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Leseprobe

 

 

 

 

MARGARET SCHERF

 

 

Der versteckte Revolver

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Signum-Verlag

 

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

DER VERSTECKTE REVOLVER 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Das Buch

Seit sie sich von ihrem Mann getrennt hat, lebt Mrs. Delaphine in bescheidenem Luxus - nicht selten auf Kosten Dritter.

So schafft sie sich eine Reihe von Feinden - bis einer von ihnen die bösartige Schmarotzerin endgültig beseitigt.

Die Tatwaffe - ein Revolver - bringt eine Gruppe exzentrischer Künstlernaturen in arge Bedrängnis...

 

Der Roman Der versteckte Revolver der US-amerikanischen Kriminal-Schriftstellerin Margaret Scherf (* 01. April 1908 in Fairmont, West Virginia; † 12. März 1979 in Kalispell, Montana) erschien erstmals im Jahr 1949; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1959. 

Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.

 

  DER VERSTECKTE REVOLVER

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Mrs. Delaphine legte den vergoldeten Telefonhörer auf. Sie lächelte und war fest davon überzeugt, dass ihr Plan ohne allzu große Schwierigkeiten klappen würde. Sie streckte die Arme über den Kopf, und die weiten Ärmel aus blassblauer Seide glitten auf die Schultern zurück. Wohlgefällig betrachtete sie sich im Spiegel. Wie herrlich wird es sein, wieder genug Geld zu haben. Dann konnte sie Harmons klägliche Unterhaltszahlungen als Trinkgelder für Taxifahrer und Kellner verwenden.

Sie drehte sich langsam um und überlegte, was alles renoviert werden musste. Die blauen Nischen würde sie golden tapezieren oder streichen lassen. Und dann würde sie die Leuchter in Lincoln Simpsons Laden kaufen. Miss Murdock wäre die richtige Dekorateurin, wenn man sie nur auf einen Termin festnageln könnte: Das arme Ding hatte kein Zeitgefühl, aber vielleicht ließ sie sich bestechen oder durch Schmeicheleien ködern. Mr. Simpson wusste genau, wie man das machte - er war mit Miss Murdock und diesem Mr. Bryce befreundet. Ein amüsanter Mensch, dieser Bryce, nur trug er schreckliche Krawatten.

Mrs. Delaphine machte sehr sorgfältig Toilette und überlegte dabei genau die Wirkung eines jeden Kleidungsstücks, eines jeden Schmuckstücks. Schade, dass sie den Nerz nicht tragen konnte, aber der musste für eine Weile in der Versenkung verschwinden. Sie hatte ja noch den schwarzen Breitschwanz. Beim Anziehen dachte sie für gewöhnlich an Cornelia Lord, als stünde Cornelia da und musterte sie mit ihren feindseligen, kalten Augen. Manchmal fürchtete sie sich regelrecht vor Cornelia. Wenn Cornelia zugab, man sähe recht gut aus, konnte man sicher sein, einen hervorragenden Eindruck zu machen.

Sie sagte dem Mädchen Bescheid, das gerade das Bad reinigte, und verließ das Haus. Ihr schweres Parfüm schützte sie vor den gemischten Gerüchen der Zweiundzwanzigsten Straße Ost. Sie drehte sich um und betrachtete noch einmal ihr Haus. Immer wieder gefiel ihr der türkisfarbene Putz mit dem rötlichen Geländer am Balkon - das sah besser aus als alles andre im ganzen Block, insbesondere besser als der umgebaute Ziegelbau nebenan mit der langweiligen roten Tür und dem blau gekachelten Eingang. Dort wohnte Mr. Bryce, und Miss Murdock lebte gegenüber in dem neuen Apartmenthaus. Seltsam eigentlich, dass man mit Menschen einer ganz anderen sozialen Schicht in derselben Straße wohnte.

An der Ecke der Zweiundzwanzigsten und der Lexington Avenue kam ihr eine Idee. Miss Murdock würde sich durch eine Einladung zum Lunch im Colony geschmeichelt fühlen. Vielleicht ließ sie sich auf diese Weise in die Wohnung locken? Die Arbeit an den Nischen war in einer Stunde erledigt, dabei konnte man ihr die Einladung vor die Nase halten, wie einem Maulesel eine Möhre. Natürlich konnte bei Miss Murdock ein gemeinsames Essen zu dem irrigen Eindruck von Intimität unter Gleichgestellten führen. Aber dagegen ließ sich ja beizeiten etwas tun.

Mrs. Delaphine ging die Straße entlang zum Kürschner Cassamassima. Das kleine schmächtige Männchen verbeugte sich lächelnd hinter der Theke.

»Ich möchte mein Nerz-Cape reinigen lassen«, sagte sie und legte es auf den Ladentisch.

»So.« Seine harten Äuglein überflogen das Cape. »Mrs. Delaphine, ich lehne ungern einen Auftrag ab, also verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber dieses Stück befindet sich in bestem Zustand. Es ist neu.«

»Ich sagte, ich möchte es gereinigt haben, Mr. Cassamassima.«

»Aber gewiss.« Er schrieb sofort die Quittung aus.

»Verlieren Sie es nicht.«

»Ein Nerz-Cape?« Er lächelte. »Hier gehen keine Nerz-Capes verloren.«

Sie betrachtete die Quittung. »Vollkommen unleserlich«, bemerkte sie. »Sie sollten bald mal schreiben lernen, Mr. Cassamassima.«

Mrs. Delaphine überquerte die Straße und blieb vor Link Simpsons Antiquitätenladen stehen. Die Leuchter standen noch im Fenster. Sie stieg die Stufen hinauf zum Eingang und wurde von Mr. Simpson, der gerade eine Rüstung polierte, mit kühlem Lächeln begrüßt.

Kaufleute könnten eigentlich entgegenkommender sein, dachte sie.

»Na, Mr. Simpson«, fragte sie von oben herab, »was kosten sie heute?«

»Die Leuchter? Immer noch dasselbe.«

»Aber hören Sie! Sie haben doch höchstens dreißig Dollar dafür bezahlt. Ich gebe Ihnen fünfzig, keinen Cent mehr.«

Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid.«

Mrs. Delaphine war gereizt. Sie gab gern Geld aus, aber Mr. Simpson machte es ihr schwer. »Wir wollen uns doch nicht streiten«, sagte sie. »Ich gebe Ihnen hundertfünfundzwanzig.«

Mr. Simpson legte den Lappen weg. »Ein fairer Preis«, sagte er. »Aber ich muss Sie leider bitten, die andere Rechnung zu begleichen, bevor ich Ihnen die Leuchter liefern kann.«

Nun war sie nicht mehr gereizt, sondern beleidigt. »Wollen Sie etwa meine Zahlungsfähigkeit anzweifeln?«

»Nein, Mrs. Delaphine«, antwortete er zurückhaltend. »Ich weiß, dass Sie bezahlen können. Aber ich bin nur ein kleiner Händler. Ich kann es mir nicht leisten, ein Jahr auf mein Geld zu warten.«

»Unsinn! So lange kann es doch noch gar nicht her sein, seit ich die Stühle holte.«

Er blätterte in seiner Kartei. »Am neunten Dezember war es ein Jahr. Heute haben wir den Zwölften - also ein Jahr und drei Tage.«

»Ich hasse kleinliche Menschen«, sagte sie. »Aber ich tue Ihnen den Gefallen, Mr. Simpson. Sie bekommen auf der Stelle einen Scheck.«

»Über den ganzen Betrag?«

»Ja. Und ich möchte die Leuchter sofort haben. Sie müssen natürlich gereinigt werden. Die zerbrochenen Glasgehänge müssen Sie ersetzen.«

»Das geht heute nicht, Mrs. Delaphine. Es dauert Zeit, solche Kristallstücke zu finden. Sie müssen ja genau passen.«

»Sie werden sie heute finden. Denken Sie endlich wie ein Kaufmann, Mr. Simpson, dann kommen Sie besser zurecht.«

Ihr Lächeln zwang ihn, es zu erwidern, aber sie ging mit dem Gefühl, dass er sie nicht mochte. »Ich muss noch zu Miss Murdock. Wenn sie meine Nischen sofort dekoriert, lade ich sie zum Essen ins Colony ein. Ist das nicht eine gute Idee?«

»Sehr gut«, antwortete er kurz angebunden. »Miss Murdock wird sich bestimmt geschmeichelt fühlen.«

»Dachte ich.« Sie steckte ihr Scheckbuch wieder ein. »Sie liefern mir die Leuchter spätestens morgen Nachmittag, Mr. Simpson.«

»Mal sehen, was sich machen lässt.«

»Ich brauche sie ganz dringend für eine Party, bitte.«

Er zuckte die Achseln. »Ich werde mein Bestes tun.«

Sie verließ den Laden und öffnete gleich nebenan die Tür, die zum Atelier der Dekorationsfirma Lentement führte.

Am vorletzten Tag ihres irdischen Daseins war Mrs. Delaphine ganz in ihrem Element.

 

Oben im Atelier malte Henry Bryce einen Goldstreifen auf eine bauchige Kommode. Er zündete sich eine Zigarette an und sah durchs Fenster hinüber in den Denker-Club. Ein kleiner rundlicher Mann stand am Fenster, und an einem so düsteren Tag konnte man den Clubraum dahinter gut erkennen, die ungemütliche, strenge Einrichtung aus polierter, dunkler Eiche. Im Atelier sah es ganz anders aus. Man musste schon geschickt sein, wenn man von der Eisentür vorn bis zur Toilette hinten gelangen wollte, ohne über eine Dame aus Gips zu stolpern, eine Uhr zu zertreten oder eine Farbdose, vielleicht auch einen Kunden umzustoßen.

»Schnauf nicht so, Henry«, sagte Emily vorwurfsvoll. »Hast du dich erkältet?«

»Weiß nicht.«

»Dann nimm eine Tablette. Roscoe, schließ das Fenster. Henry hat sich wahrscheinlich erkältet.«

Roscoe schloss das Fenster und fuhr dann fort, eine dunkelbraune Großvateruhr erbsengrün anzumalen. Für einfache Arbeiten reichte sein Verstand gerade noch.

Das Telefon läutete. Henry griff nach dem farbverschmierten Hörer. Es war Link Simpson. »Mrs. Delaphine ist unterwegs und führt etwas gegen Emily im Schilde«, sagte er. »Gib acht, sie ist ganz groß in Fahrt.«

»Danke. Wir halten den Feuerlöscher bereit.« Er legte auf und drehte sich zu Emily um, konnte aber nichts mehr sagen, weil Mrs. Delaphine schon hereinrauschte. Henry hatte sie seit Monaten nicht mehr gesehen, jedenfalls nicht seit ihrer Scheidung von Dr. Harmon Delaphine. Harmon war ein netter, geduldiger Kunde gewesen, und seinetwegen hatten sie auch seine Frau ertragen. Aber jetzt sah Henry keinen Anlass mehr dazu, insbesondere da sie seit der Scheidung im Ruf stand, langsam zu zahlen.

Er räumte lächelnd für Mrs. Delaphine einen Stuhl frei. »Ich möchte mich ein wenig umsehen«, sagte sie. »Ich war lange nicht mehr hier.«

»Verlaufen Sie sich nicht, wir sind im Augenblick ziemlich vollgerammelt«, warnte Henry und betrachtete sie. Ihr Gesicht wirkte glatt unter einer dicken Schicht von Make-up. Ihr Lippenstift leuchtete zartrosa, ihre Frisur war jetzt nach mehreren missglückten Farbversuchen rötlichblond.

Sie schlenderte in dem engen Gang zwischen den vielen Kunstgegenständen entlang, die auf Emilys Künstlerpinsel warteten. »Es gibt doch schrecklichen Kram!«, rief sie. »Wer braucht schon zwei goldene Adler auf einem Podest? Mein Gott, das ist doch nicht etwa Mrs. Giddings’ Gipsbüste? Sie stand früher schon hier!«

»Nein, ich glaube nicht«, sagte Emily und blinzelte Henry zu. »Das muss eine andere sein.«

»Das ist Daniel Webster, nicht wahr? Sie haben früher darüber Ihre Witzchen gemacht.«

»Irgendwann werden wir sie reparieren«, sagte Henry. »Mrs. Giddings braucht sie nicht so dringend.«

Mrs. Delaphine bemerkte lachend, diese Einstellung zum Leben fände sie großartig.

»Ob Mrs. Giddings überhaupt noch lebt?«, murmelte Emily hoffnungsvoll.

»Natürlich, ich habe sie vorige Woche gesehen«, antwortete Mrs. Delaphine. »Miss Murdock, ich habe eine großartige Idee.«

Henry konnte Emily nicht mehr warnen. Sie stand mit vertrauensvollem Lächeln da und wartete.

»Hätten Sie Lust, mit mir im Colony zu essen?«

»Oh!« Emily machte große Augen. »Wann?«

»Sagen wir, morgen um halb zwei. Sie könnten ja ein wenig früher kommen und in meiner Wohnung freundlicherweise ein bisschen Goldfarbe in die blauen Nischen pinseln. Sie sind ja so flink, da dauert es nur ein paar Minuten.«

»Wir haben furchtbar viel zu tun, Mrs. Delaphine«, fiel Henry ein. »Miss Murdock tut Ihnen sicher gern den Gefallen, aber im Augenblick geht es leider nicht. Vor Weihnachten herrscht immer Hochbetrieb. Sie kennen das ja.«

Ein paar strenge Falten erschienen in Mrs. Delaphines Gesicht, als sie sich zu ihm umdrehte. »Ich nehme doch an, dass Miss Murdock wenigstens Zeit zum Essen hat.«

»Aber natürlich«, antwortete Emily. »Außerdem war ich noch nie im Colony. Aber ich habe nichts anzuziehen. Henry könnte mir bei Bloomingdale ein Kleid besorgen.«

»Damit will ich nichts zu tun haben«, knurrte Henry und malte an seinem Goldstreifen weiter.

»Ziehen Sie irgendetwas an«, sagte Mrs. Delaphine rasch und stand auf. »Wir sehen uns also morgen Mittag in meiner Wohnung. Und vergessen Sie die Pinsel nicht, meine Liebe.«

Sie war schon wieder fort.

»Du spinnst«, sagte Henry. »Siehst du nicht, wie sie dich hereinlegt?«

»Klar«, sagte Roscoe. »Du sollst umsonst arbeiten.«

»Wir schicken ihr eine Rechnung«, widersprach Emily. »Das Essen hat damit nichts zu tun. Du magst sie nicht, Henry, aber sie hat Geld.«

»So viel auch nicht, seit Harmon sie verlassen hat.« Widerwillig musste er zugeben: »Das kann natürlich auch nur ein Trick sein, um dich überhaupt an einem bestimmten Tag zu bekommen. Und wenn du mal ins Colony willst, können wir’s dir nicht verwehren. Stimmt’s Roscoe?«

»Ein übles Weib«, brummte Roscoe. »Stiftet überall Unfrieden. Der Doc hatte recht, als er abhaute.«

Emily knabberte am Stiel ihres Pinsels und sah träumerisch zum Fenster hinaus.

»Wenn du nicht weitermachst, bist du niemals um vier Uhr fertig«, drängte Henry.

»Bin ja schon dabei.« Emily drückte etwas grüne Farbe in einen Napf und malte das Wort Darling auf einen Spielautomaten. Irgendeine Mrs. Whitney wollte das Ding ihrem Mann zum Geburtstag schenken. Aber dann drehte sich Emily empört um und fragte: »Wer ist denn hier eigentlich der Chef, Henry Bryce?«

»Du natürlich«, antwortete Henry mit einer tiefen Verbeugung. Er fügte hinzu: »Aber den Verstand hab’ ich.«

»Siehst du, Roscoe«, sagte sie, »so geht es einem, wenn man jemandem vertraut. Ich hätte dich ja nicht einzustellen brauchen, Henry.«

»Nein, du hättest dir stattdessen eine Schadenersatzklage anlachen können.«

»Ich kann doch nichts dafür, wenn du über eine Büste stolperst und dir das Bein brichst.«

»Als ich sagte, du könntest während meines Aufenthalts in Alaska ein paar Sachen in meiner Wohnung einlagern, dachte ich, du würdest mir wenigstens vom Bett zum Bad einen Gang freilassen.«

»Hab’ ich auch. Nur der Gipskopf stand im Weg«, erinnerte ihn Emily.

»Er meint’s nicht ernst, Miss Murdock«, warf Roscoe ein.

»Roscoe«, warnte Henry, »ich hab’ dich für meinen Freund gehalten.«

»In Wirklichkeit hält Henry von mir genauso wenig wie von dieser Kommode.« Emily seufzte.

»Da irrst du dich. Du bezahlst immerhin mein Gehalt.« Henry wischte den Pinsel an einer Zeitung ab und sah hinunter auf die Straße. Dort ging seine Schwester Cornelia, elegant und aufreizend wie immer, wie üblich bei Rot über die Straße.

Auch Roscoe sah sie. »Oh, weh«, murmelte er.

»Was ist denn los?« nörgelte Emily. »Ich kann nicht alle paar Minuten aus dem Fenster sehen. Ist es Cornelia oder Mrs. Cormorant?«

»Cornelia«, antwortete Henry seufzend. »Hoffentlich kommt sie nicht herauf.«

»Sie kommt«, verkündete Roscoe düster.

Ein paar Minuten später stieß Cornelia mit ihrer weißbehandschuhten Hand die eiserne Tür auf. »Henry, du siehst furchtbar aus. Du arbeitest zu viel.« Mit einem bösen Blick auf Emily ließ sie den Pelzumhang von der Schulter gleiten.

»Ich bin erkältet.«

»Warum schaltest du dann nicht die Heizung ein? Hier ist es wie in einer Gruft. Hallo, Emily.« Sie warf ihr den Gruß hin wie eine Handvoll feuchten Lehm und setzte sich in einen Korbsessel.

Cornelia erglänzte in Schwarz und Silber, und durch ihre Anwesenheit wirkte das Atelier plötzlich sehr unordentlich und ungemütlich. Sie hatte zwar selbst im Leben noch nichts geleistet, kritisierte aber immer an anderen Leuten herum.

Roscoe legte den Pinsel hin, putzte sich die Nase und meldete: »Ich geh’ Kaffee trinken.«

»Bring mir ein Streichkäse-Sandwich mit«, bestellte Emily.

»Streichkäse für eine Dame, die im Colony speist?«, fragte Henry. »Für mich auch eins, Roscoe.«

»Wer speist im Colony?«, fragte Cornelia.

»Emily, und zwar morgen mit deiner Freundin, Mrs. Delaphine.«

»Sehr nett, Emily. Cleo hat nichts davon erwähnt.«

Es passte Henry nicht, dass Cornelia sich mit Emily beschäftigte. Sie mochte überhaupt nur Frauen, die über achtzig und sehr hässlich waren.

»Was in aller Welt machst du da mit dem komischen Spielautomaten?«, fragte sie.

Emily antwortete, Mrs. Whitney wolle ihn bis vier Uhr haben.

»Hat James mich angerufen? Er wollte mich um vier hier erreichen.« Als die anderen verneinten, fuhr Cornelia fort: »Findet ihr, dass er gut aussieht? Ich nicht. Er klagt über seinen Magen.«

»Weil du ihn mit Glasscherben fütterst«, meinte Henry.

»Also wirklich - dein Humor leidet unter der ständigen Gesellschaft von Leuten, die wenig Verstand haben. Du weißt, dass ich James mag, obgleich er im Januar einundsechzig wird.«

»Wir werden eben alle älter«, bemerkte Emily ohne Hintergedanken.

»Ich denke noch nicht an mein Alter, vielleicht erst, wenn ich die Vierzig hinter mir habe.«

»Du meinst, du kannst es aufhalten?«, fragte Henry in der Hoffnung, Cornelia zu verscheuchen. Am Morgen brachte er es noch fertig, gegenüber seiner Schwester höflich zu sein, aber wenn er am Nachmittag mehrere eigenwillige Kunden hinter sich hatte, empfand er Cornelia als ausgesprochen lästig.

»Viel Spaß bei deinem Essen«, sagte sie zu Emily und stieg über verschiedene Hindernisse hinweg zur Tür. »Wenn James anruft, sagt ihm, dass ich bei Cleo bin.«

Emily malte, bis sie hörte, dass die Haustür ins Schloss fiel. Dann stützte sie den Ellbogen auf einen hölzernen Priester, der gerade repariert wurde, und fragte: »Was ist mit ihren Augen los, Henry?«

»Wie meinst du das?«

»Sie wirkt immer so verschlafen. Ob sie etwas einnimmt?«

»Bestimmt nicht, Emily«, log er. Doch er war sicher, dass Cornelia wieder Veronal nahm.

»Weißt du was, ich glaube, sie sähe besser aus, wenn sie ihr Haar nicht färbte.«

»Sie hat Angst vor dem Altwerden«, antwortete Henry. »Sie hat vor vielen Dingen Angst.«

»Noch etwas, Henry: Hat sie früher schon behauptet, James zu mögen? Ich glaub’s ihr nicht.«

Henry zuckte die Achseln. »Alle Frauen machen zuweilen sinnlose Bemerkungen. Arbeite lieber weiter. Es ist schon Viertel nach vier.«

»Eigentlich müsste sie ihn mögen«, fuhr Emily fort. »Er ist sehr gut zu ihr. Ob sie trotzdem wieder etwas anstellen wird?«

Henry stöhnte. »So etwas soll man nicht verrufen. Sie hat sich sehr gebessert, seit sie James geheiratet hat.« Er hoffte, dass es so blieb. Es hatte eine Zeit gegeben, da kamen von seiner Schwester nur Hiobsbotschaften: Auf dem Heimflug von den Bermudas hatte sie versucht, aus dem Flugzeug zu springen, in Mexiko eine Überdosis Schlaftabletten genommen, der Polizei den Verlust eines Smaragdringes gemeldet. Damals hatte Henry alles in Ordnung bringen müssen, jetzt war James an der Reihe.

Emily runzelte die Stirn. »Was veranlasst Cornelia eigentlich, sich so zu benehmen? Sie ist ganz hübsch, wenn man ihren Gesichtsausdruck vergisst, sie spielt nett Klavier, und dumm ist sie auch nicht.«

»Sie wollte eben nicht nett Klavier spielen, wie du das ausdrückst, sondern hervorragend, aber es fehlte ihr die Ausdauer, um acht bis zehn Stunden am Tag zu üben. Cornelia wünscht sich, dass man ihr das Universum in einer Geschenkpackung zu Füßen legt.«

»Dumm von James, sie zu heiraten.«

»Er tut mir leid«, gab Henry zu. »Aber es scheint dem armen Kerl auch noch Spaß zu machen. Außerdem hat er einen guten Einfluss auf Cornelia.«

»Die Ruhe vor dem Sturm«, warnte Emily. »Irgendwann stellt sie wieder etwas an, und diesmal wird es eine Bombe, Henry. Vielleicht bringt sie sich nach den vielen Versuchen wirklich um. Aber da sie das nicht will, muss eventuell der arme alte James daran glauben. Boston wird schockiert sein, wenn das Bild mit einem Loch in seiner reinen Stirn erscheint.«

»Ich sollte auf diese absurden Phantasien gar nicht eingehen, aber glaubst du vielleicht, dass Cornelia auf den elektrischen Stuhl will?«

»Sie liebt alles Riskante«, erklärte Emily. »Sie balanciert gern am Rande der Grube, solange sie nur nicht hineinfällt. Ich warte ja auch immer so lange mit der Gasrechnung, bis ich mich frage, ob sie mir das Gas abdrehen oder nicht.«

Roscoe kam mit Sandwichs und Kaffee und stellte alles auf die Werkbank. »Sie ist fort«, stellte er mit breitem Lächeln fest.

Emily aß rasch ihr Sandwich und wischte sich die Hände ab.

»Ich muss noch vor halb sechs zu Bloomingdale und mir ein Kleid für morgen kaufen.«

»Du wirst doch nicht extra wegen Mrs. Delaphine ein neues Kleid kaufen!« protestierte Henry.

»Ich habe Angst vor ihr«, gab Emily zu. »Hier fühle ich mich sicher, aber mit Messer und Gabel in der Hand wird sie mich richtiggehend lähmen. Henry, hilfst du mir aussuchen?«

»Nein.«

»Wenn wir verheiratet wären, müsstest du.«

»Erstens bezweifle ich das, und zweitens sind wir nicht verheiratet.«

»Warum heiratest du mich nicht, Henry?«, fragte sie und zog ihren verschmierten Arbeitskittel aus.

»Zuviel zu tun.«

»Willst du mich nicht heiraten?«

Henry lächelte. »Du glaubst, du kannst mir persönlich Fragen stellen, nur weil es dein Atelier ist.«

Emily blieb hartnäckig. »Es wäre doch nett. Du könntest früher nach Hause gehen und unterwegs etwas zu essen kaufen und wenn ich dann nachkomme, ist zu Hause das Bett gemacht, der Tisch gedeckt, die Kerzen brennen...«

»Und Henry schwitzt am Herd. Nee, meine Liebe, lassen wir alles so wie’s ist. Ich mag dich, Emily, und dabei soll’s auch bleiben.«

»Cornelia will nicht, dass du mich heiratest.«

»Nein«, gab Henry zu. »Aber gerade deswegen werde ich dich irgendwann heiraten.«

Emily zuckte die Achseln. »Schade, du bist ein netter Kerl, Henry. Heiratest du mich, wenn ich dir helfe, die Küche auszumalen?«

»Das glaube ich nicht, aber versuch’s mal.«

»Morgen Abend. Nach meinem Ausflug in die feinere Gesellschaft.«

Endlich hatte Emily ihren Mantel angezogen und war auf dem Weg zu Bloomingdale. Mrs. Whitneys Chauffeur holte den Spielautomaten ab, Henry und Roscoe schlossen die Werkstatt.

Henry schlenderte die Zweiundsechzigste Straße hinunter. Er dachte über Emily nach, wenn auch nicht allzu ernsthaft. Er mochte sie, wollte sie aber nicht heiraten. Jedenfalls jetzt nicht. Seine erste Frau hatte ihm heißen Kaffee ins Gesicht geschüttet und ständig geweint. Er war ihr deshalb nicht allzu böse, weil er vermutete, dass er etwas an sich hatte, was Frauen veranlasste, ihm Kaffee ins Gesicht zu schütten, aber er schreckte vor einem zweiten Versuch zurück. Auch Emily war schon einmal verheiratet gewesen. Ihr Ehemann, ein Eisenbahningenieur, entwickelte eine Allergie gegen Farbgeruch, und da sich Emily niemals von ihrer Malerei getrennt hätte, trennte sie sich lieber von ihm.

Emily war hübsch und hätte zweifellos ohne Mühe wieder einen Mann gefunden. Link Simpson machte ihr mindestens zweimal im Jahr einen Antrag. Aber dummerweise wollte Emily ihren Henry haben und sonst keinen. Die Zusammenarbeit klappte gut. Die Frage war nur, ob diese Harmonie durch eine noch engere Bindung nicht leiden würde.

Er ging die zwei Stufen zu seiner Haustür hinauf, warf beiläufig einen Blick auf den türkisfarbenen Anstrich nebenan, wo Mrs. Delaphine unglücklich im Luxus lebte, und zog die Schlüssel aus der Tasche.

»Hallo, Henry.« James Lord kam über die Straße gelaufen. Henry lud ihn zu einem Drink ein, obwohl er gerade jetzt nicht sehr auf Gesellschaft erpicht war.

»Ich warte auf Cornelia«, erklärte James. »Sie ist bei Cleo, und ich bin spazieren gegangen, weil ich mir diesen Tratsch nicht anhören wollte.« Schnaufend folgte er Henry die schmale Treppe hinauf und wartete, bis dieser die Tür aufgeschlossen hatte.

»Kann ich dir nachfühlen«, sagte Henry. »Mrs. Delaphine war heute im Atelier.« Er zog den Mantel aus und ging in die Küche. »Sie will Emily bestechen, damit sie etwas für sie erledigt.«

»So, ich dachte Cleo sei knapp bei Kasse, seit diesem elenden Schwindel in Las Vegas.«

Henry meinte, sie sei für eine Frau in Geldschwierigkeiten sehr sicher aufgetreten. »Und wenn ich es mir recht überlege, auch sehr fröhlich.«

»Wirklich?« James stand in der Küchentür und betrachtete Henry mit seinem traurigen Hundeblick. »Ich hab’ sie seit über einer Woche nicht mehr gesehen. Vielleicht ist sie unerwartet zu Geld gekommen. Ich würde es ihr wünschen.«

»Du weißt genau, dass sie ausgesprochen exaltiert ist und ihr Unglück genießt.« Henry warf Eiswürfel in die Gläser.

»Du bist ein alter Zyniker, Henry.« James ließ sich sein Glas reichen und ging hinüber zum Klavier. In Cornelias Gegenwart spielte er nie, weil sie sich über seinen hölzernen Anschlag lustig machte. »Darf ich?«

»Bitte.«

Henry machte es sich auf der Couch bequem und beobachtete James. Ein Jammer, dachte er zum hundertsten Mal, dass so ein reizender, ordentlicher, netter Kerl wie James Lord ausgerechnet an Cornelia hängengeblieben war. An dem Schwindel, den James erwähnt hatte, war vermutlich ein Bekannter von Cornelia schuld. James und Cornelia waren über Arizona und Nevada nach Kalifornien gereist. Unterdessen bekamen ungefähr fünfzehn von James’ Freunden dringende Briefe, die scheinbar seine Unterschrift trugen. Es wurde ihnen nahegelegt, Geld in eine Silbermine in der Nähe von Las Vegas zu investieren. Die Briefe waren in Las Vegas aufgegeben, und das Geld sollte telegrafisch an eine dortige Bank überwiesen werden. Natürlich war alles sehr dringend. James war nach seiner Rückkehr sehr verwirrt, weil er niemals solche Briefe geschrieben hatte. In den drei Monaten, die seither verstrichen waren, beschäftigte er sich hauptsächlich damit, den Schwindler ausfindig zu machen.

»Noch keine Spur von Las Vegas?«, fragte Henry.

»Nichts. Bailey und Rousseau arbeiten daran, haben aber noch nichts gefunden. Auch die Polizei ist ratlos.«

»Wer sind Bailey und Rousseau?«

»Sehr gute Privatdetektive in Boston.«

»Sie kosten dich bestimmt einen schönen Batzen Geld.«

James bemerkte, er wolle herausfinden, wer seine Freunde hereingelegt hatte, koste es, was es wolle.

»An deiner Stelle würde ich die ganze Sache vergessen«, sagte Henry. »Es war peinlich, aber nicht deine Schuld. Das Geld ist inzwischen längst ausgegeben. Selbst wenn du den Kerl findest, kriegst du keinen Cent zurück. Ein schlauer Bursche.«

»Ich komme mir wie ein Verbrecher vor«, gab James zu. »Ich wage meinen Freunden kaum noch in die Augen zu sehen. Mir wird schlecht, wenn ich an einer Bank vorbeikomme. Oder am Telegrafenamt.«

Henry zeigte sich mitfühlend, hörte aber nur mit halbem Ohr zu. Er sah sich in dem geräumigen, hübsch eingerichteten Zimmer um. Das war ein weiteres Problem bei Emily: Sie fühlte sich zu den seltsamsten Möbelstücken hingezogen. Vielleicht wollte sie sogar die Pullman-Garnitur behalten. Ein Kunde ließ sie vor vier Jahren mit chinesischer Seide beziehen und machte dann pleite, seitdem benutzte Emily die Polstermöbel in ihrer Wohnung als Bett. Außerdem besaß sie zwei riesige florentinische Laternen. Sie versuchte immer wieder, sie einem Kunden anzudrehen, aber wer braucht schon florentinische Laternen?

Das Telefon läutete. Emily rief von Bloomingdale aus an. »Henry, ich habe hier das gleiche

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Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Text: Margaret Scherf/Signum-Verlag.
Images: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Editing: Dr. Birgit Rehberg.
Proofreading: Dr. Birgit Rehberg.
Translation: Norbert Wölfl (OT: The Gun In Daniel Webster's Bust).
Layout: Signum-Verlag.
Publication Date: 10-10-2022
ISBN: 978-3-7554-2295-2

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