Düsteres Sylt
Hannah Lambert ermittelt 8
Friesenkrimi
Thomas Herzberg
Alle Rechte vorbehalten
Fassung: 1.0
Die Geschichte ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und/oder realen Handlungen sind rein zufällig. Sämtliche Äußerungen, insbesondere in Teilen der wörtlichen Rede, dienen lediglich der glaubhaften und realistischen Darstellung des Geschehens. Ich verurteile jegliche Art von politischem oder sonstigem Extremismus, der Gewalt verherrlicht, dazu auffordert oder auch nur ermuntert!
Ein großes Dankeschön geht an:
Bärbel (ohne dich wäre alles noch anstrengender)
Antje, Frau Schmidt, Nicolas
Covergestaltung: Chris Gilcher (http://buchcoverdesign.de)
Was man über Sylt wissen sollte …
»Rüm hart, klaar kiming« (weites Herz – klarer Horizont): Ein Zitat, das den inselfriesischen Kapitänen zugeordnet wird. Damit beschreiben sie – neben der Mentalität der Menschen, die dort zu Hause sind – auch eine in Deutschland einzigartige Landschaft. Sylt ist vermutlich der bekannteste Teil davon. Aber wer glaubt, auf der beliebten Ferieninsel nur Schickimicki vorzufinden, irrt gewaltig. Denn wer genauer hinsieht und einen kleinen Fußmarsch nicht scheut, stößt hier auf einmalige Orte, die man nie wieder vergisst. Es heißt nicht umsonst: »Wer sich in Sylt verliebt, den lässt die Leidenschaft nie wieder los.« Vom Millionär und Gentleman-Playboy Gunter Sachs stammt folgendes Zitat zum anderen Gesicht der Insel: »Ich fühle mich in Kampen auf Sylt ein bisschen wie ein Affe im Zoo … aber mit lieben Besuchern.«
Klar, wer den Sound neuester Sportwagen, Champagner und teure Boutiquen zum Glücklichsein braucht, wird auf Sylt ebenfalls fündig. Jeder wie er mag … und ich glaube, das beschreibt die Mentalität der Menschen hier am besten.
Sylt in Zahlen:
Länge von Nord nach Süd: 38 Kilometer
Breite von West nach Ost: 12,6 Kilometer (an der schmalsten Stelle sind es weniger als 500 Meter)
Und weil eben keine Straße nach Sylt führt, erfolgt die Anreise nur per Autozug, Fähre oder Flugzeug. Wer sich auf den Weg macht, dem wünsche ich viel Spaß auf der Insel. Vielleicht laufen wir uns ja zufällig bei Gosch über den Weg und essen zusammen ein Fischbrötchen. Aber Vorsicht: Nicht nur ich, sondern auch die Möwen dort sind verdammt hungrig ;)
Inhalt
Sylt, Ende November: Der Winter naht, doch für Weihnachtspläne finden Hannah und ihre Kollegen keine Zeit. Seit Wochen schon zwingt ein neuer Fall die Ermittler, sich immer intensiver mit der Sadomaso-Szene auseinanderzusetzen. Und als würde das nicht reichen, verschwindet anderenorts eine Frau spurlos. Vieles deutet darauf hin, dass die junge Mutter Opfer eines abscheulichen Verbrechens wurde …
"Düsteres Sylt" ist Teil 8 der Reihe "Hannah Lambert ermittelt".
Jeder Fall ist in sich abgeschlossen. Es kann allerdings nicht schaden, auch die vorangegangenen Fälle zu kennen ;)
Bisher erschienen:
"Ausgerechnet Sylt"
"Eiskaltes Sylt"
"Mörderisches Sylt"
"Stürmisches Sylt"
"Schneeweißes Sylt"
"Gieriges Sylt"
"Turbulentes Sylt"
"Hannah Lambert ermittelt" ist mit weit über 700.000 verkauften Exemplaren eine der erfolgreichsten Krimi-Serien der letzten Jahre. Alle Teile sind als eBook und als Taschenbuch verfügbar. Band 1-7 auch als Hörbuch … der 8. Teil folgt in Kürze.
Weitere Informationen und Bücher findet ihr auf meiner Homepage:
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Da war es wieder … das Geräusch. Maren Kießling erstarrte vor Schreck. Jemand war in ihrer Wohnung. Keine Zweifel.
Schon ein paar Minuten zuvor, als sie ihren kleinen Polo auf dem schmalen Streifen vor dem Haus geparkt hatte, war ihr etwas merkwürdig vorgekommen. Dazu dieses ungute Gefühl, beobachtet zu werden, obwohl es dafür keine konkreten Anhaltspunkte gab.
Bei strömendem Regen und Sturm, der die dicken Tropfen beinahe waagerecht vor sich hertrieb, fehlte ihr jedoch die Lust, der Sache genauer auf den Grund zu gehen. Stattdessen stieg sie aus und hechtete zur Eingangstür. Erleichterung im Treppenhaus, obwohl sie nicht sagen konnte, wieso. Ihre Wohnung lag im Erdgeschoss. Dort ging sie zuerst in die Küche, trank einen Schluck Wasser und hängte ihr Smartphone ans Ladekabel. Währenddessen hatte sie zweimal dieses seltsame Geräusch gehört, das sie anfangs nicht zuordnen konnte. Bis ihr einfiel, dass jeden Morgen, wenn sie frische Wäsche aus ihrem Kleiderschrank nahm, dessen linke Holztür dasselbe Quietschen verursachte.
Marens Wohnung war klein. Winzig! Aber selbst für die zwei Zimmer, von denen ihre Tochter Jenny eins komplett in Beschlag genommen und sich darin kindgerecht ausgebreitet hatte, war sie mehr als dankbar. Die Trennung von ihrem Mann hatte Maren nicht nur menschlich, sondern auch finanziell an den Abgrund geführt. Ohne die Hilfe ihrer Eltern hätte sie den Abnabelungsprozess nach acht Jahren Ehe nie hinbekommen. Wie auch? Der Job als Putzhilfe reichte mit Ach und Krach, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Große Sprünge konnte sie sich nicht leisten, nicht mit leerem Beutel.
»Bist du das, Jenny?«, flüsterte Maren, als das Geräusch zum vierten Mal erklang. Ihre Stimme war kaum hörbar. Getragen wurde sie von der Hoffnung auf eine simple Erklärung. Aber ganz ehrlich: Hätte Dirk Jenny früher nach Hause gebracht, würde er doch zumindest Bescheid sagen. Ein achtjähriges Kind vor dem Haus abzusetzen, es mutterseelenallein zu lassen – nein! –, dazu wäre selbst ihr zukünftiger Ex-Mann nicht imstande.
Jegliche Gedanken an ihn weckten schmerzhafte Erinnerungen, die Maren über Monate hartnäckig in die hinterste Ecke ihres Kopfes verbannt hatte. All das Geschrei, der permanente Streit … zuletzt immer öfter handgreiflicher Natur. Dann der Punkt, an dem sie endgültig die Reißleine gezogen hatte. Von heute auf morgen und doch viel zu spät. Ohne zu wissen, wo sie hinsollte. Sie hatte sich Jenny geschnappt, ein paar Klamotten und war erst mal für einige Tage bei einer Freundin untergekommen. Mit Glück und Hilfe ihres Chefs hatte Maren dann diese Wohnung gefunden. Ein bescheidener Neuanfang, ohne Streit und ohne Schmerzen, für den sie jeden Tag aufs Neue dankbar war.
Es blieb still. Während sie sich millimeterweise ihrem Zimmer näherte – einer Kombination aus Wohn-, Schlaf- und Esszimmer – beschlich sie eine Vermutung. Schließlich besaß Jenny ihren eigenen Schlüssel und übernachtete heute bei ihrem Vater. Aber wer hielt Dirk davon ab, sich den Schlüssel zu schnappen, um hier mitten in der Nacht aufzukreuzen? Maren hatte erst um kurz nach elf Feierabend machen können, weil morgen Vormittag etliche neue Gäste anreisten, die zu Recht ein sauberes Apartment erwarteten. Dummerweise hatte der Staubsauger den Geist aufgegeben, anschließend durfte sie sich auch noch eine halbe Stunde lang mit einem verstopften Abfluss in einer der Duschen rumplagen. Erst gegen Mitternacht kam sie endlich vor ihrem Zuhause an, einem kleinen mehrstöckigen Wohnhaus in Hörnum.
Doch dieser Umstand war vergessen. Aktuell brachte sie etwas ganz anderes in Rage. Sie schüttelte den Kopf, was ihre Windjacke rascheln ließ.
»Hör mit dem Scheiß auf, Dirk!«, platzte es wie pures Gift aus ihr hervor. Ihre Stimme bebte vor Wut. Obwohl sie es gerne verhindert hätte, schwang auch Angst darin mit. »Ich hätte wissen müssen, dass du dich nicht an unsere Abmachungen hältst. Morgen früh ruf ich meinen Anwalt an und der sorgt dafür, dass du Jenny überhaupt nicht mehr siehst.«
Nichts!
Keine Antwort. Weder ein Geräusch noch die geringste Reaktion.
Maren, die ihre Vermutung inzwischen als unumstößliche Tatsache verinnerlicht hatte, brauste noch weiter auf: »Das ist die letzte Warnung, Dirk! Wenn du jetzt gehst und keinen Ärger machst, dann …« Sie nahm sich einen Augenblick Bedenkzeit. Zwangsläufig. Immerhin musste nun irgendein Entgegenkommen folgen, das den Handel auch für die Gegenseite halbwegs attraktiv machte. »Dann … dann … denke ich noch mal drüber nach. Aber dafür musst du auf der Stelle verschwinden und mich in Ruhe lassen.«
Ein Rascheln drang durch die angelehnte Wohnzimmertür in den Flur.
Maren feierte das bereits als Teilerfolg und entspannte sich ein wenig. Wobei sie sich ausgerechnet in diesem Moment an den letzten Streit mit ihrem – hoffentlich bald! – Ex-Mann erinnerte. Dem waren an einem Abend, der Monate zurücklag, die Nerven restlos durchgegangen. Eine Auseinandersetzung, die lautstark begann, führte zu Handgreiflichkeiten und endete für Maren erstmals in der Notaufnahme der Inselklinik. Am nächsten Tag, als sie mit einem blauen Auge, geschwollenen Lippen und einer Kopfwunde, die mit sechs Stichen genäht werden musste, entlassen wurde, stand ihr Entschluss unumstößlich fest. Sie musste der Sache ein Ende bereiten. Ein für alle Mal! Und sie durfte nicht wieder schwach werden. Nie wieder! Das war sie sich und ihrer Tochter Jenny schuldig.
»Hau ab! Sooofort!«, drohte sie und witterte erstaunlicherweise Oberwasser. »Mach schon, Dirk! Ich hab den ganzen Tag gearbeitet, bin hundemüde und will einfach nur noch ins Bett. Wäre übrigens nett, wenn du mir Jenny morgen später bringst, sie hat erst zur zweiten Stunde. Durch das Theater hier bekomme ich ja noch weniger Schlaf.«
Vor ihr öffnete sich langsam die Tür. Im Raum dahinter herrschte bestenfalls Zwielicht. Das stammte von einer Straßenlaterne, die ihre Strahlen an zwei heruntergelassenen Rollos vorbeiquetschte.
»Das ist kein Scherz, Dirk! Du gehst jetzt, oder …« Maren verstummte mitten im Satz. Kurz zuvor hatte sich die Tür noch ein Stück weiter geöffnet. Eine Gestalt kam zum Vorschein und hielt Sam in der rechten Hand. Eine Stehlampe, mit massivem Fuß, den man antippen musste, um zwischen drei Helligkeitsstufen zu variieren. Darauf war eine Giraffe aus Porzellan befestigt. Diesem Duo hatten Jenny und ihre Mutter den Namen Sam gegeben. Wenn Maren mal einen Abend frei hatte, saßen sie häufig dicht aneinandergeschmiegt auf dem Schlafsofa unter der Lampe und blätterten in Kinderbüchern. Einzigartige Momente, an denen man festhalten musste, denn sie hatten einen äußerst flüchtigen Charakter. Spätestens nach Einsetzen der Pubertät würde Sam nur noch verstauben und jeglicher Körperkontakt unter sanftem Zwang erfolgen. Im Idealfall! Letztendlich war dann alles, was im Kindesalter für leuchtende Augen gesorgt hatte, einfach bloß peinlich.
Die Gestalt bewegte sich, hob Sam über den Kopf und machte einen halben Schritt in Marens Richtung. Um gemeinsames Blättern in einem Kinderbuch ging es hier garantiert nicht …
1
Niebüll, Montagmorgen
Im Büro der Mordkommission herrschte ausgelassene Stimmung. Als Hannah Lambert den Raum betrat, wurde sie von ihren Kollegen Ole und Ralf für einen Montag viel zu gut gelaunt empfangen. Die beiden krümmten sich vor Lachen und prusteten um die Wette.
»Was ist denn mit euch los?«, erkundigte sich Hannah, während sie ihren Arbeitsplatz ansteuerte. Nachdem sie ein paar Unterlagen auf dem Schreibtisch abgeladen hatte, äußerte sie ihre erste Vermutung: »Ist eure Bowlinggruppe am Wochenende ausnahmsweise mal nicht Letzter geworden?«
»Vorletzter!«, betonte Ole, als ginge es um den Gewinn einer olympischen Goldmedaille.
Weiter kam er nicht, denn Ralf übernahm die Erklärung: »Unsere Kollegen aus Norderstedt mussten vorzeitig aufgeben, weil sich Hauptkommissar Gregersen beim Anlaufen den Fuß verstaucht und eine andere sich wohl irgendwie den Magen verdorben hatte. Die wurde mit ’ner Funkstreife und Blaulicht nach Hause gebracht, weil sie nur dort richtig auf Toilette kann und nicht im Bowlingcenter, wo hundert andere auch …«
Hannah winkte ab. »Danke! Das sind mir jetzt schon zu viele Details.« Sie lächelte verschmitzt. »Halten wir lieber fest: Ihr seid Vorletzter geworden. Wie wollen wir das feiern, Leute? Ladet ihr mich heute schön zum Mittagessen ein oder …?«
»Man erwartet uns in zwei Stunden in Westerland«, unterbrach Ole mit gezwungenem Lächeln. »Schon vergessen? Wir sind mit dem seltsamen SM-Trio verabredet, das bis letzten Monat noch ein Quartett war.«
»Und ihr könnt es wahrscheinlich gar nicht erwarten, die drei Herren nach allen Regeln der Kunst auszuquetschen. Wenn der polizeiinterne Buschfunk euch zwei Pappenheimer nicht hätte, könnte der ebenso gut den Betrieb komplett einstellen. Das würde man dann ein Gerüchte-Blackout nennen.«
Ole schickte einen vielsagenden Blick in Ralfs Richtung, bevor er antwortete. »Du gönnst uns auch gar nichts. Kann ja nicht jeder im Dienstalltag so verbissen rumlaufen wie du.«
Zum ersten Mal verfinsterte sich Hannahs Miene. »Ein Mann ist tot und bislang noch ungeklärt, ob da jemand nachgeholfen hat. Das ist wohl kaum der richtige Anlass, um euch Munition für schlüpfrige Witzchen zu liefern.«
»Ich muss rüber ins Archiv«, stotterte Ralf und schoss regelrecht hoch.
Erst nachdem der junge Kollege das Büro fluchtartig verlassen hatte, wandte sich Ole erneut an Hannah. »Alles okay bei dir? Du siehst müde aus. Streit mit Frank?«
»Selbst wenn wir welchen hätten, würde ich es dir als Letztem sagen«, erwiderte Hannah kichernd. »Mein Gott … unser Wochenend-Serienmarathon war erst heute Nacht gegen halb zwei vorbei. Wir haben die ganze Zeit im Bett gelegen und Stranger Things geguckt.«
»Wie weit seid ihr gekommen?«
»Wir sind mit der dritten Staffel fertig. Warum wohl haben wir bis in die Puppen durchgehalten? Frank sah heut Morgen auch wie ’n Zombie aus. Bei der Besprechung über den Gemeindehaushalt braucht er wahrscheinlich Streichhölzer, um sich wachzuhalten.«
Ole nickte anerkennend. »Willst du wissen, wie es in der vierten Staffel weitergeht?«
»Legst du Wert auf ’ne Kugel im Kopf?«
Ole schüttelte selbigen. »Dann lass dir wenigstens sagen, dass Max und Lucas …«
»Wehe!«, fuhr Hannah drohend dazwischen. »Noch ein Wort und ich knall dich wirklich ab!«
Diese Drohung wirkte, denn Ole wechselte spontan das Thema. »Wenn du uns nicht dabeihaben willst, kannst du dich auch gern allein mit ...«, er schaute kurz in eine Mappe, die vor ihm lag, »... Arne Wichmann, Stefan Meier und Pavel Dombrowski unterhalten. Ralf und ich haben mehr als genug mit den Akten zu tun, die wir alle auf neuesten Stand bringen müssen. Also reichlich Arbeit für mehrere Monate. Hoffentlich kommt niemand auf die Idee, irgendwen umzubringen. Dann bliebe der ganze Kram nämlich liegen und am Ende müsstest du noch helfen.«
»Demjenigen, der uns diesen Aktenscheiß eingebrockt hat, würde ich gerne mal allein im Dunkeln begegnen.«
»Wirst du! Schon nächste Woche auf der Bereichsleiter-Tagung. Aber ich bezweifle, dass ihr dort allein seid und das Ganze so lange geht, bis es dunkel wird – nicht mal im November.«
Hannah schüttelte eine Weile den Kopf. Sie wollte gerade von Neuem loslegen, als sämtliche Telefone gleichzeitig klingelten. Ein weitergeleiteter Anruf vom Wachtresen, den grundsätzlich jeder Mitarbeiter der Mordkommission annehmen konnte.
Weil Ole gerade halb unter seinem Schreibtisch hing und dort fluchend mit einem Aktenstapel beschäftigt war, langte Hannah zum Hörer. »Lambert.«
»Ich hab hier vorne jemanden, der gerne mit euch reden würde.«
»Hat dieser ›Jemand‹ auch einen Namen?«
Zunächst erklang nur Gemurmel am anderen Ende der Leitung. Dann abermals der Wachhabende: »Eberhard Ambrosius …« Erneut kurzes Gemurmel. »Professor Eberhard Ambrosius.«
Der Name kam Hannah bekannt vor. Weil sie über diesen Umstand nachdachte, dauerte ihre Reaktion vermutlich ein bisschen zu lange.
Deshalb hakte der Kollege nach: »Darf ich ihn zu euch schicken?«
»Darfst du. Danke!«
»Was ist denn los?«, fragte Ole, der inzwischen aus den Untiefen hinter seinem Schreibtisch wieder aufgetaucht war.
Hannahs Gesicht lag in Falten. »Sagt dir der Name Eberhard Ambrosius was? Ein Professor …«
»Ist das dein Ernst?«, unterbrach Ole lachend. »Den kennt doch jeder in unserem Verein.«
Ein Hinweis, der Hannah dazu brachte, sich mit der flachen Hand gegen die Stirn zu schlagen. Dieser Professor war ein, sogar über die Grenzen Deutschlands bekannter Psychologe, dessen Bücher sich speziell mit den Opfern von Verbrechen befassten und in der Ausbildung aller Polizisten zur Pflichtliteratur gehörten.
Es klopfte leise.
Ole deutete in die entsprechende Richtung. »Sag nicht, der Typ steht vor unserer Tür!«
Hannah nickte, versuchte, möglichst unbeeindruckt auszusehen. Weil sich nichts tat, stand sie auf und drückte die Klinke herunter. Im nächsten Moment stand sie einem winzigen Mann von gedrungener Gestalt gegenüber, den selbst sie um ein paar Zentimeter überragte.
»Guten Morgen!«, begrüßte ihn Hannah, obwohl im Alltag grundsätzlich nur ein Moin über ihre Lippen kam. »Was können wir für Sie tun, Professor Ambrosius?«
»Darf ich reinkommen?«
»Natürlich! Bitte!« Hannah ging vorweg, umrundete beinahe im Flug ihren Schreibtisch und zeigte auf den Stuhl davor. Im Hintergrund sah sie Ole, der wie erstarrt dasaß und mit offenem Mund den Weg des Zwergs quer durchs Büro verfolgte.
»Also, was können wir für Sie tun?«, erneuerte Hannah ihre Frage, als Ambrosius Platz genommen hatte. »Oh … Verzeihung, können wir Ihnen was anbieten? Kaffee, Tee oder …?«
Ein Kopfschütteln machte die restliche Auswahl überflüssig. Hannah wollte kein drittes Mal nach dem Anlass dieses Besuchs fragen beschränkte sich daher auf Schweigen.
Mit Erfolg, denn Eberhard Ambrosius begann leise. »Ich wohne seit sechs Monaten auf Sylt, unten in Hörnum.«
Weil Ambrosius erneut schwieg, probierte Hannah, die Atmosphäre mit einem Kommentar aufzulockern: »Wenn ich gewusst hätte, dass Sie auf Sylt wohnen, dann …«
»Ich glaube, es sind sogar schon sieben Monate«, brabbelte der Professor. Er schüttelte energisch den Kopf, womit er wohl Gedanken an diesen Umstand vertreiben wollte und fuhr in schleppender Weise fort: »Mir gegenüber wohnt eine junge Frau. Sie lebt in Scheidung, hat eine achtjährige Tochter und regelmäßig Probleme, alles mit der Arbeit unter einen Hut zu bringen.«
»Was konkret bedeutet?«, bohrte Hannah vorsichtig, nachdem wieder längere Zeit Stille herrschte.
Diese Nachfrage sorgte zunächst für geräuschvolles Atmen. Eberhard Ambrosius war anzusehen, dass er sich Einzelheiten gerne erspart hätte, stattdessen direkt zum eigentlichen Thema gekommen wäre. Dennoch lieferte er mit leicht ärgerlichem Gesicht eine Zusammenfassung: »In den letzten Wochen war ihr Auto häufig kaputt, da bin ich mit ihr einkaufen gefahren. Wenn sie mal ganz kurzfristig wegmuss, bringt sie die Kleine zu mir. Sie ist erst acht.«
»Das sagten Sie bereits.« In einem unbemerkten Moment – Ambrosius war entweder voll auf seine Schuhe oder den Boden unter seinen Füßen fixiert – gab Hannah Ole ein Zeichen. Sie griff blitzschnell an ihre Nase und schielte auf den Mann, der ihr gegenübersaß.
Ole erhob sich, machte ein paar Schritte, blieb neben dem Professor stehen und schnupperte unauffällig in die Luft. Nachdem er diesen Vorgang wiederholt hatte, legte er nickend den Rückwärtsgang ein und fiel grinsend auf den Stuhl hinter seinem Schreibtisch. Dort langte er nach einer unsichtbaren Flasche, setzte sie an und nahm einen ordentlichen Zug. Resultat war, dass seine Zunge seitlich heraushing und er die Augen verdrehte.
Als Ambrosius endlich den Kopf hob und von Neuem anfangen wollte, kam ihm Hannah zuvor. »Verzeihen Sie meine Offenheit! Kann es sein, dass Sie getrunken haben? Womit ich nicht Kaffee oder Tee meine.«
»Ich bin voll und ganz Herr meiner Sinne, falls Sie in der Hinsicht Bedenken haben«, erwiderte Ambrosius leicht pikiert. »Und jetzt wäre es nett, wenn Sie mir kurz zuhören. Danach müssen Sie entscheiden, was zu tun ist.«
»Darf ich fragen, wieso Sie sich ausgerechnet an mich beziehungsweise uns wenden?«
Der Professor ließ sich mit seiner Antwort viel Zeit. Bevor er anhob, verfinsterte sich seine Miene. »Ich kann Ihnen nicht genau erklären, warum, aber ich glaube, dass meiner Nachbarin etwas zugestoßen ist.« Plötzlich huschte Ambrosius ein Lächeln um die Mundwinkel. »Außerdem habe ich mich über Sie erkundigt.«
»Über mich?« Hannah riss die Augenbrauen hoch und zeigte zu allem Überfluss auf sich selbst.
»Ganz genau. Und in Polizeikreisen heißt es, dass Sie Ihr Handwerk verstehen.«
2
Inzwischen war Ralf ins Büro zurückgekehrt. Offensichtlich hatte man ihn am Wachtresen bereits geimpft, denn er wirkte keinesfalls erstaunt, als er einen Besucher vor dem Schreibtisch seiner Chefin antraf.
Hannah empfing ihren Kollegen mit strengem Blick und schaffte es auf diese Weise, die Unterhaltung mit Professor Ambrosius ungestört fortzusetzen: »Soso … Sie haben sich also über mich erkundigt. Dann wissen Sie ja sicherlich, dass meine Kollegen und ich zur Mordkommission gehören. Dürfte ich erfahren, was das mit Ihrer Nachbarin zu tun hat?«
»Sie ist verschwunden«, kam es knapp zurück.
Danach herrschte sofort wieder Schweigen, woraufhin Hannah zum ersten Mal etwas energischer wurde. »Nehmen Sie es mir bitte nicht übel! Wir haben eine Menge zu tun und falls Ihr Besuch hier wirklich mit einem Verbrechen in Zusammenhang steht, sollten Sie langsam konkreter werden und …«
Ambrosius schnitt ihr mit leiser, aber klarer Stimme das Wort ab. »Frau Kießling ist irgendwann zwischen Mitternacht und heute Morgen spurlos verschwunden.«
»›Kießling‹«, wiederholte Hannah, während sie den Namen auf einem Block notierte. »Hat die Frau auch einen Vornamen?«
»Maren.«
»›Maren‹«, wiederholte Hannah auch in diesem Fall, schrieb und sah anschließend mit künstlichem Lächeln auf. Gleich darauf verfinsterte sich ihr Gesicht, und es bedurfte keiner weiteren Ermahnung.
»Frau Kießling ist gestern erst gegen Mitternacht nach Hause gekommen. Das war für ihre Verhältnisse ziemlich spät«, erklärte Ambrosius.
Hannah schaute kurz zu Ole, dann flüchtig zu Ralf. Das reichte, um sich ein erstes Urteil der Kollegen abzuholen. Bevor sie dies in Worte fasste, beugte sie sich nach vorne über ihren Schreibtisch. »Nichts für ungut, Professor … ist es möglich, dass Sie die Frau stalken?«
»Ich achte lediglich auf sie!«, korrigierte Ambrosius mit einer Mischung aus Wut und Empörung. »Das gilt für die Frau und für deren Tochter.«
»Die acht ist«, erwiderte Hannah ungerührt. »Heißt das im Umkehrschluss, dass eine Achtjährige bis Mitternacht allein zu Hause war?«
»Nein! Sie sollte bis heute Morgen bei ihrem Vater bleiben. Das ist von Sonntag auf Montag häufig so, weil da Frau Kießling in der Regel viel Arbeit hat.«
»Was macht sie denn beruflich?«, fragte Hannah und signalisierte Schreibbereitschaft.
»Sie ist Reinigungskraft. Putzt wohl in erster Linie Ferienwohnungen …« Ambrosius machte eine kurze Pause, seine Miene verzog sich angestrengt. »Ich habe mich nie ausführlicher erkundigt. Vielleicht hätte ich das tun sollen. Was denken Sie?«
»Ich denke, das tut jetzt nicht unbedingt was zur Sache.« Hannah wandte sich direkt an Ralf, der erschrocken zusammenzuckte. »Herr Jansen, sind Sie bitte so nett und finden auf die Schnelle alles über Maren Kießling heraus. Und Ole …«
»Jawohl, Chefin?«
»Könntest du zum Wachtresen marschieren und meinen Termin in Westerland um ’ne Stunde verschieben?«
»Wird erledigt. Bei der Gelegenheit forsche ich auch gleich ein bisschen zum Namen. Kießling kommt ja sicher nicht allzu häufig vor.«
Nachdem Ole das Büro sichtbar erleichtert verlassen hatte, fokussierte sich Hannah wieder voll auf Professor Ambrosius. Der hatte die ersten Schritte mit zufriedenem Nicken registriert und lächelte sogar ansatzweise. »Dann fassen wir mal kurz zusammen: Sie helfen Frau Kießling, wo immer es geht, kümmern sich nebenbei um deren Tochter und haben gestern Abend mitgekriegt, dass die Mutter verhältnismäßig spät nach Hause gekommen ist.«
»Sie hat nirgends Licht angemacht«, fügte Ambrosius hinzu, als ginge es um eine weltbewegende Neuigkeit.
»Okay.« Hannah wollte schon wieder einen Blick in Ralfs Richtung werfen, verpasste ihrem Nacken jedoch ein striktes Bewegungsverbot. »Ist das alles, worauf sich Ihr Verdacht stützt? Ich meine …«
»Der Mann war heute Morgen da, um seine Tochter abzuliefern. Normalerweise ...«
»Wie heißt das Mädchen eigentlich?«, unterbrach Hannah.
»Jenny. Sie geht in die Grundschule, zweite Klasse.«
Als Hannah mit ihren Notizen fertig war, nickte sie aufmunternd.
Was Wirkung zeigte. »Dieses Mal blieb der Mann etwas länger. Ich habe schon gedacht, dass es wieder Streit gab und sogar mein Fenster aufgemacht, um eventuell was aufzuschnappen. Nach etwa fünf Minuten sind die beiden rausgekommen, ins Auto gestiegen und weggefahren.«
»Vater und Tochter?«, fragte Hannah zur Sicherheit.
Was ein Nicken zur Folge hatte. »Ich bin dann rüber, um selbst nachzusehen. Schließlich ist es noch nie vorgekommen, dass …«
»Sie haben einen Schlüssel für die Wohnung von Frau Kießling?«
»Natürlich! Wenn Maren lange arbeiten muss, gehe ich häufig zu Jenny und helfe ihr bei den Hausaufgaben oder koche was.« Erneut ein Lächeln. »Wenn man das, was ich da veranstalte, überhaupt Kochen nennen kann.«
Hannah spürte, wie ihr Körper von allein Spannung annahm. Falls diese Geschichte einen Teil enthielt, der kriminaltechnisch interessant werden könnte, würde der zweifellos in Kürze folgen.
»Jemand hat Marens Wohnung komplett auf den Kopf gestellt. Auf eine Weise, für die ein paar Minuten niemals ausgereicht hätten. Da wurde jede Schublade herausgerissen, jeder Schrank und jede Dose in der Küche unter die Lupe genommen. Im Wohnzimmer waren sogar die Ecken von der Auslegeware hochgerissen«, ereiferte sich Ambrosius.
»Klingt, als hätte jemand nach etwas gesucht«, fügte Hannah hinzu und kam sich sogleich selten dämlich vor. »Haben Sie ’ne Vermutung, wonach?«
»Absolut nicht. Aber es gibt noch was …« Die Miene des Professors verfinsterte sich von einer Sekunde zur nächsten. »Im Wohnzimmer lag Sam. Das ist eine Stehlampe, auf deren Fuß eine Porzellan-Giraffe befestigt ist.«
Hannah war schon wieder mit Schreiben beschäftigt. Sie hob den Kopf. »Spielt die eine Rolle? Oder warum erwähnen Sie die extra?«
»Kopf und der größte Teil vom Hals der Giraffe sind abgebrochen, der schwere Lampenfuß ist an zwei Seiten blutverschmiert. Getrocknetes Blut! Das kann nichts mit dem Besuch von Vater und Tochter zu tun haben.«
»Was für ein Auto fährt Frau Kießling?«, wollte Hannah wissen.
»Einen kleinen roten Polo – museumsreif.«
Hannah wandte sich an Ralf, der schon seit geraumer Weile im Hintergrund mit seiner Computer-Tastatur für entsprechende Untermalung sorgte. »Schicken Sie bitte unverzüglich eine Streife runter nach Hörnum. Die Kollegen sollen bis auf Weiteres das Haus im Auge behalten und genauso den Pkw. Haben wir Adresse und Kennzeichen?«
Ralf nickte und sah beinahe ein wenig beleidigt aus.
»Dann los!«
»Entschuldigung, aber da ist noch etwas«, mischte sich der Professor ein. »Es geht um den Ehemann, Dirk Kießling.«
»Sie haben gesagt, das Paar lebt in Scheidung«, lieferte Hannah eine Vorlage. Nach etlichen Jahren im Polizeidienst hatte sie eine gewisse Ahnung, doch die wurde noch um einiges übertroffen.
»Der Mann neigt zu körperlicher Gewalt. Letztes Jahr musste sich Frau Kießling im Krankenhaus einer Behandlung unterziehen. Der Fall sollte eigentlich in Ihrem System zu finden sein«, erläuterte Ambrosius.
Ralf nickte bereits. Und weil nicht nur Hannah ihn erwartungsvoll ansah, übernahm er weitere Details: »Frau Kießling hat seinerzeit Strafanzeige wegen Körperverletzung erstattet. Danach folgten mehrere richterliche Anordnungen und der Umzug nach Hörnum. Erst seit ein paar Wochen hat der Ehemann wieder ein eingeschränktes Besuchsrecht.«
Professor Ambrosius, der stocksteif auf seinem Stuhl saß, räusperte sich leise. »Er ist auch dem Kind gegenüber gewalttätig geworden. Mehrfach!«
»Hat …« Hannah sah kurz auf ihren Zettel. »… hat sich Jenny Ihnen diesbezüglich anvertraut?«
»Allerdings. Ihre Mutter weiß aber nichts davon.«
»Wieso nicht?«
»Weil das Kind für seine acht Jahre überdurchschnittlich intelligent und geradezu emphatisch veranlagt ist. Jenny weiß, dass sie ihren Vater nicht mehr sehen darf, wenn ihre Mutter über die Vorfälle informiert ist.«
Zum ersten Mal im Verlaufe dieser Unterhaltung wirkte Hannah hektisch. »Sie haben gesagt, dass der Vater die Kleine wieder mitgenommen hat. Wissen Sie zufällig, wo Herr Kießling an einem ganz normalen Montag danach hingefahren sein könnte? Arbeitet er?«
»Er ist Koch und fängt neuerdings erst am späten Nachmittag an. Das Restaurant hat mittags nicht mehr geöffnet – Personalmangel.«
»Also ist er mit Jenny vermutlich nach Hause gefahren, oder?«
Ambrosius zuckte lediglich mit den Schultern.
»Ich hab hier die Adresse vom Vater«, vermeldete Ralf. »Soll ich dort auch ’ne Streife hinschicken?«
Hannah dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf. »Erstens weiß ich nicht, ob bei unserem Personalmangel überhaupt ’ne weitere zur Verfügung steht und zweitens hat der Mann von Gerichts wegen ein Besuchs- und Umgangsrecht. Jedenfalls werden wir ihm heute einen Besuch abstatten.« Jetzt wandte sich Hannah wieder an Professor Ambrosius. »Auch die Wohnung von Frau Kießling sehen wir uns näher an. Darf ich in der Hinsicht auf Ihre Hilfe zählen? Schließlich scheinen Sie sich dort ganz gut auszukennen.«
»Dürfen Sie.«
Hannah warf einen Blick auf ihre Uhr und stöhnte. »Bevor ich mich der Sache annehme, muss ich noch einen anderen Termin hinter mich bringen. Den habe ich schon zweimal verschoben und ein drittes Mal wäre …«
»Keine Einwände«, kam Ambrosius einer Fortsetzung zuvor. »Vielleicht kann ich ja mit einem Ihrer Kollegen zurück nach Sylt fahren.«
Hannah klang erstaunt. »Sind Sie nicht mit dem Auto hier?«
»Zuerst mit der Bahn und dann mit dem Taxi. Da Sie es ohnehin herausfinden werden, kann ich auch gleich die Karten auf den Tisch legen: Ich habe seit über zwei Jahren keinen Führerschein mehr. Inzwischen ist es für mich völlig normal und ich komme auch ohne bestens klar.«
»Trunkenheit am Steuer?«, traute sich Hannah zu fragen.
Was ein zögerliches Nicken zur Folge hatte.
»Wollen Sie darüber reden?«
»Nein, will ich nicht!« Ambrosius war anzusehen, dass er auf der Suche nach einem anderen Thema war. Erfolgreich. »Der Vater sah heute Morgen ziemlich wütend aus, als er mit seiner Tochter aus dem Haus kam. Er hat Jenny am Arm gepackt und sie äußerst grob auf die Rückbank verfrachtet.«
»Sie meinen also, wir sollten uns lieber beeilen?«
»Ja, das meine ich.«
3
Diese Übereinkunft war noch taufrisch, als Ole ins Büro der Mordkommission zurückkehrte. Weil Professor Ambrosius mit dem Rücken zu ihm saß, nutzte er die Gelegenheit, seine Chefin gestenreich auf sich aufmerksam zu machen. Dahinter verbarg sich unverkennbar die Botschaft: Wir müssen allein reden!
Die hatte Hannah empfangen und wandte sich an Ambrosius. »Bevor wir aufbrechen, würde ich mich gerne einen Moment mit meinen Kollegen unterhalten, allein. Das stört Sie doch hoffentlich nicht?«
»Keineswegs. Ich warte draußen, falls mich jemand nach Sylt mitnimmt.«
»Was gibts denn so Wichtiges?«, fragte Hannah, nachdem Ole hinter seinem Schreibtisch hockte und die drei Ermittler unter sich waren.
»Ich hab vorhin mit den Kollegen in Westerland telefoniert. Die sind in den letzten Monaten ein halbes Dutzend Mal nach Hörnum ausgerückt, um bei Frau Kießling nach dem Rechten zu sehen.«
»Das wollte ich Ihnen auch die ganze Zeit sagen«, meldete sich Ralf zu Wort. »Der letzte Vorfall ist keine zwei Wochen her. Da war Maren Kießling für drei Tage wie vom Erdboden verschluckt.«
»Ganz genau!«, übernahm Ole wieder. »Ich hab mit einem Streifenkollegen geredet, der dabei war, als sie die Frau bei ihrer besten Freundin aufgetan haben. Dort hatte sie sich offenbar versteckt und währenddessen ihre Tochter dem Vater überlassen.«
Hannah holte hörbar Luft. »Demnach glaubt ihr, es ist jetzt auch nur so ein … Ausbruchsversuch?«
Ole wagte mit gefühlvoller Stimme einen Vorstoß: »Bei solchen Geschichten handelt es sich schon unter normalen Umständen in neun von zehn Fällen um ’ne Ente. Hier ist die Wahrscheinlichkeit wohl noch höher.«
»Ich tippe auf neunundneunzig Prozent«, fügte Ralf im Tonfall eines Mathegenies hinzu. »Dieser Professor Ambrosius ist sternhagelvoll. Ich konnte seine Fahne bis hier riechen. An der Sache ist nichts dran, Chefin. Da gehe ich jede Wette ein.«
»Und was ist mit der Lampe?«, hielt Hannah gegen.
»Wollen Sie wegen ’ner halslosen Giraffe und ein bisschen Blut die Pferde scheu machen?«
Hannah zog ihre oberste Schreibtischschublade auf und wühlte darin herum.
»Suchen Sie was?«, fragte Ralf.
»Ja! Ich hatte hier so ’n Spray, das gegen Klugscheißer hilft. Weiß einer von euch, wo das geblieben ist?«
»Jetzt mal ernsthaft, Hannah«, flehte Ole beinahe. »Ralf hat schon ganz recht. Wir haben lediglich die schrägen Vermutungen eines betrunkenen Psychologen, einige äußerst dürftige Hinweise und was die Vergangenheit betrifft, sprechen die Ereignisse eine klare Sprache. Oder willst du was anderes behaupten?«
»Dann nenn es einfach Instinkt!«, erwiderte Hannah unbeeindruckt. Sie sah ihre Mitstreiter nacheinander an. »Wenn der Frau doch was passiert ist und wir mit den Ermittlungen ins Hintertreffen geraten, weil ihr Experten alles als Spinnerei abtut – wollt ihr zwei das dann der kleinen Jenny erklären?«
Ole schüttelte den Kopf, Ralf fiel mit ein. Letzterer übernahm auch den unangenehmen Part, sich nach dem weiteren Vorgehen zu erkundigen. »Und was jetzt, Chefin?«
»Sie, Herr Jansen, schnappen sich Professor Ambrosius, fahren rüber nach Sylt und knöpfen sich die Wohnung von Maren Kießling vor. Das Auto lassen wir vorerst, wo es ist, aber nehmen Sie es trotzdem unter die Lupe.«
»Was ist mit mir?«, fragte Ole hörbar lustlos. »Übrigens hab ich deiner Mutter versprochen, ihre Gartenlaube zu streichen.«
»So kurz vorm Winter! Seit du bei ihr wohnst, kommt sie auch auf die seltsamsten Ideen«, konstatierte Hannah.
Ralf hingegen hatte einen Vorschlag: »Einer sollte sich um Herrn Kießling kümmern. Wenigstens mal nach dem Rechten sehen und herausfinden, ob es seiner Tochter gutgeht. Falls nicht, müssen wir dafür sorgen, dass dem gewalttätigen Vater das Kind entzogen wird.«
Hannah nickte zufrieden. Ole hingegen sah aus, als wollte er seinem jungen Kollegen für diese Idee einen körperlichen Verweis erteilen.
»Dann ist ja alles geklärt.«, sagte Hannah. »Ich mach mich direkt auf den Weg nach Westerland und unterhalte mich dort mit unserem prügelnden Trio. Wenn ich dran denke, wird mir jetzt schon ganz anders.«
»Ich tausche gern mit dir«, bot Ole an. »Es sei denn, einer von euch klärt mich auf, wie ich mit dem Ehemann umgehen soll. Aus meiner Sicht hat der ohnehin den Schwarzen Peter in der Tasche und jetzt darf ich ihm auch noch einen reinwürgen.«
Hannah zog erneut ihre Schreibtischschublade auf, was Ole noch wütender werden ließ. »Sag nichts! Wenn du mir wieder mit deinem Spray kommst, fahr ich postwendend zu deiner Mutter und fang an, die Laube zu streichen.«
»Ich wollte bloß meine Dienstwaffe einstecken«, rechtfertigte sich Hannah und starrte auf die Walther P99 in ihrer Hand. »Obwohl … gegen Klugscheißer hilft die garantiert auch.«
***
»Ich kann mich nicht den ganzen Tag nur um dich kümmern, Jenny!« Dirk Kießling klang extrem angespannt. »Deinetwegen bin ich in aller Herrgottsfrühe aufgestanden und dann ist deine Mutter nicht mal da. Weißt du, wie lange ich heute arbeiten muss und wie wenig ich geschlafen hab?«
Jenny schüttelte den Kopf. Sie demonstrierte ein kindliches Lächeln, das normalerweise bei Erwachsenen half – außer bei ihrem Vater.
Der redete sich zunehmend in Rage. »Ich hab von deiner bescheuerten Mutter langsam die Schnauze voll. Ständig lässt sie mich mit dir hängen und ich kann überhaupt nichts mehr planen. Wenn das so weitergeht, dann …«
»Mama ist bestimmt bei ihrer Freundin.«
Jennys Erklärungsversuch besänftigte den Vater zumindest ein Stück weit. »Kennst du die Nummer von dieser dämlichen Kirsten?«
Anfangs nickte Jenny, doch allmählich ging das in ein Kopfschütteln über.
Dirk Kießling zog sein Handy aus der Tasche. Es landete krachend vor seiner Tochter auf dem Küchentisch. »Probier’s einfach!«
Jenny entsperrte routiniert das Display und widmete sich kurz darauf dem virtuellen Ziffernblock. Als sie fertig war, drückte sie zuerst auf den grünen Hörer und dann auf den Lautsprecher.
Die gewählte Rufnummer ist nicht vergeben, lautete das ernüchternde Resultat.
Sie sah ihren Vater schüchtern an und tippte gleich wieder. Mit demselben Ergebnis. »Ich glaube, es ist am Ende keine Sieben, sondern eine Eins«, flüsterte sie unsicher.
»Himmel! Dann probier’s halt noch mal!«
Gesagt, getan. Nach endlosem Klingeln meldete sich ein Mann mit rauer Stimme. »Ja?« Im Hintergrund waren Wind und Wetter zu hören.
Jenny erschrak, auch ihre Verunsicherung wuchs um einiges. Sie atmete tief ein und beugte sich über das Handy. »Kann ich bitte mit Kirsten sprechen?«
»Mit welcher ›Kirsten‹?«, kam es rüde zurück. »Ist da ’n Kind dran?«
»Leg auf!«, befahl der Vater.
»Entschuldigung!«, murmelte Jenny und beendete das Gespräch kurzerhand.
»Na klasse! Falls wir bis heute Nachmittag nichts von deiner Mutter hören, musst du wieder mit ins Restaurant kommen«, verkündete Dirk Kießling.
»In der Küche stinkt’s immer so fürchterlich, Papa.«
»Dann weißt du wenigstens, unter welchen Voraussetzungen ich mein Geld verdiene. Aber das interessiert deine Mutter nicht, wenn’s um Unterhalt geht.«
Jenny zeigte auf das Handy vor sich. »Darf ich noch mal, Papa? Vielleicht …«
Der Vater ließ Taten sprechen, indem er sein Handy schnappte und es in die Hosentasche stopfte. Im nächsten Augenblick stand er stöhnend in der offenen Küchentür. »Ich leg mich jetzt hin, sonst schlaf ich heute auf Arbeit ein. Was hast du vor?«
»Darf ich fernsehen?«
»Darfst du. Aber leise, junges Fräulein!«
4
»Setzen Sie sich, meine Herren!« Mit dieser nicht gerade freundlichen Aufforderung begann Hannah am frühen Nachmittag ein Gespräch. Dazu waren drei Männer aufs Westerländer Revier geladen. Man hatte sich in einem der Verhörräume versammelt; auf dem Tisch standen eine Thermosflasche mit Kaffee und Wasser.
»Sie sind allein?«, wunderte sich Arne Wichmann, der größte des Trios, laut.
Hannah saß bereits und sah auf. »Wieso? Glauben Sie, ich benötige Verstärkung?«
»Nein, nein … wir hatten nur alle mit Ihrem Kollegen gesprochen, diesem Herrn Jansen und natürlich gedacht, dass der auch …«
»Setzen Sie sich bitte!«, erneuerte Hannah ihre Aufforderung mit gezwungenem Lächeln. »Es wäre mir ausgesprochen lieb, wenn wir die Sache hier schnell hinter uns bringen könnten.«
»Ganz in unserem Sinne«, kam es von Pavel Dombrowski stellvertretend für alle.
Der Letzte hatte kaum richtig Platz genommen, als Hannah schon in monotonem Singsang anfing: »Mittlerweile liegt uns das endgültige Obduktionsergebnis vor. Ihr … Freund, Helmut Schönfelder, ist an einer Hirnschwellung mit anschließender Hirnblutung gestorben. Was erst möglich wurde, nachdem Sie drei ihn kopfüber an ein Kreuz geschnallt und alleingelassen haben. Deshalb steht unverändert der Vorwurf der fahrlässigen Tötung im Raum – mindestens aber unterlassene Hilfeleistung.«
»Was das Thema betrifft, hoffe ich, dass Sie sich alle Zeugenaussagen angesehen haben.« Diese Wortmeldung stammte vom Dritten im Bunde, Stefan Meier. Ein Schönling, der seine dunklen Haare mit viel Gel nach hinten gekämmt hatte, wodurch sie wie zementiert aussahen. »In unserem Metier sind solche Dinge absolut üblich und passieren wahrscheinlich jeden Tag. Diesbezüglich müssten Ihnen über hundert Aussagen von anderen Clubs und Gruppen vorliegen, die …«
»Sechsundneunzig!«
»Okay, dann eben ein paar weniger. Aber unser Anwalt meint, das allein würde schon reichen, um …«
»Mir reicht es so oder so«, fuhr Hannah rabiat dazwischen. »Meine Kollegen und ich beschäftigen uns seit Wochen mit nichts anderem als den Gepflogenheiten in Ihrem – wie Sie es so schön nennen – ›Metier‹.« Hannah warf einen Blick in die Akte und verzog das Gesicht. »Es wirkt inzwischen glaubhaft, dass bei derartigen Veranstaltungen alles in gegenseitigem Einvernehmen geschieht. In diesem speziellen Fall ist es auch nachvollziehbar, dass Herr Schönfelder, nachdem Sie ihn alle volluri…« Hannah stockte mitten im Satz, musste Luft holen. »Nein, diese Details werde ich Ihnen und insbesondere mir ersparen. Bei der Aufklärung, was genau passiert ist und inwiefern Sie drei Teil des Geschehens waren, wird uns das ohnehin nicht helfen.«
»Sie wollten sich doch auch über Helmuts Vergangenheit informieren«, meldete sich Arne Wichmann leise zu Wort.
Was Hannah zunächst ein Stöhnen entlockte. »Das ist auch passiert! Und dabei ist herausgekommen, dass Herr Schönfelder schon seit Jahren in der SM-Szene überaus aktiv und den meisten bekannt war. Ganz besonders für seine sonderbaren Vorlieben und seine …« Hannah warf einen Blick in ihre Notizen. »… außerordentlichen Nehmerqualitäten«, brachte sie mühsam hervor. »Bei der Obduktion wurden nebenbei auch hunderte verheilte und vernarbte Verletzungen gefunden, die das eindeutig bestätigen.«
»Also sind die Vorwürfe gegen uns endgültig vom Tisch?«, fragte Dombrowski nach ausgedehntem Schweigen.
Hannahs Miene blieb völlig unbewegt, sah wie versteinert aus. »Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen! Bisher deutet aber alles darauf hin, dass Ihnen zumindest in strafrechtlicher Hinsicht kein Vorwurf gemacht werden kann. Abgesehen davon, dass ich diese Praktiken als widerlich empfinde und zutiefst verabscheue.«
»Reine Geschmackssache«, erwiderte Meier vorsichtig grinsend. »Wär’s das dann?«
»Nicht ganz!«, erwiderte Hannah gedehnt und warf einen weiteren Blick in die Akte. »Für das Treffen, in dessen Verlauf Herr Schönfelder ums Leben kam, hatten Sie vier sich im Internet verabredet. Richtig?« Als drei Köpfe eifrig nickten, fuhr Hannah nahtlos fort: »Meine Kollegen haben sich eingehend mit dem Betreiber der Webseite ausgetauscht und sind dabei auf etwas Interessantes gestoßen.«
»Und zwar?«, fragte Arne Wichmann in Ermangelung einer Fortsetzung.
»Nun … der Programmierer der Seite hat einige Sicherungsfunktionen eingebaut. Dazu gehört auch, dass Chat-Verläufe, Nachrichten und genauso diese privaten Events regelmäßig gespeichert werden. Beim Überprüfen einer dieser Sicherungen ist uns ein fünfter Teilnehmer aufgefallen. Ihre und Herrn Schönfelders Usernamen hatten Sie uns schon freundlicherweise mitgeteilt. Aber wer bitte ist dann DarkAngel56?« Hannah hob ganz bewusst erst jetzt den Kopf und schaute die Männer vor sich nacheinander an. In zwei Gesichtern sah sie Verunsicherung aufblitzen.
Nur Pavel Dombrowski hatte ein Grinsen, nebst einer etwas übereilten Antwort im Repertoire: »Der ist im letzten Moment abgesprungen. Keine Ahnung, warum.«
»Geschieht das denn häufiger?«, hakte Hannah nach.
»Sowas kommt eigentlich immer vor.« Aus dem Grinsen wurde ein höhnisches Lachen. »Sie glauben gar nicht, wie viele kranke Typen da draußen rumlaufen, die sich nur aufgeilen, aber nicht zur Sache kommen wollen.«
»Die ›Sache‹ ist ja auch alles andere als normal.«
»Sagen Sie! Wäre es Ihnen lieber, wir würden was Verbotenes anstellen? Mit Kindern oder …«
»Hören Sie bloß auf!«, schnauzte Hannah. »Sonst fällt mir garantiert was ein, womit ich Sie alle doch noch hinter Gitter bringe.«
Die Atmosphäre wirkte angespannt, deshalb versuchte es Stefan Meier mit versöhnlichen Worten: »Wir haben natürlich absolutes Verständnis für Sie und Ihre Einstellung. Aber Sie sollten nicht vergessen, dass in unserer Szene alles freiwillig passiert. Niemand wird zu irgendwas gezwungen.«
Hannah nickte, schürzte die Lippen. Die drei Männer schienen erleichtert zu sein. Vermutlich glaubten sie, diesem Gespräch fehlten lediglich die passenden Floskeln zum Abschied. Doch weit gefehlt, denn Hannah legte in beiläufigem Tonfall nach: »Okay … das habe ich verstanden. Dann verraten Sie mir nur noch, wer DarkAngel56 ist, und wir sind hier fertig.«
***
Die Adresse in List – Sylts nördlichster Ortschaft – hatte Ole sofort gefunden. Schließlich wohnte Dirk Kießling direkt über dem Restaurant, in dem er als Koch tätig war. Nicht weiter verwunderlich, denn ein professioneller Gastronom musste heutzutage seinen Mitarbeitern einiges bieten, um sie dauerhaft zu halten. Wer immer noch der Meinung war, er könne seine Angestellten wie Vieh behandeln und beliebig austauschen, der stand oft persönlich hinterm Herd oder durfte seine Gäste eigenhändig bedienen. Inzwischen hatten sogar auf Sylt viele Restaurants ihren Betrieb eingeschränkt oder aus der Not heraus vollständig eingestellt. Selbst hier – in der Welt der Schönen und Reichen – war angekommen, dass man Personal hegen und pflegen musste. Ansonsten hatte man schnell das Nachsehen.
Ole klingelte, wartete und klingelte gleich ein zweites Mal.
Aus dem Lautsprecher über den sechs Postschlitzen drang ein unfreundliches und müdes »Ja?«
»Friedrichsen, Kriminalpolizei. Machen Sie bitte auf!«
»Wer ist denn da?«, kam es nicht minder ungehalten zurück.
»Friedrichsen, Kripo Niebüll. Machen Sie bitte sofort auf, Herr Kießling!«
Anstelle weiterer Worte erklang der Summer.
Als Ole wenig später die Stufen im Treppenhaus erklomm, stieg ihm der Geruch von Essen und Gewürzen in die Nase. Wer hier wohnte, wurde also auch außerhalb der Geschäftszeiten permanent an seinen Arbeitgeber erinnert.
Ganz oben öffnete sich eine Tür. Ein unrasierter Enddreißiger empfing Ole in Schlabbershirt und Jogginghose. Seine nackten Füße steckten in Badelatschen. Die ersten Worte passten eins zu eins zum äußeren Erscheinungsbild: »Ist was mit meiner Alten?«
»Falls Sie damit Ihre Frau meinen, kann ich Ihnen noch nichts Genaueres sagen. Darf ich kurz reinkommen?«
»Und wenn nicht? Ich hab kaum gepennt und meine Schicht fängt in knapp drei Stunden an.«
Ole, der im Umgang mit rüden Zeitgenossen längst einiges an Erfahrung vorweisen konnte, erwiderte lächelnd und zugleich selbstbewusst: »Ich benötige nur fünf, höchstens zehn Minuten, damit mir ein Richter einen Durchsuchungsbeschluss unterzeichnet. Außerdem werde ich in dem Fall noch zwei Kollegen zu Hilfe rufen. Ihre Schicht, von der Sie eben geredet haben, können Sie dann übrigens komplett vergessen.«
Dirk Kießling schien ein Mann der Tat, statt großer Worte zu sein. Er zog seine Wohnungstür ruckartig weiter auf. Um die nicht an den Kopf zu kriegen, musste seine Tochter einen beherzten Sprung nach hinten machen.
»Du bist bestimmt Jenny«, sagte Ole, als er im Flur stand. Er beugte sich nach vorne, lächelte herzerwärmend und strich dem Mädchen kurz über den Kopf. »Gehts dir gut? Alles in Ordnung?«
»Vielleicht sagen Sie langsam mal, was Sie hier wollen!«, pöbelte der Vater, der inzwischen in der Tür zur winzigen Küche Stellung bezogen hatte. »Haben Sie meine Al… also, haben Sie Maren gefunden?«
Ole stellte sich bewusst dumm. »Wieso sollten wir nach Ihrer Frau suchen?«
Das sorgte in Dirk Kießlings Gesicht zunächst für Verwirrung. Aber der Mann war klüger, als er aussah und spielte den Ball auf ähnliche Weise zurück. »Warum sollten Sie sonst hier sein?«
»Wir müssen reden«, antwortete Ole und zeigte zum Küchentisch. Bevor er einen Schritt nach vorne machte, beugte er sich erneut zu Jenny herunter und sprach sie freundlich an: »Du bist ja schon ein ziemlich großes Mädchen. Ist es okay, wenn ich einen Moment allein mit deinem Vater rede? Sobald wir fertig sind, darfst du gerne dazukommen.«
Im Gesicht des Mädchens machten sich Sorgen breit. »Ist was mit Mama?«
»Das glaube ich nicht. Lass mich kurz mit deinem Vater sprechen, und dann unterhalten wir zwei uns. Einverstanden?«
Jenny nickte, obwohl es ihr sichtlich schwerfiel.
»Dann lassen Sie uns endlich loslegen«, meldete sich Dirk Kießling wieder zu Wort. »Wenn mein Chef um sechs öffnen will, muss ich spätestens ab halb fünf in der Küche stehen und alles vorbereiten.«
Ole wartete, bis Jenny am Ende des Flurs hinter einer Tür verschwunden war. »Ist das tatsächlich Ihre einzige Sorge, Herr Kießling?«
»Vorerst ja. Aber ich kann meinem Chef auch gerne sagen, dass er seinen Scheiß allein machen soll. Dann müssten Sie am Monatsende den Unterhalt für Jenny und ihre Mutter bezahlen.«
Einen Augenblick dachte Ole über
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Text: Thomas Herzberg
Cover: Chris Gilcher (http://buchcoverdesign.de)
Layout: Zeilenfluss
Publication Date: 11-14-2022
ISBN: 978-3-96714-256-3
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