Das winzige Glitzern in seinen Augen, dass er selbst mit größter Mühe wohl kaum zu verstecken vermochte.
Ich erkannte es an diesem Abend sofort, genau wie in den ganzen Wochen davor, und hatte so unauffällig wie möglich nach irgendeinem weiteren Hinweis gesucht.
Es war zu einer Obsession geworden, wie eine dieser merkwürdigen Angewohnheiten, die einen selbst verrückt machten, aber gegen die man einfach nichts tun konnte.
War sein Hemd verknittert? Der Kragen beschmutzt oder die Krawatte weniger sorgfältig gebunden?
Meine Augen scannten ihn, fanden jedoch nichts.
Kein fehlender Manschettenknopf, der in Eile vergessen wurde. Nicht mal eine weniger perfekt frisierte Locke seiner dunklen Haare, die an den Schläfen bereits grau geworden waren.
An jedem Abend mit neuerlichem Glanz hatte ich ihn analysiert.
Was auch immer er sagte oder tat, selbst jede Regung seines Gesichtes, hatte ich tief in mir abgespeichert.
Ich hatte geglaubt, ihn zu kennen, aber diese Tage hatten mich eines Besseren belehrt. Ich kannte diesen Mann nicht, jetzt vielleicht, nachdem ich akribisch jede seiner Regungen analysiert
und kategorisiert hatte, aber am Ende hatte es mir nur gezeigt, dass mir nichts davon bekannt vorgekommen war.
Obwohl jede seiner Handlungen so banal und alltäglich ausgesehen hatten, war es keine mehr davon, und auch heute schien es mir, als spielte er vor mir ein gut einstudiertes Theater.
Seit vier Wochen ging das nun schon so, und schon eine halbe Stunde vor seiner Ankunft platzierte ich mich auf meinem gewohnten Platz, um bloß keine der ersten Sekunden zu verpassen.
Die Sekunden, in der er von seiner Welt in unsere trat, und meiner Meinung nach den Übergang dazwischen immer schlechter zu schaffen schien.
Er hatte getan, was er immer tat, und tat es auch heute.
Legte sein Jackett über die Lehne des Stuhles, ging zum Kaffeeautomaten, drückte die Taste.
Ich hörte das Klappern der Tasse, selbst das Rieseln der immer gleichen Menge Zucker, die sich vermutlich gerade auf dem Boden der Tasse sammelte.
Bekannte Bewegungen und Handlungen, die ich tausendfach gesehen, gehört und niemals wirklich wahrgenommen hatte.
Ich hatte das Rauschen und Klappern der Maschine gehört, auch dieses schien mir vertraut, aber der Mann davor, von dem ich geglaubt hatte ihn zu kennen, war mir unbekannt.
So viele Jahre gemeinsam, und doch wusste ich ihm Grunde nichts über ihn.
Außer das Glitzern, diesen Glanz, den ich vorher nie gesehen hatte, den kannte ich nun mehr als gut.
Das Glück, von dem ich nicht mal gewusste hatte, dass er es empfinden konnte.
Anfangs hatte ich meine Zweifel, ich war sicher, mein Geist würde mir damit einen bösartigen Streich spielen, aber heute wusste ich es besser.
Ich erinnerte mich mehr als gut an das erste Mal, als ich dieses Strahlen so überraschend entdeckt hatte.
Er war durch die Türe gekommen, zur gleichen Zeit wie an jedem anderen Abend auch, aber ihn umgab eine Aura, die mich sofort hatte aufhorchen lassen.
Der Mann, mit dem ich Jahre Tisch und Bett geteilt hatte, schien aufrechter.
Seine Haltung war eine andere, das Strahlen so hell, dass es den Flur erleuchten zu schien.
Kurz war ich irritiert, schob es aber auf einen besonders guten Tag auf der Arbeit.
Ich fragte nicht danach, freute mich einfach innerlich darüber, und freute mich noch mehr darüber, dass er sich an diesem Abend sogar zu einem längeren Gespräch mit mir hatte hinreißen lassen.
Nur selten passierte das, er schien ständig und immerzu erschöpft von seinen langen Tagen, und wenn ich etwas ganz sicher nicht sein wollte, war es eine weitere Verpflichtung in seinem ohnehin
völlig überladenen Alltag.
Ich fragte vielleicht auch nicht danach, weil was auch immer der Grund seines Glückes war, mir an diesem Abend in die Karten gespielt hatte.
Zuwendung, egal aus welchem Grund sie auch auf mich gefallen war, war ein willkommenes Geschenk.
Der kurze Zeitraum ungewohnter Aufmerksamkeit hatte mir gefallen, es war mir egal, was genau der Grund dafür am Ende war, und ich genoss es einfach.
Ich ließ mich fallen in diese wenigen Minuten vor dem zu Bett gehen, zum ersten Mal seit Monaten nicht mit dem Rücken zu ihm, und schlief an diesem Abend mit guten Gedanken ein.
Bis ich es wieder sah.
Es konnten Wochen vergangen sein, vielleicht auch nur einige Tage, aber ich sah es wieder.
Dieses Strahlen, ganz anders und echter, als ich es von ihm kannte.
Er strahlte, schien in sich zu ruhen, ohne dabei übertrieben zu wirken.
Diesmal horchte ich dann wirklich auf, jeder Alarm in meinem Körper schien auf Rot zu stehen, und tatsächlich fragte ich mich, ob ich hier gerade etwas Entscheidendes übersah.
Anstatt ihn zu fragen, fragte ich mich.
Was war es, was dort vor sich ging? Warum sprach er nicht mit mir darüber, und warum war nicht ich der Grund dafür?
Dass ich es nicht war, war so offensichtlich, dass ich es mir nicht mal einreden konnte.
In all den Jahren, in denen er praktisch niemals aus seinem täglichen Trott ausgebrochen war, obwohl ich an jedem Abend an der gleichen Stelle auf dem Küchenstuhl auf seine Heimkehr wartete,
hatte er niemals darauf so reagiert.
Manchmal hatte ich mich gefragt, ob er es überhaupt noch sah, dass ich dort saß.
Oder ob es überhaupt eine Rolle spielte, ob ich oder irgendjemand anderes dort wartete.
War er jemals in der Zeit mit mir so entspannt gewesen? So wenig getrieben und ausgeglichen?
Ich erinnerte mich nicht.
Die Person, von der ich geglaubt hatte, sie besser als jeden anderen Menschen auf der Welt zu kennen, war nicht so.
Nicht in entspannt, nicht in sich ruhend, und vor allen Dingen nicht eins: glücklich.
Schon immer schien er von Ehrgeiz getrieben zu sein, weit über die Grenzen der Normalität hinaus.
Ich hatte ihn nie anders erlebt, sein Dasein bestand in großen Teilen aus den großen Plänen seines Lebens, denen ich mich immer unterworfen hatte.
Anfangs aus Stolz, dann aus Ausweglosigkeit.
Ich hatte voller Stolz seinen Aufstieg begleitet, mich still im Hintergrund eingerichtet, und erst viel zu spät erkannt, dass wir im Grunde nur sein Leben lebten. Das Leben, das er sich immer
erträumt hatte, und dem ich nur eine äußerst untergeordnete Rolle zu spielen schien.
Als ich mir darüber klar wurde, war es allerdings viel zu spät gewesen, um daran noch etwas zu ändern.
Der Weg war so klar definiert, dass ich ihn in keiner Sekunde in Frage gestellt hatte.
Wenn ich ihn wollte, musste ich mich unterwerfen.
Ihn jetzt so anders zu erleben, erschreckte mich zutiefst.
Auch wenn er sich mir gegenüber aufmerksamer und freundlicher verhielt, und an manchen Abenden sogar früher als gewohnt nach Hause kam, zweifelte ich nur noch stärker.
Ich durchsuchte Taschen, blickte für eine Ewigkeit auf die Kontoauszüge, nur um dort einfach keinen einzigen Hinweis zu finden.
Selbst die Telefonrechnung seines Handys analysierte ich akribisch, ohne auch nur eine einzige Auffälligkeit darin zu finden. Keine Nummer, die mehr als wenige Male darin auftauchte, keine Gespräche, die mehr als einige Minuten dauerten.
Selbst wenn ich ihn überraschend im Büro anrief, egal zu welcher Zeit, hob er nach Sekunden den Hörer ab.
Was also passierte hier?
Ich nahm die Veränderung bei jedem Mal deutlicher wahr, manchmal schon in dem Moment, in dem er den Schlüssel im Schloss drehte.
Die Art, wie er es tat, verriet mir bereits, ob das Strahlen zu sehen sein würde.
Manchmal glaubte ich, ich könnte mutig genug sein, um danach zu fragen. Es brannte in mir, aber jedes Mal, wenn ich anhob die Frage nach dem „Warum“ zu stellen, tat ich es doch nicht.
Weil es angenehmer mit ihm war, sein Entgegenkommen an so vielen Stellen so tröstend, und weil ich im Grunde einfach froh war, dass er mich wieder zu sehen schien.
Ich sog die kleinen Komplimente in mich auf, auf die ich seit Jahren vergeblich gewartet hatte.
Es gab nichts, was ich diesem Mann hätte vorwerfen können. Nichts, was auch nur im geringsten eines Vorwurfs wert gewesen wäre.
Hätte es irgendeine Ungereimtheit gegeben, ich hätte zetern und schreien können, aber so?
Nichts, außer diesem Strahlen, dessen Grund sich mir einfach nicht erschloss.
Was sollte ich auch sagen? Ihm ankreiden, dass er mit mir sprach? Ihm vorwerfen, dass er sich bemühte, mich zum Lachen zu bringen?
Ich sah die fremden Songtitel in seiner Spotify-Liste, deren Anwesenheit wohl kaum auf ihn zurückzuführen waren, und die er nun regelmäßig zu hören schien.
Nie vorher hatte er solche Titel gehört, und auch die Bücher, die er plötzlich las, gehörten ganz und gar nicht zu den Sparten, die er ansonsten bevorzugte.
Alles Zeichen, die ich zwar sah, aber einfach nicht einzuordnen wusste.
Ich hielt mich an der Tatsache fest, dass in seinem vollen Terminkalender nie und nimmer Platz für eine andere Frau sein konnte, und dass er niemals an einem Ort sein konnte, ohne dass ich davon wusste.
Es gab sie einfach nicht, diese Ungenauigkeit in seinem Terminplan, und es gab auch keine einzige Erfahrung, in der er nicht sofort ans Telefon ging, oder eine meiner Nachrichten beantwortete.
Trotzdem blieb das gelegentliche Glück in seinem Gesicht an manchen Abenden.
Es blieben die Minuten, in denen er gedanklich an einem anderen Ort zu sein schien, zu dem mir der Zutritt einfach nicht gestattet war.
Mein Geist horchte auf jedes seiner Worte, auf die Inhalte, die plötzlich so viel mehr Tiefe zu haben schienen.
Nie hatte er mit mir über tiefgründige Themen gesprochen, es passte eigentlich auch gar nicht zu ihm, aber mir gefiel, dass er es ihm jetzt leicht zu fallen schien.
Worte, die über mehr als ein Jahrzehnt nicht gesprochen worden waren, schienen jetzt aus ihm herauszufließen.
Der Mann neben mir veränderte sich, öffnete sich, und reflektierte sich auf eine Art, die ich ihm nicht mal zugetraut hatte.
Er fragte mich nach Dingen, denen er niemals in all den Jahren eine Bedeutung zugeschrieben hatte, und ich platze fast vor Glück, weil er tatsächlich bereit zu sein schien, ein paar meiner Bedürfnisse nun doch zu erfüllen. Bedürfnisse, die niemals in all den Jahren auch nur den geringsten Platz in seinen Plänen gehabt hatten.
Ich wähnte mich glücklich, fühlte mich sogar sehr gut damit, und glaubte für Sekunden, dass all das vielleicht wirklich aus ihm selbst gekommen sein könnte.
Bis zu dem Tag, an dem er sein Handy auf dem Tisch in der Küche vergaß.
Passiert war ihm das nie vorher, das Telefon und er schienen praktisch miteinander verschmolzen, und ich schmunzelte sogar darüber, dass ihm dieser Fehler überhaupt unterlaufen war.
Der perfekt organisierte Mann, der sich keinerlei Ungenauigkeiten zu leisten schien, schwächelte an manchen Stellen.
Auch diese Veränderung hatte ich wohlwollend seit Wochen beobachtet, weil sie ihn so viel mehr menschlicher machte.
Er erlaubte sich Schwächen, manchmal nur in Kleinigkeiten, aber im Gegensatz zu früher, schienen sie keine Katastrophen mehr.
Obwohl sein Perfektionismus mich anfangs so wahnsinnig beeindruckt hatte, war er mit den Jahren zu einem Übel in meinem Leben geworden, und es fühlte sich einfach unfassbar gut an, dass nicht mehr nur ich der unperfekte Mensch in diesen Räumen war.
Ich lachte über seine kleinen Vergesslichkeiten, die für jeden anderen Menschen zur Normalität gehörten, und die für ihn unsägliches Versagen bedeutet hatten.
Überraschenderweise lachte er mit mir, was in der Vergangenheit niemals der Fall gewesen war, und erneut musste ich mir eingestehen, dass mir dieser Mann sehr viel besser gefiel.
Was ich nun sah, war der Mann, von dem ich immer geträumt hatte, und auf den ich immer gewartet hatte.
Selbst als das Handy auf dem Tisch aufgeleuchtet hatte, dachte ich noch in keiner Sekunde darüber nach, dass mein Leben sich binnen Sekunden verändern würde.
Ich sah auf das Display, auf dem eine Nachricht eingegangen zu sein schien.
Meine Hand griff danach, als sei es ein nicht zu verhindernder Reflex, und ich sah den Namen über den vielen Worten leuchten.
Bernadette.
Es gab niemanden in unserem Freundeskreis mit diesem Namen, nicht mal im engeren Kreis seiner Kollegen, und sofort fühlte ich Kälte in mir aufziehen.
Meine Hand umklammerte das Handy, ich las die Worte, die für mich nicht wirklich Sinn ergaben.
Es klang nicht verdächtig, nicht mal sonderlich persönlich, und ich musste die Nachricht mehrfach lesen, um überhaupt einen Sinn darin zu erkennen.
Worum ging es hier?
Ich ließ mich auf den Küchenstuhl neben dem Tisch sinken und öffnete den gesamten Schriftverkehr.
Mein perfekter Mann, der ansonsten so gut sortiert und organisiert war, hatte nicht mal versucht, sein Handy vor fremden Blicken zu schützen.
Kein Code, kein Fingerscan, nichts.
Mein Finger scrollte zu letzen und vorletzten Nachricht, nur um dann zu erkennen, dass es hunderte sein mussten.
Hunderte, vielleicht tausende Nachrichten, die weit bis in das vergangene Jahr hineinreichten.
Jede Emotion schien aus mir zu fließen, es fühlte sich nur noch dumpf und leer an, und selbst wenn ich vielleicht etwas anderes behauptet hätte, war ich kaum mehr dazu in der Lage zu atmen.
Bis zu diesem Moment hatte ich den Gedanken an eine andere Frau versucht zu verdrängen. Auch wenn es nahe gelegen hatte, und so viele der Zeichen genau darauf hingedeutet hatten, war es am Ende einfach nicht logisch.
Er war nicht so, war viel zu gerade für ein solches Konstrukt, und hatte andere für solche Unzulänglichkeiten immer verurteilt.
In hunderten Gesprächen hatte er Männer für ihre Affären verurteilt, immer betont, dass er so niemals handeln würde, und ich hatte ihm geglaubt.
Weil er sicher immer wieder die Chance dazu gehabt, und es doch niemals auch nur eine Situation gegeben hatte, in der ich ihn und seine Aussagen in Frage hätte stellen müssen.
Die einzige Wahrheit, auf die ich mich immer hatte verlassen können, war die, dass er mich wegen einer anderen Frau sicher sofort verlassen hätte. Weil es für einen Mann wie ihn nur schwarz oder
weiß gab, er sich niemals mit der Hälfte von irgendetwas zufriedengegeben hätte, und er sich nicht vor Entscheidungen fürchtete.
Bis jetzt, wo ich die unzähligen Nachrichten auf dem Display vor mir hatte, und es keine Erklärung dafür zu geben schien.
Bernadette, die Frau, der mein Mann so viel Zeit zu opfern schien, tat ihrerseits offenbar das Gleiche.
Ich suchte nach dem Anfang, nach der ersten Nachricht von all den vielen, und fand sie am Anfang des letzten Jahres. Mehr als 14 Monate in der Vergangenheit, zu einem Zeitpunkt, an dem ich
weder das Strahlen noch irgendeine sonstige Veränderung gesehen hatte.
Meine Augen flogen über die Nachrichten, keine davon schien verfänglich oder auch nur im geringsten unangebracht, und eigentlich hätte es mich beruhigen sollen.
Tat es jedoch nicht, denn die Dinge über die dort geschrieben wurden, waren mir fremd.
Vieles davon klang so banal, dass ich kaum glauben konnte, dass er sich überhaupt die Zeit genommen hatte, die Worte überhaupt zu tippen.
Mein Mann, der auf meine Nachrichten immer in kurzen und knappen Worten antwortete, schien sich hier vollkommen anders zu verhalten.
All die Worte über die täglichen Lasten seiner Arbeit, die Erlebnisse, von denen ich nie etwas gehört, und über die er mit mir niemals ein Wort gewechselt hatte.
Der Schmerz ließ meinen Körper sich winden, aber ich gab mir alle Mühe, Haltung zu bewahren.
Was ich sicher an dieser Stelle nicht tun würde, wäre zusammenbrechen. Diesen Sieg, auch wenn keiner ihn sehen oder bemerken würde, würde ich den beiden nicht gönnen.
Ich war noch immer die Frau, zu der er an jedem Abend zurückkehrte, und ich war auch immer noch die Frau, die seinen Ring mit stolz trug.
Ich scrollte weiter, sah, dass es manchmal unzählige Nachrichten an einem einzigen Tag waren.
Nie und nimmer hatte er je ähnlich viele Worte mit mir an nur einem Tag gewechselt, und immer hatte ich geglaubt, er sei einfach einer diese schweigsamen Menschen.
Ich hatte das akzeptiert, als eine seiner vielen kleinen Eigenarten, und niemals hatte ich versucht, aus ihm einen anderen Menschen zu machen.
Für mich war er die Sorte Mensch, die Dinge mit sich selbst ausmachten und dafür keine Meinung anderer benötigte.
Weit gefehlt.
Was er ihr anvertraute, in all seiner unsäglichen Unwichtigkeit, brachte mein Herz sofort zum Brechen. Er schien mit ihr über Probleme zu sprechen, die er mit mir niemals geteilt hatte.
Ich sollte es sein, der er all diese kleinen Dinge erzählte.
Stattdessen war es sie, die mit klugen Antworten die richtigen Töne zu treffen schien, und ihn ganz offensichtlich immer wieder zum Lachen brachte.
Auch wenn keine der Nachrichten, selbst nach Monaten die ich durchsucht hatte, für eine Liebesbeziehung sprachen, stand sie ihm näher, als ich es tat.
Man hörte es zwischen den Zeilen, las es aus den Worten, mit denen sie ihn beschrieb, und immer lag sie mit ihren Einschätzungen sehr viel richtiger, als ich es in der Vergangenheit getan hatte.
Ich hatte im trüben gefischt, während sie seinen Gedankengängen ohne Schwierigkeiten folgen konnte.
Sie sprachen über Musik und Kunst, und erst jetzt wurde mir klar, dass er sogar versucht hatte, mich in diesen Mikrokosmos mitzunehmen.
Es musste Monate her sein, aber ich erinnerte mich daran.
Für mich völlig überraschend, hatte er mich nach meiner Meinung zu einem Bild gefragt und mir dabei das Handy vor die Nase gehalten.
Das altbackene Gemälde aus dem letzten Jahrhundert hatte auf mich angestaubt und langweilig gewirkt.
Ich hatte mich gewundert, dass er mich danach fragte, aber ich hatte eigentlich nicht wirklich eine Meinung dazu. Auch wenn ich Kunst interessant fand, und mich gelegentlich damit auseinandersetzte, sagte mir das Bild auf dem Display nichts.
Ich hatte mit den Schultern gezuckt, es hübsch genannt, und war zurück zu meinem Tagesgeschäft gegangen.
Jetzt allerdings musste ich einsehen, dass mein Mann, der ansonsten so wortkarg zu sein schien, sich bis ins letzte Detail mit diesem Bild auseinandergesetzt hatte.
Über endlose Nachrichten hatte er sich mit der Aussage des Bildes befasst, es hinterfragt, Theorien überworfen, und selbst ich musste mir beim Lesen eingestehen, dass ich das alles höchst interessant fand.
Nein, diese Seite meines Mannes kannte ich ganz sicher nicht.
Ich überflog weitere hunderte von Nachrichten, allesamt über Themen, die mir völlig fremd waren, und stellte erneut fest, dass nichts davon wirklich eines Vorwurfs wert war.
Ja, sie schrieben über Musik und Kunst.
Über alltägliche Erlebnisse, die ärgerlichen, die lustigen, die völlig absurden. Über Bücher, die tatsächlich nun in unseren Schränken standen, und von denen ich geglaubt hatte, er hätte sie aus einer merkwürdigen Laune heraus gekauft.
Manchmal gab es Nachrichten über annähernd Persönliches, aber niemals darüber, was genau das Konstrukt der beiden eigentlich ausmachte.
Hatte mein Mann eine beste Freundin?
Für Sekunden fand ich den Gedanken sogar ganz lustig, dass er mir vielleicht einfach nicht von ihr erzählte, weil es ihm peinlich war.
Natürlich hatte er Freunde, WIR hatten Freunde und Bekannte, aber ich hatte es nie wahrgenommen, dass er einen einzigen besten Freund hatte.
Niemanden, mit dem er über die ganz persönlichen Dinge sprach, die niemand anderes hätte hören sollen.
Auch hier hatte ich meine eigene Theorie, für mich war er der einsame Wolf, der keinerlei Unterstützung brauchte, und für eine sehr lange Zeit hatte ich ihn dafür bewundert, dass er im Grunde niemanden auf der Welt wirklich benötigte.
Nicht mal mich.
Jetzt allerdings sah ich, dass auch diese Einschätzung völlig falsch war, denn offensichtlich brauchte er sehr wohl diese Frau. Manchmal sah ich die erste Nachricht des Tages, schon wenige Minuten
nach dem er das Haus verlassen hatte, und es gab dafür keine andere Erklärung als die, dass er ihr eine Wichtigkeit zuschrieb, die ich trotz größter Bemühungen nie erreicht hatte.
Hatte mein Mann also erkannt, dass er einen besten Freund benötigte, um die stressigen Tage etwas besser zu verarbeiten?
Dass ich diese Lücke nicht füllen konnte, nahm ich ihm an dieser Stelle nicht mal übel. Ich war seine Frau, nicht seine beste Freundin, und auch ich teilte mit meiner besten Freundin Dinge, über die
ich mit meinem Mann nicht sprach.
War das große Geheimnis seines neuerlichen Glückes also einfach eine Person, die diesen Raum füllte?
Was auch immer hier vor sich ging, war zwar merkwürdig, aber bisher wenig beunruhigend.
Auch wenn ich mir natürlich gewünscht hätte, dass wir auch diese Kleinigkeiten hätten teilen können, war ich einfach nur froh, dass es nur darum ging.
Ich wischte unendlich viele Nachrichten weiter, weil ich einfach gar nicht alles lesen konnte, und fand mich in der Neuzeit wieder.
Mein Blick flog auf den Kalender am Kühlschrank, nur um dann festzustellen, dass ich nicht mal das Kalenderblatt des letzten Monats abgerissen hatte, obwohl der jetzige bereits zur Hälfte vorbei war.
Die unendlich vielen Termine in den Tagesspalten, die fast ausschließlich seinen Alltag widerspiegelten, reihten sich in mikroskopisch kleiner Schrift in den Zeilen.
Hatte ich das Leuchten an einem dieser Tage gesehen, und würde ich hier die Antwort darauf finden?
Ich suchte in den Nachrichten nach dem Datum eines seiner Meetings und fand es praktisch sofort.
Eine Reihe Nachrichten verrieten mir, dass er während des kompletten Meetings eigentlich seine Zeit mit ihr verbracht hatte.
Sogar ein Bild des Raumes fand ich, geknipst mit dem Laptop vor ihm auf dem Tisch und einer genauen Beschreibung des Anlasses und den anwesenden Personen.
Auch das hatte er nie mit mir getan, nicht mal zum Anfang unserer Beziehung, und ihre Antworten darauf verwunderten mich zutiefst.
Sie schien interessiert und offen, als würde sie die Themen nachvollziehen wollen.
Es klang nicht gelangweilt, ganz im Gegenteil, und tatsächlich vertrat sie dabei Meinungen, die ich durchaus auch als meine ansehen würde.
Auch wenn sie nicht mit allem etwas anfangen konnte, hinterfragte sie es, und schien sich auch nicht schlecht damit zu fühlen, dass er in diesen Sachen so viel klüger schien.
Ich selbst hatte das nie getan, was er auf der Arbeit tat, interessierte mich im Grunde nicht. Ich sah mich selbst nicht in diesen Dingen, glaubte auch nicht, es verstehen zu können, und hielt mich
daher aus seinem Arbeitsalltag weitestgehend heraus.
Ich hielt mich für zu ungebildet, um mich mit den Fragen seiner Arbeit zu beschäftigen, und hatte mir auch nie sonderlich Mühe gegeben, dieses Defizit wirklich auszugleichen.
Sie tat das nicht, ganz im Gegenteil, und zum ersten Mal seit all den Nachrichten verspürte ich so etwas wie echte Eifersucht.
Sie teilte etwas mit ihm, zu dem ich keinerlei Zugang hatte, und er hatte mir mit keinem Wort von diesem Meeting erzählt.
War das also alles meine Schuld, weil ich mich weder für Kunst noch für seine Arbeit interessierte? Füllte sie eine Lücke, die ich unwissentlich hinterlassen hatte?
Ich legte das Handy auf den Tisch und verschränkte die Arme.
Ja, ich hatte nie gefragt.
Und wenn er versucht hatte, mich zumindest ein wenig daran teilhaben zu lassen, hatte ich abgeblockt.
Weil es mir nicht wichtig war, es mich nicht interessierte, und ich mehr als genug mit mir selbst und meinem eigenen Job zu schaffen hatte.
Auch ich war erfolgreich, nicht so sehr wie er, aber genug, um damit einen großen Raum meines Lebens füllen zu können.
In meinen Gedanken war kein Platz für diesen Kram, mit dem er seine Zeit füllte, und auch für Gedanken über eingestaubte Gemälde, hatte ich einfach keine Nerven gehabt.
Im Gegenzug hatte er sich auch nie sonderlich bemüht, an meinem Alltag genügend Anteil zu haben.
Wir lebten unsere Arbeitsleben getrennt, den Rest der Zeit gemeinsam, und jetzt wurde mir klar, dass das vermutlich ein riesen Fehler gewesen war.
Weil jeder auf der Welt jemanden braucht, mit dem er auch diese Dinge teilen konnte.
Da ich es nicht war, hatte er, woher auch immer, diese Frau aus dem Hut gezaubert, und offensichtlich war sie es, die ihn in all diesen Dingen perfekt spiegelte.
Sie schien ihn nicht nur zum Lachen, sondern auch zum Nachdenken zu bringen, und an vielen Stellen hatte ich ihn so emotional erlebt, dass ich kaum glauben konnte, dass die Worte wirklich von
ihm geschrieben waren.
Hatte ich also dieser Frau die Türe geöffnet, weil ich einfach versucht hatte, mein weniges eigenständige Leben vor seiner Übernahme zu schützen?
An hunderten von Abenden in den letzten Jahren hatte ich genau darüber nachgedacht, und einfach irgendwann beschlossen, dass ich diesen letzten Rest nicht auch noch ihm überlassen würde.
Der Takt unseres Lebens, der bis in die letzte Sekunde von ihm bestimmt zu sein schien, hatte mich ausgelaugt.
Es war anstrengend, all diesen Forderungen nachzukommen, und immer mehr hatte ich mich an meinen eigenen Job geklammert, um mich nicht völlig von ihm vereinnahmt zu werden.
Ich hatte sein Leben aus unserem Gemeinsamen verbannt, weil ich einfach nicht in der wenigen Zeit auch noch darüber hatte sprechen wollen.
Für eine sehr lange Zeit hatte ich geglaubt, dies sei auch in seinem Sinne, nur um jetzt zu erkennen, dass ich mich geirrt hatte.
Was also sollte ich jetzt tun?
In in seinem Büro anrufen, um ihm zu sagen, dass er sein Handy vergessen hatte?
Oder hatte er es bereits gemerkt, und würde in Kürze gehetzt in der Türe erscheinen?
Und wie sollte ich dann reagieren?
Sollte ich es totschweigen, als hätte ich die unendlichen Nachrichten nicht gelesen?
Oder sollte ich mit ihm darüber sprechen?
Der Gedanke machte mir angst, ich wollte die folgenden Vorwürfe eigentlich nicht mal hören, und musste mir selbst eingestehen, dass diese vermutlich nicht mal unbegründet waren.
Was auch immer mit uns in den letzten Jahren passiert war, wir hatten uns voneinander entfernt.
Erst langsam, ein schleichender Prozess, und natürlich hatte ich ihn gesehen.
Das stille Abkommen, in dem wir unsere täglichen Leben nicht mehr in diesen Wänden thematisierten, hatte zu Schweigen geführt.
Wenn wir trotzdem miteinander sprachen, waren es die unausweichlichen Gespräche einer Ehe, in denen es um Anschaffungen, Reparaturen und gemeinsamen Terminen ging.
Über uns und unseren Zustand jedoch, hatte keiner jemals ein Wort verloren.
In meiner Empfindung war das auch nicht nötig, wir hatten, was wir hatten, und ich konnte mich darauf verlassen, dass es auch in der Zukunft einfach so weitergehen würde.
Ja, wir lebten nebeneinander, aber nicht mehr miteinander. Genau so, wie tausende andere Ehepaare auch.
Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass er sich etwas anderes wünschen würde, und selbst wenn, hätte ich viel eher mit einem abrupten Ende gerechnet.
Weil er mich nicht brauche, eigentlich niemanden brauchte, und auch ohne mich mehr als gut zurechtkommen würde.
Mein Mann war ein Entscheider, er saß Probleme nicht aus, und wann immer er eines sah, entsorgte er es sofort.
So zumindest meine Erfahrung, und erst jetzt erkannte ich, dass auch er eine völlig andere Seite zu haben schien.
Unsicherheiten kannte er nicht, er hatte es in tausenden von anstrengenden Gesprächen vor mir ausgebreitet, und ich hatte es irgendwann als Tatsache angenommen.
Hier allerdings musste ich mir selbst eingestehen, dass nicht alles, was er sich selbst über sich erzählte, tatsächlich der Wahrheit entsprach.
Ich hatte allerdings nicht erwartet, dass er darauf auf diese Art reagieren würde.
Genau in diesem Moment wurde mir klar, dass eine Affäre an dieser Stelle vermutlich noch das geringere Übel gewesen wäre.
Eine Frau, mit der er lediglich eine sexuelle Beziehung geteilt hätte, wäre im Grunde keine wirkliche Gefahr gewesen. Ein kurzes Vergessen, eine Ablenkung, vielleicht sogar eine schmerzhafte Lektion
für mich.
Das hier allerdings schien etwas anderes, sie ging ihm tief unter die Haut, und auch wenn die beiden anscheinend genau diese sexuelle Komponente nicht teilten, teilten sie etwas viel Größeres.
Ich griff erneut nach dem Handy, suchte die letzte von mir gelesene Nachricht, und las weiter.
Was stand dort wortlos zwischen den Zeilen?
Ich suchte nach Emotionen, die ich vorher einfach nicht wirklich gefunden hatte, und musste erneut feststellen, dass sie einfach nicht zu geben schien.
Obwohl die Worte liebevoll und vertraut zu sein schienen, stand dort einfach nichts, was ich ihm hätte vorwerfen können.
Keine Liebesschwüre, keine merkwürdigen Anspielungen, nichts.
Bis zu einem Tag vor drei Wochen, an denen sich das Blatt plötzlich zu wandeln schien.
Die Nachrichten wurden noch mehr, praktisch jede Stunde seines Tages schien gefüllt mit ihr, und ich las die Sehnsucht der beiden in den Zeilen, obwohl die Worte es einfach nicht wiedergaben.
Ich las, wie er mit sich rang.
Ich kannte diesen Mann, wusste wie er mit Problemen und Herausforderungen umging, und erkannte sofort, dass sich etwas veränderte.
Die plötzliche Tiefe der geschriebenen Worte, die unendlichen Texte, alles sprach dafür, dass er im Grunde selbst nicht wusste, was genau dort geschah.
Fast hätte ich darüber lachen können, wenn es nicht so unendlich traurig gewesen wäre, denn wenn es etwas gab, womit mein Mann ganz sicher nicht umgehen konnte, waren es echte Emotionen.
Sein kühler Kopf überlagerte alles, seine Logik ließ keinerlei unsinnige Empfindungen zu, und auch hier schien er überfordert mit der Tatsache, dass manchmal nicht alles mit reiner Rationalität
zu erklären war.
Auch ihre Antworten gaben nichts anderes wieder, sie schien stur dagegen anzukämpfen, und immer wieder las ich, dass die beiden darüber nachdachten, ihr merkwürdiges Konstrukt zu beenden.
Getan hatten sie es offenbar nicht, was ich ihm an dieser Stelle dann wirklich übel nehmen sollte, aber es einfach nicht konnte.
Sie gab ihm etwas, das ich ihm offenbar nicht geben konnte, und ich verstand nur zu gut, was dieses Etwas war.
Ich selbst hatte mir immer wieder genau diese Verbindung zu einem Menschen gewünscht. Einem Menschen, der mich verstand, mich spiegelte, und mit dem ich alles teilen konnte.
Meine Versuche, aus meinem Mann diesen Menschen zu machen, waren allesamt gescheitert, und ich hatte irgendwann einfach aufgegeben.
Wir funktionierten gut, in allen Belangen des täglichen Lebens, und nie immer wieder hatte ich mir eingeredet, dass dies sehr viel mehr wert war als die emotionale Verbindung.
Wir konnten uns aufeinander verlassen, bis in die letzte Lücke unseres Daseins.
Sie allerdings, die Frau mit dem klangvollen Namen, schien diese Verbindung mit Leichtigkeit halten zu können.
Ohne sich damit schlecht zu fühlen, ohne sich verbiegen zu müssen, und ohne dabei ihr eigenes Leben in seines zu verwandeln.
Mein Finger scrollte weiter, jeden Tag über unendliche Nachrichten, und ich war sicher, irgendwann auf etwas zu stoßen, dass mich in all meinen schlimmsten Befürchtungen bestätigen würde.
Ein Datum, eine Uhrzeit, ein Treffpunkt.
Ich fand ihn, und blickte sofort auf den Kalender an der Wand.
Wo war er offiziell gewesen, als er an diesem fremden Ort seine Zeit mit ihr verbracht hatte?
Was ich fand, war ein winziges Zeitfenster. Vielleicht eine Stunde, die ihm zwischen zwei Terminen übrig geblieben war.
Sie hatten sich getroffen, die Nachrichten sprachen für nichts anderes, und ich war überrascht, dass ich es nicht mal bemerkt hatte.
Er war auch an diesem Abend heimgekommen, genau wie an jedem anderen Abend auch, und mir war keinerlei Veränderung aufgefallen.
Egal wie lange ich darüber nachdachte, das Leuchten hatte ich an diesem Abend nicht gesehen, und fragte mich nun, ob das Treffen vielleicht einfach nicht so verlaufen war, wie er es erwartet hatte.
Alle Nachrichten danach waren kurz und verworren, ich konnte mir einfach keinen Reim darauf machen, aber zwischen den Zeilen sah ich Unsicherheit.
Hatte er bemerkt, dass die Realität nicht das war, was er sich im gesamten Jahr davor vorgemacht hatte?
Diebische Freude machte sich in mir breit, immerhin hatte er mich hintergangen, aber etwas in mir sagte mir sofort, dass diese Sache damit ja bei weitem nicht beendet war.
Wäre dies der Fall gewesen, würden nicht unendlich viele weitere Nachrichten auf mich warten.
Meine Augen flogen über kurze Nachrichten, allesamt für mich ohne Sinn und Hintergrund, bis ich glaubte, mein Gehirn müsste platzen.
Wer war bloß diese Frau, und was genau ging dort vor sich?
Ich las den täglichen Trott, der sich an vielen Stellen einfach nur zu wiederholen schien, und fast kam es mir langweilig vor, wie die beiden sich dafür gegenseitig zu bemitleiden schienen.
Das war es also, was die beiden aneinander festhielt?
Dass sie sich bis ins Unendliche gegenseitig die Ohren volljammerten, und dabei klangen, als hätten sie sich dieses Leben gar nicht selbst ausgesucht?
Wäre diese Frau nicht gerade diese gewesen, ich hätte es lächerlich gefunden.
Alles was er dort bemängelte, die langen Tage, die endlosen Meetings, die durchgetakteten Termine, er hatte es ja so gewollt.
Nichts davon war ihm auferlegt worden, er hatte sich sein Leben genau so gebastelt, und es schien völlig absurd, dass er sich nun darüber beschwerte.
Wann immer er mit mir darüber gesprochen hatte, die wenigen Male, bei denen er seinen Alltag mir gegenüber in Frage gestellt hatte, hatte ich darauf mit Unverständnis reagiert.
Leicht zu ändern, für mich zumindest, und daher keinerlei weitere Diskussion wert.
Er war es gewesen, dessen Ehrgeiz ihn an diesen Ort gebracht hatte, und er war es auch, der dieses merkwürdige Leben sofort beenden konnte.
Er tat es nicht, sprach noch weniger mit mir über seinen Alltag, und ich hatte danach beschlossen, dass er diese Baustelle ganz und gar alleine zu beackern hatte.
Sie allerdings sah das offensichtlich anders. Sie zeigte Verständnis, wo ich keines hatte, und immer wieder baute sie ihn auf, ohne dabei seinen Job in Gänze in Frage zu stellen.
Wie echt das allerdings war, daran hatte ich starke Zweifel.
In der Blase der beiden, die sie sich über Monate aufgebaut hatten, war es leicht. Für mich allerdings war es das nicht, schließlich musste ich an jedem Tag damit leben, während sie vermutlich in
ihrer Wohnung saß und nicht auf ihn warten musste.
Sie war es nicht, die all die alltäglichen Dinge für ihn erledigen musste, weil ihm dafür die Zeit fehlte. Sie war es nicht, die ihre eigenen Pläne verwerfen musste, damit er das Leben leben konnte,
von dem er glaubte, es leben zu müssen.
Ob sie es können würde, darüber würde man streiten können, denn wenn ich etwas über diese Frau bereits gelernt hatte, dann, dass sie sich nicht unterwarf.
Im Gegensatz zu mir, vertrat sie ihre Meinungen und Ansichten, und sie machte auf mich auch nicht den Eindruck, als würde sie einfach alles stehen und liegen lassen, damit er zu
neuerlichen Heldentaten aufbrechen konnte.
Ganz im Gegenteil, sie selbst schien erfolgsorientiert und ehrgeizig, und an vielen Stellen hatte er ihr dafür applaudiert.
Anders, als er es bei mir je getan hatte, obwohl auch ich alles dafür getan hatte, es irgendwie in meinem Leben zu etwas zu bringen.
War hier also das Problem, dass ich nicht über diesen absurden Ehrgeiz der beiden verfügte? Dass ich ein Leben neben all dem hatte haben wollen, und nicht nur für die Arbeit lebte?
Ich wusste es nicht.
Erst jetzt bemerkte ich, dass ich seit einer Ewigkeit auf die gleiche Nachricht geblickt hatte, während meine Gedanken abgeschweift waren.
Die Nachricht von ihr war kurz, lediglich ein paar Worte: Du bist der schwarze Schwan.
Es ergab keinen Sinn, jedenfalls für mich nicht, und ich fragte mich, was es zu bedeuten hatte.
Seine Antwort darauf war ein Smiley, also wusste er offenbar, worüber sie sprach.
Auch die nächsten Nachrichten erklärten die Worte nicht, und ich suchte auf dem Tisch nach meinem eigenen Handy, um die Antwort in den Weiten des Netzes zu suchen.
Was war der schwarze Schwan, und welche Bedeutung hatte er für das merkwürdige Konstrukt der beiden?
Ich googelte für eine gefühlte Ewigkeit, fand Filme und Ballettvorführungen, aber nichts, was irgendeiner logischen Erklärung glich.
Selbst die Kollektion eines Schmuckherstellers nahm das Thema des schwarzen Schwanes auf, ohne dabei den Hintergrund wirklich zu erklären.
Waren diese Worte also ein Insider, dessen Erklärung ich niemals erfahren würde?
Die Aussicht darauf machte mich jetzt schon krank, damit würde ich nicht leben können, und ich bemühte am Ende Wikipedia, um mich dort durch endlose Berichte zu quälen.
Keiner, nicht einer, ergab dabei Sinn.
Ich las von Trauerschwänen, merkwürdigen Kunstobjekten, und landete am Ende bei dem Eintrag eines Buches über Finanzmärkte.
Das allerdings ergab Sinn, immerhin spiegelte es seinen Beruf, und ich öffnete den kompletten Eintrag.
Ein Mann Namens Nassim Taleb hatte ein Buch mit dem Titel „Der schwarze Schwan“ geschrieben.
Laut Beschreibung ging es darin um Ereignisse, die selten und höchst unwahrscheinlich sind.
In großen Teilen konnte ich den Ausführungen nicht mal folgen, aber vermutlich wusste ich schon genug, um ihre Worte verstehen zu können.
Mein Mann war es, der dieses seltene und höchst unwahrscheinliche Ereignis war, und ich musste mir eingestehen, dass das vermutlich sogar stimmte.
Die beiden Menschen, die diese merkwürdige Verbindung miteinander aufgebaut hatten, hatten einander gefunden.
Trotz seines vollen Terminplanes, der keinerlei privaten Freiraum neben mir zugelassen hatte. Trotz seiner sturen Einstellung zu seiner Arbeit, trotz seiner Wortlosigkeit.
Trotz all der dagegensprechenden Tatsachen, trotz aller Widrigkeiten.
Sie hatten einander gefunden, einander erkannt, und im jeweils anderen gefunden, was die Vollständigkeit ihrer Seelen besiegelt hatte.
Genau in diesem Moment wurde mir klar, dass ich dagegen niemals eine Chance haben würde.
Weil wir niemals so gewesen waren, und es ganz sicher auch niemals sein würden.
Wir waren nicht Gleichklang, wir waren Aufopferung und Alltag.
Wir waren, dass ich mich hinter ihm zurückstellte, während sie neben ihm ohne Probleme ihren Platz hatte.
Während sie ihm in die Augen blickte, sah ich lediglich zu ihm auf, und ich verstand erst jetzt, dass er das nie von mir verlangt hatte.
Zu keinem Zeitpunkt hatte er das von mir verlangt, ich hatte es einfach getan, weil ich es für richtig gehalten hatte.
Erst jetzt begriff ich, dass er sich im Grunde etwas anderes gewünscht hatte, und musste zeitgleich einsehen, dass ich diese Frau niemals würde sein können.
Ich würde das nicht können, einfach mit ihm auf Augenhöhe stehen, und egal wie sehr ich mich auch verbiegen würde, wohl würde ich mich damit niemals fühlen.
Wenn ich etwas auf der Welt ganz sicher nicht sein würde, dann der schwarze Schwan, der ihn vervollständigte.
Was ich war, war die Frau, die ihm sein Leben bequem machte. Ich war es, die die Anzüge zur Reinigung brachte, das Essen kochte, die Kaffeebohnen auffüllte.
Ich war es, die wartete. Die einen Großteil ihrer Zeit damit verbrachte, darauf zu warten, dass er mir einen Knochen hinwarf.
Und die irgendwann aufgehört hatte, danach ein Kunststück aufzuführen.
Ich sah zu, wie er die Tasse vor mir auf den Tisch stellte, und wie sein Blick dabei auf sein Handy vor mir fiel.
Nur Sekunden sah ich eine Reaktion, um ein Haar hätte ich sie nicht mal bemerkt.
Jeder andere wäre vielleicht in Panik verfallen, aber auch diese Reaktion hätte nicht zu ihm gepasst. Er, der mit unendlichen Geldbeträgen jonglierte, Menschen beeinflusste und lenkte, der
reagierte niemals unkontrolliert.
Selbst in den größten Katastrophen hatte ich ihn nie anders erlebt, und manchmal hatte ich mich selbst gefragt, ob mit ihm etwas nicht stimmte, weil jede Art von echter Emotion in ihm nicht
zu existieren schien.
Ein wenig wunderte es mich, dass sein Glück noch da war, obwohl er den kompletten Tag ohne sie verbracht haben musste. In meiner Theorie standen sein Glück und ihre Nachrichten in
direktem Zusammenhang, aber ganz offensichtlich waren seine Gedanken auch bei ihr, wenn die Verbindung der beiden gekappt war.
Gerechnet hatte ich mit etwas Anderem, aber auch an dieser Stelle hatte ich mich geirrt.
Sein Glück war da, auch wenn sie nicht in Form von Worten in seiner Nähe war.
Sein Körper ließ sich auf den Stuhl neben mir gleiten, genau wie ich es schon millionenfach erlebt hatte, und ich nahm den schwachen Geruch seines Aftershaves wahr. Vertraut, immerhin hatte ich
es gekauft, aber doch weit genug von mir entfernt, um mich nicht zu schmerzen.
Die Zeiten, in denen ich seine Hemden morgens gegen mein Gesicht gedrückt hatten, um genau diesen Geruch in mich einzusaugen, waren lange vorbei.
Ich fing seinen Blick auf, der eher mitleidig als alles andere aussah und versuchte, ihm standzuhalten.
Meine Hand schob das Handy zu ihm, er griff danach, aber sah nicht darauf.
Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich darüber nach, ob er es an diesem Morgen mit Absicht auf dem Küchentisch zurückgelassen hatte.
Vielleicht hatte er gehofft, er könne so erklären, was mit einfachen Worten sicher nicht zu erklären sein würde.
„Du bist der schwarze Schwan. Sie ist es auch.“
Ich straffte die Schultern, denn sicherlich würde dieses Gespräch nicht einfach werden.
Erstaunt stellte ich fest, dass ich noch nicht einmal den Tränen nah war. Immer hatte ich geglaubt, dass ich zusammenbrechen würde, wenn dieser Punkt jemals kommen würde.
Jetzt allerdings fühlte es sich nur dumpf und aussichtslos an, denn auch Tränen würden an all dem nichts mehr ändern.
Sie würden nicht ändern, dass diese Frau ihn glücklicher machte, als ich es jemals können würde.
Sie würden nicht ändern, dass ich nicht die Frau war, die neben ihm bestehen konnte.
Jede Vorstellung, ihn zu verlieren, hatte sich schon in meinem Kopf unerträglich angehört und ich hatte sie sofort verdrängt.
Für mehr als ein Jahrzehnt hatten mein Leben und mein Selbst ihm gehört, ich hatte alles andere dahinter zurückgestellt. Jetzt allerdings würden sich die Dinge ändern, und vielleicht würde
er irgendwann erkennen, dass es doch genau das war, dass er brauchte.
Auch wenn er das jetzt sicher anders sah, würde es nicht einfach werden. Ein Mann wie er, der es nicht gewohnt war, dass jemand sich ihm nicht unterwarf, würde damit vielleicht gar nicht klarkommen.
Was sich jetzt so verlockend anhörte, konnte ebenso zu einer unüberwindbaren Hürde werden, und wer auf der Welt würde sein Leben so bequem und sorgenfrei einrichten, wenn ich es nicht tat?
Sie sicher nicht, sie war nicht so, und vermutlich würde sie von ihm ein Entgegenkommen verlangen, dass er nicht im geringsten würde erfüllen können.
Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht würden sie eine Ebene weit über der meinigen finden, auf der sie gemeinsam würden leben können.
Vielleicht würde es viel leichter sein, als das Leben mit mir.
Weil sie einander verstanden, sich spiegelten, und am Ende zu einer Einheit werden würden.
Niemand würde eine realistische Einschätzung dazu abgeben können, erst recht nicht ich. Ich könnte es schlecht reden, ihm all die Differenzen, die in dieser Beziehung möglich waren, aufzeigen,
aber würde er sie überhaupt hören können oder wollen?
Wollte ich überhaupt, dass er darüber nachdachte, was ihm am Ende vielleicht fehlen würde?
Im Grunde nicht. Denn ich wollte sicher nicht die Frau sein, bei der er blieb, weil die Zukunft ungewiss war.
Was ich tief in mir schon immer befürchtet hatte, schien jetzt eine Wahrheit zu sein.
Ich war die 2. Wahl, die Alternative zu all den anderen Möglichkeiten.
Für Jahre hatte es funktioniert, auch ohne die perfekte Lösung zu sein, und jetzt gab es dort sie, die ihm einfach mehr versprach.
Alles was ich tun konnte, war ihn gehen zu lassen, damit er zu dem Menschen werden konnte, der er sein wollte.
Genau wie ich die Frau werden musste, die ihrerseits diesen einen schwarzen Schwan unter all den Weißen finden konnte.
Publication Date: 09-02-2022
All Rights Reserved