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I. Teil - Elena

Wenn du durstig bist, gebe ich dir zu trinken.

Wenn du hungrig bist, gebe ich dir zu Essen.

Wenn du einsam bist, werde ich dich umarmen.

Wenn du traurig bist, werde ich dich trösten.

Denn wann immer deine Tränen fließen, werde ich sie trocknen.

 

1. Kapitel - Mädchen im Baum

Freitag. Die Touristengruppe, die ich betreute, würde abziehen. Endlich. Normalerweise liebte ich meinen Job, den ich bereits seit 10 Jahren ausführe.

Aber diese Touristengruppe war wirklich anstrengend, sie bestand aus lauter Familien mit kleinen Kindern. Natürlich schob ich es darauf, das sie so nervig waren, aber ich wusste genau, dass ich mich damit nur selbst betrüge. Nein, der eigentliche Grund war, das ich auch gern Kinder kriegen würde. Ob es an mir liegt oder an Jasalo, meinem Mann, weiß ich nicht. Aber es ist für uns beide eine große Enttäuschung ist, nicht das zu bekommen, was wir uns immer gewünscht haben, ist . . . schade. Schade war gar kein Ausdruck dafür, wie es sich anfühlte, aber dafür gab es auch keine Worte. Es ist ein unbeschreiblicher, unaushaltbarer Schmerz, der nie aufhört. Schnell vertrieb ich weitere Gedanken an Kinder, den das war der Grund für meinen traurigen Gesichtsausdruck, den ich im Spiegel vor mir sehen konnte. Stirnrunzelnd betrachtete ich mein Gesicht. Ich hatte lange dunkelbraune Haare, die glatt hinunter fielen, hohe Wangenknochen und volle Lippen. Meine Augen, die genau die gleiche Farbe hatten wie meine Haare, glänzten traurig.

„Schaut nicht so traurig!“, flüsterte ich leise.„Freu' dich gefälligst, du darfst jetzt immerhin eine tolle Safari mitmachen, für die andere ein Vermögen hinblättern würden und den Deutschen etwas über die Tiere hier in Afrika erzählen.“

Natürlich war ich auch eine Deutsche, aber ich sah mich nicht als Touristin. Wozu auch? Ich hatte einen afrikanischen Mann, der leider in Deutschland bleiben musste, und zusätzlich zu meinem Deutschen hatte ich auch einen afrikanischen Pass. Afrika war für mich eine zweite Heimat. Und irgendwann würden Jasalo und ich aus Deutschland auswandern und hierher ziehen. Hier, in das heiße Afrika. Ein neues Leben anfangen, und vielleicht, vielleicht auch ein afrikanisches Kind adoptieren.

„Los jetzt, die Pflicht ruft!“, rief ich mich zur Ordnung.

Schnell zog ich meine Kleidung für den afrikanischen Busch an, die ich mir schon am Abend zuvor zurecht gelegt habe. Als erfahrene Fremdenführerin hatte ich alles schon mal, und aus jedem Fehler, der passiert, muss gelernt werden. Keiner darf zweimal passieren.

Seufzend cremte ich mich noch mit Sonnencreme ein, zog einen Strohhut auf und machte mich auf zu dem am Tag zuvor vereinbarten Treffpunkt. Natürlich war ich, obwohl ich zu spät war, die Erste. Meine Schützlinge waren wie immer – wie wir Deutschen nun mal sind – einfach zu spät. Und wenn dann noch die Aufregung vor dem letzten Ausflug, der Safari, dazukommt...

Zuerst trippelte ich mit dem Fuß auf und ab, dann wippte ich hin und her und setzte mich schließlich völlig entnervt auf den sandigen Boden. Kurze Zeit später kreischte ich laut auf und sprang wieder auf. Ich hatte mich mitten auf eine Ameisenstraße gesetzt und das auch sofort zu spüren bekommen.

„Na, und so was will eine Afrikanerin sein!“, spottete Herr Mayer lauthals, der gerade ankam. Natürlich genau jetzt! Wie sollte es auch anders sein?

„Zumindest bin ich erfahren und habe in weißer Voraussicht Salbe gegen Insektenbisse und - stiche dabei!“, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen.

Immer Höflich, das ist nur ein weiterer dumme Kunde, dem langweilig ist!, dachte ich dann, während ich im Kopf langsam bis 10 zählte. Bei so was konnte ich schnell sauer werden, obwohl ich sonst eigentlich ziemlich sanft war und alle 'Späße' mit mir machen ließ.

So langsam trudelten auch die anderen ein, und ich klatschte laut in die Hände.

„Okay, sind alle da?“

Zustimmendes Gemurmel. Trotzdem hackte ich nochmal auf einer Liste alle Namen ab, damit sich nachher niemand beschweren konnte, wir hätten ihn vergessen. Wie gesagt, alles ist schon vorgekommen.

„Gut, dann geht’s jetzt los.“

Ich hatte mehrere Jeeps gebucht, weil mir klar war, das einer nie reichen würde. Allerdings hatte ich damit ein anderes Problem entstehen lassen. Wer sollte wo sitzen? Die Kinder wollten sowohl bei ihren Freunden sitzen, als auch bei ihren Eltern. Und die Freunde hatten auch noch andere Freunde, und meistens waren die Eltern auch noch bekannt mit dem einen oder anderen, und die neu entstandenen Bekanntschaften aus dem Urlaub, mit denen wollte man sich natürlich auch noch unterhalten.

Okay, das klingt vielleicht ein bisschen ironisch, schließlich ist es mir bei meiner ersten Reise nach Afrika auch so gegangen. Wenn ich ehrlich bin, würde es das jederzeit wieder. Aber dennoch – als Urlaubsorganistorin hielt ich das nach einiger Zeit einfach nicht mehr aus. Vielleicht sollte ich mich doch nach einem neuen Job umsehen. Wobei Fremdenführer sich bei einem Umzug nach Afrika schon anbieten würde, mit meinen Sprachkenntnissen und meiner Erfahrung in diesem Gebiet.

Ich sah auf die Uhr. Wir haben schon eine halbe Stunde verschenkt, die wir nicht zurückerstattet bekommen werden. Etwas, über was ich später wieder mit den ganzen Leuten hier streiten musste, das wusste ich jetzt schon.

„Los jetzt, alle irgendwo rein, sonst fahren wir ohne euch. Und das meine ich so, wie ich es sage.“ Dann fügte ich noch besänftigend dazu: „Wir machen ja ein paar Pausen, ihr habt also noch genug Zeit, euch zu unterhalten.“

Tatsächlich half das, sie entschlossen sich letztendlich, einfach in den Familien zusammen zu bleiben, die Eltern wollten ihre Kinder nicht alleinlassen.

Wir fuhren nur fünfzehn Minuten, da waren wir schon mitten in der afrikanischen Wildnis. Zuerst sahen wir nur ein paar Schlangen, dann in einiger Entfernung ein paar Zebras und in einem kleinen Fluss ein paar rosarote Flamingos. Die Fotoapparate knipsten und blitzten wie verrückt, und es nahm noch zu, als wir sogar ein Rudel Löwen sehen konnten, allerdings – oder vielerseits wohl auch als glücklicherweise bezeichnet – nur aus sehr großer Entfernung.

„Gut, ich denke, jetzt ist Zeit für eine Pause.“, schlug ich vor, und bekam dafür Zustimmung von allen Seiten. Ich gab den Fahrern zu verstehen, dass sie anhalten und auf uns warten sollen, dann packten wir unser Picknick aus, wobei ich sorgfältig darauf geachtet hatte, das niemand etwas mitgebracht hatte, was Aufmerksamkeit bei den Tieren erregen könnte.

„Also, ihr könnt euch hier schon ein wenig bewegen, hier ist es, zumindest sagen das die Einheimischen und bisher hat es auch gestimmt, nicht so gefährlich. Aber bitte bleibt einigermaßen nah zusammen.“, erklärte ich. Dass sie in kleinen Gruppen zusammen bleiben sollten, musste ich ihnen nicht sagen, das machten sie natürlich automatisch, wie die Schüler einer großen Schule in der Pause.

Zufrieden setzte ich mich auf den trockenen Boden, natürlich erst, nachdem ich ihn genau nach Ameisen und sonstigen Insekten angesucht habe – das hatten wir alles schon einmal – und lehnte mich an einen Baum. Während ich meine Brotzeit aß, sah ich mich um und überblickte alle Touristen. Dabei achtete ich darauf, dass niemand auf die Idee kam, ein Nickerchen zu machen – man musste es ja nicht gleich übertreiben mit der Unvorsichtigkeit.

Plötzlich spürte ich einen Tropfen auf meinem Gesicht. Und noch einen.

Regen in der Trockenzeit? In Afrika? Erschrocken sah ich nach oben, als ich noch einen Tropfen spürte. Das kann doch nicht sein!

Irgendetwas muss in dem Baum sein. Zuerst zögerte ich noch, dann gab ich jedoch einem Jeepfahrer Bescheid, er solle auf die Touristen aufpassen und kletterte den Baum hoch. Ich hatte Glück, er war weit verzweigt und es war einfach, ihn zu besteigen, fast als wäre er extra dafür gemacht.

Was ich oben allerdings sah, überschritt meine Erwartungen gewaltig.

Ein dunkelhäutiges Mädchen, etwa sechs Jahre alt, saß zwischen zwei Ästen, triefte vor Wasser, dass überall von ihr tropfte, besonders von den langen , lockigen, afrikanischen Haaren, die aussahen, als wären sie mindestens vier der fünf Jahre nicht mehr gekämmt worden, und sah mich angsterfüllt an. Sie hatte kaum Kleidung an sich, nur einige Tierfelle. War sie vielleicht aus einem kleinen einheimischen Stamm?

„Hallo“, sagte ich überrascht. „Und wer bist du?“

Sie sah mich schweigend an.

„Ich heiße Elena.“

Erwartungsvoll sah ich sie an, aber sie sagte immer noch kein Wort.

„Hast du Hunger? Wo kommst du denn her?“

Als sie immer noch nicht antwortete, war mir klar, das weitere Fragen nichts bringen würden. Nein, allmählich bekam ich selbst Angst, was dieses Mädchen hier machte. Wie lange war es schon hier? Und was tat es hier? Und warum ist es nicht herunter gekommen? Normalerweise konnten die kleinen Stämme durchaus die hier übliche Sprache, auch in diesem jungen Alter. Und selbst wenn nicht – irgendwie könnte sie mir bestimmt zu verstehen geben, dass sie mich nicht versteht, wenn sie wollte.

„Möchtest du mit nach unten kommen? Ich habe etwas zu essen.“

Schweigen.

„Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich tue dir nichts.“, fügte ich hinzu, wusste aber, das das nichts bringen würde und es völlig überflüssig war, dies zu sagen. Denn wer würde so was auch nicht sagen. Die, die einem nichts Böses wollen, oder die, die es wollen?

Erschrocken zuckte ich zusammen. Das Mädchen hatte gepfiffen. Wie ein Vogel. Genau wie ein Vogel, es klang so echt, als würde sie jeden Moment davonfliegen. Aber es war sie. Und sofort flogen einige Vögel herbei, die man sonst nie zu Gesicht bekommt, zumindest nicht in freier Wildbahn, so scheu sind sie. Und jetzt – jetzt pfiffen sie ein regelrechtes Konzert. Völlig irritiert sah ich die Vögel und vor allem das Mädchen an. Die zuckte nur leicht mit den Schultern und hüpfte leichtfüßig wie ein Affe ein paar Äste weiter, indem sie sich an den Ästen entlanghangelte, in einer Höhe und Geschwindigkeit, in der es mir schlecht wurde. Langsam und sehr vorsichtig kletterte ich hinterher. „Warte doch mal.“ Doch sie lief und sprang und rannte beinahe auf den Bäume weiter, und kletterte so geschwind, dass man meinte, sie wäre ein Affe.

Erschrocken zog ich den Kopf ein und zog gleißen Luft ein. Sie war ganz plötzlich abgerutscht, aber einen Moment später fiel mir schon auf, das dies wohl Absicht war, denn sie landete in einer bequemen Astgabel im nächsten Baul. Lächelnd schüttelte ich den Kopf, und versuchte vorsichtig, hinterher zu kommen – allerdings am Boden, ich konnte nicht wie sie von Baum zu Baum fliegen. Da wurde meine Aufmerksamkeit abgelenkt. Staunend betrachtete ich den wundervoll bunten Papagei, der einige Kurven über mir flog. Es war ein schönes Tier und ich wollte gerade meine Reisegruppe darauf aufmerksam machen, als der Papagei landete, und zwar auf der Schulter des kleinen afrikanischen Mädchens. Und da kapierte ich, dass er ganz allein wegen ihr da war.

2. Kapitel - Vertrauen fassen

 Ich seufzte. Das Mädchen sah mich noch immer aus ihren großen, braunen Augen an, den Papagei auf ihrer Schulter. Aber sie war fünf Bäume weiter gesprungen. Sie hatte Angst vor mir. Aber zugleich war sie auch neugierig.

Wie ein kleines Tier. Wie Kyra, unsere kleine Katze. Sie hatte mich am Anfang mit demselben Blick angesehen. Ich wusste nicht, wie ich darauf kam, aber es passte einfach. Und jetzt hatte ich verstanden. So würde ich nicht weiter kommen. Ich biss mir auf die Unterlippe. Einen Versuch noch. Nur noch einen letzten Versuch.

Ich blickte nach hinten, in einiger Entfernung lärmte die Reisegruppe vor sich hin. Mein Kopf schüttelte sich wie von selbst. Die musste ich erstmal los werden – dafür würde gar nichts funktionieren.

Ich konnte es mir nicht leisten, das Mädchen ganz aus den Augen zu verlieren – ich war mir sicher, ich würde sie dann nicht wiederfinden, egal wie lange ich suchte. Dafür konnte sie sich in den Bäumen viel zu gut verstecken. Und wenn sie nur ein wenig höher klettern würde – und leichte genug dafür war sie bestimmt – würden die obwohl so spärlichen Blätter ihren Körper komplett verdecken. Ich konnte nicht hin laufen. Und hier gab es kein Handynetz, dass hatte ich oft genug ausprobiert. Weshalb ich inzwischen immer ein Funkgerät mit mir herumtrug. Beinahe alle aus der kleinen Stadt, in der sich das Hotel befand, hatten eines auf dieselbe Frequenz eingestellt. Und die Mitarbeiter des Hotels – zu denen zählte ich zur Zeit dazu, obwohl ich eigentlich eher ein Gast war – hatten nochmal einen eigenen.

„Alex?“, fragte ich. Alle anderen würden sich jetzt ausklinken. Doch momentan interessierte mich das nicht besonders – denn das kleine Mädchen in den Bäumen war vor Schreck zusammengefahren und hatte sich schnell noch einen Baum weiter geschwungen, während sich er Papagei in die Lüfte schwang, als ein lautes Knistern aus dem Funkgerät kam. Der Empfang war ziemlich schlecht. Vielleicht sollten sie sich mal ein Satellitentelefon anschaffen. Aber das kostete bestimmt wieder Unsummen.

„Elena. Sag mir, dass du mich nicht nur zum Spaß störst.“

„Gut. Das stimmt.“

Alex stöhnte.

„Ich weiß nicht … “ Wieder krachte es. „ ... ich das wirklich besser finde.“, meinte er

„Nein. Das wirst du bestimmt nicht.“, seufzte ich. „Bitte. Du musst meine gruppe für mich unternehmen.“

Ein langes Schweigen war Antwort genug. Dann ein gequält ausgestoßener Satz.

„Elena, ich habe heute endlich mal wieder einen freien Tag. Meine Gruppe war mindestens so schlimm wie deine. Ich weiß, wir sind seit Jahren befreundet, aber das ist wirklich … ein wenig viel verlangt.“

„Bitte. Ich schulde dir was.“

„Sowieso.“ Er knurrte. „Was hast du denn angestellt?“

„Nichts. Bitte. Da ist nur dieses Mädchen … Ach egal, das erkläre ich dir später. Bitte, bitte, bitte. Komm schon. Ich tue alles, was du willst.“

Ich konnte sein Lächeln fast durch das Funkgerät spüren.„Alles?“

Ich verdrehte die Augen.

„Na gut, fast alles.“

Ein Seufzen tönte durch die Leitung. Ja! Ich hatte ihn!

„Also gut. Aber du schuldest mir nicht nur einen Gefallen, sondern einen riesengroßen. Und du musst dich auf Knien vor mir bedanken.“

Manchmal hasste ich seine Kommentare und gab patzige Antworten, manchmal fand ich sie zum totlachen und gab ihm eine schlagkräftige Antwort, aber heute ignorierte ich es einfach.

„Danke.“, meinte ich nur und erklärte ihm die genaue Position.

„Zeig ihnen einfach ein paar Tiere. Ich komme so bald ich kann zurück und unternehme wieder.“

„Ich hoffe, es ist wichtig.“

„Das ist es. Danke. Du bist ein Schatz!“

Ich war froh, dass Alex ebenfalls verheiratet war – sonst wäre Jasalo mir wohl längst an die Gurgel gesprungen. Aber so hatte er kein Problem damit, dass ich mit ihm fast ebenso viel Zeit verbrachte wie ich zu Hause war. Das hatte eine Arbeitsgemeinschaft, wie wir sie hatten, nun mal an sich. Und deshalb kannte ich ihn auch gut genug, um darauf zu vertrauen, dass er schon alles richtig machen würde. Oder zumindest gut genug, dass ich ihm nicht über die Schulter zu schauen brauchte. Ich konnte mich um das Mädchen kümmern.

Ich warf ihr einen letzten, spitzbübischen Blick zu, dann setzte ich mich auf den Boden und lehnte mich an einen der Bäume. Dann würden wir ihre Neugierde mal weiter schüren. Ich zog ein paar süße Trauben aus meiner Tasche und legte sie neben mich, mit einem ganzen Meter Abstand.

Ich deutete mit der Hand darauf und dann auf das Mädchen.

„Möchtest du etwas?“

Aber noch immer starrte sie mich nur an.

Ich zuckte mit den Schultern. Ich musste mich schon an meine neue Taktik halten – sonst würde sie auch nichts helfen.

Also beschäftigte ich mich anderweitig. Aß eine Traube. Zog mein Taschenmesser hervor und bohrte Löcher durch ein kleines Holzstückchen. Aß noch eine Traube. Pfiff auf Grashalmen. Wieder eine Traube. Schloss die Augen, an den Baum gelehnt und döste vor mich hin. Dann wiederholte ich das Ganze.

Bis ich schließlich einen Luftzug neben mir spürte. Schnell öffnete ich die Augen.

Sie war schnell, sie stand schon wieder auf der ersten Astgabel einen Baum weiter. Schüchtern sah sie mich an. In ihrer Hand hielt sie die eine Traube.

Ich lächelte, versuchte es diesmal in Deutsch, Englisch und der afrikanischen Sprache, die dieser Region am nächsten lag. Aber genau den passenden Dialekt beherrschte ich nicht, nicht mal ein bisschen. Wie auch. Es gab einfah zu viele, zu viele kleine Stämme …

„Probier mal.“

Ihre großen Augen beobachteten mich. Ich nahm eine Traube und steckte sie mir in den Mund. Ganz langsam machte sie es mir nach. Sie kaute langsam, schien es zu genießen. War sie schon länger hier? Wie hatte sie überlebt, was hatte sie gegessen?

„Willst du noch eine?“

Sie sah mich verständnislos an und ich hielt ihr die Trauben hin. Ruhig. Ich konnte warten. Sie hatte den ersten Schritt gemacht und sie würde weitere machen. Vielleicht würde sie lange dafür brauchen. Vielleicht waren es kleine Schritte. Aber jetzt kam sie auf mich zu. Leise, sanft und verdeckt wie ein Löwe auf der Jagd.

Dann stand sie plötzlich vor mir, griff sich die Trauben mit ihrer kleinen Hand, die so fein war – und dennoch mit Narben überseht. Und stark genug, um sie zu tragen, wenn sie sich von Baum zu Baum schwang.

Einen Augenblick später war sie wieder weg, bevor ich auch nur ansatzweise reagieren konnte. Braune Augen beobachteten mich. Als hätte sie Angst, dass ich wütend werden, ihr nachrennen würde. Doch ich lehnte mich nur zurück, wandte den Blick nicht von ihr.

Sie nahm eine Traube, dirigierte sie zu ihrem Mund und ihre kleine Lippen umschlossen sie.

Ich streckte die Hand aus. Irgendwie musste ich sie dazu bringen, mir zu vertrauen. Wie sollte ich sonst herausfinden, wer sie war und was sie hier ganz allein machte, mitten in der Wildnis?

„Gib mir auch eine.“

Sie reagierte nicht. Ich deutete auf die Traben, dann auf meinen Mund.

Ein kleiner, tapsiger Schritt auf mich zu. Vorhin war sie so gewandt gewesen, so athletisch. Und jetzt stakste sie herum wie ein verängstigtes Reh. Ich schüttelte den Kopf. Was war nur mit ihr los?

Aber sie kam auf mich zu, legte eine Traube in meine Hand und trat dieses Mal nur drei Schritte zurück. Gerade so weit, dass ich sie mit meinem Arm nicht mehr erreichen konnte.

Ich schenkte ihr ein Lächeln und schob die Traube in meinem Mund.

„Noch eine, bitte.“

Wir spielten das Spiel weiter und irgendwann, als wir die Trauben fast aufgegessen hatten, setzte sie sich neben mich. Und noch einen Augenblick später legte sie mir ihren Kopf auf die Brust. Ich sah sie verblüfft an, konnte es nicht glauben. Aber ich wagte nicht, mich zu rühren.

Es kam mir vor wie Stunden, wie wir so sitzen blieben. Aber bestimmt waren es nur Minuten. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Was sollte ich mit ihr tun? Wo sollte ich sie hinbringen, wenn sie meine Sprache nicht verstand?

Ich inspizierte sie, so gut es ging. Betrachte ihre Arme, Hände und Beine, soweit ich sie in dieser Stellung sehen konnte. Alles sah klein und schlaksig aus, aber sie hatte Muskeln, mehr, als sie in diesem Alter haben sollte. Und überall waren Narben. Meist kleine, feine Streifen, aber ich konnte auch größere entdecken. Was hatte sie durchgemacht?

Die rührte sich, hob den Kopf und sah mich wieder aus ihren großen Augen an. Ich wollte sie anlächeln, doch das Lächeln gefror mir im Gesicht.

Durch die veränderte Stellung konnte ich plötzlich ihr linkes Bein sehen, dass sie zuvor verdeckt hatte. Hinten klaffte eine riesige Wunde.

„Oh mein Gott!“

Ich schlug mir eine Hand vor den Mund, als ein Sonnenstrahl darauf fiel.

Das Bein war blutverkrustet, was im Schatten leicht nach Dreck aussehen konnte. Und dennoch war die Wunder noch offen.

Ich packte mein T-Shirt und riss einen Streifen davon ab. Es ging leichter als gedacht, aber das interessierte mich nicht besonders. Schnell presste ich es auf die Wunde.

Das Mädchen zuckte zusammen und schien aufstehen zu wollen, doch ich drückte sie an mich. Sie stieß einen angsterfüllten Laut aus.

„Schhht.“, murmelte ich beruhigend. „Alles ist gut. Lass mich dir nur helfen.“

Mit der zweiten Hand griff ich nach dem Funkgerät. Ich würde so nahe an ihr nicht mit jemanden reden, wenn sie Angst davor hatte, Angst vor der Stimme aus dem Nichts. Also drückte ich nur den Notrufknopf, während ich das Mädchen in meinem Arm hin und her wiegte und ihm beruhigend zuflüsterte.

„Ich werde herausfinden, wer du bist.“, versprach ich ihr leise, obwohl ich wusste, dass sie mich nicht verstand. „Ich werde es herausfinden.“

 

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Publication Date: 07-25-2013

All Rights Reserved

Dedication:
Für meine Familie, die mich - manchmal auch gegen meinen Willen - in alle möglichen Länder verschleppt. Ich liebe euch dafür.

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