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Nur in meinem Kopf


Mein Name ist Matti und ich wohne in Berlin. Ich bin elf Jahre alt und bin gerade in die sechste Klasse gekommen.
Wir sind 18 Schüler in der Klasse.
Das heißt 36 Beine, 144 Finger plus 36 Daumen und 360 Milchzähne.
Woher ich sowas weiß?
Keine Ahnung, ist mir auch egal, ich hab´s einfach mit Zahlen.
Schon immer konnte ich mir Sachen schnell merken und Rechenaufgaben im Kopf lösen.
24 X 367 = 8808, ist doch klar!
Daher ist für mich der Mathe-Unterricht auch so langweilig.
Meine Eltern sagen immer, es fliegt mir zu.
Genauso wie Deutsch. Ich konnte schon vor der Schulzeit Bücher lesen.
Woher ich das konnte?
Keine Ahnung, ich konnte es einfach.
Daher bin ich auch so gut in Rechtschreibung.
Wer viel liest kann gut schreiben.
Es würde mir allerdings nie in den Sinn kommen, mich damit hervorzutun.
Irgendwie erschien mir alles logisch und ich begriff schon immer schnell Zusammenhänge. Ich weiß, in manchen Dingen bin ich ein wenig anders, als meine Mitschüler, aber das interessiert mich nicht.
Wenn die anderen manchmal furchtbar laut sind und durcheinander quatschen stehe ich auf und sage schlimme Worte oder fasse mir zwischen die Beine.
Ich weiß, dass das nicht richtig ist, aber in dem Moment fühlt sich das für mich gut an. Wenn mir im Musikunterricht eine Musik gefällt, muss ich aufstehen, trommeln und tanzen, ich kann nicht dagegen an. Es fühlt sich gut und richtig an.
Mein Mittag zum Beispiel besteht jeden Tag aus zwei Scheiben schönem, weichen Toastbrot. Die Rinde muss ab.
Anschließend wird der Rest in gleichmäßige Stückchen gebrochen und kleine Kugeln daraus geformt.
Jetzt kann ich essen. Das fühlt sich gut und richtig an.
Niemals würde ich diese Regel brechen.
Dazu kommt, ich mag es nicht, wenn mich jemand berührt. Das dürfen nur meine Eltern und ausgesuchte Vertraute. Und überhaupt, nur zu Hause in unserer Burg, so nenne ich unser Haus, fühle ich mich sicher.
Außer im Urlaub. Meine Eltern fahren mit mir, solange ich denken kann, an die Nordsee in ein schönes kleines Ferienhaus. Das fühlt sich gut und richtig an. Wie in unserer Burg. Da bin ich sicher.


Ich bin Anna Sanders und arbeite als Lehrerin in Berlin in einer Integrationsschule. Auf dieser Art Schule werden nichtbehinderte Schüler mit Schülern zusammen unterrichtet, die körperliche oder geistige Einschränkungen haben. Das Ziel ist es, dass behinderte Kinder sich durch die Gruppendynamik gewisse Fertigungen selbst beibringen, welche sie von den Nichtbehinderten abschauen. An dieser Schule arbeite ich nun schon das fünfte Jahr und stellte mich den täglichen Herausforderungen immer wieder mit Freude. Selbst kinderlos geblieben konnte ich hier bisher meine ganze Empathie ausleben und Liebe weitergeben. Wir hatten, wie jedes Jahr, eine Klassenfahrt geplant. Es sollten natürlich alle Schüler mitkommen, so auch unser Matti. Matti genoss in der Schule eine persönliche Rundumbetreuung.
Herr Schiller, examinierter Krankenpfleger mit dem Schwerpunkt Autismus bei Kindern, saß während jeder Schulstunde mit im Klassenraum und wusste die zum Teil stereotypen Verhaltensweisen seines Schützlings in die richtigen Bahnen zu lenken.
Ich muss zugeben, bei solch besonderen Schülern wie Matti interessiert man sich etwas mehr für die Hintergründe seiner Krankheit, auch um entsprechend reagieren zu können, daher bin ich nach intensiver Recherche der Meinung, wir haben es in Matti´s Form des Autismus mit einer so genannten Inselbegabung zu tun. Er ist ein ausgesprochen intelligenter Junge, allerdings nur, wenn er sich für das entsprechende Thema(Insel) interessiert. Dann macht ihm keiner etwas vor. Er ist dann einfach der Beste, aber im Ergebnis absolut teilnahmslos. Er tut sich nicht damit hervor. Soziale Kontakte sind ihm entweder nicht wichtig, oder er konzentriert sich auf eine bestimmte Person.


Jeden Tag begleitet mich in der Schule Tom Schiller durch den Unterricht, daran habe ich mich gewöhnt und deshalb ist das auch gut so. Ich mag es nicht, wenn Sachen sich verändern, das ist für mich unerträglich, alles muss seine Ordnung haben. Zu Anfang konnte ich ihn nicht leiden und ließ ihn das auch wissen, aber jetzt akzeptiere ich meinen Schatten. Er ist o.k..
Nächste Woche soll ich mit den anderen auf Klassenfahrt fahren. Ich will nicht, das ist was Neues und Unbekanntes für mich. Ich hab das auch schon mit Professor besprochen. Professor sitzt neben mir und ist mein einziger wahrer Freund. Professor ist immer dann da, wenn ich ihn brauche. Er riet mir auch dazu, nicht mit auf die Klassenfahrt zu fahren.
Ich lief also in der Pause zu Frau Sanders: Du, Frau Sanders, ich komm nicht mit. Du, Frau Sanders, ich komm nicht mit. Du, Frau Sanders, ich komm nicht mit.


In meinem Musikunterricht ist Matti meist sehr ruhig und in sich gekehrt.
Nur wenn ich Musikbeispiele abspiele, die ihm gefallen.
Da springt er auf und holt sich die erstbeste Trommel, um die Musik zu begleiten und dazu zu tanzen.
Die anderen Schüler waren anfangs sehr irritiert, haben sich aber schnell an den Spaß gewöhnt.
Wenn es darum geht, schriftliche Aufgaben auszuarbeiten, ist er dagegen sehr ungeduldig und verliert recht schnell die Lust.
An schlechten Tagen darf niemand neben ihm sitzen und der Stuhl muss frei bleiben für den Professor. Die anderen Schüler respektieren mittlerweile den leeren Stuhl. Mit dem Professor bespricht er dann auch Probleme. Aus Angst vor so etwas Neuem wie die Klassenfahrt riet ihm der Professor wohl auch, nicht mitfahren zu wollen.


Irgendwie haben sie mich überredet, doch mit zur Klassenfahrt zu fahren. Am ersten Tag war es noch o.k..
Ab dem zweiten Tag wurde es schöner.
Das Projekt mit den Pferden begann.
Das war genau mein Ding!
Ich habe Pferde vorher nie aus der Nähe gesehen und jetzt durfte ich sie sogar anfassen, striegeln und selber drauf reiten!
Das Blöde war nur, dass ich mir das Pferd mit Robert teilen musste.
Ausgerechnet mit dem. Kann ihn nicht leiden.
Den ersten Reit-Tag hatten wir aber nur theoretischen Unterricht. Nancy, unsere Reitlehrerin, erzählte uns alles über Pferde und den Umgang mit ihnen. Das war total interessant und spannend.
Am zweiten Tag durften wir, immer abwechselnd, reiten.
Abends fand ich dann Robert gar nicht mehr so doof.


Mattis Mutter und Tom Schiller haben es gemeinsam dann doch noch erfolgreich geschafft, ihn zur Klassenfahrt zu überreden. Hier war der Junge wie ausgewechselt. Die Arbeit und der Umgang mit den äußerst sensiblen Pferden machte ihm einen riesen Spaß und er freute sich jeden Morgen schon auf den kommenden Tag. Der Umgang mit den Pferden war offensichtlich auch eine gute Therapie für ihn.
Er hat eine sehr enge Bindung zu seinem Pferd aufgebaut und blühte dadurch richtig auf. Leider verrann die Zeit wie im Flug und der letzte Reit-Tag war da. Hier durften die Kinder zeigen, was sie bei diesem Projekt gelernt hatten. Gemeinsam liefen wir mit den aufgeregten Kindern zum Gestüt.


Auf dem Weg zum Reitplatz wurde ich immer nervöser. Ich darf gleich auf meiner Senta reiten.
Mehr wollte ich nicht.
Seit zwei Tagen sind wir ein echt gutes Team, Senta und ich.
Robert ist mein bester Kumpel geworden.
Nancy, die Reitlehrerin, hat mir viel über Pferde beigebracht.
Nun war ich so aufgeregt, dass wir gleich alleine die schwierige Strecke reiten sollten, dass sich meine Hand selbstständig machte.
Ohne es bewusst zu wollen, war meine Hand plötzlich in der Hand von Frau Sanders.
Das war gar nicht so schlimm und fühlte sich sogar ganz gut an.
Ich plapperte los, zeigte ihr mein Pferd und nannte auch die Namen der anderen Pferde. Ich war einfach nur glücklich und aufgeregt.


Etwas, was ich nie erwartet hatte, durchzuckte mich wie ein Blitz.
Eine kleine Kinderhand legte sich in meine Hand.
Es war die Hand von Matti.
Er war doch sonst immer darauf bedacht, jeglichen Körperkontakt zu vermeiden.
Nun wusste ich, wie er sich anfühlt.
Als wäre es das Normalste der Welt lief er neben mir her und erzählte, während seine Finger in meiner Hand vor Aufregung zuckten.


Das Reiten war traumhaft schön. Mein Pferd Senta und ich, wir waren Eins, ich hatte zu ihr absolutes Vertrauen. Während des ganzen Parcours redete ich ihr gut zu und bin mir sicher, dass sie jedes Wort verstand. Es fühlte sich alles gut an.


ENDE

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Publication Date: 08-19-2012

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