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Leseprobe

 

 

 

 

CARTER BROWN

 

 

Die Hexe auf leisen Sohlen

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

DIE HEXE AUF LEISEN SOHLEN 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Das Buch

 

Danny Boyd hat sich selbstständig gemacht. Er galt als der beste Ermittler der Detektiv-Agentur Kruger in New York - und Kruger schickt Danny Boyd seinen ersten Klienten: Die Dame ist schön und sehr kühl. Dafür ist ihr Auftrag umso heißer. »Deshalb also!«, denkt sich Danny. Aber er ist verwegen, frech und rücksichtslos, und nicht nur seine erste Klientin selbst, sondern auch ihr Honorar ist beachtlich. 

Darum... übernimmt er den Auftrag.

Schon, weil er seine neue Büro-Einrichtung bezahlen muss, die teuer genug war. Und gerade diese neue Einrichtung kommt zu Schaden, als sein nächster Besucher auftaucht...

 

Der Kriminal-Roman Die Hexe auf leisen Sohlen des australischen Schriftstellers Carter Brown (* 1. August 1923 in London, England unter dem Namen Alan Geoffrey Yates; † 5. Mai 1985 in Sydney, Australien) erschien erstmals im Jahr 1959; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1962. 

Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.

  DIE HEXE AUF LEISEN SOHLEN

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Sie schlug sorgfältig die Beine übereinander, als ob sie in sie verliebt wäre, und vielleicht war sie das. Ihr Name war Mrs. Adele Blair, und sie sprach ihn aus, als ob er etwas bedeutete. Sie war dunkelhaarig und meine erste Klientin.

Sie trug ein enganliegendes saphirblaues Kleid mit einer hübschen Schleife unter dem Busen, die ihr die gerade moderne hohe Taille verlieh. Auf die Form ihres vollen Busens brauchte unter der dünnen Seide eigentlich nicht ausdrücklich hingewiesen zu werden, trotzdem erwies sich die Schleife als erfolgreicher Blickfang. Ich hielt Mr. Blair für einen glücklichen Mann oder auch für einen sorgenbeladenen Mann, aber vielleicht war er beides.

Ihre Augen waren dunkel und leuchtend und hatten die berechnende Festigkeit der Schalttafel eines Elektronengerätes. Ein automatischer Reflex veranlasste mich, den Kopf zu bewegen, so dass ich ihr mein rechtes Profil zeigte, das um eine Idee besser als das linke ist. Nicht dass ich besonderen Eindruck auf sie machen wollte, ich wollte ihr nur zeigen, über was ich so verfügte.

»Mr. Boyd«, begann sie in einem gedämpften Kontra-Alt, »die Kruger-Detektiv-Agentur hat mir empfohlen, Sie aufzusuchen.«

»Bis vor ein paar Wochen habe ich für sie gearbeitet«, informierte ich sie.

Dann erinnerte ich mich an die funkelnagelneue Aufschrift an der Tür Boyd-Unternehmungen. Es war also Zeit, etwas unternehmend zu werden.

»Sie hätten Ihnen niemand Besseren empfehlen können«, sagte ich.

»Man sagte mir bei Kruger, Sie seien ihr bester Agent gewesen.« Mrs. Blair lächelte vertraulich. »Und dass ich keinen besseren finden könnte als Sie.«

»Das kann nur heißen, Ihr Auftrag, was immer das auch sein mag, ist Paul Kruger zu heiß, und er will sich nicht die Finger daran verbrennen.« Ich erwiderte ihr Lächeln. »Das ist der einzige Grund, weshalb er jemals Klienten woanders hinschickt.«

»Sie irren sich«, erwiderte sie, aber das meinte sie nicht ernst.

»Wäre es nicht besser, wenn wir aufrichtig zueinander sind?«, schlug ich vor. »Vielleicht müssen Sie mich später wirklich anlügen.«

Ihre Augen waren zwei Glühwürmchen, die sich in der Dunkelheit verloren. »Sprechen Sie immer so mit Ihren Klienten, Mr. Boyd?«

»Das weiß ich nicht«, räumte ich ein, »Sie sind der erste Klient, den ich je hatte.«

Sie zuckte graziös ihre Schultern, und ich beobachtete ein Zittern, das sich nach unten verlief und schließlich in der Schleife verebbte. »Ganz wie Sie wollen«, sagte sie knapp. »Es handelt sich um meinen Mann.«

»Eine Scheidung etwa?«

»Bearbeiten Sie keine Scheidungsfälle, Mr. Boyd?«

»Ich bearbeite alles, solange ich hoch genug dafür bezahlt werde.«

Ihre Lippen zuckten einen Augenblick. »Das hat mir Mr. Kruger auch gesagt. Aber ich will gar keine Scheidung.«

Ich sah wieder ihre Beine an. Sie waren ein Magnet, und ich kam mir vor wie Eisenspäne, die in ihr Anziehungsfeld geraten waren. Ihre Knie hatten Grübchen, und die feste Kurve ihrer Oberschenkel hob sich unter der knappsitzenden Seide scharf ab. Sie gehörte zu den Damen, die mit allen Männern in ihrem Leben Schwierigkeiten haben musste, und einer davon konnte vielleicht auch Danny Boyd sein, ehe er ihre Wünsche erledigt hatte.

»Mein Mann ist Nicholas Blair. Sie haben selbstverständlich von ihm gehört.« Ihr Ton war sehr selbstbewusst.

»Gehört das zur Allgemeinbildung?«

Ihre Lippen pressten sich etwas zusammen. »Der größte Shakespeare-Darsteller unserer Zeit! Machen Sie sich etwa nichts aus dem Theater, Mr. Boyd?«

»Seit es keine Possen mehr gibt, nicht mehr«, antwortete ich, »aber das mit Nicholas Blair will ich Ihnen aufs Wort glauben.«

»Vielen Dank.« Ihre Stimme klang eisig. »Er ist erheblich älter als ich und seit Jahren nicht mehr aufgetreten, aber er bereitet sein Comeback vor.«

»Und ich soll ihm jetzt ein beifallfreudiges Publikum verschaffen?«

Sie beugte sich in ihrem Sessel vor. »Haben Sie eine Zigarette, Mr. Boyd?«

»Gewiss.« Ich schob die Packung über die Schreibtischplatte vor sie hin. »Bedienen Sie sich.«

»Danke.« Sie zündete sie mit dem Schreibtischfeuerzeug an und nahm einen tiefen Zug. »Es hört sich entsetzlich an« – ihre Stimme schwankte einen Augenblick – »aber Nicholas ist dabei, seinen Verstand zu verlieren.«

»Und ich soll jetzt danach suchen?«, fragte ich sie. »Wo verliert er ihn denn? Im Astor?«

Sie erhob sich halb aus dem Sessel, entschloss sich dann anders und ließ sich wieder hineinsinken. »Es ist jetzt schon schlimm«, flüsterte sie, »aber es wird noch schlimmer werden, wenn der Arbeitsdruck stärker wird. Jeder Tag mit Proben bringt ihn näher an den Rand des Wahnsinns. Das muss aufhören, Mr. Boyd, um seinetwillen.«

»Hört sich an, als brauchten Sie einen Psychiater, aber nicht mich«, sagte ich.

Sie schüttelte den Kopf.

»Dazu ist es jetzt zu spät. Die einzige Lösung ist ein Sanatorium. Nicholas muss zu seinem eigenen Wohl fortgeschafft werden.«

»Dazu gibt es nur eine Möglichkeit«, sagte ich. »Wissen Sie das?«

Nicholas Blairs Frau nickte ruhig. »Man muss ihn gerichtlieh einweisen lassen. Deswegen bin ich hier, Mr. Boyd. Ich möchte, dass Sie mir helfen.«

Ich nahm eine Zigarette aus der Packung auf dem Schreibtisch und ließ mir mit dem Anzünden reichlich Zeit. »Und warum geht's nicht auf dem üblichen Wege, mit Ärzten und all dem Drum und Dran?«

Sie begleitete ihre Antwort mit einer guten Schau. Eine müde Hand, die über eine von Gram zerfurchte Stirn strich. »Das ist schwierig«, sagte sie und lächelte tapfer hinter Tränen, die ihr noch nicht in die Augen getreten waren. »Seit Jahren steht Nicholas in dem Ruf, exzentrisch zu sein. In der ganzen Theaterwelt ist er dafür bekannt. Und da ist das nicht einmal ungewöhnlich. Ich weiß, dass seine Exzentrizität die Grenze überschritten hat und Wahnsinn geworden ist, weil ich so eng mit ihm zusammenlebe. Aber kein anderer weiß es, außer Aubrey selbstverständlich.«

»Aubrey?«

»Sein Sohn aus seiner ersten Ehe. Nicholas ist raffiniert. Wenn er wüsste, dass er vor einer Ärztekommission erscheinen müsste, würde er die Rolle des normalsten Menschen auf der Welt spielen und sie überzeugen. Ich sagte Ihnen schon, dass er ein guter Schauspieler ist.«

»Stimmt, ich erinnere mich. Dann sind also nur Sie und Aubrey der Ansicht, dass Ihr Mann auf dem besten Wege ist, die Grenze der Zurechnungsfähigkeit zu überschreiten?«

»Wir kennen ihn viel besser als die anderen, verstehen Sie doch«, sagte sie ernst.

»Gewiss«, stimmte ich zu. »Aber wie stellen Sie sich vor, soll er eingewiesen werden?«

Wieder zuckte sie die Schultern, aber diesmal nahm es mich zu sehr in Anspruch, ihr Gesicht zu beobachten, um dem faszinierenden Zittern zu der Schleife hinunter zu folgen.

»Ich weiß nicht«, antwortete sie und bediente sich wieder ihrer erschöpften Stimme. »Das ist Ihr Problem, Mr. Boyd. Deshalb komme ich als Klientin zu Ihnen hierher. Ich möchte, dass Sie mir einen vertraulichen Dienst erweisen.«

»Und für wie lange gedachten Sie ihn einweisen zu lassen?«, fragte ich.

»Bis er sich wieder ganz erholt hat selbstverständlich«, sagte sie. »Ich habe aber das entsetzliche Gefühl, dass der arme Nicholas unheilbar ist.«

»Ich habe es fast auch«, sagte ich. »Ist Ihr Mann reich?«

»Reich würde ich nicht sagen.« Sie zögerte einen Augenblick. »Er hat ein Vermögen, das ihm ein gutes Einkommen abwirft. Er sparte sein Geld, als er noch ein Star am Broadway war.«

»Und dieser junge Aubrey«, forschte ich, »ist er schon aus der Schule?«

Sie hätte beinahe gelacht. »Aubrey? Sie haben einen falschen Eindruck von ihm bekommen, Mr. Boyd, Aubrey ist schon Ende Zwanzig.«

»Sieht er gut aus?«

»Fast so gut, wie Sie von sich glauben, Mr. Boyd.« Ein Lächeln mit einem Anflug von Hohn zeigte sich einen Augenblick lang auf ihrem Gesicht. »Warum fragen Sie?«

Ich drückte die Zigarette in dem neuen Aschenbecher aus und grinste sie wieder an. »Das muss die älteste Geschichte der Welt sein«, sagte ich nachdenklich. »Ein alter Mann mit einem jungen Sohn heiratet wieder eine junge Frau. Das Problem: Wie können der junge Mann und die junge Frau miteinander musizieren, ohne das Geld des Alten zu verlieren? Ich muss Ihnen zugestehen, Mrs. Blair, dass Sie auf eine originelle Lösung gekommen sind. Die meisten anderen verfallen bei der Suche nach einer Antwort auf nichts anderes als auf Mord.«

Ihre Lippen pressten sich zu einer dünnen Linie zusammen. »Das ist doch absurd, Mr. Boyd. Ich denke ausschließlich an das Wohl von Nicholas.«

»Hier in New York haben wir eine ganze Insel, auf der man sich seiner annehmen kann«, antwortete ich. »Was Sie von mir verlangen, ist unnatürlich und unmoralisch, abgesehen davon ist es auch ein strafrechtlich verfolgtes Verbrechen. Sie müssen sich einbilden, dass auch ich den Verstand verloren habe.«

Sie stand mit einer abrupten Bewegung auf und ging schnell zur Tür. Ich ließ sie bis dorthin gelangen, ehe ich etwas sagte.

»Und das Allerwichtigste haben Sie mit noch keinem Wort erwähnt«, meinte ich dann vorwurfsvoll.

Für einen Augenblick stand sie völlig regungslos da. Dann drehte sie sich langsam um. »Und was soll das sein?«

»Wieviel sind Sie denn bereit zu zahlen für diesen... diesen vertraulichen Dienst?«

»Fünftausend Dollar«, antwortete sie steif.

»Fünftausend?« Ich lachte. »Bilden Sie sich ein, ich riskiere meine ganze praktisch noch nicht begonnene Karriere für diesen lächerlichen Betrag?«

»Dann habe ich mich geirrt«, sagte sie schroff und griff wieder nach der Klinke.

»Sagen Sie zwölf, dann können wir uns verständigen«, meinte ich freundlich.

Ihre Finger auf der Klinke entspannten sich, dann sank ihre Hand hinab. Langsam drehte sie sich zu mir um.

»Zwölf«, wiederholte ich, »und zweitausend im Voraus für Spesen.«

»Was für Spesen?«

»Weiß ich noch nicht«, gab ich zu, »aber es wird mir schon was einfallen.«

»Das ist lächerlich«, fuhr sie auf. »So viel kann ich unmöglich zahlen. Achttausend, und weitere tausend für Spesen.«

»Zehn, und zweitausend für Spesen.«

»Neun, und fünfzehnhundert für Spesen. Und das ist mein letztes Wort«, erwiderte sie. »Nehmen Sie an oder nicht?«

Zwei Sekunden lang überlegte ich. »Ich nehme an«, antwortete ich.

Sie setzte sich wieder, zog ein Scheckbuch aus ihrer Handtasche und schrieb einen Scheck aus. Dann riss sie ihn aus dem Heft und ließ ihn auf meinen Schreibtisch flattern. Ich nahm ihn auf und sah, dass er für D. Boyd über fünfzehnhundert Dollar ausgestellt war.

»Ist es damit perfekt?«, fragte sie.

»Gewiss.« Ich legte den Scheck sorgfältig in die oberste Schublade des Schreibtisches. So ganz für sich allein musste er sich dort einsam fühlen, aber so war das Leben in meiner Schreibtischschublade zunächst einmal.

»Wie wollen Sie es anfangen?«, fragte mich Mrs. Blair plötzlich.

»Was anfangen?«

»Wenn Sie so weitermachen, verlange ich meinen Scheck zurück und gehe fort«, sagte sie schroff.

»Ach so, Sie meinen das mit Ihrem Mann?« Ich lächelte sie strahlend an. »Das weiß ich noch nicht. Es muss glatt und unauffällig vonstattengehen. Das erste dürfte wahrscheinlich sein, dass ich ihn kennenlerne.«

»Das lässt sich leicht arrangieren«, antwortete sie. »Morgen früh wird er zu einer Leseprobe in dem Lagerhaus sein, wo das Stück einstudiert wird. Vielleicht ist es besser, wenn Sie als ein Freund von Aubrey dorthin kommen.«

»Sind Sie auch sicher, dass Aubrey nichts dagegen hat?«

»Selbstverständlich nicht.« Sie biss sich wütend auf die Lippen. »Jetzt fangen Sie schon wieder mit Ihren anzüglichen Bemerkungen an, Mr. Boyd.«

»Warum nennen Sie mich nicht Danny?«, fragte ich. »Es sieht so aus, als ob wir Freunde werden müssten.«

»Meine Beziehung zu Ihnen ist rein geschäftlicher Natur«, antwortete sie, »und hoffentlich nur kurz.«

»So werden Träume zerstört«, meinte ich traurig. »Die ganze Zeit, als ich bei Kruger arbeitete, magerte ich ab, weil ich daran dachte, ich würde eines Tages mein eigenes Büro haben und untätig hinter meinem Schreibtisch sitzen, und dann würde so eine Dame hereinkommen, eine schöne, gutgestellte Dame, eine Dame genau wie Sie, Mrs. Blair... Wir würden uns über dieses und jenes vielleicht fünf Minuten unterhalten, und dann würde sie von ihrem Sessel aufstehen und auf mich zukommen, hingebungsvoll und Liebe suchend, und sie würde nur drei Worte sagen: Ich bin dein.« Ich seufzte meinem verlorenen Traum betrübt nach. »Das alles haben Sie jetzt zerstört, Mrs. Blair. Sehen Sie sich doch noch einmal mein Profil an. Sagt es Ihnen wirklich gar nichts?«

Sie stand bereits wieder.

»Morgen früh um zehn Uhr hole ich Sie ab, Mr. Boyd«, sagte sie kühl. »Ich werde Aubrey mitbringen.«

»An der Leine?«, fragte ich, aber sie machte sich nicht die Mühe, mir zu antworten.

Ich beobachtete, während sie zur Tür ging, das beherrschte Wiegen ihrer Hüften unter der glatten Seide. Diesmal blieb sie nicht stehen, als sie sie erreichte.

Nachdem sie fort war, öffnete ich die Schreibtischschublade wieder, um mich zu vergewissern, ob der Scheck noch da wäre. Er war noch da. Vielleicht würden die Boyd-Unternehmungen daraufhin doch noch florieren.

Mein zweiter Klient traf ein, als mein erster gerade zehn Minuten fort war. Es sah so aus, als ob meine Geschäfte nun anlaufen würden. Er hielt sich nicht einmal damit auf, anzuklopfen. Er kam einfach herein und stieß die Tür mit dem Fuß hinter sich zu.

Er war groß und unter einem Anzug von Brooks Brothers ordentlich gebaut. Sein Gesicht konnte man beinahe schmal nennen, mit einer asketischen Nase. Die Blässe seiner blauen Augen gefiel mir ebenso wenig wie der schmale Schnitt seiner Lippen. Aber das Aussehen anderer Männer hat mich nie sonderlich interessiert.

Ich zündete eine Zigarette an und beobachtete ihn, wie er zu dem Sessel ging, den Mrs. Blair vor kurzem erst geräumt hatte. Er ließ sich hineinfallen und betrachtete mich kalt. Ich erwiderte seinen Blick ebenso kalt, und damit verbrachten wir über fünfzehn Sekunden, ehe ich schließlich fragte: »Na schön, was soll’s?«

»Sie sind doch neu in diesem Gewerbe, Mr. Boyd?«, fragte er. Seine Stimme war hoch und leicht misstönend.

»Ganz richtig«, stimmte ich zu. »Aber was mir an Erfahrung fehlt, mache ich durch Begeisterung wett.«

»Begeisterung kann eine gefährliche Sache sein, Mr. Boyd, wenn man sich von ihr zu weit hinreißen lässt.«

Ich sah ihn voll unverhohlener Bewunderung an. »Sagen Sie mal«, sagte ich atemlos, »damit haben Sie wirklich recht Sie heißen doch wohl nicht zufällig Konfuzius?«

»Auch Sinn für Humor kann von Vorteil sein«, sagte er, ohne seinen Ausdruck zu ändern. »Ich hoffe, Sie werden über das, was ich Ihnen jetzt sage, lächeln können, Mr. Boyd.«

»Ich will’s versuchen«, sagte ich ernst. »Ich verspreche es Ihnen.«

Er stand auf und kam, ohne sich anscheinend zu beeilen, auf den Schreibtisch zu, aber er war erschreckend schnell da. Er beugte sich vor, bis seine Fischaugen nur noch sechs Zoll von meinen entfernt waren. »Vor ein paar Minuten sprachen Sie mit der Schauspielerin«, sagte er. »Was wollte sie von Ihnen?«

»Der Schauspielerin?«, fragte ich überrascht.

»Adele Romain«, sagte er ungeduldig. »Oder hat sie sich Ihnen als Mrs. Nicholas Blair vorgestellt?«

»Hoffentlich gefällt Ihnen, was Sie jetzt hören werden, Konfuzius«, antwortete ich. »Schaffen Sie Ihre neugierige Nase aus meinem Büro mit allem, was dazugehört, ehe ich Sie hinausfeuere.«

»Adele verkehrt in besten Kreisen«, erwiderte er kalt. »Für einen Gauner Ihrer Sorte viel zu hoch, Boyd. Dabei können Sie sich nur weh tun. Und zwar schlimm. Wenn sie Ihnen

Geld gegeben hat, dann behalten Sie es. Vergessen Sie nur, dass Sie ihr je begegnet sind, nachdem Sie den Scheck kassiert haben. Sie wird Sie deswegen nicht belästigen. Das kann ich Ihnen versprechen.«

»Wenn Sie ihr Vermögensberater sind, wird es Zeit, dass sie ihn wechselt«, sagte ich. »Und weshalb haben Sie eigentlich nie den Stimmbruch hinter sich gebracht?«

»Ich warne Sie. Lassen Sie die Finger von dieser Frau. Aber ich sehe schon, ich muss Sie überzeugen, dass es mir Ernst ist, Boyd«, sagte er leise. Der Gedanke schien ihn zufriedenzustimmen.

»Haben Sie auch mein Horoskop mitgebracht?«, fragte ich. »Ah, jetzt verstehe ich, Sie sind ja gar nicht Konfuzius, Sie sind Taurus, der Stier.«

Ich hatte ihn nicht sonderlich ernst genommen, und das war mein Fehler. Er zog seine rechte Hand beiläufig aus der Tasche, dann schlug er mir genau zwischen die Augen. Mein Sessel kippte hintenüber, und ich fiel mit. Ich lag auf dem Boden und fragte mich unsicher, ob der rote Nebel vor meinen Augen aus Kalifornien importiert worden wäre. Mir wurde nicht die Möglichkeit gelassen, lange darüber nachzudenken.

Seine Finger krallten sich in den Kragen meines Hemdes. Er zerrte mich auf die Knie und schlug mir dann wieder auf die gleiche Stelle, wirkungsvoll, leidenschaftslos, genau zwischen die Augen. Der Messingschlagring verlieh seiner Faust die Wucht des Hinterhufs eines Maultiers.

Das Leben war ein dunkler Teich, und ich lag auf seinem Grund im Schlamm. Tausend Fuß über mir zeigte sich an der Oberfläche ein schwacher Schimmer. Ich schwamm darauf zu, und nach tausend Jahren erreichte ich ihn. Dann öffnete ich die Augen.

Ich brauchte ein paar Minuten, um auf die Knie zu kommen, und vielleicht sind noch weitere fünf Minuten verstrichen, ehe ich mich auf die Füße stellen konnte, wobei ich mich auf die Platte des Schreibtischs stützte.

Konfuzius war verschwunden. Ich befand mich allein in meinem Büro.

Mitten auf dem neuen Teppich stand eine große Tintenpfütze. Das weiße Leder meines eigenen und der beiden Besuchersessel war mit tiefen Schnitten eines scharfen Messers aufgeschlitzt worden. Die Schnitte zogen sich in gleichmäßigen Abständen von vier Zoll mitten über den Lederbezug der drei Sessel. Die Schreibtischplatte war in der gleichen effektvollen Weise behandelt worden.

Ich zog die Schreibtischschublade auf und sah, dass aus Adele Blairs Scheck ein Häufchen Konfetti geworden war, saubere, quadratzentimetergroße Papierfetzchen. Das brachte mich auf den Gedanken, ob es sich bei Konfuzius nicht um den Verrückten handelte und ob er nicht derjenige wäre, der eingewiesen werden sollte.

Ich hoffte, ihm wieder zu begegnen. Ich würde ihn nicht einweisen lassen, ich würde ihn umbringen.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

»Was ist mit den Möbeln in Ihrem Büro passiert, Mr. Boyd?«, fragte Mrs. Blair.

»Ich habe sie zum Reinigen geschickt«, sagte ich. »Sie waren schließlich schon einen Tag alt, und Sie wissen ja, wie schnell dieses moderne Zeug verschmutzt. Ihren Scheck habe ich übrigens auch verloren.«

»Ich werde Ihnen einen neuen ausstellen«, sagte sie gleichgültig, »selbstverständlich erst, nachdem ich den andern habe sperren lassen. Dies ist Aubrey.«

Aubrey war groß und dicklich. Er hatte braunes welliges Haar, braune Augen und einen dichten braunen Schnurrbart. Er lächelte und legte dabei gleichzeitig gute Zähne und eine gewisse Verlegenheit an den Tag. »Guten Morgen, Mr. Boyd«, sagte er. Sein Händedruck war kräftig und sicher. »Adele glaubt, dass Sie unser Problem auf taktvolle Weise lösen können, und seien Sie versichert, ich werde Ihnen dankbar sein.«

»Sie wird mir ihre Dankbarkeit durch neuntausend Dollar beweisen«, antwortete ich. »Das ist in meinen Augen Dankbarkeit.«

Aubrey jaulte scharf auf wie ein Hund, und ich glaubte, er habe Schmerzen, so wie ich sie im Kopf hatte. Dann merkte ich, dass er auf diese Weise lachte.

Mrs. Blair sah auf ihre Uhr. »Wir sind schon spät dran«, sagte sie lebhaft. »Wenn wir rechtzeitig zu der Probe kommen wollen, müssen wir los, und wir brauchen irgendeine Geschichte, die Ihre Freundschaft mit Aubrey erklärt, Mr. Boyd, für den Fall, dass jemand neugierig werden sollte.«

»Gute Idee.« Aubrey nickte.

»Aubrey kommt von Yale. Dort hat er studiert«, sagte sie. »Wo haben Sie Ihre Ausbildung abgeschlossen, Mr. Boyd?«

»Bei der Kruger-Detektiv-Agentur«, antwortete ich. »Und wenn wir alte Freunde sein sollen, ist es das Beste, wenn Aubrey sich gleich daran gewöhnt, mich Danny zu nennen.«

»Gern.« Er nickte. »Also gut, Danny. Letztes Jahr verbrachte ich meinen Urlaub in Palm Springs. Dort können wir uns kennengelernt haben.«

»Warum nicht«, stimmte ich zu. »Aber Urlaub wovon?«

»Von New York.« Er runzelte leicht die Stirn. »Was wollen Sie denn damit sagen, alter Junge?«

»Ich dachte, dass Sie vielleicht irgendetwas arbeiten«, antwortete ich.

Er stieß wieder das scharfe Jaulen aus. »Bis dahin hat's noch reichlich Zeit, alter Junge. Ich habe ein paar Aktien und spekuliere ein bisschen an der Börse. Das hält mich in Atem.«

Ich sah Mrs. Blair an. »Glaube ich gern«, sagte ich.

»Dann ist das also geklärt«, sagte sie lebhaft. »Palm Springs im vergangenen Jahr. Und jetzt machen wir uns wohl auf den Weg zum Lagerhaus.«

Mit vorsichtigen Fingern betastete ich die Schramme auf meiner Stirn.

»Immer mit der Ruhe«, verwies ich sie. »Ich habe heute Morgen einen Kopf wie ein Ballon.«

»Mir kommt er nicht größer vor als gestern Nachmittag«, erwiderte sie kühl.

»Das war gut.« Aubrey bekundete seine Bewunderung mit dem Ausdruck eines liebeskranken Bluthundes.

»Also fahren wir schon zu dem Lagerhaus«, sagte ich und knirschte mit den Zähnen. »Wenn wir schon Geständnisse hören müssen, dann lieber nicht in meinem Büro.«

Etwa dreißig Minuten später kamen wir in Aubreys Cadillac vor dem Lagerhaus an. Es lag in der unteren East Side und sah aus, als wäre es sehr geeignet, Leichen darin aufzustapeln. Nach der verbrauchten Luft darin zu schließen, war bereits jemand auf die Idee gekommen.

In der Mitte des staubbedeckten Zementbodens standen ein Mann und eine Frau. Ein weiterer Mann und eine weitere Frau saßen auf alten Holzkisten und beobachteten sie. Wir gingen auf die Gruppe zu. Der weite Raum wurde vom Widerhall unserer Schritte erfüllt.

»Die schöne Ophelia, Nymphe in deiner...« Der Mann wandte den Kopf und sah in unsere Richtung. »Doch da wir gerade von Nymphen reden«, fuhr er ohne Unterbrechung fort, »dies hier ist meine Frau, die dunkle Adele, und mein flügger Sohn, und auch ein Fremder weilt in unseren Toren. He da, gebt die Parole.«

»Hallo, Vater«, antwortete Aubrey mit beherrschter Stimme. »Ich möchte dich mit einem Freund bekannt machen, Danny Boyd, einem deiner glühenden Verehrer, der darauf brennt, dich kennenzulernen.«

»Gehen Sie ruhig in Flammen auf, Daniel«, sagte Nicholas Blair, »wir haben die Rolle des Geistes noch zu besetzen.«

»Nehmen Sie mich, und dann werden Sie einen Hamlet erleben, wie er sein soll«, antwortete ich, als wir uns die Hände drückten.

Nicholas Blair war ein Riese von einem Mann, mit dem alternden Gesicht eines Backfischidols. Sein langes schwarzes Haar war noch dicht und fiel ihm über ein Auge. Die Nase war lang und gerade, das Kinn gespalten und entschlossen. Man bemerkte die grauen Strähnen in seinem Haar, die Säcke unter seinen Augen und die tiefen Furchen in seinem Gesicht erst, wenn man ihn von nahem sah. Geschminkt auf der Bühne musste er wie ein Fünfunddreißiger aussehen.

»Erlauben Sie mir, Sie mit den anderen hier bekannt zu machen, Daniel?«, sagte er mit seiner kraftvollen, klingenden Stimme. »Lernen Sie den Mann ohne Seele kennen, meinen Direktor und Regisseur Vernon Clyde.«

Clyde war der Mann, der auf der Kiste saß. Er war kahl und, nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen, von Magengeschwüren sehr geplagt. »Seien Sie gegrüßt«, sagte er und wedelte eine schlaffe Hand in meine Richtung.

»Neben Vernon sitzt meine Mutter, Loise Lee«, sagte Nicholas Blair und lächelte wohlwollend.

»Das ist Nickys pervertierter Sinn für Humor«, sagte Loise Lee gleichgültig. »Er will damit sagen, dass ich seine Mutter spiele, die Königin. Willkommen im Narrenhaus, Mr. Boyd.«

»Danke«, sagte ich und sah sie noch einmal an. Sie war um die Fünfunddreißig, vielleicht fünf Jahre weniger oder mehr, vermutlich mehr. Ihre Schlachtschiffaufbauten waren prachtvoll in den Proportionen, und jeder Mann, den sie an ihren Busen drückte, würde ersticken, wenn sie es wollte.

Bei der Kühnheit ihrer Augen und der Fülle ihrer Unterlippe bezweifelte ich das allerdings. Ich meine, ihn ersticken zu lassen.

»Lernen Sie als letzte, aber keineswegs als geringste Charity Adam kennen«, fuhr Nicholas fort.

»Wäre Eva für eine Frau nicht passender?«, sagte ich, um mich der Umgebung anzupassen.

»Morgen«, sagte Charity Adam, ohne dass sich der konzentrierte Ausdruck auf ihrem Gesicht verlor. »Wollen wir jetzt weitermachen, Nicholas?«

Nicholas schüttelte den Kopf. »Wir haben Besuch«, sagte er. »Welche bessere Entschuldigung gäbe es dafür, aufzuhören, jedenfalls im Augenblick.«

Charity Adam war jung und hätte sich offensichtlich voll und ganz der Kunst geweiht. Ihr blondes Haar hatte einen Schnitt, den man vor ein paar Jahren die italienische

Imprint

Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Text: Alan Geoffrey Yates/Signum-Verlag. Published by arrangement with the Estate of Alan Geoffrey Yates.
Images: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Editing: Mina Dörge.
Proofreading: Mina Dörge.
Translation: E. und W. W. Elwenspoek (OT: WALK SOFTLY; WITCH).
Layout: Signum-Verlag.
Publication Date: 01-21-2023
ISBN: 978-3-7554-3016-2

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