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Leseprobe

 

 

 

 

ELIZABETH LININGTON

 

 

IRGENDETWAS

STIMMT NICHT

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

IRGENDETWAS STIMMT NICHT 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Das Buch

 

Die Tote ist fünfzehn Jahre alt und schwanger. Todesursache: Überdosis eines Herzmittels...

Das Kind ist erst sechs Monate alt und spurlos verschwunden - am helllichten Mittag, aus dem Garten eines Apartmenthauses...

Eine Gruppe von Halbwüchsigen begeht Ladendiebstähle am laufenden Band...

Ein flüchtiger Mörder läuft Amok...

Dies sind die Fälle, mit denen sich Sergeant Maddox vom Polizeirevier Wilson Street in Los Angeles aktuell herumschlagen muss...

 

Elizabeth Linington (* 11. März 1921 in Aurora Kane, Illinois; † 5. April 1988 in Arroyo Grande, Kalifornien) war eine US-amerikanische Kriminal-Schriftstellerin. 

Irgendetwas stimmt nicht erschien erstmals im Jahr 1967; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1973. 

Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.

 

  IRGENDETWAS STIMMT NICHT

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

»Eine Unverschämtheit!«, schimpfte der dicke Mann empört. »Direkt unter meiner Nase! Ehrlich, ich weiß nicht, was heutzutage in diese Gören gefahren ist!«

Officer Carstairs musterte die beiden Mädchen und wusste ebenfalls nicht recht, was sie von ihnen halten sollte. Dann sagte sie sich, dass sie mit ihren 27 Jahren noch nicht die alte Glucke spielen durfte; über die junge Generation machte man sich doch frühestens im mittleren Alter Gedanken. Aber wenn sie sich diese beiden Dreizehnjährigen so ansah, die da vor Sergeant Daisy Hoffmans Schreibtisch hockten, musste sie doch den Kopf schütteln. Die eine hatte dunkle, die andere mausfarbene Haare. Beide trugen hautenge Stretchhosen, formlose Blusen und lange Jacken. Die Hose und Jacke der Dunklen waren Schlammfarben, die der Maus von einem schmuddeligen Olivengrün. Beiden hingen die Simpelfransen bis auf die Augenbrauen, die fettigen Haarsträhnen bis auf die Schultern herunter, und die Dunkle kaute eifrig an einem Kaugummi.

»Es tut mir leid«, sagte die Maus kleinlaut. »Ich hab so was noch nie getan, ehrlich, und ich tu's auch ganz bestimmt nicht wieder. Ehrlich. Es tut mir leid.« Geräuschvoll begann die Maus zu schluchzen.

»Wollt ihr sie etwa laufenlassen?«, fragte der Dicke, der Lefkowitz hieß. »So ein Balg! Vor meiner Nase klaut sie das Ding – einen Anhänger aus echten Brillanten und Perlen zu 1995! Ich hab diese ewige Klauerei langsam satt, sage ich Ihnen! Ich wette, dass ich in den letzten Monaten für mindestens 500 Dollar Waren verloren habe – durch Ladendiebstahl. Und ich hab nur 'n kleines Geschäft. Was dagegen die Warenhäuser einbüßen – Junge, Junge! Aber wenn diese Gören erst mal damit anfangen...Wollen Sie sie tatsächlich laufenlassen?«

»Ich will’s nie wieder tun!«, schluchzte die Maus.

»Nun, Mr. Lefkowitz«, sagte Sergeant Hoffman, »manchmal wirkt ein ordentlicher Schock beim ersten Versuch Wunder, wissen Sie...«

Sue Carstairs musterte die beiden abermals. Es war natürlich durchaus möglich, dass hier ein allererster Ausrutscher vorlag. Mit dreizehn! Andererseits...

»...und wir wollen keine große Sache daraus machen...Ein so junges Mädchen... Die Ware haben Sie ja zurückbekommen...«

»Aha!«, sagte Lefkowitz verbittert. »Sie wollen sie also doch laufenlassen. Nur weil sie jammert, es tut ihr leid. Kann ich mir auch was für kaufen. Ich geb’ mir Mühe, ertappe sie auf frischer Tat, schleppe sie her, und Sie kommen mir da mit Ihrem blöden Gerede, dass ich das Balg nicht beschimpfen soll, weil es erst zwölf oder dreizehn ist! Verdammt noch mal...«

»Nicht ganz, Mr. Lefkowitz«, entgegnete der Sergeant, ein wenig verärgert. »Äh, würden Sie einen Moment mit mir hinauskommen? Ihr beiden Mädchen wartet hier; ich möchte nachher noch mit euch sprechen, ja?« Die Dunkle kaute immer heftiger auf ihrem Kaugummi herum; die Maus begann noch verzweifelter zu schluchzen. »Ach, übrigens, Sue – der Collins-Bericht ist gerade gekommen. Würdest du den Durchschlag zu Sergeant Maddox hinüberbringen?« Gleich darauf verschwand sie mit Lefkowitz.

Sue suchte den Durchschlag heraus und folgte den beiden in den Flur. Lefkowitz schimpfte immer noch, also würde ihm Sergeant Daisy bestimmt nur mühsam klarmachen können, dass mit einer kleinen, minderjährigen Ladendiebin wirklich nicht sehr viel zu machen war – es sei denn, man stellte sie unter Bewährung, bis sie sich zu einem chronischen Fall entwickelte. Falls sie das tat.

Noch immer nachdenklich, betrat Sue das große Büro, das dem Zimmer Sergeant Hoffmans gegenüberlag. Das Polizeirevier an der Wilcox Street war ein sehr altes Haus, daher wirkte auch dieses Büro ziemlich schäbig und musste dringend gestrichen werden. Vier der zum Revier gehörigen Kriminalbeamten waren da und saßen in für sie charakteristischer Haltung an ihren Schreibtischen. Cesar Rodriguez, adrett und sauber wie gewohnt, tippte gerade einen Bericht, während er hin und wieder leise auf Spanisch fluchte. Der große, magere D'Arcy hatte sich salopp auf seinen Stuhl geflegelt und studierte mit einem finsteren Ausdruck auf dem langen Gesicht die Fotokopien einiger Fahndungsaufnahmen. Die Geißel der Wilcox Street – eine Bezeichnung, die ihm Rodriguez verliehen hatte –, der kleine, ältliche Detective Frank O'Brien, ein ziemlicher Wichtigtuer, lag mehr als er saß, mit zurückgesunkenem Kopf und über dem Bauch gefalteten Händen, an einem gegenüberstehenden Schreibtisch und hielt seinen Mittagsschlaf; er schnarchte gleichmäßig. Sergeant Ivor Maddox hatte sich auf seinem Stuhl bequem zurückgelehnt und beschäftigte sich mit einem Blatt Papier, auf das er Zahlen gekritzelt hatte.

Was hatte dieser Maddox nur eigentlich an sich? Verdammt, dachte Sue Carstairs, soll er zum Teufel gehen! Er war doch nichts weiter als ein magerer, dunkler junger Mann mit blauen Augen, weder besonders groß noch auffallend kräftig: ein pessimistischer, zäher kleiner Walliser. Er hatte seine Krawatte gelockert, dass man unter dem offenstehenden Kragen die dunklen Haare auf seiner Brust sehen konnte.

»...glaube, ich tu’s doch. Neunundzwanzig-fünfzig, 'ne günstige Gelegenheit kostet hier sonst ungefähr 7.300 – erst vier Jahre alt, dreißigtausend Meilen. An dem Frazer-Nash zahle ich mich allmählich dumm und dämlich.« Maddox und seine Autos! Über Frauen brauchte er sich keine Sorgen zu machen; die liefen ihm zu Dutzenden nach. Wozu Officer Carstairs natürlich zu vernünftig war, aber was sollte man tun, wenn er in einem immer nur die Kollegin sah und niemals eine richtige Frau? Die zuverlässige alte Carstairs, dachte Sue ingrimmig.

Und dieser Harvey Woodall hatte sie gestern schon wieder einladen wollen. Nein, danke, so tief war sie noch nicht gesunken.

»Was für 'ne Marke soll das sein?«, fragte D'Arcy.

»Ein Alvis«, antwortete Maddox. »Englisches Fabrikat. Dieses TD-Dreiliter-Coupe der Serie II mit versenkbarem Verdeck. Großartiger Schlitten. Sechszylinder. Dieser hier...Oh, hallo, Sue!«

»Abschlussbericht über die Kindsmisshandlung.« Sue warf ihm den Durchschlag auf den Tisch.

»Hm...«, machte Maddox. »Was soll eigentlich dieses Gejammer und Geheule bei euch da drüben?«

Sue sagte es ihm mit kurzen Worten. »Ich möchte zwar nicht darauf wetten, dass die Kleine wirklich zum ersten Mal gestohlen hat, aber was soll man machen? Sie wissen doch, wie Eltern sind – und Richter. Außerdem liegt der Charakter in dem Alter bereits mehr oder weniger fest.«

»Hm«, machte Maddox abermals. »Nur Geduld. Nach einer Weile wird sie achtzehn und somit Anwärterin fürs Kittchen... Ja, die Ratenzahlungen würden um höchstens fünf Dollar pro Monat steigen, und er fährt sich wirklich fabelhaft.« Er wandte sich wieder seinen Berechnungen zu.

»Was meinen Sie, Ivor«, fragte Sue nachdenklich, »wodurch wird mehr Schaden verursacht – durch echte Bösartigkeit oder durch einfache, schlichte Dummheit?«

»Nanu, was hat Sie denn zu dieser hochgestochenen Überlegung veranlasst?«, fragte D'Arcy mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Der Pfarrer hat darüber gepredigt, als ich gestern in der Kirche war. Ein Tor, ein böser Mensch... Er ist verdorben in seinem Herzen, er sinnt ständig auf Unheil; er sät Zwietracht. Das ist natürlich ein ziemlich strittiger Punkt.«

»Und zu welchem Schluss ist der Herr Pfarrer gekommen?«, fragte Rodriguez, von seiner Schreibmaschine aufsehend.

»Eigentlich zu gar keinem. Nur, dass es heute eine Menge von beidem gibt, vom Bösen und von der Dummheit.«

»Um das festzustellen, brauchten Sie nicht erst zur Kirche zu gehen«, sagte Rodriguez. »Das hätte Ihnen jeder tüchtige Polizist ebenso gut sagen können.«

»Ja, ich weiß«, erwiderte Sue.

»Jedenfalls haben wir vermutlich was Konkretes in diesem Supermarkt-Diebstahl«, sagte D'Arcy. »Die Kassiererin hat gute Augen. Die Zeichnung, die wir nach ihren Angaben angefertigt haben, sieht den Fahndungsfotos ziemlich ähnlich. Der Mann ist ein gewisser Daniel Petty, letztes Jahr aus San Quentin entlassen, bewaffneter Raubüberfall.«

»Na, ist das nicht reizend!«, sagte Maddox. »Jetzt brauchen wir ihn bloß noch zu finden. Haben wir eine Adresse?«

D'Arcy verneinte kleinlaut.

Sergeant Hoffman steckte den blonden Kopf zur Tür herein. »Sue«, rief sie, »wir sollten uns mal in Ruhe mit unseren kleinen Lieblingen unterhalten. Gibst du mir moralische Unterstützung?«

»Nicht sehr gern.« Sue schnitt eine Grimasse, folgte ihr aber hinaus. »Jetzt hat er wieder mal nichts im Kopf als einen neuen Wagen«, stellte sie fest.

»Dieser Maddox...« Mitfühlend schüttelte der Sergeant den Kopf.

Sue seufzte. Seit über einem Jahr war Maddox jetzt in der Wilcox Street, und falls ihm überhaupt jemals – gewissermaßen zum Privatgebrauch – aufgehen würde, dass Officer Carstairs auf ihre bescheidene Art eigentlich ein recht hübsches Mädchen war, und falls er jemals etwas in der Richtung unternehmen würde – dann hätte das eigentlich schon längst passiert sein müssen, sollte man meinen.

»Wirklich ein schöner Wagen«, sinnierte Maddox, der den beiden Polizistinnen zerstreut nachsah. Nettes Mädchen, diese Carstairs – gute Kollegin.

Rodriguez zog die dreifache Ausfertigung seines Berichts aus der Maschine, sortierte das Kohlepapier heraus, heftete die drei Ausfertigungen und steckte sich eine Zigarette an. »Es ist wirklich eine strittige Frage«, meinte er nachdenklich. »Bösartigkeit oder einfache Dummheit. Naja, die Fälle, die zurzeit gerade bei uns anliegen...« Dieser Supermarkt-Überfall: Einfach dumm, nicht mal maskiert, der Kerl, und schon beim ersten Versuch von der Kassiererin mit dem scharfen Blick aus dem Verbrecheralbum herausgesucht. Am Abend zuvor war eine Tankstelle überfallen worden; der Dieb hatte ungefähr hundert Dollar erwischt, aber die Beschreibung, die der Tankwart gegeben hatte, war nur sehr vage. In dem Selbstmordfall vom letzten Freitag war noch ein bisschen Schreibarbeit zu erledigen: ein sehr junges Mädchen, noch auf der High School, vom Freund sitzengelassen. Und den Kerl, der am vergangenen Mittwoch gegen Mitternacht auf dem Sunset Boulevard einen alten Colt .357 aus dem Fenster eines fahrenden Wagens gesteckt und einen Rentner, der mit seinem Hund spazieren ging, erschossen hatte, den suchten sie immer noch. »Bösartigkeit«, sagte Rodriguez. »Hast du gestern Abend in der Zeitung gelesen, dass Pierpont im Krankenhaus liegt und langsam an Krebs eingeht?«

»Wer? Ach so, dieser Pierpont«, antwortete D'Arcy.

»Ja, der. Der seine Ehefrau umgebracht hat. Dreißig Jahre hat er gesessen, vor einem Jahr haben sie ihn entlassen. Ich hab den Kollegen kennengelernt, der ihn verhaftet hat – ist allerdings schon eine Weile her; er ist inzwischen pensioniert. Der sagte mir, Pierpont sei der einzige Mensch, den er für durch und durch böse halte. Tatsache ist«, schloss Rodriguez leise, »dass wir es wesentlich häufiger mit Dummheit zu tun haben.«

»Wie bei dem Supermarkt-Überfall«, bestätigte Maddox. »Haben wir Anhaltspunkte auf diesen Petty, D'Arcy?«

»Die Adressen von ein paar Verwandten.«

»Naja«, meinte Maddox, »wenigstens haben wir schönes Wetter für die Lauferei.« Tatsächlich herrschte in Kalifornien zwischen den beiden Extremen hin und wieder auch mal schönes Wetter. In diesem Jahr war der Januar mild und sonnig, nachdem es bis Weihnachten sintflutartig geregnet hatte. »Vielleicht sollten wir...« Das Haustelefon auf seinem Schreibtisch klingelte. Er nahm den Hörer ab. »Maddox.«

»Ich glaube, wir kriegen Schwierigkeiten«, sagte Sergeant Carter, der unten Dienst hatte.

»Dafür sind wir ja da«, seufzte Maddox. »Was gibt’s denn jetzt wieder?«

»Was Komisches«, antwortete Carter. »Ich hab den Anruf vor ungefähr vierzig, fünfzig Minuten bekommen. Zuerst habe ich Stoner rübergeschickt, aber er verlangte Unterstützung, deswegen haben wir jetzt vier Wagen dort. Nur sieht es jetzt ganz und gar nicht mehr so einfach aus, wie es zuerst aussah, wenn Sie verstehen, was ich meine, und da dachte ich, dass vielleicht ein paar von euch Gehirnakrobaten rüberfahren, den Leuten Fragen stellen und euren kriminalistischen Scharfsinn einsetzen könntet.«

»Wobei?«

»Ein Kind ist verschwunden, ein Baby. Viel Einzelheiten habe ich nicht, nur dass die Funkstreife schon die ganze Umgebung abgesucht, aber nichts gefunden hat. Das Kind kann noch nicht laufen. Es sieht also so aus, als...«

»Mein Gott, da kann doch alles Mögliche...«

»Kann schon, ist aber anscheinend nicht«, sagte Carter. »Zwei Swimmingpools im Block, beide untersucht, beide negativ. Außerdem gründliche Durchsuchung des gesamten Häuserblocks. Aber es muss doch von jemandem gestohlen worden sein, nicht wahr? Ein Baby! Aus dem Kinderwagen heraus. Wie dem auch sei, Stoner rief eben an und sagte, dass die Sache sehr merkwürdig ist und dass ich Sie informieren soll. Vas meinen Sie?«

»Ich weiß noch nicht genug, um mir eine Meinung zu bilden«, antwortete Maddox. »Wo ist die Mutter des Kindes?«

»Ich habe nicht alle Einzelheiten. Es handelt sich um ein Apartmenthaus, drüben in der Romaine Street. Nach dem, was Stoner mir berichtete, lag das Kind in seinem Kinderwagen im Garten, und als die Mutter es holen wollte, war es verschwunden. Das war um etwa 14 Uhr 15.«

»Hm.« Maddox sah auf seine Uhr. Jetzt war es 15 Uhr 25. »Romaine Street... Lohnt sich wohl kaum, die Bundespolizei zu informieren, wie?«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Carter. »Ich will ja auch nicht behaupten, dass es eine Entführung ist – um Himmels willen! Es kann alles Mögliche sein. Ich sage nur, dass es ein Fall für euch Schlauköpfe ist. Oder hätte ich ihn lieber nicht weitergeben sollen? Ich meine, das Kind ist schließlich verschwunden, es scheint keine auf der Hand liegende logische Erklärung dafür zu geben, und die Stadt bezahlt euch doch, um Fragen zu stellen und kluge Schlüsse zu ziehen, Sergeant.«

»Aber natürlich«, antwortete Maddox. »Wie ist die Adresse? Vermutlich gibt es eine ganz einfache Erklärung«, wandte er sich an Rodriguez, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, »aber wir müssen sie eben erst finden. Komm mit.« D'Arcy war am Telefon, vermutlich auf der Jagd nach einem Verwandten von Daniel Petty; er winkte ihnen zu, als sie hinausgingen. O'Brien schnarchte unentwegt weiter. Nun, eines Tages musste er ja in Pension gehen, und dann würde die Belegschaft der Wilcox Street unendlich dankbar sein.

 

Die Romaine Street in diesem Teil Hollywoods war der Abklatsch vieler anderer Straßen der Umgebung, vor allem, seit in den vergangenen zehn Jahren immer mehr kleine Apartmenthäuser errichtet worden waren. Wo früher einmal ausschließlich alte kleine Einfamilienhäuser auf den üblichen 50 x 50 Fuß großen Stadtgrundstücken gestanden hatten, fand man inzwischen ein Durcheinander von alt und neu. Überall hatten die Baufirmen das eine oder das andere der alten kleinen Häuser aufgekauft, abgerissen und an seiner Stelle ein Apartmenthaus mit acht oder sechzehn Wohneinheiten hingestellt, sodass in einem für die Gegend typischen Block jeweils drei bis vier dieser neuen Kästen zwischen den alten Häusern – zum größten Teil Holzbungalows – lagen.

In einem dieser Häuserblocks an der Romaine Street fanden sie die gesuchte Adresse. Erlag nur ungefähr acht Blocks vom Polizeirevier entfernt. An der Ecke stand ein neues, meergrün gestrichenes Apartmenthaus, dann kamen vier kleine alte, verhältnismäßig gut erhaltene Holzhäuser mit breitem Vorgarten, dann wieder ein Apartmenthaus, zwei alte Häuser und schließlich das Catalina House, zu dem sie wollten.

Da man auf jedem Grundstück möglichst viel Wohnungen errichten wollte, waren die Apartmenthäuser dieses Typs gewöhnlich mit der Schmalseite zur Straße gebaut. Das Catalina House nahm zwei Grundstücksparzellen ein und hatte acht Wohnungen; zweistöckig zog es sich von der Straße aus etwa hundert Fuß ins Grundstück hinein, mit einem Parkplatz und Garagen für die Bewohner links, während rechterhand der Eingang für Fußgänger lag. Vorn waren ein paar Büsche, ein bisschen Gras angepflanzt, an der gesamten Länge des grellsafrangelben, stumpfbraun verzierten Gebäudes entlang lief ein Zementweg zu den Apartmenttüren. Vorn und hinten führte je eine Holztreppe zu einem offenen Balkon im ersten Stock hinauf, auf den die vier Türen der oberen Wohnungen mündeten.

Außerdem hatte sich im Augenblick eine kleine Menschenmenge vor dem Gebäude angesammelt, und auch aus den anderen Häusern des Blocks waren Leute herausgekommen, die interessiert hinüberstarrten und sich unterhielten. Ein Stück die Straße hinunter sprach ein großer, uniformierter Mann, das Notizbuch in der Hand, mit einem Mann und einer Frau. Vor dem Apartmenthaus befragten die uniformierten Beamten Stoner und Barker ein paar Leute, die in der Gruppe der Neugierigen standen.

»Hier?« Rodriguez stieg aus dem Frazer-Nash. »Was – nur ungefähr neunzig im Monat? Da kann es sich kaum um eine Entführung handeln.«

»Nein. Aber vielleicht um einen rachsüchtigen Ehemann«, sagte Maddox. »Oder um einen Verrückten. Wenn es kein Unfall war.« Sie näherten sich der Menschengruppe. Rechts ein gewöhnlicher Holzbungalow – dazwischen eine niedrige Mauer aus Betonblöcken. Maddox musterte die Leute interessiert. Gewiss, im Augenblick glaubte er nicht, dass es sich um eine große Sache handelte, doch wenn es eine Eigenschaft gab, die einen Mann veranlasste, Polizist zu werden, dann war es ein nie verlöschendes Interesse an Menschen. Die es ja immer wieder in allen möglichen Ausführungen gab.

Stoner drehte sich erleichtert um. »Gott sei Dank, dass Sie da sind, Sir! Wir haben überall gesucht, und es sieht wirklich merkwürdig aus – ich meine, ein sechs Monate altes Kind kann doch nicht einfach...« Barker unterhielt sich mit einer alten Dame mit klugen Augen. Eine lustige, dicke, jüngere Frau mit gebleichtem Haar sowie magentaroten Lippen und Fingernägeln, die unglücklicherweise eine grellrote Capri-Hose trug, aber anscheinend eine gute Seele war, wie man aus ihrer mitleidigen Miene schließen konnte, hatte den Arm schützend um ein dünnes, dunkles, hübsches Mädchen gelegt, das bitterlich weinte.

»Natürlich versorgen Sie ihn gut, Schätzchen, das wissen wir doch alle, kein Mensch kann sagen, dass Sie das nicht tun, und Sie können bestimmt nichts dafür, wenn...«

Ein älteres Ehepaar, der Mann klein, gebeugt, mit Stock, die Frau mager, mit verkniffenem Mund und missbilligendem Blick, ließ deutlich erkennen, was es dachte: Diese jungen Leute, kein Verantwortungsgefühl, da sind wir anders erzogen worden! Ein Mann von ungefähr dreißig Jahren stand mit unbeteiligter Miene ein wenig abseits und rauchte. Eine andere junge Frau, von knabenhaftem Typus, mit italienischem Haarschnitt und ohne Figur, aber niedlich, plapperte aufgeregt mit einer großen, ruhig wirkenden Blondine von ungefähr vierzig Jahren.

»...kann ich mir einfach nicht vorstellen...«

»Und ein so süßes Baby...«

»...nicht auszudenken, ein Baby einfach allein zu lassen und sich überhaupt nicht darum zu kümmern...«

»...aber sie haben überall gesucht, im ganzen Block, in allen Gärten, es gibt nicht eine Stelle mehr, wo...«

»Sieht wirklich merkwürdig aus«, sagte Stoner zu Maddox. »Was kann da bloß passiert sein? Da muss doch einer das Kind mitgenommen haben. Augenblick mal, ich sehe nach, ob... Mrs. Spencer...« Er löste sie sanft aus dem Arm der gebleichten Blondine. »Mrs. Spencer, das hier sind Kriminalbeamte von unserem Revier. Wenn Sie ihnen noch mal erzählen würden...«

Sie konnte natürlich – wenn überhaupt – nicht sehr klar denken. Man konnte sagen, dass sie nur fühlte. Und da sie ein menschliches Wesen war, zielte wenigstens ein Teil ihrer Gefühle auf eine Rechtfertigung ab. Dass Maddox und Rodriguez vor ihr standen, nahm sie überhaupt nicht richtig wahr. Normalerweise wäre sie eine recht hübsche junge Frau gewesen: langes dunkles Haar, gute Figur in blauem Baumwollhauskleid, helle Haut, große dunkle Augen. Jetzt war sie jedoch nicht vernehmungsfähig, und im Grunde war es vorläufig auch nicht notwendig, sie zu vernehmen.

»Krimi... Kriminalbeamte...«, sagte sie schluchzend. Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Augen. »Aber ich sorge doch wirklich gut für ihn...wirklich! Das können alle bestätigen! Mein goldiger Brian – wirklich! Und die Straße ist doch so ruhig – die Nachbarn sind ruhig – tausendmal habe ich ihn schon in seinem Wagen da draußen stehen lassen – man sieht nicht mehr so viele Kinderwagen, wissen Sie, aber Jims Eltern haben ihn uns geschenkt – ein echter englischer – so verrückt sind die, mit dem Kind, und – oh, mein Gott, was wird Jim sagen...« Ersticktes Schluchzen. »Tausendmal, habe ich dem Polizisten gesagt – es ist doch sicher hier, und ruhig, weil, es ist doch nur die Treppe runter, von unserer Wohnungstür – unser eigener Garten – nicht mal zehn Sekunden von mir entfernt, wenn ich – und ein so schöner Sonnentag, es tut ihm gut, wenn er in der Sonne steht – man kann ihn sehen, so weit von der Straße weg, wir haben 8B, die letzte Wohnung oben, kein Mensch kommt in den Garten, außer den Leuten, die hierher gehören, und weshalb sollte – niemand kann behaupten, dass ich nicht aufpasse, aber ich habe ihn da stehen lassen – vielleicht gar nicht so lange, aber ich hätte, doch nie gedacht, dass...«

»Nur ruhig, Mrs. Spencer«, sagte Maddox. Die Einzelheiten konnte ihm Stoner geben.

»Ich hätte doch nie gedacht, dass ich mir Sorgen machen müsste – ich wollte ihn gar nicht so lange draußen lassen, aber er hat da unten bestimmt schon tausendmal geschlafen und nichts, nichts, nichts...« Abermals schluchzte sie. »Ich hatte den Falschen Hasen für das Essen schon fertig, ich wollte ihn grade reinholen, da klingelte das Telefon, es war Betty, und da haben wir angefangen zu reden – ich wollte ihn gar nicht so lange da draußen lassen, aber niemand kann sagen, dass ich mich nicht genug um ihn kümmere – oh, mein Gott, was wird Jim...«

»Niemand behauptet das, Kleines«, sagte die Blondgebleichte. Der missbilligenden älteren Frau warf sie einen durchbohrenden Blick zu.

Maddox nahm Stoner beiseite. »Wenn Sie mich fragen«, sagte Stoner, »es sieht wirklich komisch aus. Vielleicht ein Verrückter? Denn nach dem, was sie sagte, bevor sie hysterisch wurde, hat sie das Kind gegen zwölf Uhr zum Schlafen rausgestellt – da hinten, neben die Hintertreppe. Stimmt schon, was sie da sagt: absolut sicher, der Platz, sollte man meinen. Sie ist oben, in ihrer Wohnung direkt an der Treppe, und der Kinderwagen steht ein ganzes Stück von der Straße entfernt. Sie stellt ihn an jedem schönen Tag dahin, bis um zwei Uhr oder so. Und soweit wir feststellen konnten, hat niemand etwas gesehen. Aber das Kind ist fort. Und...«

Maddox sah weiter hinten, neben der hinteren Holztreppe zum ersten Stock, einen altmodischen Kinderwagen mit Verdeck. Als Junggeselle waren ihm Babys an sich ziemlich gleichgültig, aber dieser Kinderwagen, fand er, wirkte sehr verlassen. Er rieb sich das Kinn. »Ältere Kinder«, mutmaßte er, »auf dem Heimweg von der Schule? Ein kleines Mädchen, das sich ein echtes, lebendiges Baby nimmt, um damit Puppen zu spielen? Das ist natürlich nur so eine Idee...«

»Sir«, sagte Stoner, »wir haben nachgesehen. Wir haben uns überall erkundigt. Sie hat um 14 Uhr 25 angerufen. Nachdem sie ebenfalls nachgesehen und sich erkundigt hatte und die Nachbarn, die zu Hause waren, ihr beim Suchen geholfen hatten. Diese Blondine da, in der hellroten Hose, wohnt direkt neben ihr. Das alte Ehepaar hat das Apartment unten vorn, und der Mann, der behauptet, Schriftsteller zu sein. Die waren als einzige Zu Hause. Wir haben den Ehemann benachrichtigt – Spencer. Er ist Verkäufer bei einem Grundstücksmakler. Sie haben versprochen, ihn sofort nach Hause zu schicken, wenn er im Büro auftaucht... Naja, ich weiß ja nicht, Sir, aber das Baby muss ungefähr um zwölf Uhr draußen gewesen sein. Die älteren Kinder kommen erst gegen 14 Uhr 30 aus der Schule, nicht wahr? Und ein sechs Monate altes Kind, das noch nicht laufen kann, kann ja auch nicht gut aus dem Wagen gestiegen und, wie möglicherweise ein zwei- bis dreijähriges, einfach davonmarschiert sein – aber wir haben trotzdem gesucht. Vorsichtshalber. Es gibt zwei Swimmingpools im Block. Außerdem haben wir alle Gärten und Garagen abgesucht. Ich meine, wo sonst...«

»Ja«, sagte Maddox. »Schon gut. Habt ihr noch Näheres über den Ehemann erfahren? Verstehen die beiden sich?«

»Ich weiß es nicht, aber ich glaube, da ist nichts«, erwiderte Stoner. »Ich halte sie für ein ganz normales junges Ehepaar.«

»Na also, dann kann man sich ja ausmalen, was da los ist«, sagte Rodriguez. »Ein Verrückter. Oder eine Verrückte, die möglicherweise ihr eigenes Baby verloren hat.«

»Es könnte aber auch eine einfachere Erklärung geben«, meinte Maddox. Denn so etwas kam zwar vor, war aber ungewöhnlich. »Zunächst wollen wir noch mal diesen Block durchkämmen – aber gründlich. Weil ich mir nämlich vorstellen könnte, dass so ein älteres Kind das Baby mitgenommen hat, um damit zu spielen, und es dann einfach irgendwo liegen gelassen...«

»Wir haben doch überall nachgesehen«, protestierte Stoner verzweifelt. »Und es geht jetzt auf vier. Das Kind wäre inzwischen vermutlich längst aufgewacht und würde sich die Lunge aus dem Hals schreien. Müssten wir es dann nicht hören? Wenn es...«

»Seht noch mal nach – vorsichtshalber«, bestimmte Maddox ruhig. »Und dann...«

»Niemand kann behaupten, dass ich das Kind vernachlässige – vollkommen sicher und ruhig hier – ich weiß nicht, wie oft ich...und oh, du mein Gott, was wird Jim sagen...«

Ein alter, zweitüriger Dodge hielt mit kreischenden Bremsen am Straßenrand. Ein stämmiger junger Mann in zerknittertem Straßenanzug und lose fliegender Krawatte stieg aus und rannte auf die kleine Gruppe zu.

»Marcia! Die im Büro haben gesagt, zu Hause ist was passiert. Was ist denn? Das Baby? Was...«

»Also, kein Mensch kann behaupten, dass Ihre Frau sich nicht genug um das Kind kümmert«, trumpfte die Blondgebleichte kampflustig auf.

Marcia Spencer brach stumm auf dem Betonweg zusammen.

»Ich meine ja nur« – Maddox sah zu, wie mehrere Frauen zu Hilfe eilten – »bevor wir ein großes Theater machen und uns einbilden, dass es sich um ein Verbrechen handelt, sollten wir uns vergewissern, ob es nicht doch einfach ein kleines Missverständnis...«

»Wir haben nachgesehen«, beharrte Stoner. »Mein Gott, Sergeant, ein sechs Monate altes Kind...«

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Um diese Jahreszeit war es um fünf Uhr nachmittags bereits stockdunkel. Inzwischen hatten Maddox und Rodriguez alle Einzelheiten gehört, die die uniformierten Beamten in Erfahrung gebracht hatten, der Häuserblock war ein zweites Mal gründlich durchsucht worden, und Maddox musste zugeben, dass es eine einfache Erklärung für diesen Fall nicht gab. Irgendjemand musste den sechs Monate alten Brian Spencer tatsächlich zwischen ungefähr 11 Uhr 50 und 14 Uhr 15 aus seinem Kinderwagen gestohlen haben.

Und der Dieb hatte Glück gehabt, dass er nicht beobachtet worden war. Abgesehen von Mrs. Spencer, die in Begleitung ihres Mannes mit einem Schock ins Krankenhaus gebracht worden war, hatten sich während dieses Zeitraums nur vier weitere Mieter im Haus aufgehalten. Mr. Gilbert Whipstall, der sich als Romanschriftsteller bezeichnete – und zugab, dass noch keines seiner Werke veröffentlicht worden war –, behauptete, draußen nicht das geringste bemerkt zu haben; es hatte zwar irgendwann einmal an seiner Wohnungstür geklingelt, doch da er gerade von seiner Muse geküsst wurde, hatte er nicht geöffnet. Mr. und Mrs. Vedder, das ältere Ehepaar, berichteten, das Haus sei zwar von mehreren Personen betreten worden, doch diese hätten eine Anwesenheitsberechtigung gehabt, und diese Aussage wurde von der gebleichten Blondine Doris Klein bestätigt: Ein Wäschefahrer, der Wäsche abgeholt und geliefert hatte; ein Fuller-Bürstenverkäufer; und der Gärtner, der regelmäßig am Montag für eine Stunde kam, um den Rasenstreifen an der Straßenfront und neben dem Betonfußweg zu mähen, die Büsche zu stutzen und so weiter.

Der Fuller-Bürstenverkäufer hatte an allen Türen im Block geklingelt. Die Zeitangaben jedoch stimmten nicht überein. Die Vedders sagten, der Gärtner sei schon vor elf Uhr wieder gegangen, alle anderen erklärten, er sei bis beinahe zwölf Uhr dageblieben. Den Nachnamen des Gärtners kannte niemand; sein Vorname lautete Joe, und er war Japaner, Koreaner oder so etwas Ähnliches. Einen Hausmeister gab es nicht auf dem Grundstück; aber das Catalina House gehörte einer Investment-Gesellschaft, also konnte man sich dort nach dem Gärtner erkundigen. Nicht alle im Haus hatten natürlich ununterbrochen aus dem Fenster geschaut; die Vedders hielten nach eins immer einen Mittagsschlaf und Doris Klein, eine Strohwitwe mit Schönheitssalon auf dem Sunset Boulevard, die zu Hause geblieben war, weil sie an einer Erkältung laborierte, hatte ebenfalls von 13 Uhr 30 an geschlafen.

Wie es fast immer in solchen Vierteln ist, bestand eine unüberbrückbare Kluft zwischen den Apartmenthaus-Bewohnern und den Alteingesessenen der Bungalows, deren Besitzer sie zumeist auch waren. Die Alten kannten nicht einen einzigen von den Apartmenthaus-Mietern.

Die anderen vier Wohnungen im Catalina House, die während des Tages leer gestanden hatten, gehörten berufstätigen Ehepaaren.

Aber die Polizisten wollten unbedingt mit dem Gärtner sprechen, weil der unter Umständen etwas gesehen haben konnte; sie wollten überhaupt mit jedem sprechen, der beobachtet worden war, wie er das Haus betrat. Den Namen der Wäscherei hatten sie schon, da Mrs. Klein dort ebenso Kundin war wie die Spencers: Circle Laundry Service am Santa Monica Boulevard. Die Fuller-Leute konnten ihnen den Namen ihres Vertreters geben. Aber was, zum Teufel, dachte Maddox, können uns die übrigen sagen? Höchstens noch, dass der Fuller-Bürstenverkäufer auf einmal übergeschnappt sei und das Kind in seinem Musterkoffer mitgenommen habe...

Die Sache war inzwischen natürlich schon über den Rundfunk und das Fernsehen gebracht worden. Baby vermisst. Hat jemand Brian Spencer gesehen? Die Eltern hatten, als sie ins Krankenhaus fuhren, die Wohnung unverschlossen gelassen, daher hatten die Polizisten ein paar Schnappschüsse gefunden, die, wie die Nachbarn bestätigten, das verschwundene Baby zeigten. Die Fotos waren ebenfalls den Nachrichtenleuten übersandt worden. Bei einer derartigen Kindessuche war Publicity von größtem Wert. Nur würde für die meisten Menschen, im Gegensatz zu den Eltern, in deren liebevollen Augen das Baby natürlich einmalig war, ein sechs Monate altes Kind genau wie das andere aussehen.

Der einzige interessante Punkt, auf den sie stießen, war die Frau mit dem großen Hund.

Sie hörten von ihr zuerst durch die blankäugige kleine alte Dame, der Eigentümerin und Bewohnerin des alten Bungalows rechts vom Catalina House. Mrs. Dorothy Hopkins. Mrs. Hopkins – die niemals Mittagsschlaf hielt, wie sie indigniert erklärte – hatte an jenem Mittag um kurz vor zwei Uhr in ihrem Wohnzimmer staubgewischt und dabei die Frau mit dem großen Hund gesehen. Sie hatte sie, wie sie sagte, schon mehrmals zuvor gesehen. Sie musste irgendwo in der Nähe wohnen, nicht unbedingt in diesem Block oder in einem benachbarten, aber in der Nähe, denn sie kam ziemlich oft mit dem Hund vorbei. Wer sie aber war, davon hatte Mrs. Hopkins keine Ahnung.

»Ein riesiger Hund«, berichtete sie. »Sieht richtig gefährlich aus. Und heute hatte sie ihn nicht mal an der Leine. Sie selbst ist auch ziemlich groß, irgendwie männlich. Und diesmal, heute, war der Hund, wie gesagt, nicht an der Leine. Er lief in den Garten des Grundstückes, und sie musste ihn herausholen... Nein, ob sie sofort wieder herausgekommen ist, habe ich nicht gesehen; ich war mit meiner Arbeit fertig und bin wieder in die Küche gegangen – ich hatte einen Kuchen im Backofen... Vielleicht kennt sie jemand von den Leuten nebenan, aber sonst habe ich sie noch nie das Grundstück betreten sehen.«

Inzwischen waren bis auf zwei sämtliche Hausbewohner heimgekommen und leugneten alle, eine männlich wirkende Frau mit großem Hund zu kennen. Bestätigt wurde ihre Existenz dann durch mehrere Personen, die im selben Häuserblock wohnten: Man hatte sie ungefähr zweimal pro Woche vorbeigehen sehen, und immer mit ihrem großen Hund. Der Sohn der Hausbesitzerin an der Ecke, ein Teenager, hatte sie auch heute gesehen, wie sie in Richtung auf den Santa Monica Boulevard ging. »Ich habe sie schon oft gesehen«, sagte der Junge. »Und diesem Köter möchte ich lieber nicht zu nahe kommen. Er ist ein Riesenvieh, wissen Sie, ein Dobermann. Groß und schwarz.«

Auch der Postbote war gegen dreizehn Uhr im Catalina House gewesen.

»Wenn wir nur den Zeitraum näher bestimmen könnten!« Maddox runzelte nachdenklich die Stirn. »Wenn irgendjemand gesehen hätte, dass das Baby zu einer bestimmten Zeit da war oder nicht da war! Zum Teufel, in einem solchen Fall kommt eigentlich bloß eines in Frage: dass es ein Verrückter war. Aber...«

»Aber was für ein Verrückter?«, ergänzte Rodriguez. »Eine Frau, die sich nach ihrem verlorenen Kind sehnt, oder ein Geistesgestörter? Im ersten Fall...«

»Ja«, sagte Maddox. Der Kinderwagen stand immer noch einsam am Fuß der hinteren Holztreppe. Im ersten Fall, wenn das Baby von einer Frau mitgenommen worden war, die sich nach einem Kind sehnte, war es vermutlich in Sicherheit und wurde liebevoll versorgt. Im zweiten Fall...

Für heute hatten sie alles getan, was getan werden konnte. Über Nacht würde sich die Maschinerie in Gang setzen, und morgen konnten sie dann mit allen Personen sprechen, die das Grundstück betreten hatten. Aber was wurde aus der Frau mit dem Hund? Wie sollten sie die aufspüren?

Maddox setzte Rodriguez an der Wilcox Street ab und machte auf der Heimfahrt einen Umweg an der Firma Motor Imports am Sunset Boulevard vorbei; wie er bereits vermutet hatte, war das Geschäft geschlossen; es war schließlich schon nach neun Uhr. Verdammt! Jetzt, da er sich endgültig entschlossen hatte, den Frazer-Nash gegen den Alvis einzutauschen, wollte er den Handel perfekt machen. Eine sehr günstige Gelegenheit, dieser Alvis, und jetzt wurde er ihm vielleicht noch vor der Nase weggeschnappt.

Nun konnte er natürlich auch das Baby aus seinen Gedanken verbannen; vorerst hatten sie alles getan, was getan werden konnte, und deswegen durfte er diesen neuen Fall ruhig bis morgen früh vergessen. Aber nur wenige Polizisten waren so abgebrüht.

Da es sich bei den Spencers um ein ganz normales junges Ehepaar ohne viel Geld handelte, stand zu vermuten, dass sie es mit einer geistesgestörten Frau zu tun hatten, die sich ein Baby wünschte und darum das Kind gestohlen hatte. Aber es gab auch noch andere Möglichkeiten, und keine davon war beruhigend.

 

Als er am Dienstagmorgen um zehn vor acht in die Dienststelle kam, fand er D'Arcy mit finsterer Miene über einer Nachricht, die auf Maddox' Schreibtisch lag. D'Arcy reichte sie ihm, und Maddox warf einen kurzen Blick darauf.

»Ach so!«, sagte er. »Weißt du, D'Arcy, ich glaube, Carter hat recht: deine Zeiteinteilung stimmt nicht. Dick darfst du keine Vorwürfe machen.«

»Dieses Schwein!«, sagte D'Arcy ohne Nachdruck.

Maddox lachte.

Dick Brougham war vor kurzem zufällig im Büro gewesen, als Sandra, D'Arcys jüngste Flamme, hereinkam, während D'Arcy selbst abwesend war; man munkelte, dass sich die Sache zu einer Romanze entwickelte, aber vermutlich hätte D'Arcy ohnehin nichts bei ihr erreicht. Wie Rodriguez ganz richtig sagte, war er nicht der Typ der kleinen, munteren Blondine... Die Nachricht meldete einen anonymen Telefonanruf im Fall Brunner, dem alten Rentner, der seinen Hund spazieren geführt hatte und aus einem vorbeifahrenden Wagen niedergeschossen worden war. Der einzige Hinweis, den sie auf den Täter hatten, kam von den Ballistikern: die Waffe. Der Anrufer hatte ihnen jetzt auch einen Namen dazu geliefert: Bill Hoyt. Und eine Adresse in der Third Street. Mehr nicht. Man würde es überprüfen. Schon mancher Fall hatte aufgrund eines anonymen Tipps gelöst werden können, außerdem konnte man ja nie wissen,

»Dieser Petty – nicht eine Spur«, sagte D'Arcy. »Seine Verwandten haben ihn nicht gesehen. Aber ich habe die Namen von ein paar Kumpels, von denen sind einige noch auf Bewährung, müssten also im Lande sein. Ich möchte sie mir mal vornehmen. Im Tankstellenüberfall haben wir nichts.«

Rodriguez kam, und hinter ihm Sergeant Ellis, der ganz in Gedanken versunken schien. Ellis steckte bis über beide Ohren in der Arbeit: Er versuchte einem ehemaligen Börsenmakler, dessen manipulierte Bücher selbst seine Fähigkeiten auf eine harte Probe stellten, Betrug nachzuweisen. »Ich hätte gern, dass einer von euch noch mal bei einer Befragung dabei ist«, sagte er. »Ivor...«

»Oh nein!«, lehnte Maddox hastig ab. »Wir haben mit dieser Entführung zu tun, George. Die hat Vorrang.« Er reichte Broughams Nachricht an Rodriguez weiter, der sich beim Lesen nachdenklich den Schnurrbart strich.

»Verdammt! Naja, ich werde sehen, ob Feinman...« Ellis verschwand.

»Und mir ist eine andere Idee gekommen«, wandte sich Maddox an Rodriguez. »Denn eine Geistesgestörte, das ist ziemlich unwahrscheinlich, Cesar. ¿Cómo no? Jedenfalls in dieser Kategorie. Oh ja, so etwas kommt natürlich vor, aber... Ich weiß nicht, es klingt verrückt, aber ich mache mir da so meine Gedanken über die Eltern. Über Spencer. Vertragen sie sich? Ist er überzeugt, dass Marcia gut für den Kleinen sorgt? Könnte es vielleicht sein, dass er ihr einen Schrecken einjagen will, damit sie etwas achtsamer wird? Und könnte er vielleicht...«

»Du hast aber eine sehr abwegige Phantasie, compadre«, sagte Rodriguez. »Gewöhnlich ist es doch immer genau das, wonach es im ersten Augenblick aussieht.« Mit einem Seitenblick streifte er seinen Schreibtisch, auf der ein Exemplar des Alfred Hitchcock Mystery Magazine lag. Für Rodriguez, der selbst eine sehr lebhafte Phantasie besaß, und den die Routine unendlich langweilte, waren die komplizierten Verbrechen der Druckerzeugnisse weit unterhaltsamer als die Wirklichkeit, mit der er es ständig zu tun hatte.

»Naja, ich weiß nicht«, lenkte Maddox ein. »Wir müssen eben an alles denken. Vorsichtshalber. Ich dachte, wir könnten Daisy oder Sue zu den Spencers schicken. Mal sehen, was weibliche Intuition ans Tageslicht bringt.«

»Disparate«, sagte Rodriguez. »Du willst vermutlich, dass ich mir diesen Bill Hoyt anschaue.« Er steckte Broughams Zettel in seine Brieftasche.

»Allerdings. Und zwar schnell. Wenn du den Eindruck hast, dass er was damit zu tun hat, häng dich an ihn und verfolge die Sache weiter. Wir wollen diesen X auch haben. Wenn nicht, nimmst du dir den Wäschefahrer, den Gärtner und so weiter vor.«

»Du glaubst doch wohl nicht, dass die uns was erzählen können, wie? Wer immer das Baby gestohlen hat – er hat es ganz bestimmt nicht getan, solange irgendjemand zuschaute. Aber eines«, fuhr Rodriguez fort. »Ich habe den Eindruck, dass derjenige, der das Baby gestohlen hat, möglicherweise ziemlich genau wusste, wie die Dinge im Catalina House laufen.«

»Dieser Gedanke ist mir auch gekommen – ein bisschen spät zwar, aber immerhin«, sagte Maddox trocken. »Es sei denn – und diese Möglichkeit besteht natürlich auch –, dass einfach das Glück nachgeholfen hat. Im anderen Fall könnte er, sie oder es genau gewusst haben, dass die meisten Mieter den ganzen Tag nicht zu Hause sind, dass die Vedders einen Mittagsschlaf halten und dass dieser Schreiberling nichts bemerkt. Das könnte tatsächlich so sein. Aber damit kommen wir auch nicht weiter, Cesar, weil wir nicht wissen, dass es so jemand war. Abgesehen von dem, was uns der Gärtner und die anderen vielleicht noch erzählen. Es kann genauso gut ein glücklicher Zufall gewesen sein. Eine Geistesgestörte sieht den Kinderwagen und lässt sich von einem spontanen Impuls leiten – ausgerechnet in dem Moment, da niemand zusieht, weil Mrs. Spencer am Telefon war, während die Vedders und Doris Klein schliefen.«

»Ja«, bestätigte Rodriguez. »Wie damals, im Osten, als dieses Baby mitten vor einem belebten Supermarkt gestohlen wurde. Man sollte meinen, dass irgendjemand irgendetwas beobachtet hätte, aber es gab nicht den geringsten Anhaltspunkt. Na schön, ich werde mich an die Arbeit machen.«

»Carter ruft die Wäscherei und so weiter an. Bis du diesen Hoyt überprüft hast, haben wir bestimmt schon einige Namen und Adressen.«

Als Rodriguez gegangen war, schlenderte Maddox ins andere Büro hinüber und fand Sue Carstairs an der Schreibmaschine, wo sie einen Bericht für die Jugendbehörde der Stadt tippte: die weiblichen Beamten des Reviers wurden immer für die Jugendlichen-Fälle eingeteilt. Er trug ihr seine Überlegungen im Hinblick auf die Spencers vor.

Sue antwortete, er habe eine kriminelle Phantasie. »Ein scheußlicher Fall«, sagte sie ernst. »Haben Sie schon eine Spur? Und diese arme, arme Frau! Wie sieht’s denn aus?«

»Zehn zu eins, dass es das ist, was derartige Dinge fast immer sind. Es kommt zwar nicht oft vor, aber es kommt vor. Die anomal Veranlagten befassen sich gewöhnlich nicht mit Babys – aber wer weiß?« Maddox zuckte die Achseln. »Wir tun, was wir können, und warten ab. Auf jeden Fall aber fahren Sie rüber und sprechen mit ihnen, hm? Hollywood Hospital. Sehen Sie zu, was Sie davon halten.«

»Na schön, aber ich bin überzeugt, dass das denn doch ein bisschen zu weit hergeholt ist«, sagte Sue.

»Ich möchte aber in einem solchen Fall keinen Aspekt unbeachtet lassen, meine Dame«, entgegnete Maddox.

»Und welchen Aspekt beachten Sie selbst, Sie kluges Köpfchen?«

Maddox grinste. Er mochte die Carstairs. Unter anderem, weil sie so ungefähr das einzige junge weibliche Wesen war, das ihm keine Augen machte und sich ihm bei jeder Begegnung an den Hals warf. Warum diese Weiber das immer wieder taten, wusste er nicht, aber es konnte verdammt peinlich sein, da das Los Angeles Police Department eine überaus moralische Behörde war und strenge Regeln und Vorschriften für ihre Angehörigen aufgestellt hatte. »Mir fällt gerade ein altes Sprichwort ein. Das mit dem einfältigen Jungen und dem verlorengegangenen Pferd. Ich fahre jetzt in die Romaine Street und tue so,

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Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Text: Elizabeth Linington/Signum-Verlag. Published by arrangement with the Estate of Elizabeth Linington.
Images: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Editing: Mina Dörge.
Proofreading: Mina Dörge.
Translation: Gisela Stege (OT: Something Wrong).
Layout: Signum-Verlag.
Publication Date: 03-24-2023
ISBN: 978-3-7554-3679-9

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