Cover

Leseprobe

HENRI LINDLBAUER/

JEANNY JUNGBLUTH

Spiegel zur Vergangenheit

Roman

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

SPIEGEL ZUR VERGANGENHEIT 

Vorwort: Zur Verwendung des Begriffs »Zigeuner« in diesem Roman 

Prolog: Irgendwann vor langer Zeit... 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Das Buch

Ein Grab mit dunklem Geheimnis.  

Ein Ort voller Zeichen und Rätsel.

Eisig glitzert der Frost auf der tiefschwarzen Erde des malerischen Dörfchens Meysemburg – so sah sie es seit ihrer Kindheit, Nacht für Nacht, in ihren Träumen. Doch niemand ahnt, dass die Bewohner des kleinen verschlafenen Ortes ein grausiges Geheimnis bewahren.

Viele Jahre später und nur wenige Schritte entfernt, im dichten Nebel und kaum sichtbar, liegt die verlassene Burg mit all ihren Geheimnissen. Maya Montoya ist überzeugt, dass die Lösung ihrer mysteriösen Träume im lehmigen Boden hier inmitten dichter Wälder begraben liegt und gemeinsam mit Professor Carl Burgman würde sie dem Geheimnis auf die Spur kommen. Die Straße, die durch Meysemburg führt, sieht aus wie viele andere. Vielleicht ein wenig enger und düsterer. Nur wenige Menschen wohnen hier in ihren kleinen Häusern doch sie ahnen nichts von dem schrecklichen Geheimnis der Vergangenheit. Die Mysterien verflossener Jahre werden zur schrecklichen Gegenwart. Längst vergessene Ereignisse erwachen wieder zum Leben. Gemeinsam stellen sich Maya und Carl erneut dem Kampf mit dem Unerklärlichen... 

SPIEGEL ZUR VERGANGENHEIT

 

 

  Vorwort: Zur Verwendung des Begriffs »Zigeuner« in diesem Roman

 

 

Aus spätmittelalterlichen Stadtchroniken und Annalen wissen wir, dass in Südeuropa ethnische Gruppen in Erscheinung traten, welche, unter anderem, »Athinganoi« (Unberührbare) bezeichnet wurden. Von diesem, aus dem Griechischen stammenden, Sammelbegriff leitet sich die Benennung »Zigeuner« ab. Erst in den 1980er Jahren wurde dieser Ausdruck durch »Roma« und »Sinti« ersetzt. Heutzutage ist das Wort »Zigeuner« verpönt und mit abwertenden Klischees behaftet.

In diesem Roman findet diese Bezeichnung oft Verwendung, jedoch keineswegs um die »Sinti« und »Roma« als herabzuwürdigend oder diskriminierend darzustellen. Im Gegenteil! Wir haben allen Respekt vor diesen Leuten, vor ihrer Sprache, ihrer Kultur, und auch vor ihrem in Europa erduldeten Schicksal. Deshalb ist es uns eine Herzenssache, ein respektvolles Andenken an das in Meysemburg verstorbene Volk zu bewahren, indem wir es in unserm teils fiktiven, teils wahrheitsgetreuen Roman Spiegel zur Vergangenheit wieder aufleben lassen.

  Prolog: Irgendwann vor langer Zeit...

 

 

Seitdem die Dunkelheit das Land überschwemmte, war Meysemburg für die Einwohner von Larochette ein Dorf der Toten. Von der Zeit vergessen, lag es seit Jahrhunderten in einem kleinen Tal zwischen den Wäldern, abgeschieden vom Rest der Welt. Obwohl dieser Ort gar nicht so abschreckend aussah, wurde er seit Jahrhunderten gemieden. Vor langer Zeit, so erzählte man, hat sich die Finsternis über das Land gesenkt und der Fluch hatte sich bewahrheitet.

Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – es gab drei für Menschen begreifbare Zeitebenen, doch keine traf auf den Zigeuner Ordan Kiszelly zu. Eine Legende erzählte, Kiszelly stand zwischen den Zeiten. Er durchlebte Gegenwart und Vergangenheit zugleich. Im Jetzt weilten seine Sinne. Er hörte, schmeckte, fühlte, sah. Auch wenn er körperlich zugegen war, befand er sich gleichzeitig als Mensch in der Vergangenheit, einer Epoche, die bereits lange, bevor er geboren wurde, zu existieren aufgehört hatte. Dieses Zeitalter, so behauptete er stets, erlebe er ständig von Neuem, und wenn das Gefühl dieser Zeitebene stärker wurde, fühlte er, wie seine wahre Existenz verschwamm und die Vergangenheit zum Leben erwachte.

Ordan Kiszelly war Anführer einer 16-köpfigen Roma-Familie. Alle waren sie dem Tod geweiht. Die blutige Tragödie hätte nicht schlimmer enden können. Der Albtraum begann an jenem Tag, als ihr Weg sie an dichten Felshängen vorbei hinunter ins Dorf führte. Keiner der Zigeunerfamilie sollte Meysemburg je wieder lebend verlassen. Ein Bildhauer aus Larochette hielt das schreckliche Ereignis für die Nachwelt fest. Jahrhunderte später wurde das Bild als Motiv für den Grabstein der Toten verwendet. Lange weilten die bleichen Gebeine der Vagabunden in ungeweihter Erde nahe der alten Burg am Waldesrand, bis sie 200 Jahre später umgebettet wurden. Seit jenem Tag ruhen auf dem Friedhof von Meysemburg die Überreste der Kiszellys. Man glaubte, mit der Umbettung ihrer Knochen in geweihte Erde dem Fluch, der über dem Dorf lag, ein Ende zu bereiten; doch der Seelenfrieden, für den Meysemburg einst so beliebt war, blieb aus. Nur wenige Einwohner blieben im Ort zurück und der Fluch überlebte die Jahrhunderte, bis er die Gegenwart erreichte.

  Erstes Kapitel

 

 

 

Gegenwart...

 

Als Maya Montoya und Professor Carl Burgman den Wagen äußerst vorsichtig dem Stadtrand entgegen lenkten, hingen über den Dächern von Luxemburg graue Regenwolken. Obwohl noch kein Regen eingesetzt hatte, drohte es ein nasskalter Tag zu werden. Je näher sie jedoch dem Müllerthal kamen, umso freundlicher wurde der Himmel. Die Morgensonne zerriss das graue Himmelstuch und zwang die unfreundlichen Regenwolken, sich zu verabschieden.

Maya lenkte den Wagen über eine kurvenreiche Straße, überquerte einen kleinen Fluss, fuhr an endlosen, von Hecken begrenzten Feldern vorbei, auf denen Kühe grasten, bis hinunter nach Larochette. Von hier aus war es nur noch ein Katzensprung zum Schloss. Die idyllische Landschaft erfreute das Auge und entspannte die Sinne: Jahrhunderte alte Felder die sich an die gewundenen Straßen schmiegten, prachtvolle Bäume die, dicht an dicht, eine undurchdringliche Mauer zu bilden schienen – eine wahre Augenweide! Der Weg führte tiefer in den Wald hinein, wand sich im Halbkreis um einen Felsvorsprung, bevor das Laub der Bäume sich lichtete und Schloss Meysemburg zum ersten Mal in Sicht kam. Idyllisch lag es hoch oben auf dem Felsen, von vielen vergessen, irgendwo zwischen den Ortschaften Angelsberg und Ernzen. Die ganze Fahrt über hatte keiner der beiden ein Wort gesprochen.

»Ein herrliches Stück Land für einen Ort, dem die Vergangenheit auf so tragische Weise zum Verhängnis geworden ist«, brach Professor Burgman die bedrückende Stille.

»Und hier soll es gewesen sein?«, fügte er skeptisch hinzu.

Maya nickte. »Ja, genau hier«, flüsterte sie und wies mit dem Finger auf eine Lichtung am Waldesrand, die etwas unterhalb der Dorfkapelle lag.

Maya fuhr weiter am Schloss vorbei und parkte den Wagen gleich gegenüber dem Friedhofsportal. Sie hatten ihr Ziel erreicht. Vor über 400 Jahren hatte der Burgherr als Warnung für die Lebenden die Zigeunerfamilie Kiszelly hinrichten lassen und genau hier war es gewesen, wo sich den Gerüchten nach alles abgespielt hatte.

Soweit war der Professor informiert, aber er brannte darauf, mehr zu erfahren. Woher, um alles in der Welt, hatte sie all diese Informationen? Sicher, es rankten sich viele Legenden und Gerüchte um das kleine verschlafene Dorf, aber es gab keine offiziellen Niederschriften über den Mord an einer Zigeunerfamilie. Als Maya das erste Mal in seinem Büro auftauchte und ihn um Hilfe bat, hatte sie ihm nicht erzählt, bei welcher Aufgabe genau sie seinen Beistand benötigte. Bisher war sie nur zu oberflächlichen Auskünften bereit gewesen. Burgman war Geschichtsprofessor im Ruhestand und somit eine Koryphäe, was die Geschehnisse des Luxemburger Landes betraf, doch die junge Dame schien weitaus mehr über Meysemburg zu wissen als alle anderen, die er kannte. Wieso benötigte sie gerade seine Unterstützung? Er wusste nichts von einem Zwischenfall wie diesem und doch gab sie vor, ausgerechnet auf seine Hilfe angewiesen zu sein. Carl Burgman hatte sich vorgenommen, Genaueres herauszufinden, noch bevor er den Wagen verließ.

»Es hat mit meiner Arbeit zu tun«, sagte er, als hätte er dies erst jetzt begriffen.

Maya lächelte. »Wie scharfsinnig. Ja, hat es. Aber nicht so, wie Sie es sich vorstellen.«

»Sie machen es ja ziemlich spannend, junge Dame! Wenn Sie wollen, dass ich Sie begleite, sollten Sie schon etwas konkreter werden.«

Maya machte ein verzweifeltes Gesicht und fuchtelte mit den Händen. »Lassen Sie mir noch etwas Zeit Professor; wenn es so weit ist, werde ich Ihnen sagen, wozu ich Ihre Hilfe benötige. Sie waren bereit, mir bei meinem Unternehmen zur Seite zu stehen, und ich versichere Ihnen gänzliche Zuverlässigkeit! Nur, bitte, drängen Sie mich jetzt nicht!«

Burgman betrachtete sie mit einem kühlen Lächeln, doch sein Blick verbarg nicht seine wahren Gefühle. Er fühlte sich zum ersten Mal gänzlich überflüssig. Er hatte noch nie von diesem Vorfall gehört und kannte sich ebenso wenig mit den Zigeunerlegenden aus. Wozu also brauchte sie gerade ihn?

»Sehen Sie mich nicht so an, Professor, ich bedarf Ihrer Hilfe wirklich!«, versicherte Maya. Ermutigend sah sie zu ihm auf. »Mein Ehrenwort!«

Mayas Worte klangen aufrichtig und warm und ihr fordernder Blick machte ihn verlegen. Sie war von schlanker, sportlicher Gestalt und ihre kastanienbraunen Augen schienen ihn zu durchbohren wie glühende Nadeln das Kerzenwachs. Ihr dunkles Haar reichte bis zu den Schultern, was ihr Gesicht noch attraktiver erscheinen ließ. Mayas unwiderstehlicher, verführerischer Eroberungsblick war fest auf ihn gerichtet. Burgman kannte solche Blicke zur Genüge, und gerade weil sich ihre warme Stimme und diese leuchtenden Augen in sein Herz schmeichelten, setzte er sich dagegen zur Wehr. Maya erinnerte ihn an seine Frau. Sie ähnelte ihr sogar sehr und genauso wie sie trug Maya lässige Kleidung, enge Bluejeans und ein kariertes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln.

Der Professor hatte seine Frau und seine Tochter vor einigen Jahren bei einem Autounfall verloren. Das Unglück ereignete sich an einem sonnigen Sommermorgen; sie hatte den Wagen eine leicht abschüssige Straße hinuntergesteuert, als ein Lastwagen sie von der Fahrbahn drängte. Der Aufprall war gering, keiner hätte verletzt werden dürfen, doch das Schicksal hatte es anders gewollt.

»Du darfst dich nicht bewegen«, redete Burgman auf seine Tochter ein, als er sie in seinen Armen hielt.

»Was ist passiert? Bin ich angefahren worden?« Das Sprechen verursachte ein Kratzen im Hals und die Worte kamen nur sehr schwach über ihre Lippen. So viele Gedanken schossen ihm durch den Kopf, aber er brachte es nicht fertig, nur einen einzigen davon in Worte zu fassen. Sie schaute ihn aus schläfrigen Augen an. Ungläubig schüttelte Carl den Kopf. Seine Tochter wusste nicht einmal, was geschehen war. Was sollte er ihr sagen? »Nein, wir hatten einen Unfall, Kleines«, entgegnete er und schüttelte den Kopf, als könne er es immer noch nicht begreifen. »Wo ist Mami?«

»Mami geht es gut, Schatz. Sie ist noch im Wagen, aber es geht ihr gut«, wiederholte er mit Nachdruck in der Stimme, obwohl er sich nicht ganz sicher war, ob das, was er sagte, auch wirklich der Wahrheit entsprach.

»Mir ist so kalt..., ich spüre meine Beine nicht mehr«, entgegnete sie.

Burgmans Augen weiteten sich vor Angst. Er hielt sie fest in seinen Armen. Nicht nur, dass Mara ihre Beine nicht mehr spürte, auch ihre Finger, empfand sie, seien eiskalt. Dabei wurde das Land bereits seit Tagen von einer anhaltenden Hitzewelle überschwemmt. Die Sonne hatte den Zenit noch lange nicht erreicht, und doch flimmerte die warme Morgenluft bereits über dem Asphalt. Die Lufttemperatur lag bereits über 25 Grad. Für Carl fühlte sich ihre Temperatur normal an. Was sollte er nur tun? Auf einmal bereute er es, noch nie einen Erste-Hilfe-Kurs belegt zu haben.

Er nahm ihre Hand und drückte sie ganz sachte. Tränen traten in seine Augen. Jemand musste ihr helfen! Vergeblich schaute er sich nach dem Rettungswagen um. Seit dem Unfall schien bereits eine Ewigkeit vergangen zu sein.

Mara röchelte. Ein Zittern überlief ihren geschwächten Körper. Sie rang nach Luft. Das Atmen fiel ihr von Sekunde zu Sekunde schwerer.

»Du musst jetzt ganz stark sein, hörst du! Du musst wach bleiben, sprich mit mir! Ich höre schon den Krankenwagen«, log er in der Hoffnung, der Notdienst möge endlich eintreffen. Doch alles Reden half nichts, Mara wurde sichtlich schwächer. Auf keinen Fall durfte sie einschlafen, egal wie er es anstellte, er musste sie wach halten. So hilflos war er sich noch nie vorgekommen. »Sprich mit mir«, wiederholte er immer wieder. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Das konnte nicht real sein, er musste eingeschlafen sein und träumte gerade einen fürchterlichen Traum.

Etwas so Schreckliches konnte doch nur anderen passieren.

Dann endlich hörte er Sirenengeheul und eine Ambulanz gefolgt von einem Polizeiwagen kamen mit Blaulicht angerast. Rettungskräfte sprangen aus dem Notfallwagen und auf einmal herrschte große Hektik.

»Bleib ruhig, sie sind da und werden sich gleich um dich kümmern!« In Filmen beschwor man die Verletzten, immer ruhig liegen zu bleiben. Das schien ihm im Moment der beste Ratschlag zu sein.

Zwei Sanitäter standen jetzt unmittelbar neben ihnen.

»So helfen Sie ihr!«, schrie Burgman den Mann vom Rettungsdienst an, der ihm am nächsten stand. »Ihr ist auf einmal so kalt und sie bekommt keine Luft!«

Maras Kopf war dem Boden zugeneigt. Ihr gläserner Blick streifte den Asphalt, als ein Assistent sie aus seinen Armen nahm.

Burgman war total benommen. Irgendwie wirkte seine Tochter jetzt grauer und ihre Haarsträhnen schienen auf einmal ganz staubig zu sein. Ein anderer stöhnte laut auf und ein dritter schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf.

Auf einer Trage trugen sie Mara zur Ambulanz. Ein Polizist stand neben einem Sanitäter und schrieb etwas in sein Notizbuch. Sie sprachen miteinander und der Gesetzeshüter sah zu ihm herüber. Wieder schüttelte der Sanitäter den Kopf und zeigte mit dem Finger in Burgmans Richtung.

Carl überkam ein seltsames Gefühl; redeten die beide über ihn, statt nach den Verletzten zu sehen? Sahen sie denn nicht, wie schlecht es ihnen ging?

‚Spinnt der?‘, fluchte Burgman in Gedanken. Hatte der Polizist nichts Besseres zu tun? Wusste er nicht, dass es hier Verletzte gab, um die sie sich zu kümmern hatten?

Dann fuhr die Ambulanz fort, schleuderte ihre blauen Lichtstreifen über die Straße und eine andere nahm ihren Platz ein.

Ein Sanitäter kam zu ihm herüber, er wollte wissen, wie Burgman sich fühlte und ob er irgendwelche Schmerzen empfände, aber abgesehen vom Schmerz in seinem Herzen ging es ihm gut.

Der Sanitäter nickte. »Sie haben großes Glück gehabt...«

»Glück!? Wie geht es meiner Frau und meiner Tochter?«, unterbrach Burgman den Pfleger. Niemand musste ihm sagen, dass er unverletzt geblieben war.

»Dazu kann ich im Augenblick nichts sagen«, entgegnete er und blickte für einen kurzen Moment zum neu angekommenen Krankenwagen hinüber. Seine Gedanken kreisten um das kleine Mädchen, das sie eben weggebracht hatten. Wie sollte er einem Vater erklären, was gerade geschehen war, wenn dieser es gar nicht wahrhaben wollte?

»Wir werden Ihre Tochter noch untersuchen müssen«, erklärte der Sanitäter, versuchte, umsichtig zu wirken, aber es gelang ihm nicht einmal andeutungsweise, die Augen von der Ambulanz abzuwenden.

Der Professor richtete sich auf. Er spürte, wie seine Beine zu zittern begannen.

»Sie machen gerade Ihre Frau für den Abtransport bereit!«

»Sie lebt«, rief Burgman begeistert. »Meine Frau lebt!« Freudentränen liefen ihm übers Gesicht.

Der Sanitäter nickte.

Burgman senkte seinen Blick zu Boden. Erst jetzt bemerkte er den roten Lackschuh, der direkt zu seinen Füssen lag. Mara musste ihn im Gedränge verloren haben. Burgman bückte sich, um ihn aufzuheben. Sie war aus dem Wagen geschleudert worden und hatte schwach in seinen Armen gelegen.

»Wie geht es meiner Tochter?«, wiederholte er, als hätte er die Antwort darauf nicht verstanden.

Für eine Weile herrschte Stille. Wieder schüttelte der Sanitäter abwehrend den Kopf. Die Antwort auf Burgmans Frage lag in seinem Blick verborgen, aber wie sollte er einem Vater sagen, dass er noch mit seiner Tochter geredet hatte, als diese bereits tot in seinen Armen lag?

Der Mann schüttelte einfühlsam den Kopf. »Das kann ich noch nicht sagen, aber wir werden das gemeinsam herausfinden«, schlug der Sanitäter vor.

Ahnungslos kickte Burgman einen Stein in die Büsche. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Mit dem Handrücken versuchte er sie wegzuwischen. Wie konnte das alles nur passieren? Plötzlich schwankte er und gerade als ihm der Sanitäter mitteilen wollte, dass sie ihn zur Untersuchung mit ins Krankenhaus nehmen müssten, knickten seine Beine weg.

Zwei Tage später erwachte er im Krankenhaus. Doch das Zimmer war leer. Keine Angehörigen, mit denen er reden konnte, keine Krankenpfleger.

Die achtjährige Tochter Mara war noch am Unfallort verstorben. Sie lag da wie im Schlaf, äußere Verletzungen gab es keine, so lautete der Unfallbericht. Im Bericht stand auch ‚Genickbruch‘, verursacht durch die Kollision. Im Protokoll »Fahrerflucht« und »der Schuldige wurde nie gefunden«.

Vom Tod seiner Frau erfuhr er erst später am Abend. Der zweite Schock, weswegen es sich nicht mehr zu leben lohnte. Das Wichtigste war ihm genommen worden. Lange Zeit litt er unter schweren Depressionen, die ihn beinahe zum Selbstmord trieben.

Dieser Tag hatte Carls Leben von Grund auf verändert. Bereits morgens besuchte er den Zentralfriedhof und blieb dort bis spät in die Nacht, aber so oft er auch die Nächte auf Grabsteinen sitzend verbrachte und über das Ende nachdachte, so schwer fiel es ihm, den Friedhof zum Jahrestag zu betreten. Dann dachte er einfach an seinen neuen Kumpel Toni, den Totengräber. Sie hatten sich geschworen, dass sie füreinander da sein wollte, und das war bis heute so geblieben. Toni glaubte zu wissen oder hoffte zumindest, dass es im Jenseits, dort wo sich Mara und seine Frau jetzt befanden, eine bessere Welt gab. Er behauptete immer, dass es den Toten besser gehe als den Lebenden und dass man für die andere Welt gut vorbereitet sein musste. Deshalb zog es sie immer wieder zu den Grabsteinen, dorthin, wo sie in sich gehen und immer wieder nachdenken konnten. Irgendwann würde ihr Weg sie über das Meer der Tränen hinweg führen an einen Ort des Glücks und der Zufriedenheit. Dort wären sie zumindest geistig für immer mit ihren Liebsten vereint. Bis dahin jedoch konnte noch viel geschehen.

Viel Zeit war bereits vergangen, unzählige Jahre verflossen in Kummer und Leid. Carl Burgman war sicher, wenn es noch einen Funken Gerechtigkeit gab und er irgendwann diese Welt aus Irrsinn und Überdruss verlassen würde, würden seine Liebsten am Ende des Tunnels im strahlenden Licht auf ihn warten.

Und jetzt auf einmal, stand diese Frau vor ihm. Carl fand Maya durchaus attraktiv, und wie es aussah, beruhte dies auf Gegenseitigkeit. Sie hatte längst begriffen, wie sehr er sie mochte, dabei verriet sie jedoch mit keiner Miene, dass sie die gleichen Gefühle für ihn hegte, nur ein feines Rot stieg in ihre Wangen. Burgman spürte sehr wohl die magische Anziehung, die zwischen ihnen bestand. Die Chemie war echt, aber für wie lange würde es Bestand haben? Keinesfalls durfte er es zu einer engeren Beziehung kommen lassen. Was würde werden, wenn ihre Zusammenarbeit beendet war? Was, wenn all seine Luftschlösser erneut in sich zusammenstürzten wie ein Kartenhaus. Außerdem war Maya viel zu jung für ihn und irgendwann würde sie bestimmt seiner überdrüssig werden. Ein weiteres Mal würde er ein solch schmerzhaftes Erlebnis nicht verkraften. Als Maya ihre Hand auf die seine legte, war ihr, als könnte sie eine Träne in seinen Augen entdecken. Das Schicksal hatte ihm bereits einmal schlecht mitgespielt, es durfte kein weiteres Mal dazu kommen.

»Nun gut«, nickte er hastig, griff nach seinem Hut, einem dunklen Paletot und einer Tasche mit Unterlagen, die auf dem Rücksitz lag. Bedrückt stieg er aus dem Wagen und verdrängte jeden weiteren Gedanken daran.

Vom nahen Friedhof war deutlich das Rascheln der Blätter zu hören, wenn der Wind damit spielte, so, als wollten die Toten noch eine letzte Botschaft an die Lebenden senden.

Die Zusammenarbeit mit Maya war der erste ‚Job‘, den er seit seinem Ruhestand und dem Tod seiner Frau angenommen hatte. Professor Burgman war 57 Jahre alt und das Haar, das unter dem Hutrand hervorquoll, zeigte bereits die ersten grauen Strähnen. Sein schmales, glattrasiertes Gesicht wies kaum Falten auf, und was an Furchen zu sehen war, mochten Lachfalten vergangener Zeiten sein. Heute waren es eher Sorgenfalten. Ein gedankenvolles Lächeln zog über Mayas Gesicht, als sie die laut quietschende Friedhofspforte öffnete.

Der Gottesacker war gut überschaubar und an neuen Gräbern gab es nur wenige. Dort, wo die alten Gräber begannen, blieb Maya stehen. Wind wehte ihr ins Gesicht und genauso wie der Name auf dem Grabstein stand sie dort wie versteinert und konnte sich kaum rühren.

‚Wenn du den Wind zwischen den Gräbern spürst, ist es, als würde dir der Teufel eine Botschaft ins Ohr raunen.‘ Es waren die Worte der Großmutter gewesen, die Maya so oft gehört hatte. Seit ihrem Tod war diese Stimme leider verstummt. Sie lag auf dem kleinen und ungewöhnlichen Friedhof, der das Ziel der Dreißigjährigen war. Die junge Frau war überzeugt davon, dass die alte Lady nicht gänzlich verschwunden war: Es musste noch etwas von ihr geben. Schließlich hatte sie stets betont, dass von einem Menschen immer etwas zurückbleibt.

Die letzte Ruhestätte ihrer Großmutter wirkte auf sie wie ein eingefrorenes Bild, aber noch seltsamer war das Grab nebenan. Fast bis zur Unleserlichkeit verwittert stand der eingemeißelte Name Kiszelly auf einem bröckeligen Stein und das Motiv des Bildhauers aus Larochette strahlte selbst nach so vielen Jahren etwas Furchterregendes aus.

»Namen haben eine lange Geschichte«, brach Burgman das Schweigen. Sein Ruf hallte über den düsteren Friedhof wie ein aus der Hölle stammender Gesang.

»Viele Ur-Formen haben ihren Ursprung in alten Mythen und Legenden. Von einem Namen wie diesem habe ich bisher nie in dieser Form gehört.« Für ihn konnte er nur falsch geschrieben worden sein, doch Maya wusste es besser. Ihren Nachforschungen zufolge musste die Zigeunerfamilie irgendwo aus Ungarn stammen.

»Ein überaus seltsamer Stein, das muss man schon sagen«, fuhr der Professor fort. Stumm und wie in Trance stand Maya am Grabstein ihrer Großmutter und die Worte des Professors streiften sie, ohne sie wirklich zu erreichen.

Ein seltsamer Geruch zog über den kleinen Friedhof, doch der Professor schien ihn nicht zu bemerken. Den Tod kann man riechen, dachte Maya und atmete tief ein; saugte diesen seltsam angenehmen Geruch in sich auf. Ein süßlich riechendes Parfüm, wie es ihre Oma einst benutzte. Ein Duft von frischer Frühlingsluft, der aber schnell in einen unangenehmeren Geruch überging. Auf einmal roch es nach Verbranntem. Nach kaltem Rauch, nach nasser Erde, die den Gestank von altem, moderndem Fleisch in sich trug. Und es roch nach Blut, das seine Frische längst verloren hatte. Eine unheilvolle Finsternis lag über diesem Ort und dem ganzen Dorf. Bald schon würde sie erneut mit voller Härte zuschlagen und ebenso wie damals alle Hindernisse beseitigen.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Gegen Abend kam der Wind. Er brachte seine Botschaft wie eine letzte Warnung und trug den Geruch von Regen vor sich her. Bald schon würde die Nacht den Tag ablösen. In roten Strahlen warf die Sonne ihr letztes Licht über die Wälder und der alte Maschendrahtzaun, der das Anwesen umgab, glänzte in dessen Schein wie ein dichtes Spinnennetz aus Metall. Jenseits des Zaunes begann die andere Welt; dort lag das Schloss mit all seinen sagenumwobenen Geheimnissen....

Maya und Burgman erreichten den Vordereingang erst, als der Vollmond bereits hinter dem rechten Schlossflügel stand. Heute Nacht würde der Erdtrabant sich als schaurig schönes Himmelsspektakel präsentieren. Bevor der Morgen graute, sollte er in den Kernschatten der Erde tauchen und als Blutmond seinen Glanz in rötlich sanftem Schein zur Erde schicken. Ein eher seltenes Schauspiel und es schien, als habe Maya mit Bedacht diese Nacht gewählt.

Das fahle Mondlicht ließ das Anwesen wie einen Schattenriss mit Giebeln, Türmchen und Erkern erscheinen. Von dem schmiedeeisernen Zaun, der einst die Nebengebäude umgab, war kaum noch etwas zu sehen.

Die Leute von Larochette beschwerten sich häufig über den ‚Schandfleck‘ in ihrer Gemeinde. Eigentlich gehörte das Schloss abgerissen, aber der letzte Eigentümer hatte nie mit sich reden lassen. Stattdessen ließ er kleinere Renovierungen vornehmen und ließ über dies hinaus sogar einen hauseigenen Generator aufrichten, der das ganze Anwesen mit Strom versorgte.

Die Zeit verging, und irgendwann verschwand auch der letzte Besitzer spurlos. Seitdem hatte sich niemand mehr um das Anwesen gesorgt.

Bei näherem Hinsehen machte es einen wirklich verwahrlosten Eindruck, aber nicht so sehr, dass keine andere Wahl blieb, als es niederzureißen. Einer der beiden Schornsteine des Hauptgebäudes musste einem Sturm zum Opfer gefallen sein. Die Farbe blätterte in langen Bahnen von Windläden und Türen ab und das Dach der nahe gelegenen Stallungen war längst in sich zusammengebrochen. In Professor Burgmans Augen kein Grund für einen Abriss. Für ihn galt es eher, ein qualifiziertes Bauunternehmen zu finden, das der Herausforderung gewachsen war, die Räumlichkeiten wieder bewohnbar zu machen.

Als Maya ihn anheuerte, wusste sie genau, womit sie ihn ködern musste. Sie erzählte ihm, dass für den Bau der alten Burg Steinblöcke aus einem ehemaligen Steinbruch benutzt worden waren, dessen Geheimgänge sich heute noch irgendwo in den Tiefen des alten Gemäuers befanden. Einer Überlieferung zufolge existierte irgendwo in den Kellergewölben ein geheimer Schacht, der zu den verschollenen Katakomben führte. Man erzählte aber auch, dass beim Bau des neuen Palastes jener Gang zugemauert oder der Weg dorthin verschüttet worden war. Maya vermutete, dass lange bevor der heutige Friedhof angelegt wurde, die Katakomben als Beinhaus für die Gerippe der Toten genutzt wurde. Wenn das stimmte, musste sich dieses unterirdische Ossarium noch irgendwo in den Tiefen weit unter den Kellergewölben befinden. Womöglich führte sogar noch ein geheimer Weg durch die Krypta der Kapelle in diese unterirdischen Gefilde. Aber das war Spekulation. Bisher gab es für Burgman keinen Grund, an ihren Worten zu zweifeln. Wenn es so war, lieferte der Untergrund der einstigen Burg nicht nur die Felsbrocken für den Bau, sondern beherbergte zudem noch den ältesten, verschollenen Friedhof von ganz Luxemburg.

Bis zum Abend hatten sie die Zeit damit verbracht, das Dorf und die nähere Umgebung zu durchstreifen. Dabei zeigte Maya immer merkwürdigere Interessen. Seltsamerweise widmete sie einen Großteil ihrer Aufmerksamkeit einem See, dessen Ufer im Schatten eines großen Felsens lag. Sie hatte darauf bestanden, die Nacht in der Schlossruine zu verbringen, und Burgman war mit ihrer Forderung einverstanden gewesen. Immer wieder sprach sie von einer Zeitbrücke. Eine Art Tür, die einer Überlieferung zufolge durch den Tod der Zigeunerfamilie geschaffen wurde und bis tief in die Vergangenheit reichte.

Gewiss, Maya hatte recht, als sie ihm versicherte, es habe mit seiner Arbeit zu tun, aber nicht, wie er es sich vorstellte. Ihr Interesse war anderer Natur. Sie gab sich nicht mit historisch belegten Fakten zufrieden. Ihr Forschungstrieb und Wissensdurst an den jahrhundertealten Sagen war beängstigend und erschreckend zugleich. Burgman glaubte nicht an solchen Humbug. Ein Übergang zur Vergangenheit! Würde eine solche Verbindung bestehen, müsste sie von beiden Seiten funktionieren. Demnach könnte der Schrecken jener Tage genauso gut ins Jetzt gelangen. Ihre Vermutung war einfach nur lächerlich!

Geschichte, so stellte er fest, war das, was man am Ende daraus machte. Maya und Carl teilten wirklich nicht die gleichen Ansichten. In seiner, der ‚wahren‘ Geschichte, gab es weder Geister noch Spuk. Im Gegensatz zu ihm hatte sie einen Hang zu abnormalen Begebenheiten. Burgman liebte mysteriöse Erzählungen, aber er klammerte sich nicht so fest daran wie sie. Viele hielten die paranormale Wissenschaft für Einbildung, für das Hirngespinst von Wirrköpfen, denen rationales Denken fremd geworden war; für Burgman fehlten einfach die wissenschaftlichen Beweise, die solche Theorien untermauern konnten. Es gab keinen erklärbaren Grund, aber ein Gefühl sagte Maya, dass irgendetwas Mysteriöses sie mit diesem Ort verband.

Nebelfetzen schwebten durch die Baumkronen, deren Zweige wie erstarrte Leichenfinger in den grauen Himmel ragten. Nieselregen prasselte gegen die Fensterscheiben des Schlosses und die dunklen Backsteinmauern schimmerten feucht im weichen Mondlicht. Ein lockerer Fensterladen schwang im Wind hin und her und schlug monoton gegen die Giebelwand. Dumpf hallten die Schläge einer noch funktionsfähigen Uhr durch das verwahrloste Gemäuer.

»Was für eine Bruchbude.« Burgman lachte bei diesen Worten, drückte mit dem Fuß eine Getränkedose platt und beförderte sie mit einem festen Tritt ins Gestrüpp, wo vor ein paar Jahrzehnten noch ein Garten gewesen sein mochte.

Maya war nicht nach Lachen zumute. Nicht beim Anblick des verwahrlosten Gemäuers, in dem es angeblich spuken sollte. Sie wusste es besser. Menschen sollten im Laufe der Zeit darin verschwunden sein. Irgendwann im 19. Jahrhundert hatte man die ehemalige Burg abgetragen und statt ihrer das heutige Schloss errichtet. Doch der Fluch hatte im neuerbauten Kastell während der letzten hundert Jahre nach weiteren Opfern gesucht und sie angeblich auch gefunden. Und wieder einmal stand es jahrelang leer und verlassen. In der Gemeinde erzählte man sich, dass auch der letzte Besitzer ganz plötzlich verschwunden war.

Ein aufmerksamer Zuhörer, so wurde gemunkelt, könne das klägliche Jaulen eines Hundes, das Weinen eines Kindes und das boshafte Lachen eines Mannes hören, das schon seit ewigen Zeiten in düsteren Nächten durch das alte Gemäuer hallte. Dies zumindest behaupteten die Einwohner der Umgebung.

Die Silhouette eines Nachtvogels tauchte vor der Mondscheibe auf und verschwand in den Tiefen des Waldes. Für Maya die Gelegenheit zum passenden Stichwort.

»Wollen wir reingehen?«

Burgman zuckte zusammen, sah von der Schlossruine zu ihr und wieder zurück. »Das ist nicht Ihr Ernst! Sie wollen doch nicht wirklich in diesem Gemäuer die Nacht verbringen?«

»Aber klar doch.« Maya lächelte. »Eine nächtliche Tour durch das alte Spukschloss könnte ein aufregendes Erlebnis werden. Einen heiteren Abend in Gesellschaft von Geistern und Gespenstern. Was gibt es Spannenderes?«

Imprint

Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Text: Henri Lindlbauer/Jeanny Jungbluth/Signum-Verlag.
Images: Zasu Menil/Apex-Graphixx.
Cover: Zasu Menil/Apex-Graphixx.
Editing: Dr. Birgit Rehberg.
Proofreading: Dr. Birgit Rehberg.
Layout: Signum-Verlag.
Publication Date: 02-09-2023
ISBN: 978-3-7554-3191-6

All Rights Reserved

Next Page
Page 1 /