dann völlig deine Privatsache.“ antwortete Miles. „Ich kann doch hier gar nicht weg. Wie sollte das denn ge­hen? Alles bis jetzt Erreichte fliegen lassen, weil ich gern bei dir sein möchte? Miles!“ reagierte ich. „Es gibt eine Möglichkeit, die uns schützen könnte, wenn wir zum Beispiel verheiratet wären.“ erklärte Miles. Ich musste durchatmen. „Oh nein, Miles, was für ein umständlicher Heiratsantrag. Du vermutest wahr­scheinlich, dass ich so etwas für mein Leben überhaupt nicht vorgesehen ha­ben könnte, und so ist es in der Tat. Ich will ja mit dir zusammenleben. Endlos. Weil mir unsere Liebe wichtig ist. Mit Behörden und Gesetzen hat das nichts zu tun und soll es auch nicht zu tun haben.“ machte ich meine Position deutlich. „Diana, das brauchst du mir gar nicht zu erzählen. Ich seh es doch kein Fünk­chen anders. Die Vorstellung, in einem Standesamt darauf antworten zu müs­sen, ob ich mit dir zusammenleben will, macht mich zornig. Nur wenn ich die Vorteile und Nachteile sehe, die mit oder ohne Schein verbunden sind, bin ich mir nicht mehr sicher. Ohne Trauschein existierst du für den Guardian nicht, mit habe ich Versetzungsschutz und du bist die Frau des Korrespondenten, die auch ein Recht zu wohnen hat und weitere Vergünstigungen mehr. Wir könnten die Urkunde ja verstecken, dass wir sie nie sehen und leben als ob wir sie nie gesehen hätten.“ schlug Miles vor. „Miles, du wirst mir dann nicht eines Tages einfach sagen können: „Ich liebe jetzt eine andere Frau, tschüss Diana, mach's gut. Dann werde ich mit dem Zettel winken, auf dem steht, dass du mir ge­hörst. Dass du's versprochen hast, und alle es gehört haben.“ merkte ich dazu an. „Diana, das ist böse und unsinnig. Sag so etwas nicht, das tut weh.“ rea­gierte Miles. „Ich habe gehört, was du gesagt hast, aber ich kann das jetzt nicht einfach so für mich entscheiden. Ich bin hier, weil ich,Diana, die Frau, dich lieben möchte, aber nicht, weil ich die Frau von Miles sein möchte. Ich möchte nicht diejenige sein, die der Guardiankorrespondent als seine Frau vor­führt. Sich als den Besitz eines Mannes vorzeigen zu lassen, ist in meinem Le­ben verboten. Miles, die Königin kann alles geben, aber sie gehört nieman­dem.“ erklärte ich dazu. Wir diskutierten noch lange darüber, obwohl wir uns im Grunde völlig einig waren. Miles legte prinzipiell auch überhaupt kein Wert auf's Heiraten. Er unterstützte mich auch in meinen Ansichten. Die Frage war nur, ob man die nicht unerheblichen Nachteile in Kauf nehmen sollte, oder alle Hürden der Bedenken und Vorbehalte überwinden, und zum Standesamt gehen wollte. Ich hätte noch zusätzlich eine Ehephobie zu überwinden. Wir waren uns nicht schlüssig, und wenn ich nicht gewollt hätte, wäre es für Miles genauso akzeptabel gewesen.


Diana, die Braut


Die Vorstellung, dass wir eventuell schon bald nicht mehr zusammen sein könnten, ließ mich zu Diana, der Braut, werden. „Lass es uns schnell hinter uns bringen.“ meinte ich zu Miles und außer meinen Liebsten war auch niemand anwesend bis auf Moni. Die hatte sich nicht wieder eingekriegt, als sie davon erfuhr und wollte unbedingt dabei sein, mit Falco natürlich. Deshalb fuhren wir auch nicht einfach vom Standesamt nach Hause, sondern gingen gemeinsam essen. Obwohl wir ausdrücklich vorhatten, keinesfalls irgendwelche Feierlich­keiten zu veranstalten, gingen wir, weil es so lustig war, alle zu mir, und erzähl­ten und tranken bis in die späte Nacht. Dass das Ehepaar gemeinsam 24 Stun­den bei einem Autorennen in Le Mans verbringen wollte, war der absolute Gag. Fassen konnte ich es nicht, dass ich jetzt verheiratet war. Wir alberten damit, redeten uns als mein Mann und meine Frau an, sprachen von dem Ehepaar, an­statt wir zu sagen, nur draußen merkte man es nicht, dass wir jetzt verheiratet waren, weil wir unsere Namen beibehalten hatten. Nur in allen Formularen wollte man es ständig wissen. Als ich nicht verheirated war, fiel mir das gar nicht auf, nur jetzt kam es mir vor, als ob es für alle eines der wesentlichsten Persönlichkeitsmerkmale war, in welchem amtlich bescheinigten Familienstand man lebte. Vielleicht hatte man ja mit diesen ledigen irgendwan mal etwas vor. Wollte sie schulen, kasernieren oder einfach nur wissen, wo sie steckten.


Presseempfang


Miles saß öfter mit Shimo zusammen, um sich über Le Mans, Autorennen und das ganze System zu informieren. Er hatte noch viel weniger Ahnung davon als ich. Von der Sportredaktion des Guardian kam niemand nach Le Mans und Mi­les wurde gebeten, doch auf jeden Fall etwas zu schreiben, das für den Sport­teil passe. Oh, armer Miles! Aber er und Shimo verstanden sich klasse. Shimo hatte von mir immer wissen wollen, warum ich denn in Miles verliebt sei. Er konnte es gar nicht verstehen. Etwas besonderes müsse für mich doch an ihm sein. „Ja, er muss einfach da sein, dann ist's gut, dann bin ich selig.“ reagierte ich, und Shimo kriegte sich nicht wieder ein. Ob er denn auch wohl selig wür­de, wenn Miles bei ihm sei, erkundigte sich Shimo. Ganz so war es nicht, wenn die beiden sich trafen, aber völlig entfernt davon konnte es auch nicht sein, sonst hätten sie nicht so viel Spaß miteinander gehabt.


In der Botschaft gab's einen Empfang für die Presse und Miles animierte Shimo doch einfach mitzukommen, da sei die ganze Welt zugegen. Shimo hatte sich mit einer jungen Frau der Times of India unterhalten. Sie war keine Korrespon­dentin in Berlin, sondern war wegen ihrer Französischkenntnisse nach Cannes geschickt worden, aber die Leute wollten sowieso am liebsten nur etwas von ihren Bollywood-Stars dort hören. Kinematografisch hatte sie sich hauptsäch­lich mit den Unterlagen eingearbeitet und ihr Frankreichkorrespondent war Franzose. Sie würde gern nach Paris ge­hen, aber da gäbe es keine Chance. Jetzt habe sie sich Urlaub genommen und mache einen Europa Trip. Shimo hatte gesagt, dass er im nächsten Monat in Frankreich sei und erklärt warum. Sie habe immer gelacht. Shimo hatte ge­fragt, ob es unhöflich sei, ihr zu sagen, dass sie eine sehr schöne Frau sei. Da hatte sie sich gewunden vor Lachen und gesagt, dass es wundervoll sei, ein Kompliment und sie bedanke sich dafür.


Miles war auch noch dazu gekommen. Charulekha, so hieß die junge Frau, hielt die beiden für ein homoerotisches Paar, da nur so der Begleiter ohne Presse­ausweis Zugang hatte. Sie scherzten darüber und es war wohl sehr lustig ge­worden. Jedenfalls wollten sie sich am nächsten Tag treffen, und Shimo sollte Charulekha ein wenig von Berlin zeigen.


Charulekha


„Sie lacht immer.“ sagte Shimo, „Das ist wunderschön, aber ich weiß gar nicht warum.“ „Wird Charulekha deine Freundin werden?“ fragte ich platt. „Ach wo, sie wird noch ein paar Tage hier sein, dann will sie nach London, Madrid und Lissabon und dann wird sie wieder in Delhi sein. Es ist einfach nur schön mit ihr, jede Minute.“ reagierte Shimo. So lief es aber nicht. Sie ließ sich nicht nur an einem Nachmittag von Shimo Berlin zeigen, sondern auch am nächsten und übernächsten und sogar morgens schon. Nach London brauche sie nicht mehr, weil Miles ihr schon alles erklärt habe. Madrid wurde auch gecancelt und bei Lissabon würde es wahrscheinlich nicht anders aussehen. Aber da wollten sie gemeinsam hin und blieben eine ganze Woche, bis Charulekha wieder nach Hause musste. Für Le Mans hatte Shimo zwar Karten für sich und seine Freun­din Laura gekauft, aber das war natürlich vorbei. Ungewöhnlich war das nicht. Shimo hatte zwar immer eine Freundin, das Träumen von mir reichte anschei­nend allein doch nicht, aber länger als ein halbes Jahr hatte es noch nie gedau­ert. Dass er mir fast nie etwas davon erzählte, zeigte welche Bedeutung es für ihn hatte. Charulekha sollte nach Le Mans kommen. Ihre Eltern waren zwar nicht reich, aber doch relativ begütert und recht fortschrittlich. Keinesfalls soll­te der Verdacht entstehen, das sie benachteiligt werden könnte, weil sie die Tochter sei. Charulekha hatte eine Woche unbezahlten Urlaub genommen und kam. Die beiden skypten wenigstens einmal am Tag und klagten gegenseitig ihre Sehnsüchte. Charulekha war Journalistin im Onlinebereich. Shimo be­drängte sie immer, Deutsch zu lernen und hierher zu kommen. Mit ihren Erfah­rungen aus dem Riesen Times of India sei sie hier doch eine Top-Frau und Cha­rulekha meinte, er solle zum Studieren nach Indien kommen, da lerne er als Informatiker viel mehr als hier. Nach Le Mans weinte Charulekha am Flughafen und meinte dabei: „German is so difficult, but I will be diligent.”


Charulekhas Augen


Mich hatte Le Mans nicht zum Autofan gemacht und es waren auch wohl nicht die Boliden dort, die Charulekha bewegt hatten, nach Deutschland kommen zu wollen. Man konnte Shimo auch trotz seines Autofimmels lieben. Wer wusste das besser als ich. Trotz allem war das Wochenende in Le Mans aber ein wun­derbares Abenteuer, nicht wegen der Autos, sondern wegen uns. Wir waren glücklich miteinander, auch wenn die Autos entsetzlichen Lärm verbreiteten. Ich liebte meinen Shimo ja, aber gegenüber Charulekha kam er mir ein wenig holzig vor, doch sie würde bestimmt etwas in ihm sehen, das meinen Augen bislang verborgen geblieben war. Nur mit Charulekhas wunderschönen indi­schen Augen hatte das wahrscheinlich nichts zu tun. Meine Augen verrieten mir ja auch nur unbedeutende Äußerlichkeiten über Miles. Was ich im Anderen in einer Beziehung sehe, mein Bedürfnis weckt, ihm Zuneigung zu schenken und mein Begehren auslöst, sieht nur mein Herz, mein Bauch, meine Emotionen oder wie immer du es benennen willst. Die einsame Königin hatte immer ihre Augen offen gehalten, wollte alles sehen und erkennen, was mit ihr und ihrem Leben geschah. Bedeutsam und wichtig war das schon. Nur bei der For­schungsreise ihres Lebens, waren die Augen bei der Entdeckung des Kontin­ents ihrer unbekannten Sehnsucht völlig überflüssig gewesen und auch Penthe­silea hatte nicht das Gesetz missachtet, weil sie etwas verfolgen wollte, das nur ihre Augen gesehen hatten.



FIN




Sie sank, weil sie zu stolz und kräftig blühte.


Prothoe, treueste Freundin Penthesileas, begründet ihren Tod


Der ganze Weg war nur Zärtlichkeiten und Neckereien vorbehalten. Erst zu Hause beim Kaffee wollte ich erfahren, wie es gelaufen sei. Miles antwortete nicht direkt. Dann druckste er heraus: „Ich konnte nicht, Diana, ich konnte es nicht.“ Mir fiel das Kinn runter. „Nein, Miles, nein, nein, nein. So läuft das nicht. So kann das nicht laufen. Das haut so nicht hin. Du machst mich böse auf dich. Ich habe dir alle Hilfe angeboten, nur einfach sagen: „Ich kann nicht.“ das funktioniert nicht. Verstehst du? Wenn du nicht kannst, dann will ich nicht. Das ist nicht das, was du gesagt hast. Deine Worte können noch so schön sein, wenn du aber anders handelst, dann sind sie nichts wert und gelogen. Miles, das ist mir ganz, ganz ernst. Wenn du mich nicht erkennen lässt, was sich da ändert und du nochmal von Reading zurückkommst und sagtst: „Ich konnte nicht.“, ist augenblicklich alles absolut Finito, verstehst du. Dann bist du nicht mehr der, den ich in dir jetzt sehe. Mit dem anderen will ich aber überhaupt nichts zu tun ha­ben. Ich hoffe, ich habe mich so deutlich ausgedrückt, dass auch der ungebil­detste Guardian Reporter das unzweideutig verstehen konnte.“ hielt ich meine Philippika.




Diana Doch Liebe? – Seite 33 von 33

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Publication Date: 04-12-2013

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