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Leseprobe

 

 

 

 

PETER SCHATTSCHNEIDER

 

 

EXTRAPOLATIONEN

- Science Fiction -

Werkausgabe, Band 1

 

Erzählungen

 

 

 

Der Romankiosk

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Vita Peter Schattschneider 

Umfassten die Felder, spürten die Krume, prüften die Maschinen –  

eine Einleitung zum Gesamtwerk von Peter Schattschneider: von Jörg Martin Munsonius 

Vorwort des Autors 

Das wirtschaftlichste aller Systeme 

Banana Streams 

Liebe ist ein Molekül 

Ein Brief aus dem Jenseits 

So bleibt dir die Jugend hold 

Der Flomp 

Hausmacht 

Pflegeleicht! 

Ein traumhafter Erfolg 

Planet der Arbeitslosen 

Unternehmen Glaspalast 

RECHTSBRECHER 

Baustein Null 

Quellen 

Das Buch

 

Peter Schattschneider gehört zu den großen »Unbekannten« in der Schiene der naturwissenschaftlich gefärbten Science Fiction, in seinen Spielformen von der Novelle über die ausgeprägt amerikanische Form der Novella bis zu den kürzeren Erzählungen, die über den großen Teich gern mit dem Etikett der Novellette ausgezeichnet werden. Und bereits in seinem Auftakt verstand er es plastisch, Natur, Technik und Emotionen miteinander zu verweben. 

Extrapolationen enthält dreizehn ausgewählte Erzählungen. 

  Vita Peter Schattschneider

 

 

Peter Schattschneider wurde 1950 in Wien geboren. Er studierte Physik an der Technischen Universität Wien und Lehramt für Physik und Mathematik an der Universität Wien. Nach dem Studium arbeitete er in einem Ingenieurbüro für Luft- und Raumfahrt. 1980 kam er an die TU Wien zurück und baute den Forschungsschwerpunkt Elektronenmikroskopie aus. 1992 wechselte er für zwei Jahre an das Centre Nationale de la Recherche Scientifique in Paris. Forschungsaufenthalte in Europa, USA und Australien. Gastprofessuren in Paris und in Peking. Über 300 wissenschaftliche Artikel und zwei Sachbücher; zahlreiche Science-Fiction Stories und Romane bei Springer, Suhrkamp, Waldgut und heise online.

 

 

 

 

 

  Umfassten die Felder, spürten die Krume, prüften die Maschinen –

eine Einleitung zum Gesamtwerk von Peter Schattschneider:

von Jörg Martin Munsonius

 

 

»...Der alte Daniels deutete auf den Hügel im Westen, dorthin wo Ross 614 am Frühlingshimmel hing... aber jetzt, wo der Alte nach Westen deutete, eine vage Bewegung das Land hinter dem Hügel meinte, glitten unsichtbare Finger der Kraft aus der wächsernen Hülle, umfassten die Felder, spürten die Krume, prüften die Maschinen, und es war wie einst, als die Kraft noch sichtbar gewesen war.« Aus dem Erzählband Zeitstopp, Suhrkamp 1982. 

 

Peter Schattschneider gehört zu den großen »Unbekannten« in der Schiene der naturwissenschaftlich gefärbten SF, in seinen Spielformen von der Novelle über die ausgeprägt amerikanische Form der Novella bis zu den kürzeren Erzählungen, die über den großen Teich gern mit dem Etikett der Novellette ausgezeichnet werden. Und bereits in seinem Auftakt verstand er es plastisch, Natur, Technik und Emotionen miteinander zu verweben.

Der erste Erzählband Zeitstopp, 1982 bei Suhrkamp in der »Phantastischen Bibliothek« von Franz Rottensteiner herausgegeben, zeichnet den Autor aus, am besten umschrieben mit dem Begriff Hard Science, wie er in den Klappentexten der Moewig-Taschenbücher und bei Heyne ab Anfang der 80er Jahre vermehrt auftrat und dann aber als Etikett vorwiegend bei amerikanischer Autoren verwendet wurde.  

Fast möchte man meinen, das Umschlagsbild zur Suhrkamp-Ausgabe ist eine Vorwegnahme des gesamten Werkes von Peter Schattschneider. Thomas Franke, der zwischen 1979 und 1984 der Reihe bei Suhrkamp ihren visuellen Stempel aufdrückte, entwarf das kleinformatige Cover eines Mannes mit Hut und Stock und überkreuzten Beinen zwischen zwei Obelisken. Dieser Mann bleibt gesichtslos, tritt hinter den Inhalten des Bandes zurück. Als hätte Franke ein kongeniales Gespür für die Inhalte und hat diese trefflich ausweisen können... »hier zählt der naturwissenschaftlich fundierte Inhalt, nicht das Brimborium drumherum.« So der Klappentext des damaligen Bandes.

Und wo darf man den 1950 in Wien geborenen Autor literarisch verorten? Er sagt über die Zeit vor und während seiner Adoleszenz:  

In meiner Jugend musste man Karl May lesen, sonst war man im sozialen Out. Abenteuer, Gefahr, Schurken und Edelmenschen – das war schon cool. Aus Neugier habe ich Jahrzehnte später wieder in den Winnetou reingeschnuppert und bin erschrocken; denn das Buch war unlesbar geworden.

Allerdings:   Der Mensch lebt vom Kapital seiner frühen Wahrnehmungen, und so entstand bei mir vermutlich eine Melange, in deren Bodensatz sich Old Shatterhand, Flash Gordon, Nick Knatterton und Donald Duck suhlen. Science-Fiction hieß übrigens Ende der Fünfzigerjahre bei uns utopischer Roman, Hans Dominik war gerade noch als halbseriös geduldet.

Ich habe auch viele tausend Seiten sogenannter Schundliteratur aus der Leihbücherei ums Eck verschlungen – Western, Krimi, SF. Als 1964 H.W. Frankes Storysammlung »Der grüne Komet» in der sensationell avantgardistischen Reihe »Goldmanns Weltraumtaschenbücher» erschien, wusste ich, ich will SF schreiben, und zwar genau so.

Und was bleibt heute vom damaligen Zeitgeist übrig?

Es sind die immer gleichen Menschheitsthemen Liebe, Hass, Macht, Tod, die naturgemäß an zeitgeistiger Umnachtung leiden. Erkennbar wird das erst, wenn der Zeitgeist sich ändert. Die SF macht aus dieser Not eine Tugend, indem sie den Zeitgeist überspitzt – die bösen Aliens überfluten uns nicht zufällig in den 50er Jahren während des kalten Krieges mit der Sowjetunion. Roboter thematisieren die Angst vor der Automatisierung in den 60ern, Cyberpunk nimmt die Probleme der VR vorweg. Und den Allmachtstraum kann man mittels SF ungeniert ausleben, wie wir von und mit Perry Rhodan wissen.

Was bleibt im Werk von Peter Schattschneider unabhängig vom Zeitgeist? Das beantwortet der Autor in zwei knappen Sätzen auf der Suche nach Titeln für sein Gesamtwerk:

Die für mich relevante Science Fiction ermöglicht unabhängig vom Zeitgeist ungewöhnliche, oft überraschende Einsichten.  Extrapolationen und Überzeichnungen sind ein Mittel der Wahrheitsfindung.

Lieber Leser, seien Sie neugierig, freuen Sie sich auf anheimelnde, dunkle Abenteuer in den Wäldern der Fantasie, lösen Sie Ihr unausgesprochenes Leseversprechen vor dem Schlaf ein, oder wie es der amerikanische Dichter Robert Frost formulierte:

 

The woods are lovely, dark, and deep,
But I have promises to keep,
And miles to go before I sleep,
And miles to go before I sleep.

 

Schattschneiders Werk ist über die Jahrzehnte in Österreichischen, Deutschen und Schweizer Verlagen erschienen, verstreut in Sammlungen und Anthologien. Vieles ist nicht mehr oder nur antiquarisch erhältlich. Die Edition Bärenklau wird dieses Ungemach glätten und nach und nach die vollständige Werkschau aller Stories, längeren Erzählungen und Romane des Autors in der Edition präsentieren.

 

- Edition Bärenklau, November 2021

Jörg Munsonius – der Herausgeber 

 

 

 

 

 

  Vorwort des Autors

 

 

Es fällt mir immer schwer, einen Roman oder eine Story einzuordnen, wenn es präziser sein soll als »Science Fiction«. Ist es Hard Science, New Wave, Alternative History, Scenario Writing, Cyberpunk, Zeitreise, Space Opera, ... oder mehr als eines davon? Bei der Suche nach einem Auswahlkriterium für diesen ersten Band meiner SF-Erzählungen habe ich bald gemerkt, dass diese Kategorien nicht hilfreich sind.  

Wenn einem sonst nichts einfällt, hilft oft ein Ausschlussverfahren: Nicht zuviel Physik (für die ich unter Freunden berüchtigt bin), keine virtuellen Welten, nichts allzu Fantastisches. Übriggeblieben ist die hier vorliegende ziemlich heterogene Mischung aus Texten, die ich zwischen 1976 und 1993 verfasst habe. Sie haben trotz höchst unterschiedlicher Szenarien eines gemeinsam: Eine gehörige Portion Gesellschaftskritik. Sie extrapolieren Sozialstrukturen, Verhalten, Ideen, Sehnsüchte oder Erwartungen, welche uns nachdenklich machen sollten –  sei es in Form der Satire wie in Hausmacht, der krassen Überzeichnung wie in Pflegeleicht, des Pastiches wie in Planet der Arbeitslosen, des Pamphlets (Unternehmen Glaspalast) oder der Dystopie wie in Das wirtschaftlichste aller Systeme. 

Extrapolationen soll der Band also heißen – ein Hochrechnen nicht in die Zukunft, sondern in die Überzeichnung als Mittel der Wahrheitsfindung, wie ich andernorts bereits festgestellt habe. Es geht um Themen, die in den fast zwei Jahrzehnten der Niederschrift nichts von ihrer Sprengkraft verloren haben. Insbesondere scheint mir eine Erzählung aus dem Jahr 1982 im Hinblick auf die rasante Entwicklung der Artificial Intelligence wieder höchst aktuell zu sein. (Man beachte, dass intelligence im Englischen auch Informationskontrolle durch  Geheimdienste bedeutet). Deshalb steht Das wirtschaftlichste aller Systeme am Anfang dieses Bandes. Das Cover, das der Verlag mir vorgeschlagen hat, passt übrigens ganz hervorragend zu dieser Geschichte. 

 

- Peter Schattschneider,

November 2021

 

 

 

 

 

  Das wirtschaftlichste aller Systeme

 

 

Leuchtpunkte krochen über den Bildschirm und schrieben die Lebensfunktionen des Patienten, an dessen kahlrasiertem Schädel der Operateur arbeitete. Der Kybernetiker überwachte die Gehirnströme.

»Ein Glück, dass er sich freiwillig entschieden hat«, meinte er.

»Wir hätten ihn schon konditioniert«, entgegnete der Chirurg, während er die Dura mater nach außen stülpte und mit dem Gewebesurrogat der Tankwandung verklebte.

»Natürlich. Immerhin haben wir uns das Psychotraining erspart. Das hätte einen weiteren Ausfall von zwei Wochen bedeutet.«

Der Chirurg war nur an seiner Arbeit interessiert. Er prüfte den Sitz des Kortikalsensors, der zwischen Hinterhauptlappen und Cerebellum fixiert war. 

»Das war’s wohl. Sie können testen.« Er trat zwei Schritte vom Operationstisch zurück und legte das Skalpell zum gebrauchten Besteck, bevor er die Maske abnahm.

Der Kybernetiker tastete seine Anordnungen in die Maschine. LC-Displays meldeten Anzahl, Intensität und Verteilung der an der Hirnrinde abgenommenen Impulse.

»Ganz gut für den Anfang«, stellte er fest.

Der Chirurg nickte anerkennend. »Das ist sogar ausgezeichnet. Ich glaube, er wird ganz gut, wenn er reif ist.«

»Hoffentlich braucht er nicht so lange wie Rita.« Dem Chirurgen war das egal. »Sie können ihn wecken. Wollen sehen, wie der Compiler funktioniert.« Das Weckprogramm schickte die entsprechenden Signale zum Zwischenhirn des Patienten. Er rührte sich, kam langsam aus dem Hypnoschlaf hoch. Träge schlug er die Augen auf. Der Chirurg beugte sich über ihn, den Pupillenreflex prüfend. 

»Wie fühlen Sie sich?«

»Grauenhaft.« Er leckte sich die trockenen Lippen.

»Sie haben es gut überstanden. Bald werden Sie sich besser fühlen«, beruhigte ihn der Arzt. Er prüfte noch den Puls des Patienten – wohl auch nur eine beruhigende Geste, da alle Lebensfunktionen elektronisch überwacht wurden – dann fragte er zur Kontrolle:

»Wie heißen Sie?«

»Karl Sikorsky«, brachte der Frischoperierte mühsam hervor.

»Sie wissen, warum Sie hier sind?«

Sikorsky runzelte die Stirn. »Hmm, Ausbildung. Ich werde umgeschult, oder.«

Der Kybernetiker nickte ihm von der Konsole her aufmunternd zu. »Sie haben sich freiwillig entschlossen?«

»Ja, doch.«

»Was war der Grund für Ihre Entscheidung?«

Der Mann am Operationstisch dachte lange nach.

»Wer kann das schon verstehen«, sagte er schließlich und er sagte es für sich, den Blick nach innen gerichtet. »Das ist eine lange Geschichte.«

»Erzählen Sie«, forderte der Kybernetiker Sikorsky auf und koppelte den Compiler an.

Der Drucker begann zu schreiben. 

 

Es begann im zweiten Jahr meines Studiums. Damals setzte ich noch genug Vertrauen in die Wissenschaft, um mich ernsthaft mit ihr zu beschäftigen. Ich kümmerte mich damals nicht um Ethik, höchstens in den seltenen Momenten der Unsicherheit, wenn plötzlich der moralische Aspekt eines wissenschaftlichen Problems aus dem Dunkel auftauchte, aber selbst dann glaubte ich, dass Forschung ohne Ethik möglich sei. Das war vor der Rezession. 

Natürlich klagten wir über die Almosen, die sie Stipendium nannten; natürlich war uns das Studium zu scharf und die Berufschancen waren uns zu gering. Insgeheim, unter dieser zur Schau getragenen Nörgelei, wussten wir jedoch, dass es uns gutging.

Tatsächlich gab es ja noch kein Spezialisierungsgesetz. Bloß ein Zehntel der Bevölkerung war arbeitslos und konnte mit Leichtigkeit unterstützt werden. Studium und Wahl des Arbeitsplatzes waren frei! Aber wer jammert nicht in guten Zeiten?

Es begann, als ich Rita kennenlernte. Ich war damals gerade in der Mensa, als sie mit ihrem Essenstablett in den Händen vor meinem Tisch stehenblieb und sich ratlos nach einem freien Platz umsah. Sie musste wohl bemerkt haben, dass ich sie anstarrte, denn sie musterte mich skeptisch und nahm nach einer stummen Einladung meinerseits mir gegenüber Platz. Im Laufe des folgenden Gespräches erzählte ich ihr, dass ich Biologie studierte.

»Da sollten wir uns zusammentun«, sagte sie. »Ich mache Kybernetik. Die Verbindung hat große Chancen.«

Sie ahnte damals sicher noch nicht, was auf uns zukam. In der Folge trafen wir uns öfter. Anfangs diskutierten wir bloß. Ich stellte fest, dass Kybernetik und Biologie tatsächlich vieles gemeinsam hatten und dass eine Verbindung der beiden Gebiete sehr fruchtbar sein konnte.

Ich stellte noch etwas fest: dass mir Rita gefiel. Nicht nur ihr Körper, den ich in der Zwischenzeit schon sehr gut kennengelernt hatte – das beruhte von Anfang an auf Gegenseitigkeit, denn Rita war durchaus nicht prüde –, auch ihre Art faszinierte mich. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass wir fast immer verschiedener Meinung waren, wenn es um theoretische Probleme ging. Im Gegenteil, das zog mich nur noch stärker zu ihr hin. 

Wenn man nach einem Streit auch selten behaupten konnte, dass sie recht behalten hatte, blieb bei mir doch immer ein Gefühl des Unbehagens zurück, das den Triumph meiner rhetorischen Überlegenheit zerfließen ließ.

Als Brennpunkt, in dem sich unsere Gegensätzlichkeit vereinigte, kristallisierte sich im Laufe der Zeit ein Themenkreis heraus: die ethische Rechtfertigung der Wissenschaft. Gerade jenes Problem, das mich – damals erkannte ich es zum ersten Mal – schon immer beschäftigt hatte, das ich aber stets verdrängt hatte. 

Dies alles hört sich vielleicht recht sonderbar an. Uns schien es damals ganz natürlich, darüber zu sprechen, denn gerade die Biologie gab dem Menschen ungeahnte Möglichkeiten, sich selbst und seine Umwelt zu verändern. Man begann damals erst damit, die DNS im Zellkern kontrolliert zu modifizieren, und man mochte kaum ahnen, in welcher Weise sich diese Wissenschaft zum Genetic Engineering weiterentwickeln sollte. 

Ich verfolgte begeistert die bahnbrechenden Arbeiten der Biologen, so Porters Entdeckung des mikrotrabekulären Netzwerks in der Zelle, Kulagins Verdoppelung kompatibler Gene, eine Methode, mit der er bekanntlich einen Hund mit acht Beinen züchten konnte, oder die Schröter‘schen Wachstumsversuche an Ratten, die zeigten, dass man jede Körperpartie der Tiere fast beliebig wachsen lassen konnte. 

Für Rita waren diese revolutionären Entdeckungen höchst bedenklich. Sie war davon überzeugt, dass dieser Weg, sollte er weiterbeschritten werden, zu einer Menschheit führen musste, die sich selbst zu Monstren züchtete. Sämtliche Werte und Werturteile würden dadurch auf den Kopf gestellt, das totale Chaos sei die Folge. Sie forderte kategorisch Grenzen für diese Versuche, nämlich nie den Menschen zu modifizieren. Man sollte sich mehr auf die Kybernetik konzentrieren, um das menschliche Gehirn und seine Denkstrukturen verstehen zu lernen. Erst dann sei man vielleicht reif für genetische Änderungen.

Ich hielt ihr entgegen, dass eine Entdeckung dann bevorsteht, wenn die Zeit reif ist, und gab ihr etliche Beispiele dafür, dass ein neues Faktum darauf wartet, entdeckt zu werden, und dass es dann nur des richtigen Mannes – oder mehrerer! – sie zu finden bedürfe: so die Integralrechnung, die unabhängig von Leibniz und Newton entwickelt wurde, so das Konzept des Periodensystems der Elemente, so die Anfänge der Quantentheorie usw. Dies alles zeigt doch, so argumentierte ich, dass die neuen Entdeckungen wie Pilze in einem dichten Wald von Trugschlüssen wachsen und dass es die Sache des Forschers sei, sie zu finden. Waren sie noch nicht aus der Erde, so konnte man sie auch nicht finden. Die Zeit war einfach noch nicht reif.

Nun dürfe man aber von keinem Menschen verlangen, dass er keine Pilze suchen dürfe – genau das fordere sie aber.

Dies war eines jener sophistischen Argumente, zu denen ich immer häufiger Zuflucht nehmen musste. Damals erschien mir das durchaus legal und meistens ließ sie sich auch überzeugen. Aber der Wurm, den sie mir angesetzt hatte, begann bereits an meinen moralischen Scheuklappen zu nagen.

Im Rückblick erscheint mir jene Zeit wie ein von höherer Hand geplantes Präludium. Ich kann nicht glauben, dass all die seltsamen Überschneidungen und Gegensätze unserer Standpunkte, all die unausgesprochenen Befürchtungen Ritas ohne Bezug sind zu dem, was ich heute weiß. Ich bin überzeugt, dass sie damals schon ahnte, was ihr noch bevorstand.

Ich ahnte nichts. Die Zeit war noch nicht reif. Ich musste erst vorbereitet werden für die letzte große Erkenntnis meines Lebens. 

 

Zu Beginn des Sommersemesters übersiedelte Rita mit ihren wenigen Habseligkeiten zu mir. Dies geschah mehr aus praktischen Erwägungen – wir hörten einen Großteil der Vorlesungen gemeinsam und konnten daher zusammen zur Universität und zurück fahren; die Miete für ein Appartement fiel weg; Rita kochte für uns beide und besorgte so ziemlich den Haushalt und schließlich war es angenehm, wenn man beisammen sein wollte – als aus innerer Verbundenheit. Es war keineswegs notwendig, verheiratet zu sein, wenn man zusammenleben wollte. Das hat sich erst in der Rezession geändert, als das Ministerium für Volksmoral gegründet wurde und mit seinen Pseudogesetzen jede menschliche Freiheit beschmutzte. Zu dieser Ansicht bekenne ich mich offen und ich werde, solange es mir während der Ausbildung möglich ist, dabei bleiben, dass die Volksmoral – wenn es eine gibt – nicht aus den Giftspritzen und Weisheiten einiger verklemmter Beamter bestehen kann. Denn gerade an dieser Institution, die uns alle zu gehirn- und geschlechtslosen Lemuren machen will, erkennt man die doppelte Moral der Verantwortlichen: 

Prüderie und Puritanismus für das Volk, grenzenlose Freiheit durch Manipulation des Menschen für den Staat.

Auch dies lässt Ritas Behauptung wie eine Prophezeiung erscheinen, die sich durch ihre Erfüllung negiert. Rita war fest davon überzeugt, dass eine genetische Manipulation des Menschen sämtliche Werturteile auf den Kopf stellen würde. Sie glaubte, eine laszive, verkommene Gesellschaft wäre die Folge. 

Heute wissen wir, dass sie nur zum Teil recht hatte. Die Gesellschaftsordnung ist keineswegs lasziv, sie ist aus dem finsteren Mittelalter auferstanden. Und doch sind alle Werturteile verdreht. Ich wundere mich oft, dass wir nicht schon damals erkannten, was mir heute so naheliegend erscheint: dass eine Einrichtung wie das Ministerium für Volksmoral eine notwendige Konsequenz der genetischen Manipulation sein muss. Die Menschheit muss dafür sorgen, dass die Monstren, die sie züchtet, parieren.

Immer wieder tauchen solche merkwürdigen Beziehungen zwischen Ritas Äußerungen und den herrschenden Verhältnissen auf. Wie Interferenzen dessen, was ich längst vergessen glaubte, und der Wirklichkeit bilden sich neue Aspekte eines Bildes, das ich damals noch nicht erkannt hatte.

Damals, nachdem Rita zu mir gezogen war, begann eine stürmische Entwicklung der Kybernetik, die mich faszinierte. Wir sprachen hauptsächlich über fachliche Probleme und unser Angelpunkt, die ethische Rechtfertigung der Wissenschaft, kam kaum noch aufs Tapet.

Rita erzählte mir oft von den Versuchen, die am Institut durchgeführt wurden. So hatten sie zum Beispiel das Gehirn eines Affen mit einem Computer verbunden, der seine Bewegungen steuern sollte. Einmal war ich bei einer Versuchsreihe dabei. Auf dem Kopf hatte das Tier eine helmartige Halterung, von der aus die haarfeinen Elektroden ins Gehirn stachen. Die Steuersignale wurden drahtlos übermittelt und über eine Antenne, die an dem Helm befestigt war, empfangen. Der kleine Kerl sah aus wie ein zu klein geratener Astronaut, während er an seinem Kletterbaum herumturnte. Als die Signale vom Rechner kamen, stürzte er zur Tafel, nahm ein Stück Kreide und schrieb mit eckigen Bewegungen: »Ich heiße Sam.« 

Dies zeigte mir, dass die Biologie nicht nur aus DNS-Modifikationen bestand, und ich sah ein, dass die Kybernetik in Verbindung mit Biologie Erstaunliches leisten kann. Ich glaubte damals einige Zeit sogar, dass man nur auf diesem Weg zukunftsträchtig sein könne; und ich war nicht der einzige, der daran glaubte: der »Kyborg«, der kybernetische Organismus, war zum Schlagwort geworden. Es sah damals so aus, als wäre die völlige kybernetische Steuerung des Gehirns der Zielpunkt der bereits begonnenen Entwicklung.

Wir wussten damals schon, dass es eine Alternative gab: den organischen Computer. Die Taylor‘schen Hirnstrukturuntersuchungen an Schimpansen hatten gezeigt, dass DNS in einer Weise zu modifizieren war, die es ermöglichte, Speichergröße und Zugriffsgeschwindigkeit zu vervielfachen. 

Aber dieser Begriff des »Orcomp«, des organischen Computers, geisterte nur kurze Zeit in den Fachzeitschriften herum und verschwand dann wieder im Zuge der raschen Entwicklung der Kybernetik.

Ich ahnte nicht, dass hier ein Gespenst, einstweilen noch unter dem Horizont verborgen, seine Schatten bereits auf uns warf.

Der Sommer mit Rita war schön. Wir kamen uns näher denn je und unsere hitzigen Diskussionen hörten auf. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, Klarheit in meine Gefühle ihr gegenüber zu bringen, als dass mich Variationen über Ethik und Wissenschaft interessiert hätten. Seltsam, dass uns gerade das zusammengeführt hatte.

Ich sehe heute ein, dass ich damals zu lange gezögert habe, aber ich konnte wohl nicht anders. All das, worüber wir diskutierten, brauchte eine Zeit der Reifung, bevor es manifest werden konnte. Dieser Konsolidierungsprozess wäre sicher zu einem Ende gekommen und alles wäre anders geworden, hätte uns nicht die Wirtschaftspleite überrannt. 

Gegen Ende der Ferien war mir klargeworden, dass ich Rita liebte.

Im Sommer nämlich hatten wir, um es uns aufzubessern, gejobbt. Sie am Institut für Kybernetik, ich bei einer auswärtigen Firma für Klima- und Heizungstechnik, die sehr gut zahlte. Diese Branche spürte so ziemlich als einzige nichts von der Wirtschaftskrise, weil man mit Energiesparmaßnahmen gerade jetzt gut im Geschäft war. 

Als ich nach zwei Monaten wieder zurückkam, fand ich Rita verändert.

Sie war abweisend, hielt mich auf Distanz und duldete nur aus Pflichtgefühl die früher willkommenen Intimitäten. Meine diesbezüglichen Fragen überging sie mit beiläufigen Bemerkungen. Natürlich wurde ich immer aufdringlicher und aggressiver und sie zog sich immer weiter zurück. Zugleich rückte die Arbeit am Institut in den Brennpunkt ihrer Interessen und ich bemerkte eine ungewöhnliche Zielstrebigkeit an ihr. Man kann sagen, sie sei reifer geworden in diesem Sommer; aber es hatte ihr nicht bekommen. Anfangs hatte ich gedacht, ein Rivale sei die Ursache ihrer Zurückgezogenheit, aber ich zweifelte bald nicht mehr daran, dass sie einfach in ihre Arbeit verliebt war. Das hinderte mich nicht daran, eifersüchtig zu sein.

Was es allerdings war, das sie so faszinierte – darüber schwieg sie sich aus. Einigen ihrer Bemerkungen entnahm ich, dass es sich um dasselbe Thema handelte, das sie den Sommer über betreut hatte: das gesteuerte Wachstum der Hirnrinde bei Primaten. Genaueres wusste ich nicht. 

Es kam, wie es kommen musste. An dem Abend, an dem der endgültige Krach stattfand, erfuhr ich noch, dass die ersten Versuche an Menschen bevorstanden. Es war eine ganz heiße Sache.

Deshalb denke sie daran, so sagte sie, ständig am Institut zu bleiben.

Bald würden Akademiker überhaupt keine Anstellung mehr finden (sie hatte ja recht) und sie müsse alles daransetzen, diesen interessanten Ferialjob in eine Dauerstellung umzuwandeln.

Ich stellte die in solchen Situationen übliche Frage. Sie dachte lange nach, bevor sie antwortete.

»Ja, Karl, ich liebe dich. Gerade deshalb sollten wir uns trennen. Ich habe Angst vor einer ungewissen Zukunft. Ich bitte dich, gib uns ein Jahr Zeit.« 

Zu Beginn des Wintersemesters verließ ich die Stadt und setzte mein Studium in jenem Ort fort, in dem die Klimatechnikfirma zu Hause war. Sollten die Stipendien weiter gekürzt werden, konnte ich hier leichter etwas dazuverdienen als anderswo.

Ich hatte vernünftig entschieden; denn es kam sogar noch schlimmer, als ich vermutet hatte. Sämtliche Zuwendungen an die Universitäten wurden eingestellt und ich war gezwungen, halbtags zu arbeiten. Besser gesagt, musste ich dankbar sein, dass sie mich nahmen. Spätestens jetzt war allen klar, dass die Lage ernst war. Von einem »Gesundschrumpfungsprozess der Wirtschaft«, wie die Politiker der großen Parteien das ausdrückten, konnte keine Rede sein. Fünfzig Prozent Arbeitslose, kein nennenswerter Außenhandel wegen der Schutzzölle, ein Budgetdefizit gigantischen Ausmaßes. 

Kein Wunder, dass bei den Wahlen im Herbst die Neoliberalen mit überwältigender Mehrheit ins Parlament zogen. Ihr radikales Programm hatte in der verzweifelten, hungrigen Bevölkerung gut gewurzelt.

Zunächst säuberten sie das Land von Fremdarbeitern. Dann wurde der Numerus Clausus an den Hochschulen eingeführt. Wer hinter seinem Leistungssoll zurückblieb, musste gehen. Man hatte wieder einmal zwei Sündenböcke gefunden: die Fremden und die Studenten. 

Unter meiner Halbtagsarbeit litt das Studium und nach einem Semester musste auch ich von der Hochschule. Die Wenigen, die es schafften, waren gut und reich oder, wenn sie dazuverdienen mussten, mindestens fleißig und genial. In der Firma war kein Ganztagsjob frei. Ich konnte mich glücklich schätzen, dass sie einen Laien wie mich überhaupt beließen. Ich hielt mich also mit dem knappen Gehalt über Wasser, bildete mich privat weiter, allerdings ohne großes Engagement, las viel und diskutierte mit neuen Freunden, denen es ähnlich ergangen war wie mir. 

Die Neoliberalen begannen nun nach dieser vergleichsweise harmlosen Reform, ihr Programm mit allen Konsequenzen durchzupeitschen. Finanzämter erhielten die richterliche Verfügungsgewalt. Steuerfahnder drangen mit Unterstützung von Parteimiliz in Wohnungen und Büros ein, Verstöße wurden vor Ort im Schnellverfahren geahndet.

Da die Talfahrt der Wirtschaft andauerte, setzte die Regierung eine Expertenkommission ein. Wenige Monate später legte diese dem Parlament einen Gesetzesentwurf vor, der gegen die Stimmen der oppositionellen Minderheit angenommen wurde. Da der Lebensstandard in der Zwischenzeit weiter gesunken war (Konkurse waren an der Tagesordnung, die Inflation galoppierte), begrüßte die Bevölkerung damals das Spezialisierungsgesetz, auf das ich wohl nicht näher einzugehen brauche.

Wie man sieht, hat die Verpflichtung zur Spezialisierung ihren Zweck erfüllt – wir können heute zufrieden sein mit unserer wirtschaftlichen und sozialen Umwelt. Dass dieses Gesetz der Anfang einer Diktatur war, ahnten damals die wenigsten, obwohl es für mich offensichtlich war. Die Einmischung des Staates in einen so persönlichen Bereich wie die Ausbildung musste die Individualität vernichten. Natürlich war man in der damaligen übersättigten, siechen Wirtschaft nur dann lebensfähig, wenn man bis zum Exzess rationalisierte und spezialisierte, und natürlich wussten die Psychologen und Kybernetiker in den Ministerien am besten, welche Ausbildung für einen heranwachsenden Bürger das Optimum war. Die Verpflichtung zur wirtschaftlichen Prosperität hat uns allerdings die geistige Freiheit genommen, wie die weitere Entwicklung zeigte. 

In den folgenden Jahren, als es wieder geordneter zuging – es war dies auch die Zeit, in der das Ministerium für Volksmoral gegründet wurde –, dachte ich oft an Rita. Die Erinnerung an sie war für mich immer ein Trost. Obwohl es mich sehr schmerzte, dass wir uns verloren hatten, war die Trauer nicht so groß, wie man glauben könnte. Ich hatte in der Zwischenzeit gelernt zu verzichten und ich resignierte. 

Nach der Gründung des Ministeriums für Volksmoral wurde ich umgeschult. Die Akademiker waren arbeitslos, weil nur die Besten behalten wurden, um unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse an die neue herrschende Schicht weiterzugeben. Die Forschung war für die meisten von uns zu Ende und Probleme wie Ethik und Wissenschaft, die ich mit Rita diskutiert hatte, schienen für immer ihre Bedeutung verloren zu haben. In Wahrheit staute sich alles nur unter der Oberfläche meines Bewusstseins, geduldig wartend, bis die Zeit reif war. 

Als Heizungstechniker fand ich nach der Umschulung eine neue Beschäftigung. Das war das Höchste, dessen man mich für würdig hielt. Und ich hatte tatsächlich Glück, in der Regel wurden Akademiker ans Fließband gestellt. 

Es gab kaum Möglichkeiten, sich privat und nach Wunsch weiterzubilden oder sich über die Pläne der neuen Regierung zu informieren. Es wurde zwar viel über angebliche Projekte zum Wohle des Volkes propagiert, aber dies war anders gemeint, als wir es auffassten. Wir merkten auch nichts davon: weder an sozialen Einrichtungen noch am Lebensstandard.

Erst mit der Gründung des Ministeriums für Volksmoral begann man zu ahnen, wie es um das »Wohl des Volkes« bestellt war. Das war, als plötzlich überall Bekannte oder Freunde aus nichtigen Gründen in Arbeitslager gesperrt wurden oder manchmal sogar spurlos verschwanden. Man munkelte damals bereits von Experimenten zur genetischen Veränderung an Menschen – die Verschwundenen sollten als Versuchskaninchen dienen –, und wieder tauchte der Begriff des »Orcomp« auf. Organische Computer sollten durch Veränderung der Hirnstruktur gezüchtet werden und die wildesten Gerüchte kursierten. 

Ich empfand, wenn das Thema zur Sprache stand, immer eine merkwürdige Unruhe, so, als bemühte sich eine defekte Alarmglocke irgendwo in meinem Gehirn zu läuten, aber ich konnte dieses unbestimmte Gefühl nirgends unterbringen. Noch sah ich keine Verbindung zwischen der Wirklichkeit und zwischen längst vergessenen Diskussionen über dieses Thema. Nach ein, zwei Jahren dürfte man in den staatlichen Versuchsanstalten über das Experimentierstadium herausgekommen sein. Das erste kuriose Anzeichen dafür war, dass die Weltrekorde sämtlicher Sportarten um Größenklassen überboten wurden. Es hieß offiziell, man habe eine Methode gefunden, durch besondere Auslese- und Trainingsverfahren einzelne Begabungen zu fördern, und man könne hoffen, dass dies bald auch auf anderen Gebieten möglich sei. Das stimmte im Wortlaut, verdrehte aber völlig den Sinn. Die Auslese- und Trainingsverfahren bezogen sich auf die DNS. 

Bald tauchten die ersten Spezialisten auf: Arbeiter, die unempfindlich gegen verschiedene Giftstoffe waren und in chemischen Betrieben eingesetzt wurden. Fließbandarbeiter mit enormer Fingerfertigkeit, Sekretärinnen, die flinker waren als alle ihre Kolleginnen zuvor, Taucher, die tiefer und länger tauchten, als man es je für möglich gehalten hatte... Die Reihe der verspezialisierten Bereiche wurde immer länger.

Spätestens jetzt wurde klar, woher die Spezialisten kamen: aus der Menschenfabrik, wo die Gene zerbrochen, verkittet und so geordnet wurden wie irgendein anderer Werkstoff.

Ich glaube nicht, dass die Wirtschaftsleute seinerzeit, als sie das Spezialisierungsgesetz schufen, diese Entwicklung vorausgesehen haben. Das Genetic Engineering erlaubte es gerade zur rechten Zeit, die Spezialisierung in die Erbanlage hineinzutragen. Wer weiß, was man daraus alles hätte machen können? 

Es zeigen sich auch die ersten Folgen dieser Manipulation: Ein Kastensystem bildete sich zwischen den Facharbeitern und die zwischenmenschlichen Beziehungen veränderten sich langsam, aber stetig. Offenbar waren mit den physischen auch psychische Funktionen manipuliert worden und damit sämtliche Werte der menschlichen Gesellschaft. 

Hier trat das Ministerium für Volksmoral in Aktion. Es hielt das in sich zusammenfallende Gebäude dessen, was wir Kultur nennen, durch rigorose Maßnahmen aufrecht. 

Von Gehirnmutationen hörte man nicht viel. Man munkelte zwar von Versuchen, auch auf psychischem Gebiet Spezialisierte zu züchten – Wissenschaftler etwa, die in ihrem Fach unübertroffen sein sollten –, aber hier gab es offenbar nur Fehlschläge. Jedenfalls drang nichts an die Öffentlichkeit.

Ich weiß heute – und es ist offensichtlich –, dass wir den sozialen Aufschwung, den zweifellos noch steigenden Wohlstand, der sich aus dem Spezialistentum ergibt, mit unserer Menschlichkeit erkauft haben – ein schlechter Tausch, wie mir scheint. Denn wohin hat uns dieser Weg geführt? In ein skurriles Theaterstück, wo die Fließbandarbeiter sieben oder acht Finger, die Nachtwächter Facettenaugen und die Taucher Kiemen haben. Sogar den Prostituierten hat die genetische Spezialisierung Vorteile gebracht, wie man hört. Und all diese Kreaturen unterwerfen sich einer kategorischen Moral, die von einer Handvoll normal gebliebener – und deshalb neurotischer – Beamten postuliert wird. 

Eines gab man schon bald offiziell zu: die Existenz von Orcomps. Man wusste, dass diese mutierten Gehirne mit derselben Präzision und Geschwindigkeit arbeiteten wie Elektronenrechner, darüber hinaus aber weit kompliziertere Probleme bewältigen. Weitere Einzelheiten waren nicht bekannt. Über allem, was mit der Manipulation von Gehirnfunktionen zu tun hatte, lag ein Schleier des Geheimnisses.

Aber diese Überlegungen waren mir damals noch fremd. Ich hatte mich mit meiner Arbeit abgefunden, freute mich über den steigenden Lebensstandard und versuchte im Übrigen das Leben zu genießen, wo immer es möglich war. 

Das Trennungsjahr, das Rita verlangt hatte, war längst um, als ich endlich daran denken konnte, nach ihr zu suchen.

Ein Anruf am Institut für Kybernetik erbrachte, dass man sie dort nicht kannte. Ich besuchte also die alte Universitätsstadt, um persönlich nachzufragen. Am Institut fand ich unbekannte Gesichter, die, wenn ich nach Rita fragte, Befremden darüber zeigten, dass ich als Laie es wagte, sie anzusprechen. Das Kastensystem war bereits etabliert. Ich begehrte einen Termin beim Ordinarius. Selbstverständlich wurde ich nicht vorgelassen, sondern erhielt vom Sekretär die freundliche Empfehlung, mich bei der Evidenzstelle zu erkundigen. Dort war nur zu erfahren, dass Rita mit Inkrafttreten des Spezialisierungsgesetzes umgeschult worden war. Es handelte sich, so sagte man mir, um eine wissenschaftliche Tätigkeit im staatlichen Bereich. Weiteres sei aus Gründen der Geheimhaltung auch der Evidenzstelle nicht bekannt.

In den folgenden Monaten führte ich eine schleppende Korrespondenz mit Einwohnermeldeämtern, Arbeitsvermittlungsstellen und dem Ministerium für Ausbildung und Öffentlichkeitsarbeit, das mir mitteilte, dass Rita nach ihrer Einschulungsphase zum Kybernetiker einem geheimen staatlichen Forschungsprojekt zugeteilt worden war. Weitere Informationen zu diesem Thema seien unter Hinweis auf irgendeinen Paragraphen unstatthaft. Im Übrigen empfahl man mir, mich mehr um meine Arbeit zu kümmern, da meine Leistung durch solche Nachforschungen zweifellos beeinträchtigt werde. 

Nachdem ich auch von den Meldeämtern der umliegenden Gemeinden nichts über Rita erfuhr, stellte ich meine Suche ein.

Der anfängliche Schmerz über den Verlust meiner geliebten Rita war allmählich verschwunden. Wenn ich an sie dachte, hatte ich dasselbe dumpfe Gefühl wie beim Berühren einer längst verheilten Wunde. Ich ahnte nicht, wie bald diese Narbe wieder aufbrechen sollte.

Es war fünf Jahre nach unserer Trennung, als ich den Auftrag erhielt, ein defektes Klimagerät in der alten Universität instand zu setzen. Ich hatte es in der Zwischenzeit in meinem Beruf zu einer gewissen Selbständigkeit gebracht und man traute mir zu, diese Aufgabe allein zu bewältigen. 

So machte ich mich auf den Weg zur Universität, wo ich am späten Nachmittag eintraf. Die hohen, kühlen Korridore, die ich von früher gut kannte, lagen verlassen da. Um diese Zeit war kaum noch jemand an der Arbeit. Ich erkundigte mich bei der Gebäudeverwaltung nach dem defekten Klimagerät. Ja, hieß es, vierter Stock, Institut für industrielle Elektronik. Ich solle gleich hinaufgehen, die Türen seien offen und das Personal wisse Bescheid. Durch die dunklen, ausgestorbenen Gänge, an der Mensa vorbei, die jetzt geschlossen war, näherte ich mich der Stiege. Rechts daneben war der Aufzug, aber spontan entschloss ich mich, zu Fuß zu gehen.

Als ich die breiten, abgetretenen Stufen emporstieg, empfand ich einen Hauch jenes erregenden, längst vergessenen Lebens, als die Zukunft noch uns zu gehören schien. Mit jeder Stufe, die ich nahm, wurde das Gefühl stärker, versetzte mich zurück in die Zeit, als Rita noch wartete.

Erster Stock. Der lange Korridor verlor sich im Dunkel, wo das Echo ein Muster aus vagen Geräuschen wob.

Rita – hier hatte sie gearbeitet. Wenige Schritte entfernt, hinter dieser Tür. Ich starrte dorthin und etwas schnürte mir die Kehle zu. »Institut für organische Kybernetik« stand da.

Es muss wohl außersinnliche Wahrnehmung gewesen sein, die mich dazu bewog, näherzutreten.

Plötzlich wusste ich, dass ich die Tür öffnen wollte. Nicht dass ich erwartete, etwas zu finden, es war ein zielloser Wunsch, ein dumpfes Drängen in mir.

Der Raum hinter der Tür war dämmrig. Trübes Licht von der Decke, das leise Summen elektronischer Geräte. Mechanisch ging ich weiter. Noch eine Tür, dahinter mehr Licht. Rechts ein Schild: Betreten verboten. Ich streckte die Hand nach der Klinke aus. Betreten verboten!

Energisch öffnete ich, trat ein. Magnetbandeinheiten an den Wänden, ein Schnelldrucker, Konsole mit Eingabetastatur und große, summende Kästen, an deren Vorderseite Lämpchen blinkten. Ein Rechenzentrum offenbar.

Aber in der Mitte des Raumes befand sich eine Konstruktion wie ein Operationstisch, darauf eine Gestalt.

Ich trat näher – und erstarrte mitten im Schritt. Die Frau auf dem Tisch: kastanienbraunes Haar, grüne Augen, die Züge gereift, gealtert, aber sie war es – Rita! 

Ich starrte sie an, verstand noch immer nicht und brachte kein Wort hervor. »Was – was tust du hier?«, stammelte ich endlich. Sie sah mich stumm an mit einem Blick, in dem alle Weisheit, alle Qual des Universums lag, bewegte hilflos die Lippen. Dann tastete sie, fast unmerklich, mit der rechten Hand nach einem Schalter und der Schnelldrucker begann zu rattern. Verständnislos sah ich zu, wie das Endlosformular aus der Maschine kam, sah wieder zu Rita hinüber – und mit einem Mal begriff ich. – Orcomp! – zuckte es durch mein Gehirn. Wie ein Keulenschlag die Erkenntnis und es brach sich Bahn, überflutete mein Denken mit all den Dingen, die ich verloren glaubte. 

Innerhalb weniger Minuten dachte ich, empfand ich alles, was ich hier bereits geschildert habe, die Zusammenhänge wurden mir klar, die Verwicklungen, die meinen Weg bestimmt hatten. Wie einen Ariadnefaden sah ich die Spur, die Essenz meines Lebens, die mit Rita begann, durch das Labyrinth meiner Irrtümer führte und hier endete.

Als ich wieder fähig war, vernünftig zu reagieren, las ich am Schnelldrucker, was sie mir zu sagen hatte. Da stand:

ICH HABE AUF DICH GEWARTET, KARL. Es fiel mir schwer, diese Worte, ja das Wesen dort auf dem Tisch, das jetzt Teil eines elektronischen Rechners war, mit Rita in Verbindung zu bringen, dennoch war ich irgendwie erleichtert; sie hatte mich erkannt. Diese Worte konnten nicht von einem Elektronenghirn stammen. Ihre Persönlichkeit war also erhalten geblieben. 

Ich beruhigte mich ein wenig, indem ich mir vorsagte, dass sie einfach einen sehr spezialisierten, unkonventionellen Beruf ausübte. Alles Unbekannte erschreckt einen. Nach Dienstschluss würden wir bei einem gemeinsamen Tee in der Mensa über Ethik und Wissenschaft plaudern. Vielleicht würde sie mich nach Hause einladen und alles wäre wie früher. 

Ich wollte fragen, warum sie nicht selbst sprach, und suchte nach einer geeigneten Formulierung, aber sie schien meine Frage vorauszusehen. Der Drucker begann wieder zu rattern: DIE AUSGABE ERFOLGT NUR ÜBER DEN SCHNELLDRUCKER. 

Ich war erschüttert. War das ein anderer Teil des Rechners, der hier von »Ausgabe« sprach, oder war das noch immer Rita? Ich musste wissen, was los war.

»Wie um alles in der Welt...« Ich stockte, mir der ungeschickten Frage bewusst werdend. 

Geräte summten. Es roch nach Elektronik und Karbol. Rita lag entspannt auf dem hüfthohen Tisch. Vom Fenster fiel Tageslicht durch die Sonnenlamellen und machte ihr Gesicht hell in dem umfassenden Dämmern. Die Hellsichtigkeit des Alters, eine gepeinigte, schreckliche Weisheit, las ich aus ihren Augen, als der Drucker wieder schrieb.

ICH WURDE UMGESCHULT UND AM INSTITUT BELASSEN, DA ICH MIT DEM PROJEKT SCHON VERTRAUT WAR. MEIN GUTES GEDÄCHTNIS IST MIR ZUM VERHÄNGNIS GEWORDEN. ICH BIN ZENTRALEINHEIT UND MEMORY EINES GROSSRECHNERS.

Zentraleinheit und Memory. Was war das für eine Arbeit?

»Wie gefällt dir der Job?«, fragte ich lahm.

Sie lächelte gequält und wieder war diese schreckliche Weisheit in ihren Augen, die aus dem Dunkel strahlten.

ICH WERDE IMMER KLÜGER. ICH BIN HIER UNENTBEHRLICH. MAN GIBT MIR ALLES, WAS ICH BRAUCHE. GENÜGT DAS?

Es genügte mir nicht. »Komm«, schlug ich vor. »Lass uns in die Mensa gehen, wenn du Dienstschluss hast.« 

ES GIBT KEINEN DIENSTSCHLUSS FÜR MICH. SELBST WENN ES IHN GÄBE, WÄRE ICH BEREITS ZU KLUG, UM AUFZUSTEHEN. KARL, ICH BIN  

ERROR DETECTED BY LANGUAGE-COMPILER AT 0673. ILLEGAL INTENTION.

Der Drucker verstummte.

Illegale Absicht? Was war das?

»Ich – ich verstehe nicht«, war alles, was ich hervorbrachte.

ICH KANN DIR NICHT ALLES MITTEILEN, WAS ICH MÖCHTE, ratterte die Ausgabeeinheit. 

Mir wurde klar, dass ich präziser fragen musste. Aber vorerst musste ich wissen, wie lange wir Zeit hatten. »Können wir hier ungestört sprechen?«

JA. ES IST NUR EIN ASSISTENT AM INSTITUT. ER SCHLÄFT UM DIESE ZEIT.

Wenigstens etwas. »Warum kannst du mir nicht sagen, was du möchtest?«, fragte ich. Der Drucker ratterte.

GEWISSE BEREICHE MEINES GEHIRNS SIND GESPERRT. ICH KANN ZWAR DARAN DENKEN, ABER DIE AUSGABE FUNKTIONIERT NICHT. MAN WILL DAMIT VERHINDERN, DASS ICH –  

ERROR DETECTED BY LANGUAGE-COMPILER AT 0681.

ILLEGAL INTENTION.

WARNING: JOB-CONTROL WILL BE ACTIVATED AT THIRD ATTEMPT.

Sie hatten ihr sämtliche Möglichkeiten genommen, sich zu wehren. Sie war noch immer ein Mensch, sich ihrer selbst bewusst, aber ohne Willen. Es war das Furchtbarste, was man jemandem antun konnte. Ich versuchte verzweifelt, mich zu konzentrieren. 

»Rita, ich liebe dich. Du musst etwas Geduld mit mir haben, dann kommen wir schon dahinter«, versuchte ich uns beide zu beruhigen. Wieder der Drucker.

KARL, MEIN LIEBSTER. ICH DENKE OFT AN DICH, DAS IST DAS EINZIGE, WAS MIR GEBLIEBEN IST, DAS EINZIGE, WAS MIR HILFT. ICH WEISS, WAS ICH FÜR DICH FÜHLE, ES TUT MIR SO LEID, ICH KANN ES NICHT AUSDRÜCKEN.

»Rita, du möchtest, dass ich etwas tue?«

»JA.«

»Sag mir, warum ich es tun soll.«

Der Drucker schwieg einige Sekunden, dann rasselte er.

WEIL ICH KEIN MENSCH MEHR BIN.

Da ahnte ich, was sie vorhatte.

»Nein, Rita«, flüsterte ich. »Nein, das darfst du nicht. Verdammt noch mal, ob Dienstschluss oder nicht, wir gehen jetzt spazieren und besprechen die Sache – so gut du kannst.« 

ES GEHT NICHT, KARL. WIE GERN WÜRDE ICH MIT DIR ZUSAMMENLEBEN. ICH HÄTTE ES DAMALS SCHON TUN SOLLEN, ALS NOCH ZEIT WAR. JETZT IST ES ZU SPÄT. SIE HABEN MIR DIE HOFFNUNG GENOMMEN.

»Warum?«, wollte ich wissen. »Was haben sie dir so Schreckliches angetan?«

Sie schloss die Augen, dachte sekundenlang nach.

ICH MUSS VORSICHTIG SEIN, LIEBSTER. BEIM DRITTEN VERSUCH, MICH MITZUTEILEN, WIRD DIE ÜBERWACHUNG MICH VON ALLEN PERIPHEREN AUSGABEEINHEITEN WEGSCHALTEN. DAS DARF ERST DANN GESCHEHEN, WENN DU WEISST, WAS ICH MÖCHTE.

»Okay«, schluckte ich. »Ich will aus deinen Augen lesen.«

ICH HABE ALLES, WAS ICH BRAUCHE. MAN ERNÄHRT MICH, UNTERHÄLT MICH, GIBT MIR DAS GEFÜHL, WICHTIG ZU SEIN. ICH BIN HIER INTEGRIERT. ICH KANN MIR DURCH REIZUNG DES LIMBISCHEN ZENTRUMS IM STAMMHIRN SO OFT UND SO INTENSIV ICH MÖCHTE, LUST VERSCHAFFEN. ABER MIR FEHLT DER PARTNER, LIEBSTER. SEIT WIR UNS VERLOREN HABEN, IST ES NICHT MEHR GESCHEHEN.

In ihre Augen trat ein ungestümes Verlangen.

»Es ist gut«, nickte ich. »Ich liebe dich ja.«

DU LIEBST DAS, WAS ICH EINMAL WAR. WENN DU ERKENNST, WIE ICH MICH VERÄNDERT HABE, WIRST DU MEINEN WUNSCH VERSTEHEN. ES IST GANZ LEICHT. DU BRAUCHST NUR DEN SCHLAUCH MIT DER NÄHRFLÜSSIGKEIT

ERROR DETECTED BY LANGUAGE-COMPILER AT 0682. 

ILLEGAL INTENTION.

JOB-CONTROL IS ACTIVATED.

JOB TERMINATED.

Sie schwieg, musste vielmehr schweigen, da sie ihr die Sprache nahmen, aber jenseits fehlender Worte las ich in ihren Augen dieses Verlangen nach Liebe und Tod.

Mein Blick wanderte zu den Behältern an der Wand, von wo Schläuche zum Kopfende ihres Bettes führten. Ein Griff und es wäre zu Ende. Job terminated. 

Ich wollte es nicht tun, ich wollte ihr sagen, dass ich jetzt für sie sorgen würde, dass wir einen Weg finden würden, sie hier herauszuholen.

Ich trat zu ihr, wollte ihr beruhigend über das Haar streichen, da bemerkte ich, halb hinter den braunen Locken verborgen, zwei Klammern, die sie daran hinderten, den Kopf zu bewegen. Unter ihrem Bett stand ein durchsichtiger, flüssigkeitsgefüllter Behälter, etwa fassgroß, von dem unzählige Drähte zu den Konsolen führten. Ich bückte mich, sah genauer hin. 

Ihr Schädel war trepaniert worden und aus dem offenen Hinterhaupt wucherte eine graue, pulsierende Masse: In der karbolduftenden Flüssigkeit schwamm ein riesiges Gehirn. 

Wir liebten uns auf dem Bett, das ein Teil ihres Körpers geworden war, das sie nicht mehr verlassen konnte, und als es vorbei war, tat ich, was ich tun musste: Ich schaltete ab. 

Genauso war es und ich bereue es nicht. Alles, was ich hier gesagt habe, was ich versucht habe zu sagen, ist Ritas Vermächtnis: die ethische Rechtfertigung meiner Tat.

Ich sehe jetzt klar. Das Bild, von dem sich immer neue Aspekte enthüllten, liegt ohne einen Schatten des Zweifels vor mir. Am Ende meines Weges wartet eine letzte große Entscheidung auf mich.

Mein Entschluss steht fest. 

 

Der Kybernetiker legte den Printout beiseite.

»Was meinen Sie dazu?«, fragte er den Chirurgen.

»Der Kortikalsensor ist es nicht. Es kommt ja alles richtig durch – übrigens erstaunlich ausdruckskräftig für einen Orcomp in der Wachstumsphase.« 

»Das ist okay«, entgegnete der Kybernetiker kopfschüttelnd. »Aber die Blockaden funktionieren nicht. Er hätte einiges gar nicht bringen dürfen. Die staatsfeindlichen und selbstzerstörerischen Passagen zum Beispiel hätte der Compiler erkennen müssen.«

»Sie sind jetzt der Arzt«, scherzte der Chirurg. 

»Na ja, möglicherweise ist er nur falsch adaptiert. Ich werde ihn neu mergen.« Flink huschen die Finger des Wissenschaftlers über die Tasten der Konsole. Sekunden später signalisierte der Flüssigkristall-Bildschirm Bereitschaft.

»So, jetzt werden wir sehen.« Und mit Bedacht den Patienten provozierend: »Was halten Sie eigentlich von unserem Gesellschaftssystem?«

Sikorsky antwortete.

ES HAT RITA VERNICHTET, DIESES WIRTSCHAFTLICHSTE ALLER SYSTEME. UND ES WIRD EUCH ALLESAMT VERNICHTEN, DAS WEISS ICH, UND ES IST MEIN EINZIGER TROST. WENN IHR IN DIE HÖLLE FAHRT, WERDE ICH EUCH MIT FREUDE BEGLEITEN. ES IST GANZ LEICHT. IHR WERDET ZUSEHEN MÜSSEN, WENN ICH 

ERROR DETECTED BY LANGUAGE-COMPILER AT 1606.

ILLEGAL INTENTION.

Der Kybernetiker nickte zufrieden.

 

 

 

 

 

  Banana Streams

 

 

1

 

Banana Streams, die; Mz. (arab.-e.): Im Interstellarraum treibende, eigentümlich verteilte Bruchstücke von Raumflugkörpern. 

 

Der erste authentische Fall von Banana Streams datiert aus dem Jahr 4711 n. S. Ein Frachtschiff mit einer Ladung Exobananen von Castor 3 kam nicht auf Terra an.

Man hätte den Frachter der Liste verschollener Objekte hinzugefügt und niemand hätte sich weiter darum gekümmert, da Exobananen in diesem Jahrzehnt auf Terra kaum nachgefragt wurden – nichts wäre also geschehen, wenn nicht Monate später in einem Souvenirladen auf  Pox 7 einige dehydrierte Exobananen aufgetaucht wären. Da auswärtiges Obst im System Pox wegen des empfindlichen Stoffwechsels der Poxer nicht gehandelt werden darf, ging das  GBl der Sache nach. Man kam dahinter, dass der Ladenbesitzer die Bananen auf einem Spazierflug nach Castor 3 aufgelesen hatte, als Strandgut frei im Raum treibend. Dazu hatte er zwar nach der  Galaktischen Konvention das Recht, aber da es sich bei den Objekten immer noch um Obst handelte – wenn auch die halbmetergroßen, verschrumpelten, steinharten Früchte nach dem Aufenthalt im Vakuum nicht einmal mehr von Poxern verzehrt werden konnten –, hätte er sie nicht in seinen Geschäftsräumen feilbieten dürfen. 

Wie die Sache für den Bedauernswerten ausging, ist nicht überliefert. Das GBl ordnete eine lebensmitteltechnische Untersuchung der Bananen an. Es stellte sich heraus, dass die Objekte vor 1357 Tagen kurz vor der Reife auf Castor 3 geerntet worden sein mussten, biologisch inaktiviert worden waren (vermutlich für einen längeren Transport) und seit 1099 Tagen dem Nulldruck des Raumes ausgesetzt waren. [Bem. des Autors: Hier war die Klugheit und Sorgfalt der Wissenschaftler – in diesem Fall der Lebensmitteltechniker auf Pox – durchaus am Platz, wie sogleich ersichtlich wird.] 

Eine Recherche im Archiv der Galaktischen Handelsbehörde ergab: Vor genau 1098 Tagen hatte der besagte Frachter auf dem Weg von Castor 3 nach Terra das letzte Peilsignal gesendet. Seither fehlte jede Spur. Der Ort, wo dem Schiff etwas zugestoßen sein musste, war von Pox ganze 37,5 Lichtjahre entfernt – das konnten die Bananen unmöglich in 1099 Tagen geschafft haben. Sie mussten Raum oder Zeit übersprungen haben.

Eine ARGE »Bananenfunde«, die sich selbst ins Leben rief, untersuchte den Fall jahrelang. Man fand nach sorgfältiger Suche auf der Strecke Castor-Pox weitere im Raum treibende Bananen und sämtliche Teile des Frachters, alles verbogen, geplatzt und deformiert. Die Funde lagen auf der kürzesten Verbindung der beiden Endpunkte und waren voneinander ziemlich genau jeweils 6,3 Lichtjahre entfernt. Die Bruchstücke trieben alle mit gleicher Geschwindigkeit durch den Raum; ein geordneter Strom von Bananen. Passenderweise nannte man dieses einzigartige Phänomen Banana Streams. 

Der Ausdruck linderte ein wenig die Sorge und Ratlosigkeit der Naturwissenschaftler, die nach vielen tausend Jahren wieder einmal vor einem Rätsel standen.

Zuerst wurde die Erscheinung geleugnet. Dann, als die treibenden Bananen von jedermann besichtigt werden konnten, stellte man die Sache als Aktion eines Witzboldes hin, der die Bananen an den richtigen Stellen ausgesetzt und schließlich den Frachter zur rechten Zeit hatte verschwinden lassen.

Da passierte es wieder. Ein Großraumpassagiergleiter verschwand. Bald darauf fand man das Wrack – in zehn Teilen, die je 6,3 Lichtjahre voneinander entfernt waren und wieder auf einer  Geodätischen lagen. 2718 Passagiere kamen ums Leben. 

Damit war die Witzbold-Hypothese widerlegt. Erste Ansätze einer ernst zu nehmenden Theorie entstanden.

Die Unfälle häuften sich. Bis zur Drucklegung dieser Ausgabe sind 73 Raumschiffe den Banana Streams zum Opfer gefallen, wobei 85.397 Menschen den Tod fanden,  

In den letzten hundert Jahren schufen  Twobone,  C’ngar’nga und  Pao Li die als  TCP-Theorie bekannte Theorie der fünften Wechselwirkung, welche die Banana Streams befriedigend erklärt. [Bem. des Autors: Hier war die Klugheit der Wissenschaftler nicht am Platz, wie sich zeigen wird.] 

 

 

2

 

Hypersophie, die (gr.): Überweisheit. 

 

Kauzig sah er aus, der alte Herr, der im Foyer des Holophoniums auf Einlass wartete. Sakko und Hose aus dunkelgrauem Nadelstreif, zweireihig und tailliert das Sakko, die Hose schlottrig und ausgebeult, mit stumpfen Bügelfalten (woher hätte er auch ein Bügeleisen nehmen sollen?) und zerfransten Stulpen. 

Gleichwohl zeugten die vielen mühevoll applizierten Stopfstellen von der Sorgfalt, die dem Kleidungsstück stets widerfahren sein musste. Natürlich fehlte auch ein Hut nicht. – »Borsalino« hätte ihn ein Zeitgenosse dieses

Imprint

Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Text: Peter Schattschneider/Der Romankiosk. Mit freundlicher Genehmigung der Edition Bärenklau.
Images: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Editing: Dr. Birgit Rehberg.
Proofreading: Dr. Birgit Rehberg.
Layout: Der Romankiosk.
Publication Date: 04-12-2023
ISBN: 978-3-7554-3867-0

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