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Ein Vorstellungsgespräch

Ein Vorstellungsgespräch

 

Frau Erika Miesepeter hat Post bekommen. Von der Agentur für Arbeit.Als sie den Brief geöffnet und gelesen hat, ist sie empört. Vorstellen soll sie sich. Bei einem Supermarkt. Als Kassiererin! Frau Miesepeter ist gelernte Aushilfs-Fachkraft für Telefondienste. Sie hat diese Tätigkeit quasi studiert! Und Kassiererin ist weit unter ihrer Würde!

Am Tage des Vorstellungsgespräches ergreift sie drastische Maßnahmen, um diesen Arbeitsplatz gar nicht erst zu bekommen. Nicht hingehen wäre falsch. Dann würde ihr das wenige Geld gestrichen, das sie vom Amt kriegt. Also zwängt sie sich in einen engen Jogging-Anzug, Marke Speckwurst - und begutachtet zufrieden ihre dralle Gestalt im Flurspiegel. Ungekämmte Haare und ausgelatschte Birkenstock-Sandalen über schreiend-bunten Socken runden das Gesamtbild wirkungsvoll ab. So macht sie sich siegessicher auf den Weg.

Der Filialleiter des Supermarktes sitzt hinter einem Stapel von Bewerbungs-Unterlagen an seinem Schreibtisch und mustert Frau Miesepeter skeptisch - als sie nach höflichem Klopfen eintritt. Seufzend rückt er seine Brille zurecht. "Guten Morgen, Frau..." Suchend blickt er auf seine Unterlagen.

"Miesepeter. Erika Miesepeter." Sie lächelt breit und entblößt dabei eine Reihe ungeputzter Zähne.

Ohne Aufforderung nimmt sie den Bürostuhl vor dem Schreibtisch in Beschlag und streckt betont lässig die Beine aus. "Ich brauch' den Job unbedingt! Muss Geld verdienen, verstehn Sie? Bin zwar nicht mehr die Jüngste ... Und die Bandscheiben machen auch nich' mehr so mit. Aber, ich brauch' den Job unbedingt!"

Wenn das nicht überzeugend war. Frau Miesepeter grinst innerlich. Nach außen hin ruhen ihre Augen geradezu flehend auf dem Filialleiter.

Dieser betrachtet sie nachdenklich über den Rand seiner Brille hinweg und nickt. "Sicher, sicher! Nur scheint es so, dass ... " Er räuspert sich und sieht wieder seine Papiere durch. " ...dass die besagte Stelle schon vergeben ist."

Das lief ja besser als erwartet! Frau Miesepeter beglückwünscht sich insgeheim. Doch, um vorzubeugen, sollte sie lieber noch einen draufsetzen! Nicht, dass er noch der Arbeitsagentur mitteilt, sie sei nicht willens gewesen.

Sie richtet sich auf ihrem Stuhl auf und quetscht eine Träne hervor. "Schon vergeben?? Ach nein!" Mit dem Ärmel wischt sie sich über die feuchten Augen - und über die Nase gleich mit. Dabei schnüffelt sie vernehmlich. "Aber, ich brauch' den Job unbedingt" , jammert sie. "Das Geld vom Amt reicht ja hinten und vorne nich'! Ich werd' auch immer pünktlich sein! Wenn ich nich' krank bin! Ich wär' bestimmt gut an der Kasse! Geld zählen kann ich!"

Um ihrer gespielten Verzweiflung mehr Nachdruck zu verleihen, schiebt sie einen Daumen in den Mund und kaut den Fingernagel ab.

Blitzt da Mitleid in den Augen des Filialleiters auf? "Hm ... mhm. Ich verstehe. Sie wollen wirklich arbeiten ..."

"Jawoll!" Frau Miesepeter spuckt den Fingernagel neben den Bürostuhl, nickt eifrig und beugt sich vor. "Ich bin auch nich' oft krank! Nur paar Wochen im Jahr!"

"Es tut mir wirklich leid." Der Filialleiter sieht kurz angewidert neben ihren Stuhl, fängt sich jedoch schnell wieder und lächelt aufmunternd. "Sie werden sicher eine andere Stelle finden. Jedenfalls wünsche ich Ihnen alles Gute für ..."

Das Klingeln des Telefones unterbricht ihn. Er hebt ab. "Mhm ... aha ... ja, verstehe..."

Derweil steht Frau Miesepeter auf und zupft den Jogging-Anzug zurecht. Sie nickt dem Vielbeschäftigten zum Abschied zu und macht sich auf den Weg zur Tür. Geschafft! Ein triumphierendes Grinsen kann es nicht lassen, sich auf ihre Lippen zu schleichen. Wunderbar gelaufen - ganz wie sie es geplant hatte.

"Frau Miesepeter?"

Schnell zieht sie die Hand von der Tür-Klinke, verwandelt das Grinsen in ein trauriges Lächeln und wendet sich um. "Ja?"

Der Filialleiter lächelt freundlich und winkt sie zurück. "Sie haben wirklich Glück. Gerade erfuhr ich, dass unsere Putzhilfe gekündigt hat. Die Stelle ist frei. Sie können heute noch anfangen."

 

Imprint

Text: Sabine Pagel
Publication Date: 09-22-2013

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