DAY KEENE
Karneval der Furcht
Roman
Signum-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
KARNEVAL DER FURCHT
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Das Buch
Am Tag, als es Geld regnete, war der Jahrmarkt in Los Angeles ein Hexenkessel. Drehorgeln dudelten, Kinder kreischten, und auf dem Geldtransporter stand ein Clown, der mit vollen Händen Banknoten in die Menge warf.
Aber dann wurde das Volksfest zum Alptraum: Ein Mann brach zusammen, beide Hände auf den Bauch gepresst; ein Harlekin wurde erschossen; eine verirrte Kugel traf eine junge Mutter, die ihr Baby unter sich begrub.
Und überall Clowns: schreiend, schießend, Geld raffend.
Clowns, die Amok liefen.
Clowns, die keiner kannte...
Der Roman Karneval der Furcht des US-amerikanischen Kriminal-Schriftstellers Day Keene (eigtl. Gunard R. Hjertstedt - * 28. März 1904 in Chicago; † 09. Januar 1969 in Los Angeles) erschien erstmals im Jahr 1965; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1978 (unter dem Titel Haltet die Clowns!).
Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.
KARNEVAL DER FURCHT
Erstes Kapitel
Es war kein Zufall, dass Mickey Laredo in Tom Dalys Fernsehschau auftrat. Daly hatte sich auf Themen von allgemein menschlichem Interesse spezialisiert. Als hervorragendes Mitglied einer einstmals berühmten Zirkusfamilie und als einbeiniger Veteran jener unglückseligen Brigade von vierzehnhundert Männern, die einige Jahre zuvor an die Küste der Schweinebucht geschwommen und gewatet waren, hatte Laredo eine beachtenswerte Geschichte zu erzählen.
Normalerweise hielt sich Daly an die Regel, dreißig Minuten vor jeder Sendung im Studio zu sein. Diese halbe Stunde gab ihm die Möglichkeit, sich die Liste der Gäste anzusehen, die Gene DuBoise, sein hochbezahlter Manager, für ihn zusammengestellt hatte.
An jenem Freitagabend vor dem Tumult in dem neuen Einkaufszentrum im Valley, der Plünderung des gepanzerten Geldtransporters, der Ermordung des Wachmannes und der Verhaftung seines wichtigsten Studiogastes war es bereits 22.57 Uhr - Dalys Sendung sollte in drei Minuten beginnen -, als der Parkplatzwächter der Fernsehgesellschaft DuBoise anrief und ihm meldete, dass Daly gerade seinen Wagen abstellte.
»Enchanté«, sagte DuBoise trocken. »Magnifique. Wie nett. Wie reizend von Mr. Daly, dass er uns schon mit seiner Gegenwart beehrt.«
Zweites Kapitel
Dalys Sendung war nur für Erwachsene bestimmt. Er war ein großer Mann Ende der Dreißig, dessen Haar schon grau zu werden begann. Er hatte ein einnehmendes Wesen, einen durchdringenden Verstand und einen beißenden Humor. In allen Satteln war er gerecht, Er konnte sarkastisch sein, wenn er es wollte, aber auch charmant. Immer zeigte er sich sehr menschlich. Drei Typen von Zuhörern hatte er - solche, die auf ihn schworen, andere, die ihn verfluchten, und schließlich jene, die fünfmal in der Woche seine Sendung einschalteten in der Hoffnung, dass Daly am Abend zuvor gestorben sein möge.
Als Daly aus seinem Wagen stieg, traten zwei Männer aus dem Dunkeln hervor.
»Pardone«, sagte der eine von ihnen. »Sind Sie Señor Daly?«
»Der bin ich«, gab Daly zurück. »Aber ich fürchte, Sie werden Ihre wie immer gearteten Wünsche im Augenblick aufschieben müssen. Ich habe mich heute Abend nämlich etwas verspätet.«
Der zweite der Männer legte Daly die Hand auf die Brust. »Un momento, Señor. Wir werden Sie nicht lange in Anspruch nehmen. Wir möchten Sie nur bitten, Chico eine Nachricht zu überbringen. Sagen Sie ihm, er soll es nicht versuchen. Sagen Sie ihm, dass wir ihn beobachten und dass es nur uns etwas angeht.«
Daly schob die Hand zur Seite. »Bedaure, aber Sie haben sich mir nicht verständlich gemacht. Ich kenne keinen Chico. Und wenn doch, dann wüsste ich nicht, warum ich für Sie den Boten spielen sollte. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden...«
Es war zu dunkel auf dem Parkplatz, als dass Daly die Gesichter der beiden Männer deutlich hätte erkennen können. Aber als er versuchte, sich an ihnen vorbeizuschieben, hatte er den Eindruck, dass sie Gummimasken, von der Art trugen, wie sie Kinder zu Fastnacht zu benutzen pflegen.
»He! Was soll das?«, fragte er in einem Anflug verspäteten Argwohns.
Er spürte das Kommen des Schlages und versuchte vergeblich, ihn abzuwehren. Der eine der Männer setzte seine Faust in Dalys Magengrube. Dem ersten Schlag folgte ein zweiter, sehr harter, ins Gesicht. Ein dritter, ein Judohaken ins Genick, streckte Daly zu Boden. Als er lag, traten ihm beide Männer noch in die Rippen.
»Buenos noches, Señor«, sagte der eine.
»Seien Sie so freundlich und unterrichten Sie Chico«, fügte der andere hinzu.
Es war saubere Arbeit. Als DuBoise kam, um Daly zu suchen, waren die beiden Männer längst im Dunkeln verschwunden.
»Was ist denn mit dir passiert?«, fragte DuBoise.
Daly stand da und befühlte die Stelle zwischen Genick und Schulter. Der Judohaken hatte die Nervenenden praktisch bloßgelegt. »Wohin sind sie?«
»Wohin soll wer sein?«
»Die beiden Männer, die mich niedergeschlagen haben natürlich.«
DuBoise schüttelte den Kopf. »Ich habe niemanden gesehen. Was war es denn - ein Raubüberfall?«
Daly tastete nach seiner Brieftasche. Sie war noch vorhanden. »Offenbar nicht.«
»Dann möchte ich wissen, warum sie dich zusammengeschlagen haben?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass zwei Männer mich an- gepöbelt und mir gesagt haben, ich solle Chico davor warnen, es zu versuchen.«
»Welcher Chico soll was nicht versuchen?«
»Das haben sie nicht gesagt.«
»Wer ist Chico?«
Daly betastete behutsam sein rechtes Auge. Es begann anzuschwellen. Ohne Zweifel würde es sich verfärben. »Was fragst du mich? Ich hatte gehofft, du wüsstest es.«
»Nein«, sagte DuBoise. »Ich kenne keinen Chico. Aber chico ist das spanische Wort für klein, und wir haben heute Abend einen Kubaner in der Show. Einen Kuba-Amerikaner, um genau zu sein. Aber sein Name lautet Miguel Tomas José Guido Laredo.«
»Der Junge vom Zirkus? Der ehemalige Luftakrobat, der ein Bein verloren hat, als er in der Schweinebucht an Land watete?«
»Genau der.«
»Vielleicht kennt der einen Chico.«
»Wir werden ihn fragen. Soll ich die Polizei anrufen?«
Daly klopfte sich den Straßenstaub vom Anzug, dann fuhr er sich mit dem Taschenkamm durch das Haar. »Was würde das nützen? Was könnte ich schon aussagen? Dass ich von zwei Männern niedergeschlagen worden bin, die Gummimasken getragen haben? Dass es sich möglicherweise um Spanier oder Mexikaner handelt? Zwei Männer, die mich aufgefordert haben, jemand, den wir nicht kennen, zu warnen, und etwas, was wir nicht wissen, nicht zu tun?«
»Kapiere«, sagte DuBoise. Er machte sich Sorgen. »Wirst du die Show heute Abend durchstehen können, oder soll ich absagen?«
Daly stieß sich von dem Wagen, an den er sich gelehnt hatte, ab und ging mit steifen Schritten auf den Eingang des Studios zu. »Es wird schon gehen. Aber du kannst ja mal den Wächter fragen, ob er jemanden gesehen hat.«
»Sobald wir die Sendung hinter uns haben.«
Daly ging weiter zum Gebäude und dann durch den langen Korridor zu dem Studio, von dem seine Sendung ausgestrahlt wurde. Die Luft im Hause roch abgestanden.
»Mr. Daly ist eingetroffen«, sagte jemand.
Daly zündete sich eine Zigarette an, trat durch das ihm vertraute Gewirr von Licht- und Kamerakabeln zu seinem Tisch und ließ sich in den Sessel sinken. Die Scheinwerfer wurden voll eingeschaltet. An Kamera I blinkte das rote Licht. Die Kamera wurde für eine Großaufnahme von Daly herangefahren, und Hai Keeley, der Redakteur, gab das Zeichen, dass die Sendung begonnen hatte.
Bevor er sprach, schaute Daly auf die Uhr. Der Zwischenfall auf dem Parkplatz - die sinnlose Prügelei und die kurze Unterhaltung mit DuBoise - hatte fünfzehn Sekunden weniger als vier Minuten gedauert.
Als er in die Kamera schaute, sagte er: »Guten Abend, meine Damen und Herren, Sie sehen heute wieder, wie gewohnt, Tom Daly in einer Direktübertragung - ich hoffe es jedenfalls. Ich sage, ich hoffe es, weil es draußen vor dem Studio jemanden gibt, der mich offenbar nicht leiden kann. Es sind, um genau zu sein, zwei. Die zwei unter Ihnen, die soeben versucht haben, mir auf dem Parkplatz den Schädel einzuschlagen.« Er ließ es damit bewenden und bot der Kamera den Anblick seiner weißen Zähne, als er dazu überging, die eigentliche Sendung zu eröffnen.
»Diejenigen von Ihnen, die mein Programm regelmäßig sehen, wissen, dass wir uns in dieser Show ganz zwanglos geben. In der nächsten Stunde werden wir nicht mehr tun als hier zu sitzen, Kaffee zu trinken und zu reden. Sollte es Ihnen langweilig werden, immer nur mich anzuschauen...« - er wandte sein lächelndes Gesicht dem Mädchen zu, das neben ihm saß - »...so lassen Sie sich ruhig durch den Anblick von Miss Terry Carstairs, meiner Telefonistin, erfreuen.« Daly mimte lüsternes Verlangen. »Sie sind doch auch mit mir der Meinung, dass es sich lohnt, sie anzusehen, nicht wahr?« Er blickte wieder in die Kamera. »Zurück zum Ernst des Lebens - ich glaube, wir haben heute ein paar interessante Gäste.« Er warf einen Blick auf die Karten, die DuBoise für ihn zusammengestellt hatte. »Zuerst eine Miss May Adams« - Daly hob eine Augenbraue -, »frühere Buchmacherin, bewirbt sich um einen der kürzlich verwaisten Sitze im Stadtparlament.« Daly sah sich die andere Karte an. »Sodann Miguel Tomas José Guido Laredo, Sproß aus der berühmten Zirkusfamilie gleichen Namens, der seinen Beruf und sein linkes Bein in der Schweinebucht verloren hat.
Nach einer kurzen Pause fuhr Daly fort: »Ich möchte noch einmal hervorheben, dass keines meiner Interviews gestellt ist. Und wie immer wird es mir ein Vergnügen sein, alle Ihre Fragen zu beantworten, die Sie telefonisch an Miss Carstairs richten. Wählen Sie einfach Poplar 9-3827.« Er wies auf das Schild mit der Telefonnummer auf seinem Tisch. »Hier ist sie - PO 9-3827. Und nun sind wir soweit - wir können mit der Show beginnen, nachdem Sie nur noch eine wichtige Meldung der Reifengesellschaft ACME vernommen haben.«
Als der erste Werbespot auf dem Bildschirm erschien und die Mikrofone auf den Tischen ausgeschaltet waren, versiegte Terry Carstairs Lächeln. »So, der große alte Mann ist also wieder mal zusammengeschlagen worden? Wer war es denn? Ein eifersüchtiger Ehegatte?«
»Könnte schon sein«, erwiderte Daly. »Aber er hatte einen Freund mit, einen stämmigen Burschen.«
Hai Keeley streifte seinen Kopfhörer ab und trat an den Tisch heran. »Spaß beiseite, Mr. Daly - haben Sie sich das Veilchen eben dort unten auf dem Parkplatz geholt?«
Daly nickte. »Ich kann es nicht leugnen - zwei Kerle haben es mir verpasst.«
»Warum?«
»Keine Ahnung.«
»Haben Sie die Polizei benachrichtigt?«
»Nein. Gene wollte es tun.« Daly berührte die wunde Stelle, die sich schnell verfärbte. »Die Geschichte ist für den Augenblick zu lang. Ich werde sie euch erzählen, wenn die Sendung vorbei ist.«
»Wahrscheinlich auf der Herrentoilette«, sagte Terry.
»Was ist denn mit der los?«, fragte Keeley überrascht.
Daly grinste. »Sie ist eifersüchtig. Weil ich einen meiner Lieblingsjockeys in einer meiner Lieblingsbars getroffen und darüber vergessen habe, sie zum Essen auszuführen.«
Keeley lachte.
»Okay«, sagte Daly. »Reg dich ab, Kind. Wir werden nachher irgendwohin gehen.« Mit einem Kopfnicken wies er auf das Telefon, das vor dem Mädchen stand. »Aber für den Augenblick solltest du dich auf deinen Apparat konzentrieren und ein paar Fragen aufschreiben, die ich beantworten kann - sonst hast du nämlich keinen Job mehr.«
Ein uniformierter Page stellte den ersten der drei riesigen Becher schwarzen Kaffees, die Daly während der Sendung zu trinken pflegte, auf den Tisch. Daly nippte sofort davon.
»Sind meine Gäste da?«
DuBoise nickte. »Laredo und seine Frau sind gerade gekommen.« Der Franzose presste die Spitzen von Daumen und Zeigefinger an die Lippen und warf mit gallischer Galanterie einen Kuss zur Studiodecke hinauf. »Und was für ein spanisches Püppchen das ist!« Er beschrieb die Umrisse der Frau mit den Händen.
Terry nahm den Telefonhörer vom Ohr. »An was anderes könnt ihr Männer wohl nicht denken, wie?«
»Macht dich das nicht glücklich?«, fragte Daly.
Keeley setzte sich den Kopfhörer auf. »Alles fertigmachen, Ruhe bitte! In fünfzehn Sekunden sind wir wieder dran.« Er gab die Instruktionen weiter, die er vom Pult erhalten hatte. »Charlie sagt, Sie möchten mit Ihrer Eröffnungsfrage anfangen. Dehnen Sie die Zeit für die Beantwortung aus, so lange es irgend geht. Er wird zwei Werbespots einblenden. Dann kommt Ihr erster Gast, dann zwei weitere Spots kurz vor der Pause.«
Daly machte sich eine Notiz. »In Ordnung.«
Terry legte die Hand auf das Mundstück des Hörers. »Eine Frage, Meister. Ich habe bis jetzt vier Anrufe bekommen, alle von ängstlichen Damen, die alle dasselbe wissen wollen.« Das mit einer Spange zusammengehaltene Oberteil ihres Abendkleides drohte zu rutschen. Terry brachte den Schaden mit einem Griff wieder in Ordnung. »Sie alle möchten wissen, wer den geliebten Jungen auf dem Parkplatz niedergeschlagen hat, und warum. Was soll ich ihnen sagen?«
»Erzähl ihnen, dass ich es auch nicht weiß«, sagte Daly, um gleich darauf hinzuzufügen: »Nein. Erzähl ihnen überhaupt nichts. Frag mich - ich werde es ihnen dann sagen.«
»Gern, Meister«, sagte Terry. Sie legte den Hörer wieder ans Ohr und lächelte süß in Kamera zwei, als die rote Lampe aufleuchtete.
Der erste Teil der Show war reine Routine. Die Frage seiner Verehrerinnen beantwortete Daly mit der Versicherung, dass er nicht die geringste Ahnung hätte, wer ihn niedergestreckt haben könnte, noch warum, dass er aber die Sache nachher noch einmal aufgreifen werde.
Die nun folgenden Fragen, die Terry ihm weiterleitete, bewegten sich zwischen der, wie viele Lichtjahre ein Raumschiff braucht, um die Venus zu erreichen, und jener, ob er, Daly, je mit Elizabeth Taylor zusammengetroffen sei.
Kettenrauchend und von Zeit zu Zeit Kaffee schlürfend, beantwortete Daly die Fragen, die er beantworten konnte, machte Bemerkungen zu solchen, die ihn interessierten, und gab bei anderen offen zu, dass er die Antworten nicht wüsste.
Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie lange ein Raumschiff unterwegs sein musste, um die Venus zu erreichen. Ja, Elizabeth Taylor hatte er kennengelernt, als sie noch mit einem ihrer früheren Ehemänner verheiratet gewesen war. Ja, er war entschieden für ein gutfunktionierendes Verkehrssystem. Nein, er hielt die Neger nicht für unbescheiden. Nein, die Polizeibeamten von Los Angeles hielt er weder für korrupt noch für dumm. Er war der Ansicht, dass die Jungs, vom Chef runter bis zum letzten Marschierer, gute Arbeit leisteten.
Es gibt Abende, an denen alles schiefgeht. Vertraglich verpflichtete Gäste erscheinen nicht. Der Kameramann verliert das Bild. Die Assistentin zeigt sich dumm oder muffig oder beides. Die gestellten Fragen geben nichts her. An diesem Abend aber floss - wie zum Ausgleich für den unerfreulichen Zwischenfall auf dem Parkplatz - das Programm so glatt dahin wie eine dicke Sauce.
Es gab keine technischen Pannen. Kein Stichwort wurde verfehlt. Trotz oder gerade wegen des beweglichen Oberteils ihres Abendkleides erschien Terry Carstairs als eine sehr dekorative und anstellige Telefonistin. Dalys Interview mit der ehemaligen Buchmacherin, die einen Sitz im Stadtparlament anstrebte, ohne die Voraussetzungen mitzubringen, wurde zu einem Prachtstück für Sammler.
Die Hauptsache des Programms sollte jedoch das Interview mit dem vierundzwanzigjährigen Miguel Tomas José Guido Laredo werden. Unglücklicherweise klappte das nicht. Dalys Gast gab sich höflich und zuvorkommend. Er antwortete auf die Fragen, die Daly ihm stellte, nach bestem Wissen und Gewissen. Wichtig war ihm jedoch etwas anderes. Von dem Interview erwartete er nicht mehr als die fünfzig Dollar, die Daly seinen Gästen zu zahlen pflegte.
Drittes Kapitel
Daly mochte Laredo trotzdem vom ersten Augenblick an gern. Er erwies dem jungen Mann die Ehre, aufzustehen und ihm die Hand zu schütteln, als der Ex-Akrobat ins Bild humpelte und damit in die Wohnzimmer von schätzungsweise einer Dreiviertelmillion Fernsehteilnehmer.
»Es ist nett, dass Sie gekommen sind.«
»Vielen Dank, dass sie uns eingeladen haben, Mr. Daly«, erwiderte Laredo. »Paquìta und ich sehen regelmäßig Ihre Sendungen.«
»Paquìta?«
»Meine Frau.«
Daly ging zu seinem Sessel und zeigte dem jungen Mann, wo er Platz nehmen sollte. »Ihr voller Name lautet Miguel Tomas José Guido Laredo, nicht wahr? Wie darf ich Sie nennen? Miguel?«
Der Gast lächelte leicht. »Mickey genügt. So nennen mich die meisten.«
»Ich dachte, Sie seien Kubaner.«
»Nein«, sagte Laredo. »Nur kubanischer Abstammung. Ich bin hier in Los Angeles geboren.« Etwas gewollt fügte er hinzu: »In der Ankleidekabine, zwischen dem Eröffnungstusch und dem großen Finale.«
»Sehr interessant«, meinte Daly. »Ich darf wohl daraus schließen, dass Ihre Eltern ebenfalls Zirkuskünstler waren?«
»Sie waren Stars der Luftakrobatik. Die Fliegenden Laredos nannten sie sich. Einige Jahre später haben sich meine Eltern aus Liebe zu Los Angeles entschlossen, in Hollywood ein Haus zu kaufen und hier, statt in den regulären Quartieren in Sarasota in Florida, die Winter zuzubringen. Übrigens habe ich in Hollywood das Gymnasium absolviert.«
Daly lächelte. »Das erklärt natürlich, warum Sie ohne Akzent sprechen. Aber während der Saison - sind Sie da schon als kleines Kind mit dem Zirkus herumgereist? Immer oder nur zeitweise?«
»Die ganze Zeit«, antwortete Laredo. »Die Zirkuswelt machte mein Leben aus. Soweit ich zurückdenken kann, und schon die Jahre davor, sind alle Angehörigen meiner Familie beim Zirkus gewesen. Die meisten von ihnen waren Luftakrobaten. Ich habe mit drei Jahren angefangen - als Purzier.«
Das Wort war neu für Daly. »Was darf man darunter verstehen?«
»Einen Springakrobaten. Normalerweise gebraucht man das Wort für einen Menschen, der am Boden arbeitet.«
»Offenbar hat der Zirkus seine eigene Sprache.«
»Ganz recht. Ein Clown zum Beispiel ist ein August, ein Spaßvogel oder Blassgesicht. Einen Clown mit einer Kunstreiter-Nummer nennen wir Pete Jenkins. Ein Mädchen, das die große Eröffnung reitet, ist eine Brille. Ein Musiker an der Orgel ist ein Rausschmeißer.«
»Interessant«, sagte Daly. »Und wie lange sind Sie Purzier gewesen?«
Laredo lächelte. »Nicht lange. Mit zehn war ich schon auf dem Seil. Zu der Zeit übte ich außerdem täglich vier bis fünf Stunden am hohen Trapez. Und als ich fünfzehn war, nahmen mich meine Mutter, mein Vater und einer meiner Onkel, der mit ihnen arbeitete, in ihre Gruppe auf - als Springer. Von da ab gehörte ich zu den fliegenden Laredos.«
Daly sagte: »Verbessern Sie mich bitte, wenn ich etwas Falsches sage. Ich glaube, zwei der von Ihnen gebrauchten Begriffe sind mir bekannt. Das hohe Trapez ist das schwingende Schaukelreck, nicht wahr? Und ein Springer ist wohl ein Trapezkünstler, der von einem Fänger zum anderen geworfen wird, während die Fänger in den Schaukelrecks hängen?«
Laredo nickte. »Ganz recht. Nur ist es natürlich nicht ganz so leicht, wie es aussieht.«
»Das will ich Ihnen gern glauben«, sagte Daly. »Und was kam dann?«
»In den darauffolgenden Jahren bis zu meinem Eintritt in die Invasionstruppe bin ich mit dem Akt durch die ganze Welt gereist.«
Daly unterbrach ihn. »Aber vor ein paar Minuten haben Sie gesagt, Sie hätten in Hollywood das Gymnasium absolviert.«
»Ja, das ist richtig.«
»Wie konnten Sie gleichzeitig das Gymnasium besuchen und in der Welt herumreisen?«
»Ganz einfach. Außerhalb der Saison habe ich das Gymnasium wie jeder andere Schüler besucht. Für die Dauer der Tournee habe ich mir von meinen Lehrern einen Studienplan ausarbeiten lassen, an den ich mich streng hielt. Ich hatte außerdem einen Privatlehrer.«
»Das muss eine schöne Stange Geld gekostet haben.«
Laredo war unangenehm berührt. »Das ist wahr. Aber ich habe mit fünfzehn Jahren fünfhundert Dollar die Woche gemacht. Und als ich achtzehn war und Paquìta heiratete, haben mich meine Eltern und mein Onkel - das war ihr Hochzeitsgeschenk - zum vollwertigen Partner des Akts erklärt, und von da ab erhielt ich ein Viertel der zehn Mille.«
»Mit anderen Worten - wenn der Akt klappte, haben Sie 2.500 Dollar die Woche verdient?«
»Genau.«
»Und wie viele Wochen im Jahr haben Sie gearbeitet?«
»Nie weniger als dreißig. Es hing vom Wetter ab und von der Zahl der Städte, die wir in unsere Tournee aufnehmen konnten.«
Daly zeigte sich beeindruckt. »Das macht ungefähr 75.000 Dollar im Jahr. Und das alles haben Sie aufgegeben, um der Invasionstruppe beizutreten, an die Küste der Schweinebucht zu waten, ihr linkes Bein im Maschinengewehrfeuer zu verlieren und die nächsten achtzehn Monate als Kriegsgefangener zu hungern?«
»Ja.«
»Und es tut Ihnen heute nicht leid?«
»Natürlich tut mir manches leid. Genau wie die anderen Männer der Brigade wollte ich gewinnen. Wenn wir die Unterstützung bekommen hätten, die uns versprochen worden war, wären wir wahrscheinlich Sieger geblieben.« Laredo zeigte Ungeduld. »Aber das ist schon lange her.«
Daly setzte noch einmal an. »Aber warum - warum haben Sie sich in eine solche Sache eingelassen? Wenn Sie in Los Angeles geboren und aufgewachsen sind, sind Sie kein Kubaner, sondern ein Bürger der Vereinigten Staaten.«
»Gewiss«, gab Laredo zu. »Die Erklärung fällt mir auch nicht leicht. Ich hatte das Gefühl, dass ich so handeln müsse. Es stimmt - ich bin nicht auf Kuba geboren. Aber meine Mutter und mein Vater sind es, in der Provinz Oriente. Wohin mich der Zirkus auch verschlagen hat - mein ganzes Leben lang habe ich gehört, wie wunderbar Kuba ist. Als dann das gegenwärtige Regime die Macht übernahm und die Dinge sich überschlugen, habe ich mich irgendwie verpflichtet gefühlt, etwas zu tun.«
Keeley gab ein Zeichen, und Daly unterbrach die Unterhaltung. Ein Werbespot wurde eingerückt. Als die Sendung wieder lief, versuchte er, das Gespräch auf das zu lenken, was er für das Kernstück des Interviews hielt, auf die Invasion. Daly wusste selbst nicht, wieso, aber schon während des Gesprächs hatte er das Gefühl, dass dieses Interview nicht eines seiner besten war.
Er ließ also das Thema Kuba fallen und fragte Laredo, auf welche Weise er sich jetzt seinen Lebensunterhalt verdiene, aber er verrannte sich auf diesem Weg noch mehr.
»Nun ja«, bemerkte Laredo gepresst. »Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, gibt es für einbeinige Trapezkünstler nicht viele Möglichkeiten. Als Paquìta und ich wieder nach Los Angeles zurückkehrten, investierte ich das wenige Geld, das ich gespart hatte, in drei Kinderkarussells.«
»Kinderkarussells?« Daly war verdutzt.
»Ja. Ein eigentliches Karussell, eine Kindereisenbahn und ein kleines Riesenrad. Ich fuhr damit zu Supermärkten und Einkaufszentren.«
»Würden Sie das bitte erklären?«
»Gern. Ich baue meine Karussells auf den Parkplätzen von Supermärkten, Einkaufszentren und großen Discountläden auf. Das ist so eine Art Kundendienst, um die Massen anzuziehen. Morgen sind wir bei der Eröffnung eines neuen Einkaufszentrums im East Valley. Ist es gestattet, ein bisschen Reklame zu machen?«
»Warum nicht?«
Laredo schaute in die Kamera. »Versäumen Sie nicht die Eröffnung des neuen Einkaufszentrums im East Valley! Es liegt an der Kreuzung der Willowcrest Road und des San Victoria Boulevards. Eröffnet wird eine neue Bank, ein Supermarket, eine Tankstelle und ein Warenhaus, in dem Sie so ziemlich alles kaufen können, was es gibt. Wenn Sie das Glückslos gezogen haben, gewinnen Sie einen Ford. Punkt zehn Uhr sehen Sie mich als Clown. Die Damen bekommen gratis Blumen und die Kinder Freikarten für Limonade und Karussell.«
Daly lächelte. »Das klingt ja recht verlockend, Mickey. Aber Sie sprechen von Freifahrten. Wenn Sie Freifahrten gewähren - wie kommen Sie dann zu Ihrem Geld?«
Laredo erklärte: »Die Freifahrkarten werden von den Unternehmern ausgegeben. Ich erhalte die Karte von den Kindern. Die Unternehmer bezahlen mir dann später jede Karte.«
»Ich verstehe«, sagte Daly. »Aber verdienen Sie auf diese Weise so viel Geld wie früher?«
»Nein«, antwortete Laredo. Man konnte seine Bitterkeit verstehen. »Ich bin schon froh, wenn meine Unkosten gedeckt werden und ich darüber hinaus genug zum Leben habe.« Ruhig
fügte er hinzu: »Ich möchte mich aber nicht beschweren. Paquìta und ich lieben Kinder.«
Daly steuerte dem Ende des Interviews zu. »Vielen Dank, Mickey. Es war interessant, mit Ihnen so offen zu sprechen. Aber bevor Sie gehen, sagen Sie mir vielleicht noch, ob Sie gelegentlich Chico genannt werden.«
»Ja«, sagte Laredo. »Aber nicht hier in Los Angeles. Unter den Jungen in der Invasionsbrigade gab es einige, die mich so nannten.«
»Interessant«, meinte Daly. »Noch eine letzte Frage: Können Sie sich einen Reim darauf machen, wenn ich Ihnen erzähle, dass mich heute Abend auf dem Parkplatz zwei schlagwütige Herren aufgefordert haben, Ihnen zu sagen, dass Sie beobachtet werden, und dass es sich bei alldem um eine interne Angelegenheit handelt?«
»Nein«, sagte Laredo. »Das kann ich nicht.«
Keeley signalisierte, dass die Sendung die Zeit zu überschreiten drohe. Daly beendete die Show in der üblichen Art und ging dann mit Terry den Korridor hinunter in Richtung auf die Umkleidekabinen und Büros.
DuBoise saß in seinem Zimmer und spielte das Tonband der Sendung ab.
»Schade«, sagte er. »Laredo habe ich für einen echten Knüller gehalten. Aber das war wohl ein Irrtum.«
Terry sagte: »Das Interview mit Miss Adams war gut, und ich glaube, dass auch die Fragen prima gelaufen sind. Aber das Interview mit Mr. Laredo war zu direkt, zu realistisch.«
Daly machte drei Drinks zurecht. »So was kann passieren. Ich mache übrigens dem Mann keinen Vorwurf daraus, dass er verbittert ist. Was hast du ihm gegeben, Gene?«
DuBoise deponierte das Tonband im Panzerschrank. »Die üblichen fünfzig Dollar. Ich wollte eigentlich eine Ausnahme machen und bis zu zweihundert Dollar gehen. Aber der Junge hätte mich wahrscheinlich aus verletztem Stolz zusammengeschlagen.«
»Das könnte schon sein«, meinte Daly. Er tat einen weiteren Eiswürfel in seinen Drink. »Hast du beim Parkplatzwächter nachgefragt?«
»Habe ich«, sagte DuBoise. »Aber er behauptet, nichts gesehen und gehört zu haben.«
»Während der Sendung hat Laredo zugegeben, dass einige Männer aus der Brigade ihn Chico nannten.«
DuBoise nickte. »Das habe ich mitgekriegt. Aber er hat auch gesagt, dass er den Zwischenfall ebenso wenig versteht wie wir. Seien wir doch offen: In Los Angeles gibt es eine ganze Menge Leute, die dich aus irgendeinem Grund nicht leiden mögen.«
Terry strahlte. »Und einer von ihnen dingte sich zwei Schläger mit spanischem Akzent, um Tom fertigzumachen.«
DuBoise zuckte mit den Schultern. »Könnte schon sein. Oder ein Mann mit einem pervertierten Humor hat sich einen Witz geleistet.«
Daly betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Während der Show war sein Auge so angeschwollen und hatte sich so sehr verfärbt, dass er nichts mehr sehen konnte, wenn er das andere Auge schloss.
»Hm«, meinte er sauer. »Ein schöner Witz.«
Viertes Kapitel
Die schwache frische Brise, die vom Meer her kam, war kaum wahrnehmbar in dem Gestank von Auspuffgasen vor dem geöffneten Fenster.
Der Wecker klingelte um sechs Uhr. Laredo, der seit einer Stunde wach dagelegen hatte, streckte seinen muskulösen Arm aus und stellte die Uhr ab, bevor sie Paquìta aus dem Schlaf reißen konnte. Bei dem Verkehr würde er für die Fahrt bis zur anderen Seite des Tales mindestens eine Stunde benötigen. Viel Arbeit wartete auf ihn. Der Zylinderkolben an der Miniatureisenbahn klemmte wieder einmal, die Orgel des Karussells gab kreischende Töne von sich, und wenn er nicht bald das Kugellager des Riesenrads erneuerte, würde er in der nächsten Zeit nur zwei Karussells statt drei haben.
Es wurde Zeit für ihn, aufzustehen und das Tagewerk zu beginnen. Stattdessen blieb er noch einen Augenblick länger liegen und starrte an die vom Regenwasser gefleckte Decke.
Es musste einmal eine schöne Decke gewesen sein. In jenen Tagen, bevor seine Eltern gestorben waren, bevor er sein linkes Bein verloren hatte, war alles nett gewesen. Nun waren ihm nur noch Paquìta geblieben, ein altes Haus
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Text: Gunard R. Hjertstedt/Signum-Verlag. Published by arrangement with the Estate of Gunard R. Hjertstedt.
Images: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Editing: Dr. Birgit Rehberg.
Proofreading: Dr. Birgit Rehberg.
Translation: Norbert Wölfl und Christian Dörge (OT: Carnival Of Death).
Layout: Signum-Verlag.
Publication Date: 12-15-2022
ISBN: 978-3-7554-2762-9
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