Veronika Aretz
Sarah in Mirathasia
Wenn du dich nach echten Freunden sehnst ...
Band 1 der Phantasik-Reihe
(auch als Taschenbuch im VA-Verlag)
Daniela, rief Platyroh und winkte einem Wesen zu, das gerade durch den korallenbesetzten Torbogen schwamm.
Ein Schwarm schwarz-roter Drachenkopflinge begleitete die Frau, als sei sie eine von ihnen. Wie ein Schleier wehten die Fische hinter ihr her.
Platyroh lächelte. Der Wassermensch stand mit einer Harke in seinem Garten, um die lästigen Algen von den Seeanemonen und den blühenden Mooskissen fortzurechen. Er hatte einen der schönsten Gärten in Unterschwalm, einer kleinen Stadt auf dem Grund des einzigen Sees dieser Welt. Hohe Riffe, die sich beinahe bis zur Wasseroberfläche ausdehnten, umgaben diese und schützten so die Einwohner vor Bedrohungen von außen.
Ich grüße dich, Oberhaupt der Torga, entgegnete Daniela. Sie legte die rechte Hand aufs Herz und nickte Platyroh freundlich zu. Lange braune Haare wirbelten um ihr Gesicht und ihr blaues, inzwischen verblasstes Kleid schmiegte sich eng an ihren schlanken Körper. Wie eine Mondsichel schimmerte sie, war nicht ganz Mensch, womöglich ein Traum. Manchmal wurde ihr silbriger Schein vom Wasser in tanzende Fasern verzerrt.
Platyroh empfing ihre Worte deutlich in seinem Kopf. Unter Wasser konnten sie sich nicht anders als durch Gedankenübertragung verständigen und obwohl Daniela kein Wassermensch war, hatte sie die Sprache der Torga schnell gelernt.
Es ist so weit – ich werde meine Mission durchführen.
Erschrocken rammte Platyroh seine Harke in den Boden und köpfte dabei eine gelbe Schmetterlingsanemone. Aber du begibst dich in Gefahr! Wir brauchen dich! Was ist, wenn du nicht zurückkehrst …
Daniela senkte den Kopf, als wollte sie den Gedanken von sich schieben. Ich habe euch alles gelehrt, was ich weiß. Doch der Friede in dieser Welt hängt am seidenen Faden und dein Stamm wird noch immer vom Verächter unterdrückt. Seine Untergebenen, die Schwarzen Männer, werden euch irgendwann aufspüren.
Platyroh ließ seine Kiemen heftig flattern, als er um Daniela herumschwamm. Für ihn war es leicht, sich unter Wasser fortzubewegen, denn an seinen Händen und Füßen – so groß wie Suppenteller – wuchsen dicke Schwimmhäute. Wir haben gute Kämpfer! Wenn die Schwarzen Männer kommen, werden sie auf Widerstand stoßen!
Sanft berührte Daniela seine rötlich glänzenden Schuppen. Ich weiß, ihr trainiert hart. Doch es gibt einen anderen, besseren Weg. Deshalb ziehe ich mich zurück, um sie zu uns zu holen.
Überrascht blies Platyroh einen Schwall Luftringe ins Wasser. Du willst … sie … herbringen? Zu uns?
Der silbrige Schimmer um Danielas Körper verblasste etwas. Ja, wir können nicht länger warten. Nur sie kann diese Welt befreien – ich dagegen bin nur eine Erscheinung, wie du weißt.
Platyroh schüttelte den Kopf, sein roter Haarschopf schlug dabei wie eine Haifischflosse hin und her. Sie ist doch noch so jung, noch immer ein Kind!
Auch ich habe ihre Tage gezählt, sie wird bald zwölf. Daniela senkte die Augenlider und als sie sie wieder aufschlug, schwemmte das Wasser ihre Tränen fort. Ich weiß, sie wird noch viel lernen und erst in ihre Aufgabe hineinwachsen müssen. Doch vertrau mir, ich werde sie führen.
Traurig hob Platyroh die geköpfte Blüte auf. In der Welt der Schwarzen Männer wird sie nicht überleben! Du weißt selbst, dass der Verächter die Kinder seiner Untergebenen nicht mehr gehen lässt.
Ich werde sie auf Umwegen zu uns bringen. Und sollte ich nicht zurückkehren …
Tu es nicht! Bitte! Platyroh sah sie flehend an.
Daniela lächelte, ihre Augen funkelten wie zwei Glitzerfische. Ich muss mich jetzt zurückziehen, um Kraft zu schöpfen. Wartet nicht auf mich – aber wartet auf meine Tochter. Eines Tages wird Sarah zu euch finden.
"Sarah! Wie lange soll ich noch auf dich warten?“
Tinas Stimme fegte wie ein Hagelsturm gegen die Zimmertür, bohrte sich durchs Schlüsselloch und brauste über Sarahs Schreibtisch hinweg. Für den Bruchteil eines Herzschlages wirbelten alle Bücher, Hefte und Stifte durcheinander und verwüsteten das kleine Zimmer.
Erschrocken fuhr Sarah hoch und das Englischbuch, das vergessen auf ihrem Schoß geschlummert hatte, rumste zu Boden. Mit einem Schlag zog sich Sarahs Traum in die hintersten Winkel ihres Bewusstseins zurück. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass er etwas Wichtiges bedeuten musste, auch wenn sie nicht in Worte fassen konnte, was. Eine Frau, seltsam verschwommen und doch greifbar nah, hatte ihr zugelächelt. Schimmernd wie eine Mondsichel war sie durch einen korallenbesetzten Torbogen geschwommen, begleitet von einem Schwarm schwarz-roter Fische.
Sarah schüttelte sich, um diesen Traum abzustreifen. Wie in Trance bückte sie sich und hob ihr Englischbuch vom Boden auf, um es auf den Schreibtisch zu legen. Natürlich – verwüstet war er nicht: Auf ihm türmten sich Hausaufgabenhefte, Biologie- und Deutschbücher zu einem eindrucksvollen Berg, daneben herrschte ein buntes Durcheinander von Füller, Tintenkiller und Farbstiften. Schließlich sollte es so aussehen, als hätte sie noch eine ganze Menge Arbeit zu erledigen.
„Kommst du jetzt endlich?“
Sarahs Stiefmutter trommelte ungeduldig gegen ihre Zimmertür. Fast acht Jahre war es nun her, dass Tina mit Georg, ihrem damals sechsjährigen Sohn aus erster Ehe, zu Sarah und ihrem Vater gezogen war – und seitdem hatte das Mädchen keine einzige ruhige Minute mehr. Georg ärgerte sie, wo er nur konnte, Tina bürdete ihr ständig Strafarbeiten auf, und ihren Vater Peter sah sie oft nur zum Frühstück. Ihr einziger Lichtblick war Jens, ihr Halbbruder, der vor vier Jahren geboren worden war und der sie manchmal einfach so anlachte und umarmte.
Sarah atmete tief durch, strich sich die langen braunen Haare hinters Ohr und trat aus dem Zimmer. Die Tür ließ sie weit offenstehen, damit Tina den mit Schulbüchern vollbepackten Schreibtisch sehen konnte.
Gerade da stürzte sich Jens wie ein zotteliges und todunglückliches Wiesel auf sie. Er drückte seinen Kopf in Sarahs Bauch und zerknautschte dabei seinen Pandabär, den er in den Armen hielt. „Sarah, ich will nich!“
„He, mein großer Teddybär!“ Sarah bückte sich und strich ihm liebevoll über die blonden Stoppelhaare. „Das schaffst du schon.“
Wie gut Sarah ihn verstehen konnte! Ihr vierjähriger Bruder sollte heute geimpft werden und davor hatte er schreckliche Angst. Schuld daran war nur Georg, der es sehr lustig fand, Jens mit seiner Furcht aufzuziehen.
„Du musst jetzt viel essen“, hatte er ihm beim Mittagessen zugeflüstert. „Um deine Impfung heute Nachmittag durchzustehen, brauchst du sehr viel Kraft. Das wird höllisch wehtun! Und die Nadel ist bestimmt sooooo lang!“ Dabei hatte er sein Gesicht zu einer Fratze verzogen und mit den Augen gerollt.
Sarah wusste, eines Tages würde sie Georg eine Reise zum Mars schenken – natürlich ohne Rückfahrkarte.
„Du sollst bei mir bleiben!“, jammerte Jens schon wieder.
Sanft drückte Sarah ihn an sich. Bestimmt würde sie ihn ablenken können, wenn der Arzt mit der Nadel kam. Aber heute Nachmittag war die Gelegenheit, endlich ihren Plan auszuführen! So lange hatte sie schon daran gebastelt und gefeilt, hatte ihre Klassenkameraden belauscht und ihnen unauffällige Fragen gestellt. Doch das Wichtigste hatte sie erst letzte Woche erfahren: Georgs Computerpasswort, mit dem sich ihr eine ganz neue Welt eröffnen würde!
„Wir müssen jetzt los!“, fauchte Tina und zog Jens von Sarah fort. Der Kleine strampelte und quengelte, als sie ihn in seine Jacke zwängte. „Um vier Uhr hat Jens den Termin und du weißt genau, dass er dich braucht.“
„Aber ich hab ’ne Menge Hausaufgaben auf!“ Sarah zuckte mit den Schultern und versuchte, genauso unschuldig dreinzublicken, wie Georg das immer tat, wenn er etwas ausgefressen hatte.
In dem Moment krachte eine Zimmertüre gegen die Wand. Erschrocken duckte sich Sarah, während Jens sich neben ihr verkroch. Doch es war nur Georg, der in voller Fußballmontur an ihr vorbeistapfte. Er grinste seine Stiefschwester im Vorbeigehen hämisch an, so, als wüsste er etwas, was ihr wieder einmal schaden könnte. Dann riss er die Schuhschranktür auf, zog seine dreckigen Fußballschuhe heraus und ließ große Brocken getrockneten Lehms von ihnen herabbröseln. Als er die Tür wieder zuschlug, polterten im Inneren des Schrankes einige Schuhe zu Boden.
Das war typisch Georg.
„Ich hab dir schon so oft gesagt, dass du vorsichtiger sein sollst! Die Bretter sind doch lose!“, grummelte Tina, aber ihre Stimme klang immer noch viel zu weich. Sarah wurde von ihr nie so behutsam zurechtgewiesen, darauf würde sie sicher warten müssen, bis nachts die Sonne schien oder Georg aufhörte, so dusselig zu grinsen.
„Ja-haa, Maa-maaa“, säuselte Georg und stülpte sich die Schuhe über. Weitere Lehmbrocken krümelten ab. „Ich bin der beste Mann in unserem Verein und muss hart trainieren, da kann ich mich nicht auch noch mit lockeren Regalbrettern abgeben!“
Georgs Manöver funktionierte auch diesmal, Tina steckte bereits den Kopf in den Schrank und stellte die Schuhe vorsichtig zurück an ihren Platz.
Mehrere Male stampfte Georg nun auf, bis auch noch der letzte Dreck abgebröckelt war. Einige der Lehmklumpen kullerten bis zur Tür, doch Georg trat einfach darauf.
„He, so geht das aber nicht!“, rief Tina, als er fröhlich pfeifend aus der Wohnung stürmen wollte. „Kehr das sofort zusammen!“
„Ich bin spät dran, Mama“, flötete Georg. „Die Mannschaft steht und fällt mit mir! Wenn ich zu spät komme …“ Bevor Tina noch einen Ton erwidern konnte, knallte er die Tür hinter sich zu und seine Fußballschuhe klackerten durchs Treppenhaus, als feuere jemand Maschinengewehrsalven ab.
Nervös schaute Tina auf ihre Armbanduhr und verzog die rosarot geschminkten Lippen zu einem schmalen Strich. Eine Haarsträhne, die sich aus ihrer hochgesteckten Frisur gelöst hatte, riss sie aus dem Reißverschluss ihrer Kunstlederjacke. „Sarah, jetzt beeil dich doch!“, stöhnte sie. „Wir kommen zu spät zum Kinderarzt.“
„Ich muss aber noch für Englisch lernen“, entgegnete Sarah schnell. „Und für Bio. Wir haben auch einen langen Aufsatz in Deutsch auf …“
Tinas Mundwinkel verzogen sich nach unten, sie konnte es nicht ausstehen, wenn ihre Stieftochter ihr widersprach. Prüfend nahm sie Sarahs Schreibtisch in Augenschein, als spürte sie genau, dass das Mädchen nicht die Wahrheit sagte.
Sarah senkte den Blick und ließ ihre Haare wie einen dichten Vorhang vors Gesicht fallen. Warum durfte sie nicht ein einziges Mal ganz allein zu Hause bleiben?
Ärgerlich packte Tina Jens am Ärmel. „Wir sind in einer Stunde wieder hier, dann hast du noch immer genug Zeit. Du weißt genau, dass Jens Angst hat.“
Ihr Bruder, der gerade noch mit großen, verheulten Augen in der Ecke gesessen hatte, strampelte nun ungehalten und trat wütend gegen den Schuhschrank – zum zweiten Mal an diesem Nachmittag polterten die Schuhe darin zu Boden.
„Ich will nur mit Sarah!“, schluchzte er. Sein Ton war noch flehender als vorher und sein Pandabär war von den vielen Tränen schon ganz feucht.
Sarah schluckte schwer. Wie konnte sie ihren kleinen Bruder nur im Stich lassen? Sie würde im Wartezimmer mit ihm Türme bauen. Und wenn der Arzt kam, konnte sie ihre Finger sprechen lassen, weil Jens das Spiel so sehr liebte. Er war etwas Besonderes für sie, vielleicht der einzige Mensch, der nicht ständig etwas an ihr auszusetzen hatte. Dann aber dachte sie an ihren Plan. Warum nur hatte sie das Gefühl, dass es gerade heute so wichtig war, ihn durchzuführen?
„Ich hab wirklich sehr viel zu tun“, beteuerte sie, ohne Jens dabei anzusehen.
Tina öffnete schnaubend die Tür und schob Jens hinaus. „Aber den Dreck – den machst du weg!“
Sarah wagte kaum zu atmen. Gespannt lauschte sie an der Tür, bis Tinas und Jens’ Schritte im Treppenhaus verklungen waren. Schnell holte sie einen Besen aus der Kammer und kehrte den Lehm zusammen. Dass sie jetzt auch noch Georg hinterherputzen musste! Vor Wut hätte sie beinahe alles neben den Abfalleimer geschüttet.
Aber dann war es endlich soweit!
Sarahs Herz pochte wie wild, als sie vor Georgs Zimmertür stand. Er hatte ihr strikt verboten, sein Reich zu betreten – vielleicht befürchtete er, sie würde seine geheimen Bauprojekte stehlen. Natürlich war das nur eine Ausrede, um Sarah fernzuhalten.
Entschlossen drückte sie die Klinke hinunter.
Georgs Zimmer sah fürchterlich aus.
Schwarze Drachen und berühmte Fußballspieler glotzten Sarah von den Wänden an, nicht das kleinste Zipfelchen Tapete war noch zu sehen. Auch die Decke war mit Postern bepflastert, einige waren sogar zerrissen und hingen in Fetzen herunter. Auf einem Plakat an seinem Kleiderschrank hatte er sein eigenes Foto über das Gesicht eines Fußballstars geklebt und daruntergekritzelt: Georg vor – noch ein Tor!
Freiwillig würde Sarah diesen Raum niemals betreten – und doch hatte sie genau das vor. Sie musste unbedingt herausfinden, was sich hinter Tinas und Georgs sorgsam gehütetem Geheimnis verbarg. Einmal hatte sie die beiden belauscht, als sie über das Internet gesprochen hatten. Daran war nichts Außergewöhnliches gewesen, doch eine von Tinas Bemerkungen ging ihr seitdem nicht mehr aus dem Kopf: „Wir müssen um jeden Preis verhindern, dass Sarah surft! Wenn sie die falsche Adresse anwählt …“
Und letzten Monat hatte sie zufällig gehört, wie Tina Georg zurückrief, als er gerade zum Fußball gehen wollte: „Hast du deinen Computer mit einem Passwort versehen? Du weißt ja, sie darf es auf keinen Fall erfahren!“
Sarah war buchstäblich der Atem gefroren, so eisig hatte sie sich gefühlt. Die beiden hatten sich gegen sie verschworen! Was zum verkokelten Pfannkuchen konnte es im Internet geben, was sie nicht sehen durfte?
In jedem Fall war es Grund genug, dieses Zimmer zu betreten!
Nervös bahnte sie sich einen Weg zu Georgs Schreibtisch. Vom Boden bis zu den Regalen türmten sich seine Technikbausteine, die so wirr ineinandersteckten wie ein aufgeschütteter Strohhaufen. Sollte nur ein winziges Teil seiner Konstruktion verrutschen, brach sicher gleich das gesamte Gerüst zusammen. Georg würde genau wissen, dass nur sie für den Einsturz verantwortlich sein konnte. Er würde einen Tobsuchtsanfall bekommen und ihr monatelang vorhalten, sie hätte die Konstruktion eines hochtechnologischen Projektes zerstört, das zur Rettung der Menschheit dienen sollte.
Mit pochendem Herzen wandte sich Sarah seinem Computer zu und drückte den Startknopf. Der große graue Kasten summte und brummte. Versteckt unter einem Berg von Comics fand sie schließlich auch die Maus. Sie wusste, dass sie mit einem Doppelklick überall hineinkam und auch, welches Programm sie starten musste, um sich ins Internet einzuwählen.
Als das Passwort abgefragt wurde, musste Sarah grinsen: Erst letzte Woche hatte sie Georg durch einen Türspalt hindurch beobachtet, mit seinen Freunden hatte er laut über das Passwort gelacht.
Dummheit muss bestraft werden, dachte sie.
Ein letztes Mal lauschte sie in den Flur hinein, um auch wirklich sicher zu sein, dass sie allein war, dann tippte sie als Passwort Warzenpopo ein. Gespannt beobachtete sie, wie sich der Bildschirm mit kleinen bunten Symbolen füllte. Ein Doppelklick brachte sie schließlich ins Internet.
Was nur hatte Tina gemeint, als sie von der falschen Internetadresse sprach? Es gab so vieles, was Sarah sich ansehen konnte – und doch musste es etwas Besonderes sein, etwas, was Tina ihr sofort verbieten würde.
Natürlich – Spiele!
Sofort tippte sie das Wort in die Suchrubrik ein und eine endlos lange Auswahl von Spielen listete sich darunter auf. Dass es so viele gab, hatte sie niemals für möglich gehalten.
Sarah atmete tief durch. Inzwischen war sie gar nicht mehr so nervös wie noch vor ein paar Minuten, obwohl sie dazu eigentlich allen Grund gehabt hätte. Schließlich saß sie gerade an Georgs Schreibtisch und benutzte sein Heiligtum – und er hatte ihr sogar verboten, es zu berühren! Sie durchsuchte die nächsten sechs Seiten, als hätte sie noch nie etwas anderes getan. So viele Angebote lockten, aber Sarah hielt erst inne, als sie die folgende Adresse las: www.mirathasia.eu.
Eine ungewohnte, aber angenehme Wärme durchströmte sie, und ihr Verlangen, diese Seite aufzurufen, verstärkte sich auf seltsame Weise mehr und mehr. Es war, als würde sie jemand führen, als wäre es ungeheuer wichtig, genau dieses eine Spiel aufzurufen. Ihre Hand zitterte, als sie den Mauszeiger bewegte. Ein Klick – der Bildschirm wurde dunkelblau und in der Mitte flammten drei weiße Zeilen auf:
Nur wer das kindliche Sehen besitzt
kann Mirathasia erforschen!
Möchtest du WEITER?
Was bedeutete das kindliche Sehen? Welches Land konnte sie erforschen? Neugierig drückte sie auf WEITER. Die weiße Schrift zerfloss, drehte sich zu einer Spirale und formte sich zu einem Ball. Langsam wurde er größer, rotierte immer schneller. Sarah spürte, dass sie sanft mitgenommen wurde. Fasziniert konnte sie sich nicht mehr von der Bewegung abwenden, bis sich mit einem Mal alles drehte: Der Raum mitsamt Georgs Computer, die fürchterlichen Plakate und sogar ihr eigenes Bewusstsein. Sie hatte das Gefühl, als würde sie mit all ihren Sinnen in etwas hineingezogen. In etwas Neues, beinahe Unglaubliches …
Und so hörte sie nicht mehr das Knacken der Wohnungstür, die in diesem Moment aufgeschlossen wurde.
Sarah fühlte sich, als wäre sie mitten in einen See aus weichem Schaumgummi gesprungen. Es war ein angenehmes Gefühl – und sie genoss es.
„Herzlich willkommen in Mirathasia“, hörte sie eine freundliche Frauenstimme.
Hastig öffnete Sarah die Augen. Sie rechnete damit, in Georgs Zimmer eine Fremde vorzufinden – doch der Raum, der Computer, all das war verschwunden. Stattdessen stand sie auf einem runden Podest inmitten der größten Halle, die sie je gesehen hatte, größer als jede Kirche und jede Bahnhofshalle. Sarah wurde beinahe wieder schwindelig, als sie an den dicken Säulen aus hellem Marmor emporschaute: Die Decke spannte sich weit über ihr wie ein riesiger Schirm, der in allen Farben des Regenbogens schillerte. Fremdartige Ornamente verzierten die Wände und unzählige Skulpturen von Märchen- und Fabelwesen verteilten sich im Raum. Es duftete herrlich nach frischgebackenem Honigbrot und irgendwo spielte leise Panflötenmusik.
„Neuankömmlinge gehen bitte durch Gang 2.“
Sarah zuckte zusammen, als sie wieder die Stimme hörte. Ihr Atem stockte und sie fühlte, wie ihre Knie zu zittern begannen. Solch eine Halle hatte sie noch nie gesehen! Sie wusste nicht, wo sie sich befand. Alles hier wirkte wie im Traum, fast unwirklich. Oder war das hier das große, weite Internet, von dem Tina sie fernhalten wollte? Doch warum entdeckte sie dann überall, wo sie hinblickte, nur Kinder?
„Wo geh’n wir diesmal hin? Vielleicht zum Treiber-Pool?“, hörte Sarah einen Jungen sagen, der mit seinem Freund ganz in ihrer Nähe stand. Beide warteten vor einer mindestens drei Meter hohen, gelb schimmernden Kugel, an deren Außenschicht sich die farbenprächtige Kuppel der Halle spiegelte. Ständig ging jemand durch die Öffnung hinein – aber niemand kam jemals heraus.
„Okay. Danach aber zum Magic-Pup! Ich möchte endlich mal wieder blontzen!“, antwortete der andere und zog seinen Freund durch die Öffnung in die Kugel.
Treiber-Pool? Magic-Pup? Die beiden Jungen schienen genau zu wissen, was sie taten. Sarah wurde mulmig zumute, unzählige Fragen bohrten sich ihr in den Kopf: Wo zum verkokelten Pfannkuchen war sie hier und wie kam sie wieder zurück in Georgs Zimmer?
Plötzlich zuckten Blitze von der Kuppel herab und formten sich zu einem wilden Tanz bunter Lichtwirbel. Erschrocken wich Sarah ein paar Schritte zurück, als sich vor ihren Augen ein Körper bildete. Zuerst zeichneten sich nur die Umrisse von Bauch und Kopf ab, dann schlängelten sich Arme und Beine hervor, bis schließlich ein Mädchen mit blonden Haaren vor ihr stand.
„Wohl neu hier, was?“ Das Mädchen lächelte Sarah zu. „Mach dir nichts draus, so wie dir ist es mir damals auch ergangen. Aber du brauchst keine Angst zu haben, hier kann dir nichts passieren.“
Munter zupfte sie an einem orangeroten Seidentuch, das locker um ihren Hals geschwungen war. Ein mintgrünes und ein silberweißes Tuch baumelten von ihrer Schulter und zwei weitere wanden sich als Gürtel um ihre Jeans.
„Ich heiße Florence“, sagte sie und pustete sich eine blonde Strähne aus der Stirn. „Meine Freunde nennen mich Flocke.“
„Flocke?“, fragte Sarah. „So wie die Schneeflocke?“ Nichts an Florence sah schneeweiß aus, selbst ihre Haare schimmerten golden.
„Genau!“ Flocke grinste. „Den Grund verrat ich dir ein andermal. Wenn du willst, zeig ich dir Mirathasia.“
Hm, hatte die Frauenstimme vorhin nicht gesagt, Neuankömmlinge sollten durch Gang 2 gehen? Sarah schaute Flocke noch einmal an. Aber warum sollte dieses lebenslustige Mädchen ihr nicht alles zeigen? Eine Gleichaltrige als Partnerin war sicher besser als irgendeine Erwachsene.
„Gerne“, antwortete sie lächelnd.
Mit einem Satz sprang Flocke vom Podest und Sarah folgte ihr schnell. Ohne auf die gelb schillernde Kugel zu achten hielt Flocke auf ein großes Tor zu, über dem die Zahl 3 leuchtete.
„Die Erwachsenen, die du hier manchmal siehst“, erklärte sie und deutete auf eine Frau, die eine Kappe mit dem aufgestickten Wort Mirathasia trug, „das sind die Helfer hier im Fantasieland. Sie haben alle das Gleiche an und wenn du mal Probleme hast, brauchst du nur zu ihnen zu gehen.“
„Warum sehe ich hier fast nur Kinder und Jugendliche?“, fragte Sarah.
„Wer wie ein Kind sehen, fühlen und denken kann, darf herkommen. Manchmal sind auch Ältere dabei – aber ehrlich, ich bin echt froh, dass der Rest uns hier nicht nerven kann. Das Land ist nur für uns gemacht.“
Sarah grinste und stellte sich Tinas Gesicht vor, wenn sie nach Mirathasia wollte – und nicht durfte! Schade nur, dass dieses Verbot nicht auch für nervende Stiefbrüder galt …
„Du kannst dir nicht vorstellen, was es hier alles gibt! Mirathasia ist einfach – unglaublich“, sprudelte es aus Flocke hervor. „Immer wieder entdeckst du was Neues, auch wenn du glaubst, du kennst schon alles. Letzte Woche hab ich zwischen dem Grünen Dschungel und dem Stinkstiefel einen Baum mit einer Öffnung gefunden. Stell dir vor, da ging’s zu einer unterirdischen Geisterbahn! Ich zeig sie dir nachher … oder vielleicht zuerst das Wasserparadies? Verflixt, eine Stunde ist wirklich viel zu kurz!“
Gerade als Flocke tief Luft holte, tauchten sie in das Dämmerlicht von Gang 3 ein. Eine Nische nach der anderen reihte sich an beiden Seiten des Ganges auf, in denen jeweils Filme gezeigt wurden. Vor einigen drängelten sich die Kinder, andere waren weniger gut besucht. Flocke schenkte dem Ganzen nicht viel Beachtung, sie zog Sarah hinter sich her ins Freie – bis zu einer Stelle, von wo aus sie einen wunderbaren Ausblick über die gesamte Gegend hatten.
Sie standen auf einem Berg und direkt vor ihnen erstreckte sich eine üppige Wiesenlandschaft, auf der die Blumen zu tanzen schienen. Dann erkannte Sarah, dass es unzählige bunte Schmetterlinge waren, die von Blüte zu Blüte flogen. Im Tal am Ende dieses Berges konnte sie eine Stadt erkennen, die im strahlenden Sonnenschein zu ertrinken schien. Ihr Kern glich einem übergroßen, runden Käselaib, durch den sich Straßen wie die Fäden eines Spinnennetzes zogen. Von den Gebäuden rund um diese Käsestadt war eines merkwürdiger als das andere: Ein Bildschirm mit einer Tastatur davor, ein zerfleddertes Buch neben einem grünlich schimmernden Saftkrug, ein Stück Kuchen oder ein dampfender Kessel.
„Das ist die Stadt der zehn Wunder“, sagte Flocke. „Es ist die einzige Stadt in Mirathasia. Dort können wir alles bekommen, was wir wollen: Essen, Trinken, sogar – wenn du’s einmal nötig hast – Nachhilfeunterricht!“
„Bloß nicht!“, flüsterte Sarah.
„Und das Schärfste ist: Wir brauchen nichts zu bezahlen!“
Als Sarah ihre Begleiterin ungläubig anschaute, nickte diese begeistert.
„Spätestens am Ende unseres Besuches müssen wir uns etwas wünschen.“
Sarah traute ihren Ohren nicht, mit offenem Mund starrte sie Flocke an.
„Der Wunsch ist sozusagen unser Eintrittspreis“, fuhr das Mädchen fort und zupfte an dem grünen Seidentuch, das ihr von der Schulter baumelte. „Wir brauchen uns nicht viel zu wünschen; eine Blume reicht, ein Schmetterling oder sonst irgendwas. Manche Wünsche werden umgewandelt, damit niemand zu Schaden kommt. Die Programmierer in diesem Land passen da ganz schön auf.“
Sarah nickte, als würde sie alles verstehen. Mirathasia war also eine Art Fantasieland, das durch die Wünsche der Kinder existierte. Erwachsene hatten keinen Zutritt – außer den Programmierern, die aber nirgendwo zu sehen waren.
„Das ist das Ankunftszentrum“, erklärte Flocke stolz. Sie drehte Sarah um, sodass sie auf das Gebäude schauen konnte, aus dem sie gerade gekommen waren.
Sarah legte ihren Kopf in den Nacken. Es war wie eine achtzackige Krone geformt und ragte würdevoll vor ihr auf. In der Mitte befand sich ein gigantischer Mast, an dessen Spitze eine Flagge wehte. Durch diese sah sie in unregelmäßigen Abständen farbige Lichtblitze zucken.
Sarah zögerte. Irgendetwas war da an ihrem linken Ohr, sie hörte es deutlich sirren. Doch obwohl sie sich hastig nach allen Seiten umblickte, konnte sie nichts entdecken. Aber sie war sich hundertprozentig sicher, dass da ein unsichtbares Wesen um sie herumschwirrte, vielleicht eine große Mücke oder etwas Ähnliches.
Plötzlich schrie jemand.
„Komm!“, rief Flocke und stürmte ebenfalls in diese Richtung. „Da hat sicher wieder jemand einen tollen Einfall gehabt!“
Die beiden Mädchen erreichten eine Gruppe von Kindern, die sich vor Gang 4 versammelt hatten. Als Sarah einen guten Platz zum Schauen gefunden hatte, verschlug es ihr erst einmal die Sprache: Inmitten von neugierig gaffenden Leuten zappelte ein Junge auf einem Brett, das wie ein Surfbrett aussah, aber längst nicht so groß war. Es schwebte etwa zwanzig Zentimeter über dem Erdboden und obwohl Sarah ganz genau hinsah, konnte sie nichts erkennen, was das Brett in der Luft hielt.
Der Junge, der darauf stand, ruderte verzweifelt mit den Händen in der Luft herum und obwohl er sich alle Mühe gab, konnte er sein Gleichgewicht nicht halten. Seine Knie zitterten so stark, dass sein Brett auf und ab hüpfte und sich manchmal wie ein Kreisel drehte. Einige Kinder lachten und johlten vor Begeisterung.
„Das ist ein Windbrett“, raunte ihr Flocke zu. „Die gibt es erst seit Kurzem. Macht voll Spaß, damit den Berg hinunterzusausen!“
„Wie der rumeiert!“, rief ein Junge auf der gegenüberliegenden Seite der Schaulustigen. Auf seinem weißen T-Shirt protzte in großen Lettern das Wort BOSS, und ganauso führte er sich auch auf. „Wusste gar nicht, dass die hier auch Hampelmänner reinlassen!“
Sarah seufzte. Beinahe hatte sie geglaubt, hier wären alle Kinder freundlich und würden sich mögen – aber es war nicht anders als in ihrer Schule.
„Du musst leicht in die Knie gehen, Micha“, versuchte eine Frau den Jungen auf dem Windbrett zu beruhigen. Sie war sehr hilfsbereit und stützte seinen Arm.
„Der legt doch glatt ’n Wiener Walzer hin“, grunzte ein Junge, der neben dem BOSS stand. Er war breitschultrig und muskulös und als er grinste, konnte Sarah zwei Reihen gelber Zähne erkennen.
Ein Mädchen mit feuerroten Haaren und kniehohen Lederstiefeln, die zwischen den Besuchern nicht weniger auffiel als ein Pinguin in einer Einkaufspassage, stieß den Breitschultrigen an. „He, Gerome, vielleicht versucht Micha-Mäuschen nur ’nen Looping zu drehen!“
„So, Micha … und jetzt locker bleiben.“ Die Helferin blieb geduldig und ignorierte die Bemerkungen der Kinder. „Beug deinen Oberkörper ein bisschen vor.“
Der Surfer auf dem Brett befolgte ihren Rat, allerdings krümmte er sich so abrupt, dass das Windbrett nach hinten wegflutschte.
„Verkruxt noch mal!“, schrie er und zum Glück fing die Frau ihn noch rechtzeitig auf, sonst wäre er mit voller Wucht auf den Boden gedonnert.
„Volltreffer!“, gluckste der BOSS. „Genau so sollte man es natürlich nicht machen.“ Sein Lachen klang wie das Gurgeln eines verstopften Abflussrohres.
„Ich glaube, du hast einen an der Waffel“, zischte Flocke. Sie sah richtig wütend aus und hatte ihre Arme vor dem Körper verschränkt. „Du kannst es doch auch nicht besser, also halt deine Klappe!“
„Gerome! Berret!“, rief der Junge mit finsterer Miene. Sofort sprangen der Typ mit den
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Text: Veronika Aretz
Images: Veronika Aretz
Editing: Katharina Soloma
Publication Date: 07-20-2019
ISBN: 978-3-7487-1031-8
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